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Revolution oder Rebellion?

Es ist ein großer Unterschied zwischen Revolution und Rebellion – der konservativste Geist kann die eine achten, für eine jener Berechtigungen der Weltgeschichte zu ihrer Entwicklung halten, wie ja auch die Erde selbst ihre großen Revolutionen durchgemacht, – die andere verachten und zertreten!

Die Karte von Europa war wieder einmal in Geburtswehen –, die Revolution rechnete auf diesen Schwächezustand der alten, vom Stier entführten Jungfrau und nützte ihn.

Die Republikaner, der Ultramontanismus, der Sozialismus, die Plutokratie, der Judaismus, die Geldrafferei und der Ehrgeiz, alle diese finstern Feinde der Ruhe der Völker fühlten ihre Zeit gekommen und begannen sich zu regen in dem an Umwälzungen so reichen Jahre 1861.

Die politischen Verhältnisse waren fast überall schlaff oder im Zusammenbruch. Die römische Kirche war an ihrem empfindlichsten Punkte: der weltlichen Macht und dem weltlichen Einfluß, bereits stark geschädigt und noch weiter bedroht und schon damals galt das zehn Jahre später gefallene, ihre geheimste Politik enthüllende Wort des päpstlichen Nuntius an den Minister v. Varnbühler: »Wenn uns die Regierungen nicht schützen, werden wir uns mit der Revolution verbünden!« – das bis in die neueste Zeit seine furchtbarsten Schatten wirft und den jesuitischen Grundsatz vom Zweck und den Mitteln eklatant verwirklicht. Der Vatikan wußte sehr wohl, daß der wachsende Liberalismus ein gefährlicherer und dauernder Feind der Kirche und der Throne war, als die Revolution, die den Papst höchstens nach Gaëta jagte und ein gekröntes Haupt unter den Mörderdolch oder das Henkerbeil legte, aber immer und immer wieder den alten Status in der oder jener Form zurückbrachte. Rom hat sich stets mit den Republikanern, nie mit dem Konstitutionalismus vertragen. Krieg aufs Messer!

Nach Spanien, das sich nicht mehr blindlings der Kurie beugen wollte, sandte man den neuen Don Carlos, – gegen England die irische Kirchenbill und die Klosteragitation, gegen das autonome Rußland eine neue polnische Rebellion; in Frankreich, das noch an den Siegen der Krim blutete, mußten die Kaiserin und der Sozialismus Schwierigkeiten schaffen und Katastrophen vorbereiten, in Italien begnügte man sich vorerst mit dem Kirchenbann und der Brigantaggia, und in Deutschland reizte man Österreich und die Kleinstaaten, stärkte und mehrte unterdes die römischen Stationen für die künftigen Eventualitäten.

Der Sozialismus, jene gefährlichste aller revolutionären Ideen, wurde von England gepflegt, und auf den Kontinent geworfen, um den alten Einfluß zu stärken, der stark ins Wanken gekommen war. Geniale und ebenso gewissenlose Spekulanten, wie der Jude Lassalle, tauchten auf, um aus der Not der arbeitenden Masse politisches Kapital und Ruf zu schlagen.

Der Liberalismus hatte in Deutschland den Nationalverein geschaffen, um unter dem Prätext jener erhabenen Idee eines einigen mächtigen Deutschen Reiches, welche vor Jahren Männer und Jünglinge schon für das politische Martyrium begeisterte, – das monarchische Preußen zu schwächen und Deutschland noch mehr zu zersplittern, damit desto mehr Ämtchen und Vorteile sich für die politischen Pygmäen einheimsen ließen.

Noch fehlte die Faust, die kräftig eingriff in all das erbärmliche Gewebe und wie mit Blitzstrahl die Wolkenmassen zerriß! – –

Wir haben am Schluß des vorigen Bandes den Beginn der revolutionären Bewegungen in Warschau gezeichnet. Kein wahrhaft großes nationales Gefühl, wie etwa das der Revolution von 1830 lag ihnen zugrunde, nur jesuitische Aufstachlung, der blinde Haß, der rastlose Trieb zur Unruhe und die nationale Eitelkeit einzelner Stände und Individuen, die im Umsturz ihren Vorteil sahen. Die ganze ein Jahr später ausbrechende Rebellion war von vornherein ein totgeborenes Kind, ohne die Einigkeit und Begeisterung eines lebenskräftigen und fähigen Volks, ein blutiger Putsch, wie der Krater des Vesuvs von Zeit zu Zeit seine verheerenden Aschenregen und seine glühenden Lavaströme auswirft, als müsse er zeigen, daß die Flammen in ihm noch nicht erloschen sind.

Während Kaiser Alexander mit dem großen Werke: der Aufhebung der Leibeigenschaft in seinem weiten Reiche beschäftigt war, versuchte jene Revolution des Hasses und des Unfriedens ihm Nadelstiche zu versetzen und Steine in den Weg zu schleudern.

In einem mit halb orientalischen halb Pariser Luxus und Raffinement, wie es die reichen Polen und Russen so sehr lieben, ausgestatteten Salon der ersten Etage des Hotel d'Angleterre lag auf einer Causeuse eine junge Frau von etwa ein- oder zweiunddreißig Jahren, eine schlanke graziöse Gestalt mit feingeschnittenem Kopf und spöttischer Miene. Sie trug ein weites schlafrockartiges Gewand von weißem, weichem Wollstoff, das mit schwarzer Schnur um die Taille zusammen gebunden war, und unter dem zuweilen sich ein kleiner Fuß in eleganter Chaussüre hervorstahl. Die zarten, sehr schönen Arme, an dem Handgelenk von schweren Lavabrazeletts umschlossen, streckten sich kokett aus den weiten Ärmeln des Rocks, und die Hände spielten mit dem goldenen Lorgnon, das sie von Zeit zu Zeit an die Augen führte. An einem der Finger funkelte ein überaus kostbarer Brillantring, auf der Brust an schwerer goldener Kette ein funkelndes Kreuz. Das Haar verbarg eine eng anschließende klösterliche Haube von weißem Linnen.

Auf einem Taburett zu ihren Füßen saß ein junger Mann, eigentlich ein Knabe noch, in der kleidsamen Tracht, der jungen Akademiker, mit schön geschnittenen sarmatischen Zügen, hoher schmaler Stirn von krausem dunkelbraunem Haar umlockt, und weit geöffneten braunen Augen, aus denen er liebevoll zu der noch immer schönen Frau emporsah.

»Wie glücklich bin ich, hochwürdige Frau, mein schönes allerliebstes Tantchen, daß Sie die Güte gehabt haben, sich meiner zu erinnern. Als ich von Vetter Wielopolski hörte, daß Sie aus Italien angekommen, nachdem wir so lange Jahre keine Silbe mehr von Ihnen vernommen hatten und Sie wirklich tot glaubten, – hatte ich wahre Sehnsucht, mich Ihnen nähern zu dürfen, und war überglücklich, Ihre Einladung zu erhalten. Sagen Sie, Tantchen, sind die Äbtissinnen in den neapolitanischen Klöstern alle so hübsch und jung? Ich habe mir von einer solchen heiligen Dame eine ganz andere Vorstellung gemacht?«

»Schelm! – Kannst du schön schmeicheln und flößt dir mein Kreuz und meine Tonsur keine respektvolleren Gedanken ein?«

»Bedenken Sie, Tantchen, daß die Goldonkel aus Indien und die Tanten aus Neapel oder Sizilien in unserem armen Lande sehr seltene Dinge sind! Mutter Gottes, was will ich prahlen unter meinen Komilitonen, wenn ich ihnen erzähle, daß ich eine Tante gefunden habe, die mit dem heiligen Vater auf Du-Komment steht!«

»Keinen Frevel – oder ich schicke dich fort! Du hast also recht viel gute Freunde unter deinen Kameraden?«

»Gewiß, Tantchen, wir halten alle zueinander – das heißt, die Polen!«

»Und die anderen?«

»Bah – die Deutschen und Russen! nun, wir klopfen einander mitunter.«

»Das ist unchristlich, man darf gegen niemanden wegen seiner Nationalität ein Vorurteil hegen.«

»Aber Tante – es sind doch Ketzer!«

Die hochwürdige Frau bekreuzte sich: »Das ist freilich etwas anderes. Unsere heilige Religion muß über alles gehen. Ich hoffe, dein Umgang besteht aus guten Katholiken und ihr versäumt eure kirchlichen Pflichten nicht? Man will in Rom wissen, daß die Lehrer der polnischen Jugend nicht sonderlich mehr darauf halten.«

Die Augen des Knaben funkelten. »Wir wollen keine Russen und keine Ketzer werden. Verlaß dich darauf, Tante, wir haben unserem Beichtvater geschworen, als treue Polen zu sterben!«

»Und wer ist denn euer Beichtvater?«

»Pater Hilarius von den Bernhardinern.«

»Ich wünschte ihn wohl persönlich kennen zu lernen, mein lieber Petrus, um mich zu überzeugen, daß das Seelenheil eines so lieben jungen Verwandten in den besten Händen ist. Du kannst ihm sagen, daß es mir lieb sein würde, wollte er uns in den nächsten Tagen seinen Besuch schenken.«

Der Jüngling schüttelte zweifelnd den Kopf. »In den nächsten Tagen? – Das wird nicht gut angehen.«

»Warum nicht?«

»Weil der Pater wichtigeres zu tun hat.« Er warf einen scheuen Blick auf die Eingangstür und die Portiere die zum Nebenzimmer führte.

»Sprich ohne Furcht – wir sind unbelauscht!«

»Wir müssen vorsichtig sein, hochwürdige Tante. In Warschau haben die Wände Ohren, – die russische Polizei ist überall! – Sie wissen doch, daß übermorgen der Jahrestag von Grochow ist!«

»Was weiter?«

»Heilige Maria, – Sie reden, als wenn Sie keine gute Polin wären.«

»Ich bin eine Polin, vor allem aber eine treue Tochter der heiligen Kirche, der das Seelenheil ihres jungen Verwandten wichtiger ist, als alle Schlachttage. Was hat der Pater Hilarius mit dem Jahrestag von Grochow zu tun?«

»Er wird den Trauergottesdienst in der Pauliner Kirche halten und die Prozession des Volkes führen.«

»Der Pater ist also ein polnischer Patriot?«

Der Jüngling nickte.

»Und du und deine Kameraden – ihr gehört am Ende auch zu diesen sogenannten Patrioten, das heißt zu den Gegnern des Kaisers Alexander?«

Der junge Mensch hob den Kopf stolz empor: »Ich bin ein Pole, ich trage den stolzen Namen Wysocki und mein Großvater war der Oberst des 9. Regiments und verteidigte die Schanzen von Wola, ehe sie ihn nach Sibirien schleppten. Ich heiße Peter Wysocki wie er!«

»Du bist ein törichter Knabe und wirst enden wie dein Großvater und – dein Vater! Um so nötiger ist es, daß ich den Pater Hilarius spreche und deshalb frage ihn, wenn er nicht in dies Hotel zu kommen wünscht, wo und wann ich ihn morgen abend sehen kann, und sage ihm, ich käme von Rom und bäte im Namen der heiligen Rosalia, der Schutzpatronin meines Klosters.«

»Ich werde es tun, hochwürdiges Tantchen.«

»Und versprich mir, daß du deine Mutter von meiner Ankunft nicht eher benachrichtigst, als bis ich es dir erlaube. Du weißt vielleicht, daß in unserer Jugend, – sie ist ja um wenige Jahre älter als ich, – einige Entfremdung zwischen uns eintrat wegen des Erbes unseres Vaters, die böse Menschen nährten und die, den Heiligen sei Dank, durch meinen Eintritt ins Klosterleben gehoben wurde.«

»Ich habe meine Mutter nie Übles von Ihnen sprechen hören, hochwürdige Tante,« sagte der Jüngling treuherzig.

»Um so besser! Aber ich wünsche mir die Überraschung des Wiederfindens selbst vorzubehalten, darum schreibe ihr nicht von meiner Anwesenheit. Ich werde den Markgrafen bitten, gleichfalls meiner nicht zu erwähnen.«

»Er schreibt ihr ohnehin selten, nur wenn er über mich berichtet, andere Korrespondenz hat Mama gar nicht! – Aber hochwürdige Tante – du hast vorhin ein Wort gesagt – über das ich dich fragen möchte.«

»Was ist es?« Ihr Blick lag scharf und beobachtend auf ihm.

»Du sprachst von meinem Vater! Du sagtest, ich würde enden – wie mein Vater! Die Mutter trägt noch immer Trauer um ihn – ich war ein unverständiges Kind noch, als er starb – sagen Sie mir, meine geliebte Tante, was wissen Sie von meinem Vater?«

»Frage deine Mutter!« entgegnete sie kalt.

»Meine Mutter entzieht sich dem – ich weiß nur, daß mein Vater in meiner Kindheit gestorben sein muß – oder sollte er nicht gestorben sein, sollte er bloß verschwunden sein, wie so mancher edler Pole – Tante, ich beschwöre dich, was weißt du von meinem Vater?«

»Ich – nichts! – was soll ich mehr wissen, als deine Mutter? Ich kannte deinen Vater kaum, ich hatte damals schon jahrelang selbst deine Mutter nicht mehr gesehen, und wurde ohnehin bald aus meinem Kloster in Krakau abberufen, zuerst nach Tirol, dann nach Italien. – Aber Kind, die Zeit, die ich dir für heute widmen kann ist zu Ende, – ich erwarte Besuch und du mußt gehen. Da nimm dies einstweilen als ein kleines Zeichen meiner Liebe! Sie ging nach dem Seitentisch und nahm aus einem vergoldeten Kästchen einen kostbaren Rosenkranz. »Der heilige Vater selbst hat ihn geweiht, möge er dich immer an die Pflichten für deinen Glauben und dein Vaterland erinnern.«

Er küßte ihr dankbar die Hand. »Wenn Sie mich fortschicken, meine gnädige hochwürdige Tante, so muß ich zu meinem Bedauern gehen. Ich habe ohnehin noch einen Auftrag hier auszurichten.«

»Hier im Hotel?«

»Ja – von Pater Hilarius. Es bleibt übrigens in der Verwandtschaft, denn nicht wahr Tante, – die Oginski's sind ja mit den Zerboni's verwandt?«

»Wie kommst du auf Oginski?«

»Es wohnt einer hier im Hotel – Ihnen kann ich es wohl sagen, als Graf Czatanowski, aber es ist einer unserer Verwandten aus Paris, Hippolyt Oginski, der nach Sibirien verbannt war und bei der letzten großen Amnestie zurückgekehrt ist.«

»Zu welchem Zweck ist er hier?«

»Ich weiß es nicht, – er muß doch wohl die Polizei zu fürchten oder nicht die Erlaubnis haben, sich in Warschau aufhalten zu dürfen, obschon man sagt, daß er ein Lauer sei. Man ist seit dem Spaß im Oktober, als der Kaiser und der Regent von Preußen hier zusammenkamen, sehr mißtrauisch. Tantchen, ich sage Ihnen, es war ein Gaudium, und wir von der Akademie haben wacker geholfen, den Russen eine Nase zu drehen!«

»Fort mit dir!«

»Ich gehe schon, aber« – er warf sich in Positur und sagte mit halb komischem, halb ernstem Pathos: »Ich bitte um Ihren Segen zuvor, hochwürdige Tante Äbtissin!«

Sie machte, als er schon an der Tür stand, eine graziöse Bewegung mit der Hand, als erteilte sie ihm den kirchlichen Segen. »Nimm ihn mit dir« – die Tür schloß sich hinter dem Abgehenden – »und meinen Fluch dazu!«

Ihr zartes hübsches Gesicht verzerrte sich bei den Worten zu einem diabolischen Ausdruck!

Wenn Kapitän Chevigné dies Bild gesehen hätte, würde er sich gewiß an eine der Gestalten im Hofe des Klosters der Verdammten erinnert haben, als sie aus den Grüften ihres lebendigen Leibes nochmals emporstiegen zur Oberwelt! –

Oder wenn einer dieser lustigen Gäste an der Tafel im Refektorium der Ruine von San Agatha es geschaut, würde die Gestalt der frommen Äbtissin ihn nicht gemahnt haben, an jene, die aus dem wilden Kampf der Piemontesen und der kühnen Legionäre des König Franz sich hervorstahl mit der blutigen Schere, den glänzenden Ring im Busen bergend und dann an der Seite des schwer wunden Polen kniend! – den Ring, von dem selbst der kluge Abbé glaubte, daß die Habgier der Schwester Martina ihn gestohlen? –

Die Verwandlung, die Verzerrung dieses Antlitzes dauerte nur wenige Augenblicke, – dann kehrte die Maske der ruhigen Beobachterin, der vornehmen, frommen Kirchenfrau wieder zurück. Die Äbtissin drückte den Knopf der Schelle, die die Dienerschaft des Hotels rief, und nahm ihren Platz auf der Causeuse wieder ein und ihr Brevier zur Hand.

Ein Kellner trat ein.

»Was befehlen Ihro Gnaden?«

»Ich wiederhole zunächst meinen Wunsch, daß wenn ich schelle, das Mädchen der Etage mich bedient, nicht die männliche Dienerschaft, bis die meine hier eingetroffen ist. – Ist der letzte Bahnzug von Krakau bereits angekommen?«

»Er muß in dieser Minute eingetroffen sein.«

»Ich erwarte mit ihm meine Begleiterin, die natürlich auch dem geistlichen Stande angehört, und der ich daher die gebührende Achtung bewiesen zu sehen wünsche. Sie haben die Briefe, die ich Ihnen diesen Nachmittag zur Bestellung übergab, abgehen lassen?«

Der Kellner lächelte pfiffig. »Durch den zuverlässigsten Kommissionär, den wir haben.«

Die Äbtissin maß ihn hochmütig. »Zuverlässig oder nicht, er wird doch einige Briefe bestellen können, die keinerlei Geheimnisse enthalten. Sie haben meine Befehle.«

»Euer Gnaden wollen entschuldigen – ein Herr wartet unten im Salon und bittet um die Ehre, vorgelassen zu werden.«

»Sein Name?«

Der Kellner legte die Karte, die er in der Hand trug, auf einen silbernen Teller, der auf dem Tisch an der Tür stand, und überreichte sie.

»Generalmajor Marquis Paulucci!« las die Dame laut – »ich lasse bitten!«

Der Garçon verschwand.

Die Äbtissin benutzte die Pause, um ihre Toilette etwas in Ordnung zu bringen und dem Kasten, aus dem sie vorhin den geweihten Rosenkranz geholt, einige Papiere zu entnehmen und in den Bereich ihrer Hand zu legen. Dann ließ sie sich wieder nieder und blieb in steifer Haltung sitzen, die Augen zu Boden geschlagen, bis sie die Tür sich öffnen und die Anmeldung des Garçons hörte:

»Se. Exzellenz, der Herr General!«

Der Angemeldete trat ein. Der Marquis, der bestimmt war, zu Anfang der Warschauer Rebellion die Rolle eines offiziellen Vermittlers, jedenfalls eine sehr undankbare, zu spielen, gehörte den Regierungskreisen an und stammte aus einer italienischen Familie. Es war ein Mann von etwa zweiundfünfzig Jahren, von hoher schlanker Gestalt und ausdrucksvollem Gesicht. Um den Mund lag eine gewisse Gutmütigkeit.

Er kam sehr jung nach Rußland zu seinem Onkel, dem damaligen Gouverneur der Ostseeprovinzen, der ihn bei seinem Tode der Fürsorge des Kaisers Alexander I. übergab. Mitte der dreißiger Jahre wurde er Adjutant des humanen Generals von Kreutz, und nachdem dieser den Abschied genommen, persönlicher Adjutant des Feldmarschalls Paskewitsch, nach dessen Tode bei seinem Nachfolger, dem Fürsten Gortschakoff und von beiden wegen seines redlichen biederen Charakters sehr geschätzt, auch mit vielen wichtigen und schwierigen Untersuchungen betraut. Trotz der großen Geneigtheit der Polen, die russischen Beamten der Bestechlichkeit zu beschuldigen, hat ihn nie eine Stimme derselben bezüchtigt. Als er längere Zeit Chef der ganzen Kommission für die politischen Untersuchungen war, gab es wenig Familien in Polen, die seiner Humanität nicht zu Dank verpflichtet gewesen wären. Besonders hatte er sich Ende des Jahres 1860 gegen die zu strenge Bestrafung der vier jungen Leute erklärt, die wegen des Unfugs im Theater während der Anwesenheit der drei Monarchen in Warschau zu 10 bis 15 jähriger Verbannung nach Sibirien verurteilt worden waren, und dies ihm die vorläufige Entfernung von seinem Posten zugezogen.

Der Marquis trat mit einer tiefen Verbeugung näher, die Äbtissin verneigte sich nur.

»Ich habe die Ehre gehabt, von der gnädigen hochwürdigen Frau einige Zeilen zu empfangen,« sagte der General höflich, »die mich um eine Unterredung ersuchen. Ihro Gnaden sehen, daß ich mich beeilt habe, Ihnen selbst meine Aufwartung zu machen.«

Die Dame erhob sich ein wenig von ihrem Sitz. »Nehmen Sie meinen Dank, Herr Marquis, für Ihre Güte. Ich wollte unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht verfehlen, Ihnen meine Ankunft in Warschau anzuzeigen, und indem ich Ihnen zu meiner Legitimation einen Brief Ihrer Frau Mutter überreiche, die ich die Ehre hatte, in Brescia zu sehen, mich Ihrem Schutz zu empfehlen. – Haben Sie die Güte, Platz zu nehmen.«

»Ah – von meiner lieben alten Mutter! – O geben Sie, hochwürdige Frau! Sie konnten mir keine liebere Empfehlung bringen, obschon ich fürchte, Ihnen wenig nützen zu können.«

»Euer Exzellenz sind der Chef der politischen Polizei,« sagte die Äbtissin, einen Brief in seine Hand legend, »und da ich mich meiner Familieninteressen wegen einige Zeit in Warschau aufhalten und nicht gern als geborene aber emigrierte Polin irgend einem politischen Verdacht unterliegen möchte, erlaubte ich mir, mich direkt an Sie zu wenden.«

»Die Frau Gräfin-Äbtissin irren, ich habe nicht mehr die Ehre, der Chef der politischen Polizei in Warschau zu sein.«

»Wenn auch das nicht, so hat mir die Überbringung des Briefes doch die Ehre einer sehr angenehmen Bekanntschaft gewährt.« Die gewandte Frau hatte ihre Enttäuschung geschickt zu verbergen verstanden.

»Das hindert gewiß nicht,« sagte der General verbindlich, »meinen geringen Einfluß zu Ihrer Disposition zu stellen, um jede Belästigung Ihnen fern zu halten. Ich werde mit Mukhanoff und Oberst Trepoff sprechen. Aber, hochwürdige Frau, ich bin so ungeduldig, etwas von meiner alten Mutter zu hören, daß ich Sie – wenn es nicht zu unbescheiden wäre, – um die Erlaubnis bitten würde, den Brief in Ihrer Gegenwart öffnen zu dürfen.«

»Ich ehre und empfinde zu sehr die Gefühle eines Sohnes mit, um Euer Exzellenz nicht selbst darum zu bitten.«

Der General öffnete den Brief und beschäftigte sich einige Momente angelegentlich mit dessen Lektüre. Man sah sein offenes ehrliches Auge in Freude glänzen bei dem Lesen der Zeilen von geliebter Hand.

»Ich danke Ihnen sehr für die guten Nachrichten, die Sie mir gebracht, hochwürdige Frau,« sagte der Marquis – »so Gott will, werde ich das Glück haben, meine greise Mutter in diesem Frühjahr zu besuchen. Sie empfiehlt mir Sie als fromme und dabei doch weltgewandte Dame von großen Verbindungen in Rom, die zugleich als eine Verwandte der ersten polnischen Familien und bei ihrer vorurteilsfreien Auffassung der politischen Verhältnisse während ihres Aufenthaltes in Warschau der Regierung von großem Nutzen sein könnte!«

Die Äbtissin begnügte sich mit einer Verbeugung.

»Die hochwürdige Frau sind, wie ich aus der Unterschrift Ihres Billets ersah, eine geborne Gräfin Zerboni

»Mein Vater war General Graf Zerboni.«

»Ich lernte ihn nach dem Feldzug von Einunddreißig flüchtig kennen, als ich Adjutant bei Paskewitsch war. Er hatte Verstand und Patriotismus genug, von der Amnestie des Kaisers Nikolaus Gebrauch zu machen. Sie müssen damals noch sehr jung gewesen sein.«

»Eine Klosterfrau, Exzellenz, weiß von den Eitelkeiten der Welt nichts und braucht aus Ihren Jahren kein Geheimnis zu machen. Ich bin im Jahre Neunundzwanzig geboren, und trat mit 18 Jahren ins Kloster.«

»So jung schon den Freuden der Welt entsagen – dazu gehört in der Tat Überwindung oder tiefer Beruf! – Wie ist mir denn – wenn ich mich recht erinnere …« er brach gewandt ab, als er den stolzen Blick der Klosterfrau begegnete … »Sie hatten ja wohl noch eine Schwester?«

»Ich habe sie noch – die Gattin des früheren Kollegienrats Wysocki!«

»Eines Sohnes des kühnen Verteidigers von Wola. Ganz recht – die Familie verfolgte das Unglück, – Ihr Schwager starb ja wohl eines plötzlichen Todes?«

»Er wurde im Jahre Fünfzig ermordet, – ich war damals bereits Nonne! – wie es hieß von den Händen der polnischen Patrioten.«

»Richtig – ich erinnere mich der Sache, man fand ihn erdolcht auf der Schwelle seines Amtslokals. – Und lebt Ihre Frau Schwester noch?«

»Meine Schwester lebt auf ihrem Gut im Radomschen in stiller Zurückgezogenheit. Sie wieder zu sehen und zugleich meine Ansprüche auf das Erbe meiner Mutter, einer geborenen Oginski, geltend zu machen, bin ich mit der Erlaubnis meiner Oberin nach meinem Vaterlande gekommen, da gerade eines notwendigen Umbaues meines Klosters wegen infolge der traurigen kriegerischen Ereignisse die Schwestern für einige Zeit in andere Konvente zerstreut werden mußten. – Euer Exzellenz sind sehr gütig, sich meiner Familie zu erinnern. Ich kann, nach den traurigen Erfahrungen in ihr, nur sehr bedauern, daß der Sohn meiner Schwester den Mördern seines Vaters sich anschließt.«

Der Marquis blickte sie aufmerksam an. »Ist es erlaubt, zu fragen, wie Sie dies meinen?«

»O er ist ein Knabe noch – erst vierzehn Jahre – er ist auf einer der hiesigen Akademien, und Euer Exzellenz wissen ja wohl, wie alle diese törichten Knaben Phantasten und Fanatiker sind. Ich bete zur heiligen Jungfrau und allen Nothelfern, daß sie meiner Schwester ein Unglück ersparen mögen! Man sollte in der Tat in Warschau strenger sein mit der Erziehung der Jugend!«

Der Marquis sah ernst vor sich nieder. »Wir dürfen nicht zu streng sein mit ihr. Aus der Begeisterung der Jugend gehen oft die besten Männer hervor, wenn diese Gefühle in richtige Bahnen für das Schöne und Edle geleitet werden.«

»Das sage ich auch solche Torheiten, tote eine revolutionäre Feier der Schlacht von Grochow, die ohnehin so viel Blut gekostet, können unmöglich zu etwas Gutem führen. Unsere heilige Kirche lehrt Versöhnung und Unterwerfung unter den Willen des Höchsten. Man müßte allen Einfluß der Kirche auf das Blut zu Hilfe nehmen, um solche Störungen des öffentlichen Friedens zu verhindern.«

Der General sah sie mit unverhehltem Erstaunen an. »In der Tat, hochwürdige Frau, Ihre Worte überraschen mich – ich bin sehr erfreut, solche Gesinnungen von einer Dame Ihrer Geburt und Ihres Standes aussprechen zu hören.«

»O mein Herr, wie konnten Sie daran zweifeln! Hatte nicht schon mein Vater sich von diesem törichten Traum einer Losreißung Polens getrennt? Haben wir nicht das Beispiel in unserer Familie, zu welchen traurigen Taten dieser Fanatismus, dieser Haß gegen die gesetzliche Ordnung, dieser revolutionäre Freiheitstaumel führen? – Haben nicht selbst wir armen, den politischen Leidenschaften so fern stehenden Bräute des Himmels erleben müssen, daß unser stilles Asyl von jenen Horden des Königs Viktor Emanuel erbrochen und zerstört wurde, die unter dem Vorwand, Italien Freiheit und Einigkeit zu geben, nur Mord und Umsturz in die alte Ordnung und die friedliebende Herrschaft des heiligen Stuhls gebracht haben!«

»Sie werden zweifelsohne dem Herrn Erzbischof Fijalkowski Ihren Besuch machen?«

»Ich habe Seiner Erzbischöflichen Gnaden pflichtschuldig meine Ankunft angezeigt und um Audienz gebeten.«

»Ich will Ihnen nicht verhehlen, hochwürdige Frau,« fuhr der General fort, »daß die Anwendung einer so loyalen Meinung, wie Sie sie eben auszusprechen die Güte hatten, auch auf unsere polnischen Verhältnisse mir um so wichtiger erscheint, als wir uns in diesem Augenblick gerade nicht besonderer Freundlichkeit von seiten der Kurie erfreuen zu dürfen glauben. Ja wir haben Ursache, anzunehmen, daß gerade die katholische Geistlichkeit in Polen an der sich überall zeigenden unruhigen Bewegung nicht ohne Anteil ist. Es sollte mich daher sehr freuen, wenn Sie, hochwürdige Frau, vielleicht die Mission hätten, Seiner Erzbischöflichen Gnaden etwas loyalere Instruktionen für seine Geistlichen anzuempfehlen.«

»Verzeihen Sie, ich habe keinerlei offiziellen Auftrag, ich wünsche hier nur als Privatperson mit Erlaubnis der Warschauer Polizei zu verweilen, und spreche nur meine private Meinung aus. Aber ich glaube, daß Euer Exzellenz sich über die Stimmung im Vatikan täuschen, und ich werde, wenn Sie das wünschen, keinen Anstand nehmen, Seiner Erzbischöflichen Gnaden das, was ich dort gehört und beobachtet, zu wiederholen und meine geringe Meinung über das verbrecherische Treiben der Unzufriedenen auszusprechen. Die geheime Agitation, die Sie der – allerdings auch in Ihrem Lande schwer bedrängten – Kirche zuschreiben, geht weit eher von den geheimen Emissären des alten Rebellen Garibaldi und des Ungarn Kossuth aus, wie man mir ganz bestimmt in Rom versichert hat, und Euer Exzellenz werden wissen, daß die Polizei der heiligen Väter gut unterrichtet ist und die Kirche gewiß nicht mit so erbitterten Feinden ihrer selbst zusammen wirken würde.«

»Es ist mir von Wichtigkeit, ehrwürdige Frau,« sagte sich erhebend der General, »von Ihnen bestätigt zu sehen, was ich selbst beobachtet und befürchtet habe. Die polnische Emigration in Italien ist nicht unbedeutend, intelligent und tätig, und wir wissen, daß sie mit Garibaldi in Neapel und Kossuth in genauer Verbindung steht.«

Auch die Äbtissin hatte sich erhoben. »Über das Wirken wenigstens eines ihrer einflußreichsten und tätigsten Mitglieder kann ich Euer Exzellenz beruhigen.

»Darf ich den Namen wissen?«

»Warum nicht? – Hier ist das ganze Verzeichnis aller augenblicklich in Italien lebenden emigrierten polnischen Untertanen Seiner Majestät des Zaren.«

Sie überreichte ihm ein Papier, das der General mit einigem Befremden entgegennahm. »Nachdem die Frau Gräfin mich noch soeben versichert haben, daß Sie sich in keiner Weise mit Politik befassen, setzt mich dieses Geschenk allerdings in Erstaunen.«

»Ich kann Sie darüber leicht aufklären. Ich erhielt es von dem Beichtvater meines Klosters, einem würdigen Geistlichen, der es für Pflicht gehalten hatte, die Papiere des auf den Tod verwundeten Kapitän Langiewicz an sich zu nehmen.«

»Langiewicz? Marian Langiewicz?« rief der General erstaunt. »Aber das ist unmöglich, Sie irren sich. Gräfin!«

»Ich weiß nicht, ob der Kapitän Marian oder anders mit Vornamen heißt; ich weiß aber ganz bestimmt, daß Kapitän Langiewicz bei einem Ausfall der Soldaten des unglücklichen Königs Franz aus Gaëta am Neujahrstag tödlich verwundet worden ist.«

»Aber die Regierung hat sichere Nachrichten, daß Langiewicz noch vor kurzem als Emissär des Pariser Komitees über die Posensche Grenze gekommen ist und nur durch eine unglückliche Verkettung von Zufällen der Wachsamkeit des Kommissar Droszdowicz, eines unserer tätigsten Beamten, entgangen ist.«

Die Äbtissin zuckte die Achseln. Dann muß es zwei Kapitäne dieses Namens geben. Für die Sicherheit meiner Nachricht bürge ich Ihnen mit meiner Ehre. – Werde ich das Vergnügen haben, Euer Exzellenz morgen abend im Palais Wielopolski zu sehen? Die Polizei wird doch nichts dawider haben, daß ich mich auch in den Kreisen meiner polnischen Verwandten und der früheren Freunde unserer Familie bewege?«

»Nicht das geringste – ich bürge Ihnen dafür und wünsche den Kreisen unseres Adels, die leider sich etwas sehr exklusiv halten, recht vielen Zuspruch von solcher Gesinnung. Ich rechne auf Ihr Versprechen in betreff des Herrn Erzbischofs?«

»Und ich auf das Ihre in betreff des törichten Jungen, meines Neffen, dessen Vormund der Markgraf ist. Wenn ich Ihnen und der Sache der Ordnung und Gesetzlichkeit irgend einen Dienst leisten kann, der sich mit meinem Gewissen und meiner Stellung verträgt, so disponieren Euer Exzellenz ganz über mich.«

Sie geleitete den General bis zur Tür und empfahl sich ihm mit ebensoviel Würde als Verbindlichkeit. Der unvermeidliche Kellner stand bereits wieder vor der Tür und beantwortete ihren stolz fragenden Blick mit einer bejahenden Gebärde.

»Sogleich! – in fünf Minuten schicken Sie sie zu mir. Ich werde schellen, wenn ich der Bedienung bedarf.«

Sie eilte in den Salon zurück und warf sich leidenschaftlich auf ihren Sitz. »Luft! Luft! Ich ersticke unter dieser Atmosphäre von blindem Dünkel und Kurzsichtigkeit. Und das soll noch einer ihrer besten sein! – Wie plump dieser Marquis in die Falle ging – das Spiel steht gut, und ich werde mich rächen an ihnen allen – denn ich hasse sie, ja ich hasse sie, die frei und glücklich sind, selbst auf dem Vulkan, auf dem sie stehen. Wenn ich erst sicher bin von jener anderen Seite – ich will die Macht, die ich habe, benutzen, sie alle zu verderben, eins durch das andere, und müßte jede Straße in Warschau ein Blutstrom sein! – Was kümmert mich ihr alberner Patriotismus für ein so jämmerliches Land wie das ihre! Was der doppelköpfige Adler und seine Interessen – was selbst der alte Tor auf dem sogenannten Thron Petri, – was Blutsverwandtschaft und Nationalität – sie sind glücklich, und haben mich um das Glück und meine Jugend gebracht und ein höllisches Feuer in meinen Busen gegossen. Zwölf Jahre – und es glüht noch eben so heftig wie damals! – Wahret euch, die Hand der Rache ist über euch! – jene furchtbare Gewalt, die mich dem Licht der Sonne entriß und in jenen steinernen Sarg als Gefangene warf, jene Macht, der ich noch immer gehorchen muß – wenn sie einen Dämon des Hasses zu der Schürung des Feuers in dies Land senden wollte – ihre Wahl war gut!«

Es klopfte leise, demütig an die Tür. Die Äbtissin, wie sie selbst ihren Rang im Fremdenbuch bezeichnet und durch Paß der römischen Regierung legitimiert hatte, setzte sich erst vor den Schreibsekretär, mit dem Rücken gegen die Tür gewendet, ehe sie »Herein« rief.

Die Tür öffnete sich, – es trat eine Person ein, schloß die Tür und blieb in der Nähe derselben stumm und eine Anrede erwartend stehen. Die Eingetretene war ein Weib in der halb klösterlichen Tracht der dienenden Schwestern der Nonnenorden. Sie trug ein Gewand wie diese von grobem, wollenen Stoff, den Rosenkranz am Gürtel, das schwere, dunkle Tuch um den Kopf, nur die Stirn- und Kinnbinde nicht. Unter dem Tuch sah man spärliches, bereits ergrautes Haar, einfach gescheitelt. Das Gesicht, von niedrig slavischem Typus, war groß und eckig; etwas Finsteres, Unheimliches lag auf der niederen Stirn und den buschigen Brauen, auf den Wangen, bereits von Falten durchzogen, in dem gekniffenen Mund und dem massiven, viereckigen Kinn; die Gestalt, obgleich sie an sechzig Jahre zählen mußte, ungebeugt groß, starkknochig, die Hand, in der sie ein Papier hielt, massiv. Man sah an ihrem finstern Blick, aus den schmalen, schiefen Augen ihre Ungeduld, nicht bemerkt zu werden.

Die Frau am Schreibtisch fuhr in ihrer anscheinenden Beschäftigung noch eine Weile fort, dann sagte sie, ohne sich umzuwenden: »Tritt näher! – Dein Name?«

»Veronica – die Pförtnerin im Kloster der ehrwürdigen Carmeliterinnen zu Krakau. Die hochwürdigste Frau hat mich hierhergeschickt, um mich bei Ihro Gnaden der Frau Äbtissin zu melden. – Hier ist meine Lizenz!«

Die Würdenträgerin der Kirche streckte ihre zarte, feine Hand nach rückwärts, um das Papier in Empfang zu nehmen. Die Pförtnerin legte es mit einer Gebärde von Ungeduld und Unzufriedenheit über die rücksichtslose Art dieser Behandlung in die Finger der Oberin, und blieb ohne die gewöhnliche halbe Kniebeugung stehen.

Die Hand der Prälatin blieb in der vorigen Stellung ausgestreckt.

»Nun? – Ave in nomine domini, filii et spiriti sancti.«

»Amen!«

Die Schließerin beugte das Knie und küßte die Hand der Oberin.

Diese hatte, während die andere den Kopf ziemlich mürrisch unter der Klosterdisziplin beugte, den ihren nach der Gedemütigten gewendet und erhob sich langsam; – das Licht der Astrallampe fiel voll und klar auf ihr Gesicht.

»Bei der heiligen Jungfrau, der ersten Carmeliterin,« sagte sie spöttisch mit unverstellter Stimme, – »ich glaube wirklich, du bist unverbesserlich, Veronica, immer noch die Alte!«

Die Klostermagd sprang bei dem Klang dieser Stimme empor wie ein angeschossener Wolf ihrer Wälder, und starrte der Frau einen Augenblick in das Gesicht, dann schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen.

»Heilige Ignatia und alle vierzehn Nothelfer – Schwester Mathildis – ist es dein Geist oder bist du es wirklich?«

»Faß mich an – Geister haben nichts von Fleisch und Blut, und ich schwöre dir, ich habe beides und vieles damit nachzuholen!«

Das alte, mürrische, bösartige Geschöpf tanzte wie wahnwitzig im Gemach umher. Sie betrachtete und liebkoste die Klosterfrau, sie drehte sie nach allen Seiten, und lachte hell auf vor Freude.

Dies Gebaren, diese Anhänglichkeit schien in der Tat einen Eindruck auf das kalte, sonst gefühllose Herz der Klosterfrau zu machen, und sie reichte dem Weibe beide Hände.

»Ich danke dir, Veronica,« sagte sie – »aber beruhige dich und gib dem Verstande Gehör. Du kannst dir wohl denken, daß ich nicht ohne Ursache hier bin, – aber wir dürfen die Vorsicht nicht außer acht lassen, in Warschau, wie an manchen anderen Stellen haben die Wände Ohren!«

Das harte Weib preßte die Hand auf den Mund. »Gewiß, ich will schweigen, ich will alles tun, Mathildis, kleiner Satan, der mich um die ewige Seligkeit gebracht hat. Aber nochmals – bist du es wirklich? – Wir haben dich tot und begraben geglaubt, und jedes Jahr, an dem Tage, da man dich damals abholte, eine Messe lesen und das verfluchte Geschöpf hungern lassen!«

»Wie – Barbara Ubryk? – Sie lebt noch immer?«

»Es wäre ihr besser, sie wäre längst tot und verfault! So tut sie's bei lebendigem Leibe!« sagte die Klosterdienerin mit hämischem Ausdruck. »Das Geschöpf hat ein zähes Leben! – Doch vielleicht ist's gut, nun du wieder da bist!«

»Warum das?«

»Hm – ich meinte nur so! Du könntest Absichten haben.«

»Spiele nicht die Unwissende, Weib! Du weißt, daß ich sie in den Abgrund der Hölle wünsche! – Komm hierher und rede leise. Wie ist's mit ihr?«

»Sie ist bereits halb stumpfsinnig – wenigstens spricht sie selten ein Wort.«

»Und wenn sie spricht?«

»So ist's ein Fluch auf dich.«

»Bah! – nennt sie seinen Namen – spricht sie von dem verfluchten Zeugen des Verrats?«

»Niemals!«

Das Gesicht der Klosterfrau hatte etwas Dämonisches bei den Fragen, die sie tat.

»Und sie hat – in der ganzen Zeit – niemals eine Andeutung gemacht, daß sie weiß, wo das Kind geblieben?«

»Niemals! – ich habe sie gequält bis Blut, – ich habe sie hungern und dursten lassen, der schlechteste Hund hat es besser als sie in seinem Loch – sie schweigt!«

»Ha – ich sage dir, Ihr seid Stümper mit Euren Kerkern und Strafen. Ich wüßte einen Ort, der ihren Trotz brechen würde; – beim Satan und seinen Töchtern, den Verdammten!«

»Bist du vielleicht in einem solchen Kerker gewesen? Ich dächte, was Schlimmeres, als den der Barbara Ubryk könnt's nicht geben!«

»Schweig', Unke!« Die Klosterfrau schauderte unwillkürlich bei der Erinnerung. »Ich bin die Äbtissin des Klosters der heiligen Rosalia, wie du siehst, also kann von einem Leben im Kerker nicht die Rede sein.«

»Ich meinte nur – wenn ich an jene Stunde denke, als sie über dich im Refektorium zu Gericht saßen und du ihnen ins Gesicht Trotz botest und sie verhöhntest und Dinge sagtest, wie sie vielleicht noch niemals die Mauern eines Klosters gehört haben! – als die Männer, man flüsterte, es seien Diener der Inquisition gewesen, dir die Hände banden, den Knebel dir in den Lästermund drückten und dich zwangen, in den verschlossenen Wagen zu steigen – ich hätte nimmer gedacht, dich wiederzusehen. Ich glaubte dich längst im Grabe!«

»Auch die Gräber öffnen sich zuweilen – ohne ein Wunder, an das nur die Dummen glauben. Hütet Euch, daß nicht auch das Grab der Barbara Ubryk sich öffnet!«

»Dafür ist gesorgt. Die Alten hüten sich wohl, zu reden, und die Jungen wissen nichts anderes, als daß die Barbara wegen Unzucht und Schändung der Kirche zur ewigen Klausur verurteilt und darüber wahnsinnig geworden ist. – Du siehst, Herzblättchen, daß alle deine Sünden ihr noch in die Schuh' geschoben worden sind. Die Sache hat damals Aufsehen genug gemacht und war nicht so leicht bei der unverschämten Neugier der Laien tot zu schweigen.«

»Aber die jetzige Oberin?«

»Mutter Wenzyk ist gut geschult; deine alte Freundin und Schützerin Mutter Theresa, die Koczdczierkiewicz, die um deinetwillen das Kloster verlor, hat sie noch geschult und Pater Piantkiewicz, der Beichtvater, hält beim Bischof die Hand über uns. Hättest du's mit den jungen Nonnen nicht zu toll getrieben und durch deine Aufsässigkeit und Ketzerei ihn erbittert, – alles andere würde dir sicher nicht den Hals gebrochen haben. Aber nun erzähle mir, Liebling, wie ist dir's damals gegangen? Wohin hat man dich gebracht? Was ist mit dir geschehen? Warum hast du nicht längst von dir hören lassen? Wie kommst du jetzt zu den Ehren?«

»Sachte, sachte, gute Veronica,« sagte spöttisch die Klosterfrau – »vielleicht erinnerst du dich an das Evangelium vom verlorenen Sohn und daß über einen reuigen Sünder im Himmel mehr Freude ist, als über zehn Gerechte! Nun schau' mich an, du siehst ein verlorenes und wiedergefundenes Schaf vor dir! Seh' ich nicht aus im weißen Wollenhabit – es ist beste Lamawolle, ich versichere es dich! – wie ein Schaf? Es geht nichts über die Komödie der Reue und Bekehrung, – zur Belohnung hat man mich, da ich nun doch einmal aus einem gräflichen Ehebett entsprungen bin und man auch im Vatikan etwas auf gute Geburt gibt, zu einer Würdenträgerin erhoben!«

»Aber Herzchen,« fragte die Alte, – »was willst du eigentlich wieder hier?«

»Was ich will? Mein altes Geschäft will ich treiben, Verderben stiften, mich rächen will ich an der Gesellschaft der Menschen und ihren Vorrechten, – und du Veronica, mein tapferer Leibknappe, sollst mir helfen; denn ich weiß, etwas Schlimmeres und zum Schlimmen Befähigteres, als du, gibt es nicht!«

»Du müßtest es denn selbst sein, Rudikic!« Litthauisch: Kindchen.

»Ich wußte freilich nicht, ob du noch lebtest oder schon gehangen wärest,« fuhr die Klosterfrau fort – »aber ich dachte, Unkraut vergeht nicht so leicht, und so ließ ich die Priorin anweisen, die Schließerin Veronica zum bestimmten Tage nach Warschau zu senden und auf unbestimmte Zeit zu beurlauben.«

»Du hast recht getan, Ballandza, Taube. du scheinst Geld zu haben in Hülle und Fülle und nun wollen wir herrlich und in Freuden leben!«

»Sachte, sachte! Es soll dir nichts abgehen, aber der Henker soll auch nicht um sein Recht kommen. Wir wollen uns redlich in die Arbeit teilen, ich den Adel und du die Kanaille!«

»Aber um welche Teufelei handelt sich's eigentlich, szirdic namo?« Mein Herz.

»Sie wollen, oder vielmehr, sie sollen wieder Rebellion machen, Blut soll fließen, die Kugel und der Strick Arbeit haben.«

»Bravo, Kindchen, ich will zu den Heiligen beten, an die du zwar nicht glaubst, aber es kann doch nicht schaden, daß die Hundesöhne, die Russen, es tüchtig kriegen!«

Die Äbtissin, die auf dem Diwan saß, während die Alte bewundernd und mit ihr wie mit einem Kinde tändelnd vor ihr hockte, wiegte den Kopf.

»Wer weiß! Die andern taugen auch nichts! Hat mir einer von der ganzen Sippe beigestanden, als sie mich zum Kloster zwangen? Ich will mich freuen, wenn ihrer recht viele d'ran glauben müssen und nach Sibirien wandern oder baumeln. Vorerst gilt's, sie aneinander zu hetzen, das dumme Volk und die hochmütigen Adligen, und beide wieder gegen die Moskowiter! Du mußt deine alten Bekanntschaften in Warschau wieder aufsuchen – du magst die Klostertracht abtun, ich gebe dir Dispens für alles!«

»Und du, Kindchen?«

»Mir dient die Kutte besser bei allen Parteien. Das Sprüchwort sagt ja, daß der Teufel in eine Kutte oder in einen Weiberrock kriecht, wenn er Unheil stiften will, – nun hier hat er beides. Vor allem gilt es, irgendeinen Schlupfwinkel aufzutreiben, wo wir uns ohne Aufsehen leicht verwandeln können, – das ist deine Sache. Geld sollst du haben, mehr als du brauchst, denn ich weiß, du bist habsüchtig und geizig. Ich kannte nur eine, die's noch schlimmer war, und selbst die hab' ich hinters Licht geführt. Sieh den Ring hier – was denkst du davon?«

Sie ließ den Stein blitzen, die Alte faßte gierig nach der Hand und bewunderte die Diamanten. »Bei der heiligen Theresa, das Ding muß viel Geld kosten, in der Monstranz selbst haben wir's nicht so schön! kaum wird's die heilige Jungfrau von Czenstochau haben.«

»Bah – es wär' auch schade, wenn die Steine dort verkümmerten. Der Ring ist unter Brüdern seine achttausend Rubel wert – ich hab' ihn in Rom von den Juden taxieren lassen. Siehst du einen Fleck daran?«

»Nein – nicht die Spur!«

»Ich auch nicht und doch hab' ich ihn einem schurkischen Ungarn vom Finger geschnitten, der ihn einem dummen, neapolitanischen Principe abgegaunert hatte.« Sie lachte hell auf bei der Erinnerung. »Was die fromme Martina für ein Gesicht schnitt, als der kluge Pfaffe ihr die Erbschaft auf den Kopf zusagte und all ihren Beteuerungen nicht glauben wollte.«

»Wer ist die Martina?«

»O – eine Nonne, wie ich war, ehe das heilige Kollegium mich zur Äbtissin machte. – Doch nichts von ihr weiter, wir haben Dringenderes zu sprechen. Du wirst morgen das nötige kaufen, um den Klosterkram entbehrlich zu machen. Es sind jetzt – laß sehen – es sind vierzehn Jahre, daß du nicht in Warschau warst. Da muß manches verändert sein und viele wird der Teufel geholt haben, die du nicht mehr wiedertriffst!«

»Es werden auch viele noch am Leben sein – ich kenne die alten Schlupfwinkel.«

»Desto besser. Vorerst horche überall hin, es wird dir leicht werden, denn die Revolutionspartei beabsichtigt in den nächsten Tagen eine Demonstration. Obschon mir die russische Polizei ziemlich zahm zu sein scheint, kommt es doch vielleicht zum Schießen. Mach' dich mit den Rädelsführern im Pöbel bekannt, schimpfe auf den Adel und die Reichen, die gemeinsam mit der Regierung das Volk unterdrückten. Es gibt auch diesmal – soviel weiß ich bereits – bei der Erhebung zwei große Parteien, die Adelspartei, die mein Vetter Wielopolski und Graf Zamoyski noch im Zügel hält und deren Heißsporne daher angetrieben werden müssen, was meine Sache ist; – und die Demokraten, die Volksrepublikaner. Mit diesen habe ich keine Anknüpfungspunkte, sie zu schaffen, wird deine Aufgabe sein. Man hat mir im geheimen einen Landsmann von dir genannt, einen Litauer aus deiner Gegend, der einer der Hauptführer sein soll, vielleicht kennst du ihn.«

»Sein Name?«

» Traugut, Romwald Traugut, ein entlassener Ingenieuroffizier und jetziger Gutsbesitzer im Grodnoschen.«

»Wenn es derselbe ist, den ich als Knabe kannte, so mögen die Aristokraten oder die Russen, wahrscheinlich beide, sich gratulieren. Er war ein Bursche, der mit dem Kopf durch die Wand ging – die Leute sagten, er habe als Junge einen Knecht totgeschlagen, weil er ihm den Gehorsam verweigert hatte. Von Marinka, der Haushälterin seines Vaters, hörte ich, er habe seinem Lieblingspferd, weil es einmal scheute und ihn abgeworfen hatte, die Augen ausgestochen und es dann sorgfältig kurieren lassen, das arme Vieh!«

»Das wäre ein Charakter, wie wir ihn brauchten! – forsche nach ihm. Ich hätte eine kleine Organisation im Kopf – eine Brüderschaft vom Messer und Strick, die ihm sicher konvenieren würde.«

»Würde es nicht besser sein, Kind, da du Geld genug hast, wenn du eine eigene Wohnung nähmst, statt hier im Gasthaus von allen Augen bespäht zu werden?«

»Närrin! das ist's ja gerade, was ich will. Der Dieb ist nie sicherer, als unter den Augen der Polizei! Indem ich offen ihre Aufmerksamkeit verlange, wird mich diese am wenigsten suchen. Noch vor einer Stunde saß auf dieser Stelle hier der, der am meisten zu fürchten war, weil er fast der einzige ist, der sich unbestechlich zeigt, den gewöhnlichen Verlockungen nicht zugänglich ist und ohne Leidenschaft urteilt. – Nein, Alte, das ist wohl überlegt. Nur eine andere Wohnung will ich im Hotel nehmen und darüber morgen mit Pan Dreher, dem Wirt, Rücksprache nehmen. Dazu kannst du vor allem das Hotel abspionieren und mir die passendste aussuchen, wo am leichtesten eine Hintertreppe und ein Seitenausgang zu erreichen ist, und wo die Mauern uns vor dem Horchen sichern.«

»Soll geschehen, morgen in aller Frühe – ich habe ein Auge dafür.«

»Ich weiß es! – Die Wahl des Kerkers der Barbara hat mir's bewiesen. So nahe an jedermann und doch versteckt genug. Morgen ist ein Tag der Büßung und Demut, ich werde beim Erzbischof und bei Bischof Platen mir den geschorenen Kopf waschen lassen, wenn sie albern genug sind, sich der alten Geschichten zu erinnern, und die Gereinigte spielen. Dann will ich zu den russischen Spitzen!«

»Zu den Russen?«

»Freilich, und zu den schlimmsten – ich muß eine Patronage suchen. Unsere polnischen Gevattern werden nichts dawider haben, daß ich mit ihren Feinden verkehre, die allein mich meinen angeblichen Prozeß gewinnen lassen können. Das Schild der Kirche deckt alles.«

»Von welchem Prozeß sprichst du, Goldkind?«

»Sie haben mir ihn im polnischen Kollegium aufs beste ausgesucht und zurechtgestutzt. Du weißt, daß meine Großmutter eine geborene Gräfin Oginski aus Litauen war.«

»Freilich – ich habe sie zwar nicht mehr gekannt, aber man hat mir genug erzählt von ihr auf Schloß Pinczewo, dem Erbe deiner Väter.«

»Ihr Vetter war der Narr, der die Polonaise schrieb am Hochzeitstage der treulosen Geliebten und sich ihr zu Ehren die Kugel durchs Gehirn schoß, wenn er überhaupt welches hatte.«

»O – ich habe davon gehört, und auch, als ich jung war, in der Judenschänke danach getanzt. Ist es nicht die?«

Und die Alte in ihrem Übermut sprang wie ein Bock im Salon umher und kreischte den unglücklichen Text, den der polnisch-deutsche Pöbel dem herrlichen Schwanensang Oginskis untergelegt hat:

»Unter'm poln'schen Schuppen
Da geht's lustig zu,
Tanzt der poln'sche Ochse
Mit der deutschen Kuh!
La la la – la ralla lallah la la!«

Die Äbtissin hielt sich die Ohren zu und lachte. »Hör' auf, hör' auf, oder du bringst mich um! Paßt sich das für eine solide Klosterfrau? – Dazu ist es Unsinn – der verliebte Narr hat an einem solchen Text nie gedacht!« und sie summte, wie selbstvergessen, die berühmten Worte des Liedes vor sich hin:

»Droben wo wie Gold die Fenster blinken
Und sie auf das Wohl des Brautpaars trinken!«

»Puh« – schüttelte sich die Schließerin, – das meine gefällt mir besser. Aber was ist's mit den Oginskis und dem Prozeß?«

»Ich sage dir, der Teufel weiß, wie sie's aufgefunden! aber was findet ein geiler oder habsüchtiger Pfaffe nicht, wenn er sucht! Kurz und gut – einer meiner Urgroßväter, der Großhettmann von Litauen war, und vor der ersten Teilung Polens gegen Suwaroff focht, soll vor der Konfiszierung seiner Güter einen schönen Besitz im Großherzogtum an die Czatanowkis verpfändet oder übertragen haben, um ihn seiner Familie zu retten. Obschon er im Jahre 1776 amnestiert wurde und die Güter in Litauen zurückerhielt, blieb jener Besitz oder die Verwaltung den Czatanowskis, wahrscheinlich, weil sein Sohn, der Vater meiner Großmutter, sie darin lassen wollte, als er selbst unter Koscziusko focht und seines Besitzes verlustig ging. Doch existiert die Klausel, daß das Anrecht an jenes Gut im Weiberstamm forterben soll und zwar in dritter Generation an die jüngste Tochter. Die Czatanowskis und die Oginskis sind mehrfach verschwägert gewesen und die Sache scheint darüber in Vergessenheit gekommen. Der Neffe des Hettmann, der ehemalige Schatzmeister von Polen, der mit meinem Urgroßvater unter Kocziusko focht und ein großer Musiknarr war, starb, obschon amnestiert, 1831 in Italien. Unter seinem Nachlaß muß man die Dokumente gefunden haben, auf die meine Anklage basiert. Es gilt zunächst den Nachweis zu führen, daß der Hettmann und sein Sohn Zweimal amnestiert worden, also jener Besitz, der an drei Millionen polnische Gulden Wert hat, nicht verfallen ist. Das Hauptdokument ist zwar verschwunden, einem der Diener meines Urgroßvaters soll es vor der Schlacht von Maciejovice von diesem anvertraut worden sein – so daß die Sache zweifelhaft ist, aber die Kirche hat einen weiten Magen und lange Arme, und da es dem heiligen Kollegium gerade gepatzt hat, mich in dieser Zeit nach Warschau zu schicken, soll ich den alten Anspruch aufwärmen.

»Die Czatanowskis, denk ich, wohnen im Preußischen?«

»Das ist auch die beste Hoffnung zu dem Besitz zu kommen, oder zu einer tüchtigen Abfindung. Rom streckt die Kosten vor, da ihm doch der Gewinn in den Säckel fällt, weil eine Klosterfrau keinen Besitz haben darf.«

»Die Geschichte geht mir wie ein Mühlrad im Kopf umher! So ein Prozeß währt verteufelt lange! Und wenn du gewinnst, hast du – wie du selbst sagst, nichts davon.«

Die Äbtissin erhob sich, schlich an die Tür und öffnete plötzlich – der unvermeidliche Garçon wäre fast mit ihr ins Zimmer gefallen.

»Ah so, mein Lieber – ich dachte es mir. Ich werde morgen Herrn Dreher bitten, mir eine Wohnung mit Vorzimmer zu geben.«

Der Kellner stotterte verlegen etwas her – er habe geglaubt, rufen oder singen zu hören.

»Und was kümmert das Sie, wenn ich gestatte, daß die Schwester Veronica eine Homilie vor dem Schlafengehen singt? – Gute Nacht, mein Lieber!« und sie schloß die Tür.

Dann schlich sie zu der Vertrauten zurück und legte den Mund an ihr Ohr. »Die Kanaille! aber ich war zum Glück vorsichtig und es ist unmöglich, daß er eine Silbe gehört haben kann, wenn er auch noch so lange Ohren hat. Es braucht es niemand zu wissen außer dir, daß ich zwar tun will, was ich soll, daß aber aus dem Blut dieser Rebellion und dem Prozeß mir neues Leben entsprießen kann, dir und mir; – die Czatanowkis werden keine Dummköpfe sein, und England oder Amerika liegen nicht außerhalb der Welt! – Jetzt hilf' mir bei meiner Nachttoilette und dann mach', daß du schlafen kommst, damit wir morgen mit frischen Kräften ans Werk gehen!«

Als die Klosterfrau eine halbe Stunde später allein war und die Türen verschlossen hatte, untersuchte sie die Rouleaux der Fenster, ob sie genau schlossen, und trug dann das Kästchen, aus dem sie den Rosenkranz und die Papiere genommen hatte, auf ihren Nachttisch.

Dann nahm sie eine der einfachen, stählernen Nadeln, welche die klösterlichen Kopfbinden zusammengehalten hatten, prüfte sorgfältig die Spitze und preßte diese in ein kaum sichtbares Loch in dem unteren Stahlbeschlag der eisernen Kassette.

Ein leichtes Geräusch, wie das Zurückspringen einer unsichtbaren Feder ließ sich hören, und dann zog die Klosterfrau mit Leichtigkeit den Stahlbeschlag an sich und es erschien ein dünner Stahlboden fast in der Größe des wirklichen Bodens der Kassette.

»Die Künstler des Vatikans sind schlau genug,« sagte lächelnd die Äbtissin, – »selbst wenn man diesen Versteck in dem durch das Offenstehen unverdächtigen Kästchen entdecken sollte, wissen die Spürnasen der hohen politischen Polizei doch eben noch nichts.«

Dann drehte und schob sie an der Verbindung der Platte mit verschiedenen Wendungen und Bewegungen; infolgedessen löste sich dieselbe aus der Einfügung des Randes.

Die Platte, so dünn sie dem Auge schien, war hohl, das heißt, sie bestand aus zwei besonderen Platten, die sich mit Hilfe eines feinen Messers ein geringes auseinanderspalten ließen.

Zwischen den Platten lagen einige Blätter sehr feines Briefpapier.

Die Äbtissin zog sie heraus und legte sie vor sich nieder.

Die Blätter waren leer – vergilbt, als hätten sie vielleicht ein Jahrhundert kein Licht gesehen.

Aus ihrer gewöhnlichen, einfachen Reisetoilette entnahm die Klosterfrau eines der beliebten, roten Räucherkerzchen, wie man sie in den Apotheken zu kaufen pflegt, und zündete es an der Kerze an.

Ein feiner, narkotischer Dampf entwickelte sich. Über diesen Rauch hielt die Frau das eine Papier, nachdem sie es nach einem fast unsichtbaren Kennzeichen ausgewählt, und alsbald begann sich auf der gelben Fläche eine kleine und zierliche Schrift in blauer Farbe zu zeigen.

Sie setzte sich auf das Bett und zog die Kerzen näher.

»Wohlan – rekapitulieren wir. Zuerst die allgemeine Instruktion, – dann die Adressen mit ihren Notizen.«

Sie war wohl zwei Stunden lang eifrig mit dem Dechiffrieren der Papiere beschäftigt, ehe sie fühlte, daß Namen und Umstände genügend ihrem Gedächtnis eingeprägt waren; – dann erst brachte sie alles wieder in den vorigen Stand und löschte die Lichter, um die Ruhe zu suchen.

Sie durfte mit ihrem Tagwerk zufrieden sein.


Der Sonnabend war der gewöhnliche Empfangsabend im Palais des Statthalters, des Fürsten Michael Gortschakoff, und auch heute glänzten die Salons im Strahl des Lustres, und eine lange Reihe von Equipagen hielt vor dem von großen Flambeaux erhellten Portal, von dem die gaffende Volksmasse durch die starke hier versammelte Polizeimannschaft und die Wache des Tscherkessenregiments weit abgedrängt wurde.

Übrigens verhielt sich diese Menge, obschon meist aus den niedersten Ständen bestehend, ganz gegen die sonstige Gewohnheit des slavischen Pöbels, ernst und ruhig.

Wir haben bereits erwähnt, daß Warschau in diesen Tagen von Fremden, das heißt von polnischen Familien, die nicht in der Hauptstadt ihren Wohnsitz hatten, überfüllt war. Es ist jetzt längst unzweifelhaft erwiesen, daß die Generalversammlung des seit 2 Jahren gebildeten landwirtschaftlichen Zentralvereins, dem in der kurzen Zeit an 6000 Mitglieder beigetreten waren, mit Absicht auf diese Tage verlegt worden war, in welche die Jahresfeier der Schlacht von Grochow fiel.

Die Sitzungen des Vereins waren zwei Tage vorher, am 21. Februar eröffnet worden.

Es hat nie ein besonderer geselliger Zusammenhang zwischen den Familien des polnischen Adels und der höheren Bourgeoisie mit den Kreisen der russischen Beamtenwelt und des Militärs stattgefunden – er beschränkt sich, da ja sehr viele Polen Beamte sind und mit den obersten russischen Spitzen daher verkehren müssen, auf die nötigsten Konvenienzen. Auch hatte der Fürst-Statthalter durch sein gerechtes, ruhiges und selbst nachgebendes Wesen während der langen Zeit der Verwaltung dieses hohen Postens seit dem Tode des Feldmarschall Paskewitsch sich die allgemeine Achtung erzwungen, so daß man den Besuch der Soiree nicht verboten, vielmehr angeregt hatte.

Aus diesem Grunde waren auch die Salons des Fürsten an diesem Abend nicht bloß von den vornehmen russischen Familien und den Offizieren und Beamten, sondern auch von der polnischen Aristokratie ziemlich zahlreich besucht – ein seltener Fall!

Von verschiedenen Seiten kamen eben zwei stattliche Gefährte – eine Equipage mit Jäger und Bedienten und ein eleganter Schlitten mit dem Dreigespann angefahren. Der letztere hatte den Vorsprung, hielt aber, während die Wachen das Gewehr anzogen, nur wenige Augenblicke. Der Groom warf, eilig von der Pritsche stürzend, die echte Tigerdecke zurück, und in den Mantel gehüllt sprang ein Offizier in der kleidsamen Uniform des Generalstabs heraus und trat unter das Zelt des Portals.

»Um zwölf Uhr, Ivan! Laß melden. Paschol!«

Der Schlitten sauste davon, den Offizier aber klopfte eine Hand auf die Schulter. »Was soll heißen, so früh Kamerad, ist nicht heute Tanz bei Seiner Hoheit? Herr von Atschikoff wird sich nicht trennen von schönen Damen so früh!«

Der Angeredete wandte sich nach dem Sprecher, einem kleinen Mann in der Oberstenuniform der Tscherkessen. » Bon soir, Fürst Barinsky!« Wenn Ihre Versicherung richtig und so viele schöne Damen oben versammelt sind, dann wundert es mich um so mehr, Sie hier unten zu sehen!«

»Seind Dienst, Freund, hat mein Regiment heute Wach' – warte auf Meldung von Offizer!«

»Nun, bei mir wird der Dienst auch Ursache sein, wenn ich zeitig aufbreche. General Paniutin hält auf die Minute und ich habe morgen die Jour. Aber, sehen Sie da, Durchlaucht – das sind ein Paar magnifique Backfischchen.«

Der Kapitän, ein stattlicher Mann von gegen vierzig Jahren, mit sehr rotem Gesicht und einem Augenpaar, das einem anständigen, schüchternen Mädchen Schrecken einjagen konnte, starrte durch den Kneifer auf die Familie, die eben die Equipage verlassen hatte und in das Vestibule trat.

Es war ein ältlicher, kränklich aussehender, hüstelnder Herr in Zivil von kleiner Statur, die sich neben der stattlichen, ja brillanten Erscheinung seiner Gemahlin förmlich verlor. Die Dame war eine sarmatische Schönheit von eigentümlichem Charakter und, bei den Polinnen ziemlich ungewöhnlich, vollem und hohem Wuchs. Ihr etwas blasses Gesicht war von antiken Formen, aber aus dem mattblauen Auge blitzte zuweilen ein Strahl, der ihm einen völlig andern Ausdruck verlieh. Ein solcher zeigte sich einen Moment lang, als ihr Auge kurz auf die beiden russischen Offiziere fiel, verschwand aber sogleich wieder unter der stereotypen Kälte, die das Gesicht sonst zeigte. In jenem flüchtigen Ausdruck lag ein so fanatischer Haß, eine solche berechnete Entschlossenheit, daß man Furcht davor hätte bekommen können.

Einen eigentümlichen Gegensatz zu dem ungleichen Paar bildeten die beiden sehr jungen Mädchen, die den Wagen zuerst verlassen hatten und sich nun wie schüchterne Tauben an ihre Mutter drängten. Sie konnten höchstens vierzehn Jahre zählen und waren der sprechenden Ähnlichkeit nach Zwillingsschwestern, nur durch die Farbe des Haars unterschieden, das bei der einen in aschblonden, bei der anderen in schwarzen Locken in reicher Fülle über den Nacken fiel. Die zarten Gesichter waren von einem Hauch der Unschuld und Kindlichkeit umflossen, der ihrer Erscheinung etwas Engelartiges gab und sie um so mehr auffallen machte, als ein seltsames Spiel der Natur der Blonden glänzende, schwarze Augen und der Brünetten solche von einem tiefen Blau verliehen hatte.

Während die Damen von dem aufwartenden Kammerdiener nach der Garderobe geleitet wurden, um Pelze und Capuchons abzulegen, und der Herr sich hüstelnd der warmen Überschuhe und des Pelzrocks entledigte, und vor einem Spiegel mit der Bürste die spärlichen, ergrauenden Haare auf dem Scheitel zum Toupé strich, setzten die Offiziere mit Interesse ihre Unterhaltung fort.

Der Tscherkessenoberst war ein Mann bereits an die fünfzig, von kleiner aber zäher Gestalt, mit listigen, aber gutmütigen Kalmückenaugen, das Gesicht etwas spitz und bereits sehr faltig. Der Mund spitzte sich lüstern zu und die ganze Erscheinung hatte etwas Affen- oder Faunartiges. Er sprach das Russische und Französische in der Unterhaltung ziemlich gebrochen.

»Allerliebste Backfische,« wiederholte der Generalstabsoffizier. »Sie sind mir noch gar nicht vorgekommen, seit ich hier bin.«

»Glauben sehr gern, Kapitän,« schnarrte der Fürst, – »aber haben etwas türkischen Geschmack, muß saken, Mutter wäre mir lieber, weiß man doch, was man hat! Schöne Frau, schöne Frau, nur seind zu kalt, zu Marmorstein. Haben den bösen Blick und mir geworden Angst, als sie geschaut auf Monsieur Atschikoff. Ist mir gewesen, als hätt' ich gesehen einen toten Mann statt meinem lustigen Freund Atschikoff.«

»Hol' Sie der Henker mit Ihrer verdammten Gespensterseherei, Fürst,« lachte der Kapitän, – »man wird Sie noch aus aller Gesellschaft komplimentieren, wenn Sie den Unsinn nicht lassen, überall hinter lebendigen Menschen Ihre häßlichen Gerippe zu wittern. Und nun vollends machen Sie noch eine Dame zum Totschläger! Wie in aller Welt, Fürst, kommen Sie zu dieser seltsamen Liebhaberei, Sie, der Sie doch ein Lebemann sind und alle Genüsse des schönen Daseins lieben?«

Der tatarische Fürst rieb sich, durchaus nicht beleidigt, höchst vergnüglich die Hände. »Ist sich meine Großmutter schuld, Kapitän lieber – wie mir gesagt, der Khan mein Vater. Hat sich gehabt das zweite Gesicht, war sehr berühmt unter den Nogaistämmen, wo es in Familien gewissen kommt vor, und überspringt immer ein Glied. Weiß ich ganz genau, wer wird sterben nicht in seinem Bett, hab' ich schon gewußt als Knabe. Tut nix, tut nix! Kann man doch leben sehre vergnügt!«

»Dann, Fürst, behalten Sie's wenigstens für sich und verderben Sie uns anderen weniger begabten Menschenkindern nicht den Appetit an der vollbesetzten Tafel des Lebens mit Ihren Eulenprophezeiungen. Ein Soldat speziell muß von vorherein darauf gefaßt sein, nicht in seinem Bett sterben zu dürfen und kann sich keinen besseren Tod als den auf dem Schlachtfeld wünschen. Aber wissen Sie, der halb Warschau kennt, vielleicht, wer die stolze Dame ist? Ich bin noch nicht lange genug dazu hier, und die polnischen Kreise sind ohnehin für mich noch eine erst zu nehmende Barrikade.«

»Kann ich Sie dienen sehr gern – ist sich der alte Herr dort mit die halbe Lunge mein Freund, der Rat an die Kommission von die Justiz, Herr von Krauter oder Krautowski, wie Madame sagte, und sind die Fräuleins seine beiden Töchter, seine einzigen Kinder, die gekommen sind eben zurück aus die Pension dans la Suisse. Haben Hoheit, die Frau Fürstin befohlen, sie zu sehen sich vorgestellt. – Ah bon soir, bon soir mein lieber Geheimer Rat – haben bereits Gelegenheit gehabt zu sehen ihre Damen und werde nehmen Gelegenheit zu legen meine Bewunderung zu Füßen von gnädiger Frau.«

Die beiden Offiziere waren näher getreten und der Fürst drückte zärtlich dem Beamten die Hand, der mit der eigenen Person und verschiedenen Bestellungen an den Kutscher beschäftigt, den Offizieren bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

»Meine Frau wird sehr erfreut sein über Euer Durchlaucht gütige Erinnerung,« sagte der Rat, der bei den Patrioten als ein sehr lauer, ja als ein Freund der Regierung galt, soweit es ihm das Regiment seiner Gattin erlaubte. »Aber hier kommt sie selbst, um Ihnen für die gütige Nachfrage zu danken.«

In der Tat rauschte Frau von Krautowski in schwerem, grauen Seidenkleide eben aus der Garderobe, gefolgt von ihren Töchtern. Die so überaus liebliche Erscheinung derselben in ihren einfachen, weißen Kleidern kam jetzt zur vollen Geltung und der Kapitän verschlang sie fast mit seinen Blicken.

Der Fürst hatte sich beeilt, der Dame seine Komplimente zu machen und zur glücklichen Rückkehr der Töchter des Hauses in so vollendeter Ausbildung zu gratulieren, was von der Rätin mit kalter Höflichkeit aufgenommen wurde. »Habe ich die Ehre,« nahm der Fürst die Gelegenheit wahr, »gnädiger Frau einen Freund meinigten vorstellen zu dürfen, der ein Bewunderer der Schönheit sein, krade wie ik. Der Herr Kapitän von Atschikoff, ein Kavalier von distinction, ein Erbe von die alte, reiche Atschikoff, im Stab von Seiner Exzellenz dem Herrn General von Paniutin! – Darf ich nun haben die Ehre, gnädigen Frau zu reichen den Arm bis an den Salon?«

Erst bei der letzten Erwähnung seiner Stellung richtete die Dame ihr hartes Auge auf den Offizier und erwiderte seine Verbeugung mit einer leichten Neigung des Hauptes, während der Rat, der bereits wußte, daß der Kapitän zu den besonderen Günstlingen des General-Militärgouverneurs gehörte, dem Kapitän sein Vergnügen über die persönliche Bekanntschaft ausdrückte und hoffte, die Ehre zu haben, ihn nächstens in seinem Hause zu sehen. Diese Einladung erfolgte freilich erst, nachdem ein flüchtiger Blick die Erlaubnis seiner strengen Hausherrin eingeholt; da diese aber es nicht der Mühe wert gehalten, ihm irgend ein verwarnendes Zeichen zu geben, sondern schweigend den Arm des Obersten genommen hatte, glaubte der arme Gatte sich berechtigt dazu. Durch seine Höflichkeiten war übrigens der Offizier um das Vergnügen gekommen, einer der jungen Damen den Arm bieten zu dürfen, denn sie huschten eilig wie schüchterne Täubchen an ihm vorüber, dicht hinter ihrer Mutter her, und der Kapitän sah sich dazu verurteilt, die Höflichkeiten des Rats bis zum Absatz der Doppeltreppe zu ertragen, wo der Adjutant vom Dienst zum Empfang der Gäste stand. Dort blieb er zurück, bis der Fürst von seinem Cortège zurückkehrte und seinen Arm nahm.

»Magnifique Frau, sehre kutes Haus,« meinte schmunzelnd der kleine Tatar – »werden mir noch sein sehr dankbar für Einführung dahin. – Sind zwar nicht reich, aber anständik, sehr anständik.«

»Die Mädchen sind reine Rosenknospen! – Wer die pflücken könnte!«

Der Fürst lachte. »Ich sage Sie, Freund Atschikoff, – Sie seind Muselmann, reine Muselmann! wollen gleich haben zwei! Was tu' ich mit die unaufgeblühten Blumen, die noch haben keinen Geruch?! Sie seind ein Gourmand, ein Wüstling, Monsieur Atschikoff, stehen bereits in sehre schlechten Ruf bei die Damen, obschon Sie doch wären sehre gute Partie, wie man mir hat kesagt. Aber die Krautowskis gutes Haus, anständik, sehr anständik!«

»So verkehren Sie wohl häufig dort?«

» Non, non – presque jamais! Gehen nicht gern hin, weil ik seind ein Lebemann, der haben will viel Vergnügen und sehe dort zu viel von die polnische Herren, zu viele Kespenster!«

»Gespenster?« fragte unvorsichtig der Kapitän.

» Oui, oui – zu viele Kespenster, oder Kerippe, Leute ohne Kopf grade wie vorhin mein Freund Atschikoff. Wissen Sie, daß heute nachmittag angekommen sind in die grande restauration von die Krasinski Garten ganz frische Austern Whitesteaple? Wir müssen morgen kehn dejeunieren da! O, o, Freund, es seynd sehr unankenehm, zu sehn die viele hübsche junge Leut' bei die Krautowski's immer als Kespenster!«

Der Generalstabsoffizier riß sich unwillig von ihm los. »Hol' Sie der Teufel mit Ihren Phantasien!« – Er sprang die Treppe hinauf, um in die Salons zu treten. Der kleine Tatar schaute ihm vergnügt grinsend nach und rieb sich die Hände. » Oui, oui! Er seynd ein kluger und lustiker Mann, aber die Krautowski wird bringen ihm Unglück! Ich weiß, ich weiß!« Er wandte sich zu dem Kosakenoffizier, der salutierend ihn im Foyer erwartete.

Herr von Atschikoff war in den ersten Salon getreten, wo er alsbald von verschiedenen älteren und jüngeren Offizieren umringt wurde, denn er war, obschon er es wegen seiner Ungnade, die er sich auf dem sonst ziemlich nachsichtigen Parkett der Petersburger hohen Gesellschaft zugezogen und die zu einer mehrjährigen Verbannung nach dem Kaukasus geführt hatte, nicht weiter als zum Kapitän gebracht hatte, doch in den Offizierkreisen wegen seines hohen Spiels und seiner eleganten Soupers sehr beliebt und gesucht. Sein Vater, ein sehr reicher, vom Kaiser geadelter Pelzwarenkaufmann in Moskau, der seine Agenten durch ganz Sibirien und bis zum russischen Amerika unterhalten hatte, war vor kurzem gestorben und hatte ihm, dem einzigen Sohn, seinem Stolz, ein bedeutendes Vermögen hinterlassen, das ihm erlaubte, allen seinen Gelüsten zu fröhnen, und deren sollten – wie man sich erzählte – nicht wenige und ganz besondere sein. Dabei war er ein sehr unterrichteter und scharfer Offizier und deshalb auch in den Stab des Generalgouverneurs gezogen und nicht selten mit wichtigen Arbeiten betraut.

»Warum so spät, Atschikoff?« – »Es scheint heute politische Kur hier, fast der halbe Zentralverein hat sich vorstellen lassen und umlagert den Fürsten. Man will gewiß neue Konzessionen!« – »Trepoff geht herum als hätte er einen unverdienten Wischer aus der Petersburger Kanzlei im Magen.« – »Haben Sie die beiden kleinen polnischen Backfische gesehen? Sie werden eben Ihrer Hoheit vorgestellt und in drei oder vier Jahren sicher einmal Furore machen. Schade, daß der Alte keine Aussicht mehr haben wird, in Panins Der damalige russische Justizminister und sein Stellvertreter. oder Zamiatnins Stelle zu kommen, der alte Krippenreiter soll ein famoser Jurist sein und kein Mensch begreift, wie er zu den hübschen Zwillingen gekommen ist.« – »Weißt du schon, Atschikoff, daß der Pole Gajewski dir den Rotschimmel bei Abraham vor der Nase weggekauft hat? Der Teufel gesegne ihm die Unverschämtheit. Um lumpige zwanzig Imperials mehr hat der Jude zugeschlagen.«

»Wir würden ihn in Bann erklären – es sollte niemand mehr bei ihm nur ein Roßhaar kaufen, wenn der schielende Kerl nur nicht soliden Kredit gäbe und eine Nase für Pferdefleisch hätte, wie der beste englische Trainer.«

Diese und hundert ähnliche Fragen und Reden umschwirrten einige Zeit den Kapitän, während die Gruppen der Offiziere zugleich Queue machten, um die noch immer eintretenden Besucher der Soiree des Fürsten-Statthalter zu begrüßen, zu lorgnettieren und zu kritisieren. Der Kapitän hatte sich losgemacht, indem er als Opfer den Tataren in ihren Händen ließ, der eben wieder in die Gesellschaftsräume zurückkehrte, – und betrat die inneren Salons.

In der Tat war die Soiree eine sehr glänzende und fast alles, was Warschau an Notabilitäten in den Kreisen der vornehmen Gesellschaft, der Politik, der Kunst und Wissenschaft besaß, versammelt, mit Ausnahme der Unversöhnlichen, welche ihre Demonstrationen als patriotische Pflicht und Aufgabe betrachteten. Graf Andreas Zamoyski, der Präsident des landwirtschaftlichen Zentralkomitees, hatte aus politischen Gründen seinen Freunden zur Pflicht gemacht, dem Empfang des Fürsten-Statthalters beizuwohnen, und die zahlreiche Folgeleistung, die man diesem Wunsche gegeben, sagte den Eingeweihten daß man einen bestimmten Zweck verfolge.

Auch der Namiestnik Statthalter. mochte sich wohl nicht darüber täuschen. Die schweren, sorgenvollen Falten, die auf der Stirn des greisen Fürsten lagerten, der im dritten Salon seinen Cercle hielt, und die zerstreute Stimmung, die sich immer wieder durch all die gewohnte Höflichkeit und Aufmerksamkeit für seine Gäste Bahn brach, gab davon Zeugnis.

Fürst Michael Gortschakow, der Statthalter von Polen und seit dem 27. März 1856 der Oberkommandant der gesamten kaiserlichen Armee, der bekanntlich den Sommer dieses Jahres nicht mehr erleben sollte, stammte, wie sein Vetter Alexander, der Minister des Auswärtigen, aus der Familie jenes alten Großfürsten von Tschernigow zur Zeit der Mongolen-Herrschaft, dessen Todestag – der 20. September 1240 – als der eines Heiligen und Märtyrers noch immer von der russischen Kirche begangen wird, und von dessen Nachkommen die Odojewski, Obolenski, Repnin und Dolgoruki schon im 15. und 16. Jahrhundert zu den vornehmsten Geschlechtern Rußlands zählten. Der etwas heruntergekommene Zweig der Gortschakow hob sich erst wieder durch die Heirat eines Mitglieds mit der Schwester des berühmten Suwarow, zu dessen besten Generälen der Vater des Fürsten gehörte.

Fürst Michael war 1795 in Moskau geboren, zur Zeit, da wir ihn wiederfinden – wir begegnen ihm noch in früheren Darstellungen aus der Zeitgeschichte Sebastopol. Histor. polit. Roman. – also 65 Jahre. Die Strapazen der zahlreichen Feldzüge und die sorgenvolle Verantwortlichkeit in seiner jetzigen Stellung, hatten die Kraft der sonst so zähen und widerstandsfähigen Natur mehr als das Alter gebrochen. Der Fürst, der sich der Artillerie zugewendet, focht 1812 bereits bei Borodino und leitete im Jahre 1829 im Kriege gegen die Türkei einen Teil der Belagerungsarbeiten gegen dasselbe Silistria, das er später im Donaufeldzug von 1854 als kommandierender General zum zweitenmal belagern sollte. Im polnischen Aufstand von 1830 befehligte er bei Grochow, Ostrolenka und im Sturm auf Warschau die Artillerie – focht 1849 in Ungarn und leitete, von Kaiser Nikolaus kurz vor seinem Tode, nach dem Rücktritt des Fürsten Menschikoff, zum Oberbefehlshaber in der Krim ernannt, jenen zähen Widerstand Schritt um Schritt und jenen so überaus geschickt bereiteten Rückzug nach der Nordseite Sebastopols, der den Verbündeten jeden Vorteil aus der Erstürmung der Südforts entzog.

Der Fürst unterhielt sich in diesem Augenblick mit seinem offenen soldatischen Wesen mit dem Präsidenten des Zentralvereins, dem Grafen Andreas Zamoyski, dein Zivilgouverneur von Warschau Geheimen Rat Laszczynski und dem Präses des Wappenamtes Grafen Kossakowski, nebst zwei oder dreien der Adelsmarschälle. – In einiger Entfernung, in der Nähe des Marmorkamins, hatte sich eine zweite, meist aus hohen Militärs bestehende Gruppe um dem General-Kriegsgouverneur, Generaladjutanten Paniutin gebildet, aus der häufig ziemlich mißtrauische und finstere Blicke auf die Umgebung des Fürsten geworfen wurden. Der Salon war nur zur Hälfte von älteren Damen und Herren gefüllt, da in dem anstoßenden größeren Saal getanzt wurde und die jüngere Welt sich dorthin zog, oder bei dem Damencercle der Fürstin in dem anstoßenden eleganten Wintergarten verweilte.

»Ich habe bereits Seiner Majestät dem Kaiser über die verständige und sachgemäße Rede berichtet, Herr Graf,« sagte in verbindlichstem Ton der Statthalter zu dem Präsidenten, »mit der Euer Exzellenz vorgestern die Sitzungen des Vereins zu eröffnen beliebten. Man hat mir zwar berichtet, daß das taktvolle Fernhalten aller politischen Fragen den Erwartungen einzelner Mitglieder nicht entsprochen hat, aber ich hoffe zu dem richtigen Gefühl der Gesamtheit, daß dieses Mißvergnügen sich doch nur auf vereinzelte Persönlichkeiten ohne größere Bedeutung beschränken wird, damit der Verein ganz unbeschränkt einer wahrhaft segensreichen Tätigkeit, namentlich in der Hebung des Kredits und der Entlastung des großen Grundbesitzes aus den Händen der Wuchers, sich hingeben kann. Es ist dies um so wünschenswerter in einem Augenblick, wo das große Werk des Wohlwollens unseres allergnädigsten Kaisers und Herrn, die Aufhebung der Leibeigenschaft und der Schaffung eines freien Bauernstandes, dem großen Grundbesitz im Interesse der Kultur und der Humanität vielleicht einige Opfer auferlegt, die allerdings im Königreich Polen weit weniger zu bedeuten haben werden, da hier eine eigentliche Leibeigenschaft nicht mehr besteht.«

»Die Änderung der Verhältnisse des ländlichen Grundbesitzes, Hoheit,« sagte einer der Adelsmarschälle, »dürfte trotzdem auch in Polen nicht ohne erhebliche Unruhen und schwere Schädigungen des Adels vorübergehen, dem man allein die Lasten aufbürdet. Der gemeine Mann wird Ansprüche erheben, die weit über das Maß des Bewilligten hinausgehen. Man schneidet uns fortwährend ins Fleisch, um die Regierung populär zu machen.«

»Die Aufhebung der Leibeigenschaft,« entgegnete der Fürst mit ernster Hoheit, »ist kein Haschen nach Popularität, Herr Marschall, sondern eine Forderung der Humanität und eine Notwendigkeit der Zeit.«

»Es wird für die Herren Mitglieder des polnischen Adels ja gar keine Schwierigkeit haben,« sagte eine scharfe Stimme hinter dem Kreise, der sich um den Fürsten gebildet hatte, »ihre Bauern über die wahren Absichten Seiner Majestät zu unterrichten und sie von allen Exzessen, sozialen wie politischen, fernzuhalten. Der Herr Marschall werden sich nach dem, was wir vor vierzehn Jahren in Galizien erleben mußten, erinnern, daß dies sehr im Interesse der Herren Gutsbesitzer ist.«

Die Anspielung auf den von Tyssowski in Krakau im Jahre 1846 so leichtfertig hervorgerufenen Aufstand, der zur Besetzung des Freistaats und seiner Einverleibung an Österreich führte und bei dem die hart gedrückten Bauern in den Kreisen Tarnow, Jaslo, Sandez und Rzeszow – statt sich von den Edelleuten zu einer politischen Erhebung gegen die Regierung fortreißen zu lassen, über diese selbst herfielen und hunderte von adligen Gutsbesitzern ermordeten und ihre Schlösser verwüsteten, – war zu deutlich, um mißverstanden zu werden.

»Der Herr Geheime Rat Mukhanoff,« denn der bekannte und sehr verhaßte Oberdirektor des Innern und Kurator des Unterrichts war es, welcher zu dem Kreise getreten war und eben gesprochen hatte, – sagte der Adelsmarschall giftig, »wird es allerdings am besten wissen, ob der Aufstand der galizischen Bauern vom Adel oder von der Regierung angestiftet war.«

»Still, still, meine Herren!« unterbrach ihn der Fürst, – »keine solche Worte, die ich nicht hören darf. Übrigens hat die unerbetene Einschaltung des Herrn Geheimen Rats doch etwas Wahres, das ich selbst nicht genug den Herren ans Herz legen kann. Grade der Adel eines Landes, die Männer, deren Geburt und Rang sie über die weniger Gebildeten, der Versuchung zugänglicheren Massen der Nation erhebt, sollen dieser als Beispiel in allen Tugenden, also auch in der der Treue und des Gehorsams vorangehen und sich bemühen, sie vor Verirrungen und Ausschreitungen eines ja an und für sich nicht zu verwerfenden Nationalgefühls zu bewahren.«

»Euer Hoheit wollen mir die Bemerkung gestatten,« sagte der Graf Zamoyski, »daß bei Beanspruchung einer solchen Handlungsweise auch die Regierung die Pflicht hat, dem bezeichneten Stande mit vollem Vertrauen entgegenzukommen und ihn in Stand zu setzen, in jenem Sinne zu handeln.«

»Gewiß, Herr Graf, und um Ihnen zu beweisen, daß das geschieht, wollen wir unsere Verständigung gleich auf einen konkreten Fall lenken. Ich habe gehört, daß die polnische Bevölkerung von Warschau übermorgen den Jahrestag der Schlacht von Grochow passend zu begehen wünscht.«

Der Graf begnügte sich mit einer stummen Verbeugung; mehrere der polnischen Herren sahen einander etwas betreten an über diese Art, den Stier bei den Hörnern zu fassen, die indes ganz dem soldatischen Freimut des Fürsten entsprach.

»Nun, ich finde darin nur eine wohl zu schätzende Pietät für das Andenken lieber Verstorbener, der unglücklichen Opfer jenes bedauerlichen Krieges. Ich habe deshalb auch den Befehl gegeben, der Feier dieses Tages nichts in den Weg zu legen.«

»Euer Durchlaucht werden sich dadurch den Dank der Nation erwerben.«

»Wohlverstanden, meine Herren,« fuhr der Statthalter fort, »solange diese Feier den von mir angedeuteten Charakter trägt, und nicht wie im vorigen Sommer das Begräbnis der Generalin Sowinska zu einer politischen Demonstration gegen die Regierung benutzt wird. Ich habe in diesem Vertrauen nicht das geringste dagegen, daß in den Kirchen ein öffentlicher Gottesdienst zum Gedächtnis der Opfer jenes blutigen Tages begangen wird, oder die Grabstätten derselben besucht werden; nur …«

»Euer Hoheit meinen?«

»Nur werden Sie, meine Herren, von der polnischen Nationalität, uns alten Soldaten jener Zeit billigerweise eine gleiche Feier unserer tapfern Krieger gestatten, die treu ihrem, dem Zaren geleisteten Eid auf dem Schlachtfelde von Grochow den Tod gefunden haben. Dies ist um so gerechtfertigter, als bekanntlich der sehr blutige Kampf an jenem Tage – ich rede, wie viele von Ihnen sich erinnern werden, ja aus eigener Anschauung – ohne wesentliche Entscheidung für die eine oder die andere Partei blieb.«

»Wir schlugen Diebitsch!« sagte stolz ein mit Narben bedeckter Graukopf.

»Und unterlagen Schachowski! – Lassen Sie uns nicht darüber streiten, lieber Oberst,« sagte mild der Fürst. »Es wurde an jenem Tage tapfer gefochten auf beiden Seiten, darum Ehre den Toten auch auf beiden Seiten.«

»Euer Hoheit werden zugestehen,« meinte der Graf, »daß eine Feier des Tages durch die Regierung das Gefühl der polnischen Bevölkerung tief verletzen würde.«

»Nicht mehr, als eine demonstrative Feier der Bürger Warschaus die militärische Ehre meiner Soldaten. Ich werde Ihnen sogar den Vorzug lassen, ihr Requiem in den Kirchen zu halten, während wir unseren Gottesdienst vor denselben halten werden. Der Zug der Bevölkerung nach dem Schlachtfeld, das ja immerhin eine wichtige Erinnerung für Warschau ist, soll nicht gehindert werden, wenn man mich nur die Stunde des Zuges vorher wissen lassen will; ich werde dann die Parade der Truppen auf dem Schlachtfeld der Art anordnen, daß weder Bürger noch Soldaten gestört werden. Ich denke, das ist eine billige Teilung der Ehre des Tages.«

»Unter solchen Umständen wird man am besten auf die Feier desselben von polnischer Seite verzichten,« sprach mit einer stolzen Verbeugung der Graukopf, der bei Grochow gefochten.

»Ich halte es auch für das Beste, die Toten ruhen zu lassen, lieber Oberst,« entgegnete der Fürst, »damit die Lebendigen in desto ungestörterem Frieden bleiben mögen. Wir sind ja doch jetzt, ob von der oder jener Nationalität, alle treue Untertanen unseres erlauchten Herrn, der, wie ich Sie versichern kann, das größte Wohlwollen für diesen Teil seines Reiches hegt. Hat die Fürstin schon das Vergnügen gehabt, Euer Exzellenz zu begrüßen?«

»Ich werde jedenfalls die Ehre haben, Ihrer Hoheit meinen Respekt zu bezeigen, ehe ich mich zurückziehe,« sagte der Graf mit höflicher Verbeugung. »Die Gräfin hat wohl unterdes meine Entschuldigung übernommen.«

Der Kreis um den Fürsten begann sich langsam aufzulösen, die Polen zogen sich, besondere Gruppen bildend, zurück, um die eben in so höflicher, aber determinierter Weise empfangene Nachricht zu besprechen und so gut es ging zu verdauen. Der Fürst hütete sich mit feinem Takt davon Notiz zu nehmen und ging von Kreis zu Kreis, auch mehrfach mit den anwesenden Vertretern der fremden Mächte sich unterhaltend.

Ein guter Beobachter hätte leicht bemerken können, daß die Gesellschaft von diesem Augenblick an sich stark zu lichten begann; die polnischen Kavaliere verließen einer nach dem andern ziemlich demonstrativ die Soiree.

Zu dem Kreise der russischen Offiziere, der sich um General Paniutin gebildet hatte, trat nach einer Weile der Kosakenoberst.

»Hab' ich zu melden die Ehre Exzellenz, daß geschehen ist nichts neues auf die Posten, als daß man hat geworfen auf eine Patrouille mit Stein, als diese unterstützt die Polizei auf die Krakauer Straß, als sie hat arretiert eine Mann, der hat verbreit ein Plakat.«

»Danke, Durchlaucht – eine zu gewöhnliche Sache, als daß sie Beachtung verdient. Hat General Zabolocky Ihnen bereits Orders für übermorgen erteilt?«

Der Tatar salutierte. »Hab' ich gehört, daß mein Regiment wieder hat Konsignement!«

»Sie wissen, daß die Garnison verhältnismäßig schwach ist, Fürst,« sagte vertraulich der General, »und ich habe ausdrücklich gewünscht, daß Ihre Kosaken möglichst bei etwaigen Unruhen verwendet werden. Sie führen außer ihren Waffen ein Instrument, was beim richtigen Gebrauch gegen den Pöbel oft Schlimmerem vorzubeugen imstande ist.«

Der kleine Fürst lächelte höchst vergnügt. » Je comprend! Exzellenz meinen die kleine Kantschuh!«

»Sie treffen den Nagel auf den Kopf, Fürst. Die Wasserspritze bei den Franzosen und der Kantschuh bei unserm Gesindel haben schon manche Revolte im Keime erstickt. Darum müssen Sie mit dem angestrengteren Dienst schon zufrieden sein; ich wollte nicht gern Infanterie requirieren. – Ihre Reiter sind zu solchen Dingen viel verwendbarer. Weiß einer von den Herren, wie es General Liprandi geht?«

»Seine Exzellenz müssen noch immer das Zimmer hüten, wie ich vorhin von Kapitän Atschikoff hörte,« berichtete einer der Offiziere.

»Da kommt Oberst Mesenceff – er scheint jemand zu suchen. Was haben Sie, Oberst?«

Der Kommandant der Gendarmerie salutierte. »Ich suche den Herrn Oberpolizeimeister, Exzellenz.«

»Oberst Trepoff ging vorhin mit Abramowicz nach den Spielzimmern. Der Herr Chef der Polizei und der Theater wollten wahrscheinlich den polnischen Gästen Seiner Hoheit nicht die gute Laune verderben, die sie heute hier Komödie spielen ließ.«

Man lachte. Um die Anspielung zu verstehen, brauchte man nur zu wissen, daß der Oberpolizeimeister wegen seiner Ähnlichkeit mit dem verewigten Kaiser Nicolaus, und Generalmajor Abramowicz als Intendant der Warschauer Theater und wegen der Vorgänge bei der Zusammenkunft der drei Monarchen bei den Polen sehr unbeliebt war.

Der General nahm den Obersten unter den Arm, indem er mit ihm weiterging. »Hast du etwas von Wichtigkeit, Wassili Mesenceff?«

»Exzellenz zu Befehl. Es sind soeben an verschiedenen Stellen der Stadt Personen aufgegriffen worden, die es gewagt haben, ohne polizeiliche Genehmigung ein Plakat anzuschlagen, das die Bevölkerung auffordert, sich am abend des fünfundzwanzigsten auf dem alten Markt zu versammeln.«

»Bewaffnet?«

»Nein, Exzellenz. Mit einer Dreistigkeit sondergleichen hat man gewagt, diese in sehr aufregendem Ton geschriebene Aufforderung selbst an den Regierungsgebäuden, unter den Augen der Schildwachen anzuheften – ja …«

»Was weiter, Wassili Wassilowitsch?«

»Eben habe ich sogar von den Mauern der Statthalterei zwei solche Wische entfernen lassen müssen, die man trotz des zahlreichen Bewachungspersonals in unbegreiflicher Weise dort anzubringen gewußt hat.«

Der General lachte. »Die unbegreifliche Weise will ich dir schon erklären. Frage unsere kleine tatarische Durchlaucht, den Fürsten Barinsky! – Ich wette, er hat die ganze Tasche voll solcher Zettel!«

»Ein kaiserlicher Oberst? Soll ich ihn verhaften?«

»Unsinn – du scheinst bloß deine Leute zu kennen, aber nicht seine Kosaken, die heute den Dienst haben. He da, Durchlaucht, komm einmal hierher!«

Der Fürst kam eilig herbei.

»Haben Exzellenz Befehl für die Barinsky?«

»Sie haben mir eben gemeldet, daß Ihre Reiter auf der Krakowiecka der Polizei geholfen haben, Leute zu verhaften, die Plakate verbreiteten.«

»Ist sich so, Exzellenz, grad so!«

»Haben Sie solche Plakate?«

Der kleine Oberst geriet in einige Verwirrung. » Certainement! certainement! – Wollt ich Euer Exzellenz nix behelligen mit die schlechte Papier.«

»Geben Sie!«

Der Tatar zog ein ganzes Paket der Plakate aus der Säbeltasche. »Hat sich Adjutant meinigter Leutnant Mustapha abgenommen die Kerls und mir eben gebracht mit die Rapport. Hab' ich sofort rapportiert Euer Exzellenz.«

»Welchen Kerls?«

»Kosaken meinigten. Verfluchtige Kerls nix können lesen, alles dumme Kerls. Lassen sich vorreden von Demokraten verdammtigen, sei eine Gebet für allergnädigsten Kaiser.«

»Und haben wahrscheinlich für ein Trinkgeld selbst geholfen, die Plakate anzuheften oder wenigstens zugesehen, bis die Polizei gekommen ist!« fragte halblachend der General.

»Haben geholfen zusehen, wie Euer Exzellenz befehlen. Hab' ich Leutnant Mustapha befohlen, geben zu lassen dumme Kerls jedem fünfzig auf den Hintern.«

»Es ist gut, Durchlaucht,« meinte sich abwendend der General, »und würde noch besser sein, wenn wenigstens einige von Ihren Reitern lesen lernten, damit solche Dinge nicht wieder vorkommen.«

Der Oberst salutierte. »Werd' ich Kerls befehlen, lesen zu lernen der dritte Mann.«

Der Generalgouverneur war bereits mit dem Gendarmerieoffizier weitergegangen. Einige Offiziere sammelten sich um den Tataren, der sich verschwor, gleich den nächsten Morgen einen strengen Regimentsbefehl zu erlassen, daß seine Reiter bei Strafe von fünfzig Stockprügeln binnen drei Tagen lesen lernen sollten – je der dritte Mann.

Einige Augenblicke später kam einer der Adjutanten des Fürstenstatthalter an der Gruppe vorüber. »Bitte meine Herren, Se. Hoheit wünschen, daß die Gesellschaft möglichst unterhalten und deshalb viel getanzt werde. Nehmen Sie sich der Sache etwas an. Herr Staatsrat darf ich bitten, auf ein Wort!«

Er flüsterte dem Staatssekretär beim Administrationsrat Karnicki, dem man in Petersburg besonderes Vertrauen schenkte, einige Worte zu und ging suchend weiter.

Gleich darauf sah man den Staatsrat in den Gemächern des Fürsten verschwinden. –

Vor der Tür eines Kabinetts, das zur Seite der Gesellschaftsräume lag und eigentlich zu diesen gehörte, hatte ein Offizier wie zufällig Platz genommen. Als ein Unberufener sich dem Kabinett näherte und eintreten wollte, erhob sich der Offizier: »Pardon, Monsieur, Seine Hoheit haben sich für einige Augenblicke zurückgezogen und wünschen ungestört zu sein.«

Der Wink genügte natürlich.

In dem Kabinett, dessen Tische noch mit Albums bedeckt, seine gewöhnliche Bestimmung zeigten, saß der Fürst an einem derselben, die Exemplare der in den Straßen säsierten Proklamation vor sich. Der Polizeimeister Oberst Trepoff, der Generalkriegsgouverneur General Paniutin, der Marquis Paulucci, Oberst Demoncal, der Staatsrat Karnicki und der Geheime Rat Mukhanoff saßen oder standen umher.

»Ich bin in wirklich sehr unangenehmer Lage,« sagte der Fürst. »Auf der einen Seite empfehlen die Instruktionen von Petersburg täglich die möglichste Nachsicht und Schonung, und ein Privatbrief von Orloff bittet mich heute noch ganz besonders, alles zu vermeiden, was den Kaiser aufregen könnte, grade in dieser Zeit, wo sein ganzes Sinnen und Denken mit seinem Lieblingswerk beschäftigt ist. Auf der andern Seite darf ich mir nicht verhehlen, daß eine allzugroße Nachgiebigkeit hier viel Unheil schaffen kann. Man kann nicht wissen, welche Bewegungen die Veröffentlichung des kaiserlichen Ukases, durch den die Leibeigenschaft aufgehoben wird, in Rußland selbst hervorrufen wird. Ich fürchte sehr, daß jene Partei in Polen, welche sich stets mit trügerischen Hoffnungen trägt und jeden Augenblick zum Revoltieren bereit ist, stark auf solche Bewegungen in Rußland rechnet, um wieder allerlei Unfug zu beginnen. Man bereitet dergleichen bereits vor – die Feier des Schlachttages bei Grochow ist nichts anderes, als eine solche Vorbereitung, – nach der Sprache dieses Plakats wahrscheinlich noch mehr: die Herausforderung zu einem Zusammenstoß. Sie, Exzellenz, müssen wissen, ob wir hier in Warschau militärisch stark genug sind, um allen Eventualitäten die Spitze bieten zu können; – Sie Herr Oberpolizeimeister, ob Ihre Mannschaften genügen, geringerem Unfug zu begegnen und den fanatisierten Pöbel im Zaune zu halten.«

»Die Truppen in Warschau,« sagte der Generalkriegsgouverneur, »würden allenfalls für Niederhaltung gewöhnlicher Tumulte genügen, aber keineswegs für eine Revolution.«

»Der Polizei sind neuerdings durch Euer Hoheit Nachsicht und die von so mancher Seite« – der Oberpolizeimeister warf bei den Worten einen sehr verständlichen Blick auf den Marquis – »bezeigte Milde, leider sehr die Hände gebunden gewesen und der Geist des Ungehorsams und der Auflehnung ist im Wachsen. Ich habe bereits die Ehre gehabt, Euer Hoheit die klaren Beweise vorzulegen, daß in der Tat wiederum eine weitverbreitete Verschwörung existiert, die nur auf Gelegenheit zum Losschlagen wartet.«

»Unsere Nachrichten aus Paris,« unterbrach ihn der Staatssekretär, – »und der Herr Oberst weiß, daß sie sehr zuverlässig sind, behaupten, daß man im Hotel Czartoryski für jetzt gegen jede Schilderhebung ist und sie auf später verschoben hat.«

»Das Herr Staatsrat,« beharrte der Oberst, »schließt nicht aus, daß die Heißsporne, die Tollköpfe sich nicht halten lassen wollen und werden. Es gibt in diesem Augenblicke Elemente in der Bevölkerung, die von einem so wilden Haß und Fanatismus beseelt sind, daß das Schlimmste zu befürchten steht.«

»Warum machen Sie solche Leute denn nicht unschädlich, warum verhaftet man sie nicht?« rief der Gouverneur.

Der Oberst zuckte die Achseln. »Beweise! Beweise! Man will in Petersburg von solchen polizeilichen Maßregeln nichts wissen. Man behauptet, daß Verhaftungen, die nicht sogleich der Justiz überwiesen werden können, das Volk nur aufregen würden. Der bloße, wenn auch noch so gewichtige Verdacht genügt nicht mehr. Meine Agenten behaupten mit der größten Bestimmtheit, daß in Warschau selbst bedeutende Waffenansammlungen verborgen sind – aber die Polizei ist gelähmt, wenn sie zu jeder Haussuchung erst eines richterlichen Befehls bedarf.«

»Ich genehmige nicht gern exzeptionelle Maßregeln,« sagte der Fürst.

»Euer Hoheit werden die Folgen erleben. Wenn es mir gestattet wäre, morgen zwanzig oder dreißig der gefährlichsten Subjekte beim Kragen zu nehmen und sie für eine Woche einzustecken, würde die ganze Grochower Demonstration sich in nichts auflösen.«

»Ich stimme vollkommen der Ansicht des Herrn Oberpolizeimeisters bei,« bemerket der Geheime Rat Mukhanoff.

Der Fürst schüttelte den Kopf. »Es geht wahrhaftig nicht, die auswärtige Presse denunziert so schon genug gegen uns. Bedenken Sie, daß fast der ganze polnische Adel in diesem Augenblick hier versammelt ist, und daß er, sich auf seine neuerdings bewiesene Haltung stützend, ein gewaltiges Geschrei erheben und mich zur Rede setzen würde.«

»Ich traue dem ganzen Schwindel dieses Zentralkreditvereins blutwenig, Hoheit,« fuhr der Oberpolizeimeister fort. »Es ist eine sehr trügerische Decke. Es ist schwer zu bedauern, daß die Entdeckungen des Herrn von Tymowski auf dem Gute des entwichenen Wolawski uns aus der Hand gespielt worden sind. Droszdowicz behauptet, eine ganze Liste des verschworenen Adels in Händen gehabt zu haben.«

»Dann hätte er sie darin festhalten sollen,« rief ärgerlich der Fürst. »Bleiben Sie mir mit der verdammten Geschichte vom Leibe, ich habe schon Verdruß genug davon gehabt. Man hat uns geradezu in Petersburg dafür angeklagt und die ganze Sache als einen unerhörten Gewaltsakt ausgegeben.«

»Und die ersäuften Soldaten? Das von einer Bande Rebellen angegriffene und so rechtzeitig für die Verdächtigen zerstörte Haus? Die gewaltsame Befreiung der Schuldigen selbst? Die von den revoltierten Bauern erschossenen Gendarmen?«

»Sie haben keinen einzigen dieser angeblich revoltierenden Bauern fassen oder überführen können. Die ganze Geschichte mit dieser Haussuchung und Entdeckung ist etwas unklar, jedenfalls hat sich dieser Kollegienrat Tymowsky ebenso dumm als feig dabei benommen; von Ihrem Droszdowicz will ich nicht dasselbe behaupten, da er sonst schon Proben seines Mutes und seiner Geschicklichkeit abgelegt und gute Dienste geleistet hat.«

Der Oberst schwieg, – der Mißerfolg jener soviel versprechenden Maßregel war auch ihm überaus ärgerlich gewesen.

»Erlauben Euer Hoheit mir,« nahm der Marquis das Wort, »Ihre Aufmerksamkeit nach der anderen Seite zu richten. Ich habe heute die Bestätigung meiner Ansicht, daß die Bevölkerung weniger durch einheimische, als durch fremde Agitatoren aufgeregt und in Opposition gehalten wird, von einer sehr bedeutsamen Seite aussprechen hören.«

»Wir wissen längst, lieber Marquis, daß trotz aller Vorsicht an den Grenzen, die Emissäre der Propaganda in Paris sich bei uns einschleichen.«

»Ich meine nicht diese, Hoheit. Euer Hoheit wollen sich erinnern, daß die revolutionäre Propaganda überhaupt gegenwärtig in Europa wieder sehr tätig ist und leider sogar von gewissen Regierungen unterstützt wird. Italien ist das redende Beispiel.«

»Ich weiß, ich weiß, Sie sind italienischer Legitimist!«

»Ich bin vor allem jetzt Russe, da Rußland mein zweites Vaterland ist. Daß ich neben den mit meinen Ansichten innig verwachsenen russischen Interessen und der tiefsten Ergebenheit für unseren erlauchten Monarchen, Teilnahme und Aufmerksamkeit für das Land meiner Geburt hege, ist gewiß sehr natürlich.«

»Gewiß, lieber Marquis, – ich weiß, daß Sie ein treuer und ergebener Diener Seiner Majestät sind, – nur manchmal etwas zu milde und nachsichtig.«

»Euer Hoheit sind dies ja selbst und für möglichst friedliche Ausgleichung der Gegensätze. Die Tätigkeit der revolutionären Propaganda, die weniger in Paris und der Schweiz, als in London ihren Sitz hat, beschränkt sich aber nicht auf Italien allein.«

Der Generalkriegsgouverneur schlug ungeduldig mit der Hand auf ein vor ihm liegendes Album. »Die politischen Heuchler! ich hoffe, wir werden es ihnen noch einmal in Asien wettmachen. Ich habe es immer gesagt, es sind viel zu viele dieser unverschämten Nation in Rußland und Polen, namentlich bei den Eisenbahnen, und dieser Oberst Simmons Der englische General-Konsul in Warschau. zeigt oft eine Anmaßung und Einmischung, die unerträglich ist!«

Der Marquis fuhr fort: »Euer Hoheit wird es ebenso bekannt sein, daß sich die Kossuthsche Agitation wieder bedeutend in Ungarn regt. Es ist mir nun aus jener Quelle versichert worden, daß Agenten Kossuths und Garibaldis in jüngster Zeit Polen durchstreifen.

»Und darf man wissen, woher Ihre Nachricht stammt?«

»Direkt aus Rom!«

»Aus Rom?« rief überrascht der Staatsrat.

»Sogar aus den höchsten klerikalen Kreisen. Man scheint dort geradezu die Gelegenheit benutzt zu haben, uns davon zu avertieren und davor zu warnen.«

»Aber Sie werden wissen, lieber Marquis,« sagte betroffen der Fürst, »daß wir gegenwärtig grade nicht sehr gut mit Rom stehen, und unsere katholische Geistlichkeit sich sehr unzugänglich für die Wünsche der Regierung zeigt.«

Der Marquis zuckte die Achseln. »Ich kann Euer Hoheit nur Tatsachen berichten, und nehme gar keinen Anstand, die Person zu nennen, welche mir diese Versicherungen gemacht hat.«

»Bitte darum.«

»Es ist dies die, wie dem Herrn Oberpolizeimeister wohl bereits gemeldet sein wird, hier direkt von Rom eingetroffene Äbtissin eines Frauenklosters im Neapolitanischen, eine geborene Polin, eine Gräfin Zerboni.«

»Was will Sie hier? wahrscheinlich ein weiblicher Emissär! – Wie kommen Sie zu ihr?«

»Die Gräfin überbrachte mir einen Empfehlungsbrief aus dem Kreise meiner nächsten Verwandten. Sie behauptet, wegen eines – allerdings jetzt zu Nutzen ihrer Kirche oder ihres Stiftes prozessierenden Anspruchs an eine Erbschaft aus der Familie der Oginski nach Warschau gekommen zu sein, und – obschon man niemanden ins Herz sehen kann, – so muß ich doch sagen, daß sie mit der größten Offenheit auftritt und, freilich vom römischen Standpunkt, ganz loyale Gesinnungen bekundet. Sie hat sich Empfehlungen an mich verschafft, wahrscheinlich weil man mich noch an der Spitze des Departements der politischen Partei wähnte, worüber ich für Pflicht hielt, sie aufzuklären. Die Gräfin ist, wie ich mich zu erinnern glaube, in ihrer Jugend wegen sehr unliebsamer Familiengeschichten in ein Krakauer Kloster gesteckt worden, soll auch dort sich sehr rebellisch und unliebsam gemacht oder einige schlimme Dinge begangen haben, und ist wahrscheinlich zur Strafe oder Korrektur in ein italienisches Kloster versetzt worden, wo sie sich allerdings wieder rehabilitiert zu haben scheint, da sie jetzt, obschon noch ziemlich jung, bereits an der Spitze ihres Konvents steht.«

Der Fürst sah den Oberpolizeimeister an. »Was sagst du dazu, Oberst? – hat sie Verbindungen mit der hiesigen Geistlichkeit, mit dem Erzbischof, mit Platen?«

»Die Gräfin,« sagte der Oberst Trepoff, »deren Ankunft natürlich bereits meine Aufmerksamkeit und Überwachung erregt hat, ist in direkter Tour über Prag hierhergekommen. Sie ist bis jetzt nur mit dem Herrn Marquis und der Familie Wielopolski, die mit den Zerbonis verwandt sind, in Verkehr getreten und hat heute Nachmittag mehrere Schreiben an Personen gerichtet, unter anderm an den Herrn v. Krautowski im Justizdepartement und an den Herrn Erzbischof.«

Ein fragender Blick des Fürsten traf ihn. Der Oberpolizeimeister lächelte. »Der Inhalt,« sagte er ohne Zögern, »ist ganz unverfänglich. Sie bittet um Audienz, um Seiner erzbischöflichen Gnaden ihre Ehrerbietung beweisen zu können. Der Rat wird um seine Besuchsstunde gebeten, um mit ihm über eine juristische Erbschaftsfrage konferieren zu dürfen.«

»Und von dieser Dame haben Sie die Mitteilungen wegen der Emissäre?«

»Zu Befehl, Hoheit.«

»Was denken Sie davon? ich bitte um Ihre eigene Meinung.«

»Obschon ich die Frau Äbtissin nicht direkt befragen mochte, glaube ich doch aus ihren Andeutungen entnehmen zu dürfen, daß sie mit der Mitteilung oder Warnung, von der ich sprach, direkt von Kardinal Antonelli oder einer gleich hohen Quelle beauftragt ist. Wir wissen alle, wie sehr man in Rom den Schein irgendeiner Nachgiebigkeit oder eines Entgegenkommens vermeidet, es wäre also durchaus nicht auffallend, daß man sich dieser Hintertür und nicht des Weges durch Herrn von Kisseleff Damals russischer Gesandter in Rom. bedient. Ich betrachte diese Warnung als eine Art Revanche für unsere Haltung in der neapolitanischen Frage, die auf der andern Seite zu keinem Zugeständnis verpflichtet. Es ist möglich, daß die Äbtissin auch den Auftrag hat, den Herrn Erzbischof über die Geneigtheit der Kurie zu ausgleichenden Schritten zu informieren, wenigstens ließen sich die Reden der Dame dahin deuten. Bei dem starren Eigensinn des Herrn Fijalkowski wäre freilich nur von bestimmten Befehlen aus Rom etwas zu erwarten.«

»Sie können recht haben, Marquis. Wir sind freilich im erzbischöflichen Palast gegenwärtig so schlecht bedient, daß wir über die Audienz der Dame, gegen die wir ja nichts einwenden können, wenig hören werden.«

Der Oberpolizeimeister begnügte sich mit einer entschuldigenden Bewegung der Achseln.

»Wenn ich mir noch erlauben dürfte, eine Bemerkung in bezug auf die Befürchtungen für die Feier von Grochow zu machen,« fuhr der Marquis fort, »so wäre es der Wunsch, die Jugend unserer Akademien und Institute von jeder Beteiligung ferngehalten zu sehen.«

»Wollen der Herr Generalmajor mir vielleicht bestimmte Personen oder Institute bezeichnen?« fragte der Chef der Schulen mit einer gewissen eifersüchtigen Schärfe.

»Pardon – ich bin nicht gewohnt, aus zufällig Gehörtem Denunziationen zu machen.«

Geheimrat Mukhanoff biß sich auf die Lippen und würde wahrscheinlich eine scharfe Erwiderung haben folgen lassen, wenn der Fürst nicht interveniert hätte.

»Wir müssen jetzt zu einem bestimmten Beschluß über die Art unsers Verfahrens und der Stellung kommen, die wir übermorgen einnehmen wollen. Was zunächst die Mitteilungen des Herrn Marquis betrifft, so bitte ich den Herrn Oberpolizeimeister, die Aufmerksamkeit auf solche Emissäre zu verdoppeln und ermächtige ihn zu den strengsten Maßregeln, wo irgend berechtigter Verdacht sich zeigt.«

»Zu Befehl, Hoheit! Was bestimmen Hoheit in betreff der genannten Äbtissin?«

»Ich werde abwarten, ob sie sich im Palais vorstellen läßt, sie soll vorläufig unbelästigt bleiben, bis Rat Krautowski über ihre Prozeßangelegenheit und die Begründung ihrer Rückkehr nach Polen Bericht erstattet hat. Bei Gelegenheit einige speziellere Daten über die Vergangenheit! – Das nächste dürfte sein, daß wir den Urheber dieses Plakats ermitteln und seine Verbreitung hindern. Wie viele Personen sind deswegen bereits verhaftet, Oberst Mesenceff?«

»Vier bis jetzt, Hoheit.«

»Lassen Sie dieselben vorläufig in dem Polizeigefängnis. Sind Vorsichtsmaßregeln gegen die Verbreitung der Plakate geschehen?«

»Die Polizei wird die ganze Nacht in Bewegung sein.«

»Daß wir diese verdammte geheime Druckerei nicht entdecken können! Oberst Trepoff, lassen Sie morgen allen Ladeninhabern und Handwerksmeistern bedeuten, man wünsche, daß sie am 25. ihre Lehrlinge und jungen Leute zu Hause halten. Dasselbe wird den Direktoren der Akademien und Institute zu empfehlen sein.« –

»Warum lassen Euer Hoheit nicht für diesen Tag ohne weiteres alle Versammlungen verbieten?« sagte ungestüm der Generalkriegsgouverneur.

»Es geht nicht, es geht nicht, Exzellenz, – wir dürfen nicht zeigen, daß wir der Sache so viele Bedeutung beilegen. Ich habe deshalb auch beschlossen, daß, wenn die polnische Partei, wie nach einer Mitteilung von vorhin zu erwarten ist, von einer allgemeinen Feier in den Kirchen und auf dem Schlachtfeld absteht, die Truppen nicht ausrücken sollen. Sie mögen in ihren Kasernen designiert bleiben. Nur die Kosaken Barinskys unter Befehl von General Sabolotzki mögen öffentlichen Dienst tun. Wir müssen die ganze Sache als eine Polizeisache behandeln, – die Polizeimannschaften und die Gendarmerie werden genügen, allen Ausschreitungen vorzubeugen. Im übrigen soll man dem Gottesdienst des Volkes in den Kirchen nichts in den Weg legen.«

»Und wenn die Fanatiker sich nicht auf das Innere der Kirchen beschränken, wenn es zu Demonstrationen auf den Straßen kommt?« fragte der Oberpolizeimeister.

»Ich vertraue sicher, daß es nicht dazu kommen wird. Sie müssen den Leuten vernünftig zusprechen. Eine offene Demonstration gegen die Regierung darf freilich nicht geduldet werden. Verhüten Sie nur, daß kein Blut vergossen wird.«

»Dann mögen sich die Warschauer davor hüten,« erklärte der energische Kriegsgouverneur, »meine Soldaten anzugreifen. Ich erlaube mir Euer Hoheit zu erinnern, daß der Befehl von Petersburg lautet: die Garnison habe in voller kriegsmäßiger Ausrüstung auszurücken. Ich muß daher die Order ausgeben, scharfe Munition zu fassen.«

»Ich will das nicht hindern,« sagte zaudernd der Fürst, »aber Sie werden sich überzeugen, daß die Vorsicht unnütz sein wird. Bei leichten Exzessen wird der Kantschuh der Kosaken genügen. – Der bessere Teil des Publikums wird sich sicher fernhalten.«

Der Generalkriegsgouverneur verbeugte sich. »Ich wünsche, daß Eure Hoheit recht behalten möge. Im übrigen werde ich keine Vorsicht versäumen. Haben Eure Hoheit sonst noch Befehle für mich?«

Der für energischere Maßregeln, als der Fürst sie beabsichtigte, gestimmte General hatte sich zugleich mit dem Fürsten-Statthalter in ziemlich übler Laune erhoben.

»Nein Exzellenz, – auch werden wir ja morgen noch Zeit haben, weiteres zu besprechen. Es galt mir heute abend nur, uns infolge dieses Plakats über die Gesichtspunkte zu verständigen, aus denen wir die Sache behandeln wollen. Da wir nun darüber einverstanden sind,« – der Fürst verneigte sich leicht ringsum, ohne die unzufriedene, wenig einverstandene Miene mindestens der Hälfte der Anwesenden zu bemerken oder bemerken zu wollen, – »so bitte ich Sie, mit mir zur Gesellschaft zurückzukehren, damit unsere zu lange Abwesenheit nicht etwa falsche Auslegungen erhält. – Die Herren werden das Buffet mit einer vortrefflichen neuen Marke versehen finden, die mir Budberg aus Berlin durch seinen Lieferanten Borchardt daselbst erst dieser Tage hat zugehen lassen. Sie können auch Gelegenheit nehmen, sich bei der Fürstin, meiner Frau, zu verabschieden, die ich dieser Tage zu ihrer Tochter nach Stuttgart senden will. Meyendorff erwartet ein freudiges Familienereignis.«

Ein Wink an den Offizier vor der Portiere des Kabinetts entband diesen von seinem Wachdienst.


Die Hoffnung des Fürsten-Statthalter, daß mit der Konfiskation eines Teils der Plakate und der Verhaftung einiger Personen, die sie verbreitet hatten, die Sache abgetan sei, wurde vollständig getäuscht. Am andern Morgen, – Sonntag – war ganz Warschau überschwemmt mit jener gedruckten Aufforderung, sich zur Feier des Schlachttages von Grochow am andern Nachmittag zahlreich auf dem alten Markt einzufinden, und bereit zu sein, – wie es in dem Aufruf hieß – für das Recht des Volkes an seinen großen Erinnerungen das Martyrium zu erleiden.

Dieser Aufruf war auf unerklärliche Weise in alle Häuser gekommen, ja, trotz aller Aufsicht der Polizei, wiederum an vielen öffentlichen Stellen angeschlagen.

Der Fürst-Statthalter mußte jetzt der Sache ruhig ihren Lauf lassen und nur an den bereits beschlossenen Maßregeln festhalten. Jeder Widerruf des Plakats, jedes Verbot wäre eine zugestandene Niederlage der Polizei gewesen.

Der Tag verging in einer gewissen unruhigen Bewegung, jedoch ohne äußere Exzesse, die Kirchen waren überfüllt, die Straßen bis zum späten Abend belebt, das gewöhnliche lärmende Treiben jedoch wie auf Befehl verschwunden. Jedermann fühlte, daß sich wichtige Ereignisse vorbereiteten.

Im Laufe des Tages war der junge Student wieder zu seiner Tante der Äbtissin gekommen, und hatte ihr eine Botschaft des Pater Hilarius gebracht. Sie lautete einfach: er bedauere, durch seine kirchlichen Pflichten verhindert zu sein, ihr einen Besuch zu machen, da er zu dieser österlichen Zeit jeden Abend Beichte sitzen und darin einen erkrankten Geistlichen der Pauliner Kirche vertreten müsse.

Die Äbtissin schien mit dem Bescheid zufrieden und entließ den Knaben mit neuen Ermahnungen, nachdem sie vorher noch durch einige geschickte Querfragen herausgebracht, daß er am Abend vorher Oginski die Nachricht gebracht habe, daß eine Frau, für die er sich interessiert und die Intervention des Markgrafen und anderer einflußreicher Männer nachgesucht habe, noch im Laufe des heutigen Tages aus der Haft und zugleich aus dem großen Stadtlazarett entlassen werden solle, in welchem sie sich bisher befunden, indem die Untersuchung gegen sie durch den Statthalter selbst niedergeschlagen worden sei.

Nach Einbruch der Dunkelheit verließ die Äbtissin, begleitet von der Laienschwester das Hotel, indem sie wie von ungefähr wissen ließ, daß sie dem Abendgottesdienst in einer der zahlreichen Kirchen Warschaus beiwohnen wolle. Es blieb ihr nicht unbemerkt, daß man sie bei dem Gange beobachtete, und sie nahm ihren Weg nach der großen Kathedrale am Schloß.

Wir müssen uns einige Augenblicke zu unserem früheren Bekannten wenden, der unter dem Namen eines Grafen Czatanowski in demselben jetzt überfüllten Hotel ein Unterkommen gefunden, in dem auch die Äbtissin vorläufig ihr Quartier genommen hatte. Graf Hypolyt, denn wir wissen, daß es der junge Graf Oginski war, dem der kleine Spion Janko unter seiner Maske in der Nähe des großen Warschauer Krankenhauses begegnete, und den er erkannt hatte, war schon beizeiten ausgegangen; seine Ungeduld, die Sorge um das junge Mädchen, dessen heldenmütiger Aufopferung er im Herbst des vergangenen Jahres seine Rettung verdankt hatte, trieb ihn in die Nähe der Krankenanstalt, aus der, wie er durch die Benachrichtigung des jungen Wysocki erfahren hatte, sie im Laufe des Sonntags entlassen werden sollte.

Das große städtische Krankenhaus zum Herzen Jesu, mit dem zugleich das berühmte Warschauer Findelhaus verbunden ist, ist eine Anstalt der edelsten und verständigsten Humanität.

Der Leser wird sich vielleicht erinnern, daß die Verhaftung des Studenten Asnik und des Fräuleins v. Marowska Band I. S. 82. in einer Konditorei in dem Stadtteil südlich vom sächsischen Garten und der Königsstraße, also in der Nähe des großen Spitals erfolgt war, und diese und die Humanität des Polizeikommissars waren die Ursache gewesen, daß man die so schwer verletzte Gefangene in dem großen gewöhnlichen Krankenhause, nicht in dem des Polizeigefängnisses untergebracht und belassen hatte.

Der Knabe hatte dem Grafen nicht sagen können, um welche Stunde die Entlassung der Gefangenen stattfinden würde, und so war dieser auf den Zufall und seine eigene Beobachtung angewiesen, wenn er dem jungen Mädchen bei seinem Austritt begegnen wollte, da er es nicht wagen konnte, sich bei dem Pförtner oder in dem Bureau des Krankenhauses nach ihr zu erkundigen. Er mußte sich daher begnügen, um den Ausgang des Hospitals zu streifen, oder von einem der naheliegenden öffentlichen Lokale aus den Ausgang zu beobachten.

Dieses beharrliche Verweilen hatte natürlich bald die Aufmerksamkeit der an diesem Tage überall beschäftigten geheimen Agenten der Polizei auf sich gezogen, die nicht unterließen, ihn weiter zu beobachten.

Zu den Personen, die dies taten, gehörte auch ein Mädchen, ein Kind noch, eine jener Verkäuferinnen von Apfelsinen oder Zuckerbackwerk, die in den Kneipen umherstreifen oder an den Straßenecken den Vorübergehenden von ihren süßen Waren anbieten. Das junge Mädchen hielt den Grafen fest im Auge und beobachtete zugleich die Personen, die sich mit ihm beschäftigten.

Plötzlich, – eben bog ein Droschkenschlitten, der die Mazowiecka heraufkam, nach dem Portal des Hospitals ein und die Strahlen der Gaskandilaber fielen voll auf einen darin sitzenden Mann – verschwand das Mädchen von dem Steinsitz, den es in der Nähe des Eingangstores behauptet hatte, als hätte es die Erde verschlungen, so rasch und geschickt war die Bewegung ausgeführt.

Der Schlitten hielt auf den Zuruf des Fahrgastes und dieser stieg aus. »Fahr zu, ich brauche dich nicht weiter!« – Der Mann war in einen Mantel gehüllt, den Kragen emporgeschlagen. Nur einen Moment lang im Vorfahren waren die Lichtstrahlen des Kandelabers auf sein Gesicht gefallen, als der Wind den Kragen lüftete, und es hatte eines so scharfen Auges, als es die kleine Verkäuferin zu besitzen schien, bedurft, um in dem Fahrgast den Polizeikommissar Droszdowicz zu erkennen.

Der Beamte blieb in der Nähe der Steinbank stehen, unter der sich das Mädchen verborgen hatte, und überblickte aufmerksam den Platz, ohne das, was er zu suchen schien, zu bemerken.

»Sollte ich mich in meiner Annahme getäuscht haben?« murmelte er. »Diese Leute pflegen doch sonst eine große Anhänglichkeit an ihre Geliebten zu haben, grade wie man oft unter den gemeinen Verbrechern in dieser Beziehung wirklich bewundernswerte Beispiele von Aufopferung und Treue findet. Ich weiß gewiß, daß der Bursche sich hier verborgen in irgendeinem geheimen Schlupfwinkel aufhält, und Warschau noch nicht verlassen hat, – und diese Niederschlagung der Untersuchung, und der Befehl, das Mädchen zu entlassen, ist gewiß von einer Seite gekommen, die ihn darüber nicht in Unkenntnis gelassen hat. – Nun hol es der Henker – ich gönne es dem Mädchen, schon um des Mannes willen, der sich so sehr für sie interessierte; für mich fürchte ich, wird es andere Arbeit genug geben!«

Er sah nach der Uhr. »Auf der Kreuzkirche drüben muß es sogleich halb Sieben schlagen, – das ist die Zeit, die ich ihnen angegeben, mich zu treffen.«

Der Kommissar hatte es kaum gedacht oder vor sich hingemurmelt, als es in der Tat von dem Turm der nahen Kreuzkirche halb Sieben schlug.

Fast mit dem Glockenschlag traten von verschiedenen Seiten zwei Männer an ihn heran.

»Melde mich im Dienst!«

»Ah, – du bist's, Kaminski, – und der neue? Willst dein Probestück machen, Stefan Stefanowitsch?«

»Wenn du's erlaubst, Väterchen!«

»Nun – nichts bemerkt? Du, Kaminski, weißt doch, um was es sich handelt?«

»Zu Befehl, Pani Komissarz. Wir wollen den Spitzbuben, den Prot Asnik fassen, – die Leute sind unterrichtet.«

»Du kennst ihn persönlich?«

»Das nicht, Pani, aber der Godelnecki, der vor mir die Wache hatte, hat mir ihn ganz genau beschrieben und gezeigt.«

»Gezeigt?«

»Gewiß! er treibt sich schon den ganzen Nachmittag hier herum, und nur weil du's verboten, haben wir ihn nicht verhaftet.«

»Desto besser!« Der Kommissar rieb sich die Hände. »So haben meine psychologischen Schlüsse doch recht behalten.«

»Hier der Kamerad,« sagte der Polizeiagent, »hat ihn auch gesehen, und ihn sofort für verdächtig gehalten, ja er behauptet, ihn schon früher einmal gesehen zu haben, weiß aber nicht wann und wo. Verlassen Sie sich darauf, er soll uns nicht entgehen, der ganze Platz ist umstellt, wie Sie's befohlen haben.«

»Hört mich an!«

»Zu Befehl, Pani!«

»Ihr wißt also, daß einer der gefährlichsten Unruhstifter, der Student Prot Asnik, den ich vor fünf Monaten zu verhaften das Glück hatte, wieder entsprungen war.«

»Ja, Herr!«

»Alle Bemühungen, seiner wieder habhaft zu werden oder seinen Schlupfwinkel zu entdecken, sind bisher vergeblich gewesen. Jetzt zeigt sich eine Aussicht dazu. Die Geliebte dieses Menschen, die zugleich mit ihm verhaftet, aber weil sie einen Unfall dabei erlitten, ins Lazarett gebracht werden mußte, wird noch diesen Abend hier aus dem Hospital entlassen werden. Ich selbst werde sie begleiten, und ich erwarte, daß ihr Geliebter, eben der Student, den wir suchen, in der Nähe sein wird, um sie, – wenn ich sie verlassen, in Empfang zu nehmen oder ihr wenigstens einen Wink zu geben, wohin sie sich wenden soll.«

»Und dann sollen wir ihn packen?«

»Dummköpfe! nachspüren sollt ihr ihm, ihn geschickt verfolgen, damit wir seinen Schlupfwinkel ermitteln und das ganze Nest ausnehmen können.«

»Zu Befehl, Pani Komissarz.«

»Nun macht eure Sache gut, unterrichtet die andern genau; Punkt 7 Uhr verlasse ich das Spital mit dem Mädchen hier durch den Hauptausgang. Jedenfalls haltet sie im Auge. Ihr wißt, wo ihr mich zum Rapport zu suchen habt.«

»Verlaß dich auf uns, Väterchen!«

Der Kommissar, obschon der russische Polizeiagent einer seiner gewandtesten und zuverlässigsten war, schien mit dem »Verlassen« doch nicht so vertrauensvoll zu sein, denn er wiederholte den beiden nochmals auf das Bestimmteste seine Instruktionen und dann erst betrat er das Spital.

Er war kaum verschwunden und die beiden Polizeidiener hatten sich kaum entfernt, als unter der Steinbank, in deren Nähe das Gespräch geführt worden war, der Kopf der kleinen Apfelsinenverkäuferin hervorkam und ihre Augen sorgsam hervorlugten. Dann, als sie sich sicher hielt, war sie mit einem Satz aus dem Versteck. »Ich will der Mutter Gottes ein Kerzchen für fünf Kopeken noch heute abend anzünden,« murmelte die Dirne, »zum Dank, daß sie das Warschauer Gas so schlecht brennen läßt. Heiliger Josef, wenn er, der sonst die Augen überall hat, mich gesehen hätte, – ich wäre diesmal so sicher erwischt worden, wie eine Ratte in der Falle, denn ich konnte mich nicht regen da unten. Aber gut ist es doch, daß ich dort gesteckt und die ganze Sache gehört habe, – hätte ich nicht Russisch verstanden, wäre es mir auch nichts nütze gewesen. So hat's doch sein Gutes gehabt, daß mir's der verdammte Kerl, der Schulmeister eingeprügelt und ich immer mit den Kindern des versoffenen Iwan, des Steuervisitators, gespielt und sie geneckt und geknufft habe. – Heilige Mutter Maria, was ist nun am besten zu tun? – Den Prot Asnik warnen? – Wer weiß, wo er herumstreicht, außerdem ist er ein Lump, der mir noch niemals was anderes gegeben hat, als Fußtritte und Kopfnüsse, und ich weiß bestimmt, daß er nicht daran denkt, um des Fräuleins wegen auch nur einen Finger ins Feuer zu stecken.«

Das Mädchen hatte sich auf den nächsten Eckstein gesetzt und während sie von Zeit zu Zeit ihren kreischenden Ruf: Appelzynie, Appelzynie! erschallen und ihre scharfen Augen überall umherspionieren ließ, dachte sie weiter nach.

»Ich habe die Marowska lieb,« murmelte sie weiter, – »ich glaube nicht, daß eine andere ihren Arm geopfert hätte, um meinen Grafen zu retten, – und ihn natürlich auch; vor allem, er ist ein guter Pole, der Okuliarnik mag gegen ihn sagen, was er will. Er sollte eigentlich die Marowska heiraten, das gäbe ein gutes Paar, denn ich glaube den Unsinn nicht, den der Kommissar schwatzte, daß sie des Prot Geliebte gewesen wäre. Pfui, – sie hätte ihn nicht über die Achsel angespuckt. Zum Teufel, ich will es machen, wenn mir die Heiligen helfen dabei. Potz Kuckuck, der Janko will ihnen zeigen, was er kann; ich meine, der Großvater wird sich freuen darüber, denn er hat den blanken Grafen auch gern und es gefällt mir nicht, daß er immer mit dem Brillen-Ludwig tuschelt! – Aber nun gilt's vor allem den Grafen zu warnen; denn mir scheint, die Kerle haben ihn für den Studenten gehalten. Hei – müssen die blind sein, der Prot Asnik und mein Graf! Ein Unterschied wie Tag und Nacht!«

Der Knabe, – denn das verkleidete Mädchen war natürlich unser alter Freund Janko, – kicherte bei dem Gedanken vergnügt vor sich hin und wollte sich eben erheben, um seinen Erretter aus den Zähnen der Wölfe aufzusuchen, als eine Hand ziemlich unsanft seine Schulter faßte.

Erschrocken schaute er um, – ein großer Mann im russischen Militärmantel, den Kragen aufgeschlagen, die Mütze tief in die Augen gedrückt, stand vor ihm und hielt ihn fest. Die verhaßte Uniform erhöhte natürlich seinen Schrecken nicht wenig und schon sah er sich nach einer Gelegenheit zu entwischen um.

»Bleib, Kind,« sagte der Fremde auf Russisch, aber mit so mildem und friedlichem Ton, daß der Knabe wieder Mut faßte. »Verstehst du Russisch?«

»Zu Befehl, allergnädigster Herr!«

»Ich will dir nichts tun, du sollst vielmehr Geld verdienen!«

»Ach, gnädigster Herr – eine Mutter und fünf hungernde Geschwister!« und er fing seine Klagen mit derselben weinerlichen Fistelstimme an, mit der er am Abend vorher in der Wohnung seiner Mutter den Okuliarnik geäfft hatte.

»Albernes Ding! – ich will dich ja eben Geld verdienen lassen dafür. Was kostet dein ganzer Kram hier?«

»Meine ganzen Apfelsinen hier?«

»Ja, und die Schwinge dazu!«

Der Knabe begann wieder sich unbehaglich zu fühlen; wir wissen, daß es ihm keineswegs daran liegen konnte, seine sämtlichen Früchte an einen Russen abzusetzen.

»Aber gnädigster Herr, ich darf die Schwinge nicht verkaufen, ich muß sie wieder nach Hause bringen, sonst schlägt mich die Mutter, sie ist so schlimm!«

»Unsinn, – wenn sie das Silber sieht, wird sie dir nichts tun. Hier sind fünf Silberrubel, damit ist der ganze Quark dreifach bezahlt. Also her damit!«

Der Fremde griff nach der Schwinge und riß sie dem Mädchen halb mit Gewalt weg, indem er zugleich das Geld auf den Schnee warf. Janko begriff sehr wohl, daß eine ernste Weigerung bei so reichlicher Bezahlung ihn hätte verdächtig machen müssen, und ergab sich darein, jetzt nur neugierig, was der junge Offizier, – denn ein solcher und dazu ein vornehmer Herr war der Fremde offenbar seinem ganzen Äußern gemäß und nach dem wenigen, was der Knabe von seinem Gesicht sehen konnte, – mit der Apfelsinenschwinge machen wolle. Sein Erstaunen wuchs, als er den Fremden nach wenigen Schritten, die er in den leichten Abendnebel hinein tat, gleichgültig die Schwinge leeren und die Früchte achtlos in den Schnee schütten sah, während er das Behältnis selbst unter dem Mantel verbarg und damit verschwand.

Der Knabe wollte eben der Stelle zueilen und sich wieder in den Besitz der Früchte setzen, als er Stimmen hörte und einige Personen sich näherten und den Ort früher erreichten, als er selbst.

Jetzt hielt er es – der Beschaffenheit der Früchte wegen – für geraten, abzuwarten, ob sie die Apfelsinen bemerken und aufnehmen würden, oder nicht.

In der Tat geschah ersteres und Freund Janko konnte sich glücklich preisen, daß er nicht bei dem Geschäft betroffen worden war; denn er konnte jetzt deutlich die Stimme des Polizeidieners erkennen, der vorhin mit dem Kommissar gesprochen und von ihm Instruktionen erhalten hatte.

»He, sieh da, Stefan Stefanowitsch – da liegt ja ein Haufen Apfelsinen! Wenn mir recht ist, hat ihn der lange Bursche im Mantel, der dort hinüber ging, ausgeschüttet.«

»Ich habe es deutlich gesehen,« bestätigte der ehemalige Grenzaufseher.

»Und was zum Teufel ist das? Eine bloße Schale, Papiere darin!« Er stürzte auf den Fund.

In der Tat mußte bei dem achtlosen Ausschütten der Früchte eine derselben sich geöffnet haben und das Geheimnis jetzt verraten. Janko hielt es nicht für rätlich, das weitere abzuwarten, sondern machte sich aus dem Staube. Der wackere Knabe räumte aber dennoch nicht gänzlich das Feld und gab seine Absichten keineswegs auf. Nachdem er sich eilig in eine der nächsten Querstraßen zurückgezogen und dort eine seiner Kameradinnen getroffen hatte, änderte er mit deren Hilfe seine Kleidung und erschien nach kaum einer Viertelstunde wieder als junge Bettlerin auf dem Platz und nahm in der Nähe des Spitals aufs neue seinen Standort.

Wir müssen zunächst den Kommissar in das Innere des großen Krankenhauses begleiten.

Der Kommissar begnügte sich, das unweit des Einganges belegene Bureau des Direktors zu betreten und diesen rufen zu lassen.

»Guten Abend, Pani Szczegemski!«

»Sieh da – Herr Kommissar! Ich freue mich, Sie wieder einmal zu sehen. Was verschafft mir die Ehre so spät noch? – Ein Verunglückter – oder, wir leben in einer schlimmen Zeit – etwa gar Verwundete? – ich werde sogleich die Ordre zur Aufnahme geben.«

»Bitte, bemühen Sie sich nicht! – ich sehe, Sie haben allerlei Ahnungen und es könnte allerdings kommen, daß Ihr Beistand in Anspruch genommen würde; vorläufig wollen wir hoffen, daß der morgende Tag ruhig vorübergeht, obschon ich, grade herausgesagt, in dieser Beziehung wenig die Erwartungen meines Chefs teile, denn ich kenne unsere Warschauer. Einstweilen komme ich in einer anderen Angelegenheit.« Er zog ein Papier aus der Tasche und öffnete es. »Sie haben auf die Anfrage der Polizeidirektion hier angezeigt, daß die Ihnen im vorigen Oktober von mir selbst übergebene, später am linken Arm amputierte Inculpatin Marowska soweit wiederhergestellt ist, daß sie aus der Haft entlassen und der Untersuchungsbehörde zur Verfügung gestellt werden kann.«

»So ist es, Herr Kommissar.«

»Ich erlaube mir die Frage auf Ihren Diensteid als – wenn auch nicht königlicher, – so doch städtischer Beamter, ob während der Krankheit der Marowska von ihr oder von außen her ein Verkehr mit ihr anzuknüpfen versucht worden ist?«

»Das ich nicht wüßte! Die – Dame befand sich in den ersten Wochen auch nach der sehr schwierigen Amputation, da die Armknochen bis über das Gelenk hinauf in wahrhaft schrecklicher Weise zersplittert waren und der Arm daher nahe unter der Achsel abgenommen werden mußte, in einem sehr gefährlichen Zustand. Auch später, während der fortschreitenden Heilung hat sie sich sehr zurückgezogen gehalten und selbst eine gewisse Scheu vor jedem Verkehr gezeigt. Hätte sie Briefe empfangen oder abgesandt, würde ich nicht ermangelt haben, meiner Pflicht gemäß die Behörde davon in Kenntnis zu setzen.«

Der Kommissar hatte die Beschreibung der Amputation mit einer Teilnahme gehört, die sich deutlich auf seinem Gesicht widerspiegelte. »Das arme Mädchen,« sagte er. »Ich hatte gehofft, daß man das neue Verfahren, welches ein gewisser Professor Langenbeck jetzt in Berlin anwenden soll und bei dem nur der Ellbogen herausgenommen wird, Resurrektion nennt man es ja wohl, auch bei ihr versucht und ihr so wenigstens der Arm erhalten werden könnte.«

Der Direktor zuckte die Achseln. »Die Ärzte scheinen es doch wohl nicht für anwendbar gefunden zu haben. An sorgsamster Behandlung und Pflege hat es ihr nicht gefehlt.«

»Das weiß ich und bin von Ihrer Humanität überzeugt, liebster Direktor. Sie werden sich vielleicht erinnern, daß ich mich ja schon einmal nach dem Zustand der Patientin persönlich erkundigte, da ich wirklich teil an dem Fall und ihrer Person nahm. – Sagen Sie mir noch, lieber Direktor, – hat seit einigen Tagen keine Erkundigung nach dem Fräulein von Marowska oder der Zeit ihrer Freilassung stattgefunden?«

»Ihrer Freilassung?«

»Ja, – ich bringe hier den Befehl dazu, die Untersuchung gegen sie ist niedergeschlagen oder sie vielmehr durch das selbstverschuldete Unglück als genügend bestraft angesehen.«

»Ich kann Ihnen darüber keine Auskunft geben, werde mich aber gleich erkundigen.« Der Direktor schellte und ließ den Portier der Anstalt rufen.

Als dieser, ein robuster, finsterer und mürrischer Mensch erschien, übernahm der Polizeikommissar die Befragung selbst.

Der Mann erklärte, daß allerdings in den letzten drei Tagen jeden Tag ein Mann an der Loge gewesen war, um nach dem Befinden der Gefangenen und ob sie das Spital noch nicht verlassen habe, zu fragen. Der Portier wollte bloß geantwortet haben, er wisse von den einzelnen Kranken nichts, kümmere sich nicht um sie und man möge in dem Bureau nachfragen, wenn man etwas wissen wolle. Daß er jedes Mal ein ansehnliches Trinkgeld empfangen, hielt er für unnötig, zu erwähnen.

Im Bureau war keine Nachfrage erfolgt, – man schien sie also gescheut zu haben.

»Und könnt Ihr mir die Person etwas genauer beschreiben, guter Freund, die nach Fräulein von Marowska gefragt hat?« examinierte der Kommissar weiter.

»Was weiß ich davon, Herr,« wich der Unterbeamte mürrisch aus, – »es gehen den Tag über so viele Maulaffen an meiner Loge vorüber, stecken den Kopf durchs Fenster und tun allerlei müßige Fragen, daß es ein wahres Kunststück wäre, sie sich alle zu merken.«

Der Kommissar lächelte, er kannte seine Leute. Schon daß der Portier wußte, daß die Person dreimal gekommen, war ihm genug. »Es ist darum auch nicht von allen Personen die Rede, mein Junge, sondern bloß von der einen, die nach der genannten Kranken gefragt hat. Du erinnerst dich ja des Namens derselben so gut, daß du dich auch wohl der fragenden Person erinnern wirst …«

Der Portier schwieg, der Kommissar hatte eine Art zu fragen, der auch ein Klügerer nicht widerstanden hätte.

»Namentlich,« fuhr der Examinator fort, »wenn die Person dir jedesmal gewiß ein Trinkgeld dabei gegeben hat. – War es ein Mann?«

»Versteht sich!«

»So! – Gut, daß du anfängst, dich zu erinnern. – Jung oder alt?«

»Na – ziemlich jung – so an die Dreißig vielleicht.«

»Und sein Aussehen?«

»Nun – es muß ein Vornehmer gewesen sein, er hatte so eine gewisse Manier.«

»Klein oder groß?«

»Groß und schlank, – er trug einen schönen Pelzmantel. Aber das ist alles, dessen ich mich erinnere, und wenn Sie mir Daumschrauben ansetzen. Ich hatte gehört, daß das kleine Frauenzimmer, der sie den Arm abgeschnitten, kriminalisch wäre, und wollte mit der Sache daher nichts zu tun haben.«

Es war sicher, daß der Bursche noch etwas verschwieg, aber der Kommissar wußte, daß er weiter nichts aus ihm herausbringen würde und glaubte genug zu wissen.

»Gut, gut!« sagte er, – »Du kannst wieder gehen. Nur sorge dafür, wenn die Polizei dich wieder einmal frägt, daß dein Gedächtnis etwas rascher bei der Hand ist.«

»So,« fuhr er fort, nachdem der Portier sich wieder entfernt hatte, – »nun würde ich Sie, lieber Direktor, bitten, Fräulein von Marowska hierher kommen zu lassen, indes wir die nötigen Förmlichkeiten erledigen.«

»Sie wollen sie mit sich nehmen?«

»Ich denke; – ich bitte darum, und daß Sie dann die Güte haben, mich einige Augenblicke hier mit ihr allein zu lassen.«

Der städtische Beamte verbeugte sich zustimmend, obschon dies Verfahren der Polizei bei Übernahme von Gefangenen oder Kranken etwas ungewöhnlich war, wagte er doch nichts dagegen einzuwenden, da ihm wohl bekannt, in welchem Ansehen der Kommissar bei dem in Warschau fast allmächtigen obersten Polizeichef stand. Er gab die nötigen Befehle und empfing sodann von dem Kommissar die Order zur Auslieferung der inhaftierten Wanda von Marowska und die Quittung des Beamten über Empfangnahme derselben.

Es mochten etwa zehn Minuten vergangen sein, als ein Wärter des Hauses höflich die Tür des Bureaus öffnete und die Gefangene eintreten ließ.

Beide Beamte betrachteten sie mit Teilnahme, der Polizeikommissar hatte sich von seinem Stuhle erhoben.

Das unglückliche Mädchen sah blaß und abgezehrt aus, aber ihre schönen dunklen Augen hatten nichts von ihrem früheren Feuer verloren, und um den feingeschnittenen Mund lag ein finsterer, fast melancholischer Ernst, der auf die beiden Männer seinen Eindruck nicht verfehlte. Die Gefangene trug den einfachen gestreiften Anzug der Lazarettkranken, da das Kleid, in welchem man sie verhaftet hatte, durch ihre Verletzung schon unbrauchbar und längst beseitigt worden war. Ein loser hohler Ärmel hing von ihrer Schulter und war an der Stelle, wo er hätte das Handgelenk umschließen sollen, leicht zusammengebunden und an der Brust des geringen Kleides aufgesteckt.

Die Gefangene verneigte sich kurz und stolz und richtete ihr Auge fragend auf den Direktor.

»Sie haben mich hierher beschieden, was befehlen Sie?«

»Es ist ein Herr hier, der Sie zu sprechen wünscht, mein Fräulein, ich lasse Sie mit ihm allein.«

Der Direktor entfernte sich; erst jetzt richtete die Unglückliche ihren Blick auf den zweiten Anwesenden und schauerte leicht zusammen.

»Sie kennen mich, mein Fräulein, oder ist es nötig, Ihnen meinen Namen zu sagen?«

Sie schüttelte unwillig das Haupt und deutete mit ihrer Hand auf den Ärmel, – ein harter Zug lag um ihren Mund. »Es ist unnötig, Herr, ich habe ein genügendes Zeichen der Erinnerung.«

»Fräulein von Marowska, – denn Sie werden sich nicht wundern, daß wir längst Ihren wahren Namen kennen, – ich tat damals meine Pflicht und hätte sie tun müssen, selbst wenn ich gewußt hätte, welche grausame Handlung sich damit verband. Aber glauben Sie mir, auch ein strenger Beamter kann menschlich fühlen, und Ihre heroische Aufopferung für Ihre Freunde – die vielleicht dieselbe gar nicht verdienten – hat damals meine Bewunderung erregt.«

Der Kommissar hatte ernst, aber ohne Bitterkeit gesprochen; seine Worte schienen nicht ohne Eindruck auf das Mädchen zu bleiben.

»Ich erinnere mich, – Sie riefen sogleich nach einem Arzt …«

»Fräulein, ich war es, der Sie damals hierher bringen ließ und ich kann wohl sagen, ich hoffte, daß jene Verletzung nicht so schwere Folgen für Sie haben würde, als leider der Fall gewesen ist. – Um so mehr macht es mir Freude, Ihnen jetzt eine günstige Nachricht bringen zu können.«

»Mir? – die russische Polizei?«

»Fräulein von Marowska, der Direktor des Hospitals hat den Behörden angezeigt, daß Sie völlig wieder hergestellt sind. Ich bin hierher gekommen …«

Sie unterbrach ihn. »Um mich aus dem Spital ins Gefängnis zu führen!«

»Nein – um Ihnen anzuzeigen, daß Sie frei sind!«

»Frei!« Der Aufschrei kam aus tiefster Brust, – aber bald unterdrückten ihre Gedanken das freudige Gefühl. »Um welchen Preis, mein Herr?« sagte sie mit kaltem Hohn. »Ich bin eine Polin, mein Herr Kommissar, oder was Sie sonst sind, – wenigstens hörte ich Sie damals von Ihren Schergen so nennen. Eine Polin ist keine Verräterin! – führen Sie mich ins Gefängnis!«

»Sie mißverstehen mich, Fräulein – ich habe Ihnen Ihre Freiheit anzukündigen ohne jede Bedingung! Die Untersuchung gegen Sie ist niedergeschlagen.«

Die Worte waren so ernst und würdig gesprochen, daß sie zweifelnd zu ihm emporsah.

»Sie dürfen mir glauben, auf mein Ehrenwort! Ich bin damals die Ursache gewesen, daß Ihnen so Schlimmes zugefügt wurde, – ich habe mir als eine Art Genugtuung den Auftrag zu verschaffen gewußt, Sie der Freiheit und Ihren Freunden wiedergeben zu können.«

»Meinen Freunden?!« Der Ausdruck, mit dem sie diese Worte ausstieß, hatte etwas so Bitteres, Menschenfeindliches, daß er tief in ihr Herz sehen ließ. »Mein Herr, – ich habe keine Freunde! ich habe nur noch ein Vaterland!«

Der lebenserfahrene Beamte begriff, was in diesem jungen enthusiastischen Herzen vorgegangen war, – daß sie sich während der langen Stunden und Tage des Leidens ohne jedes Zeichen der Teilnahme an ihrem traurigen Geschick, – verlassen von allen gefunden hatte, um deren Rettung sie damals sich heroisch zum Krüppel gemacht, er begriff die tiefe menschenfeindliche Bitterkeit, die sich ihres Gemüts bemächtigt hatte.

»Ich rede nicht von solchen Freunden, wie Ihr angeblicher Geliebter, der Student Asnik,« – sie zuckte wegwerfend die Achsel, – »denen Sie fast Ihr junges Leben zum Opfer gebracht und vor denen ich Sie ernstlich warnen müßte, – ich rede von Ihren älteren, verständigeren Freunden und Verwandten.«

»Ich habe keine Verwandten, mein Herr!«

»So werden Sie doch Personen haben, denen Sie nahe gestanden, mit denen Sie befreundet waren, ehe Sie aus mißverstandener Vaterlandsliebe sich zu einem, – ich kann Ihnen nicht ersparen, es offen zu sagen, – verbrecherischen Treiben verleiten ließen und von dem Sie sich losreißen müssen, wenn Ihr ferneres Schicksal nicht ein noch traurigeres sein soll.«

Sie richtete ihre abgemagerte Gestalt stolz empor und sah ihn fast feindselig an. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, ich habe weder Freunde noch Verwandte, – und will keine haben! Wenn es Ihr Amt war, mir die Freiheit anzukündigen, ein Geschenk, von dem ich in der Tat nicht weiß, wie ich dazu komme, – so lassen Sie mir die Tür dieses Hauses öffnen und mich gehen, ohne sich weiter um mich zu kümmern!«

»Das wäre sowohl gegen meine Pflicht, wie gegen mein Gefühl. Sie können wohl denken, Fräulein, daß die Behörde für Ihre Freilassung eine gewisse Garantie Ihres künftigen Verhaltens fordert, daß sie wissen will, wohin Sie sich wenden werden.«

Sie sah finster vor sich nieder, – dann machte sie eine Bewegung, als wolle sie die Hände vor das Gesicht schlagen, und als diese Bewegung sie daran erinnerte, daß ihr der Arm fehle, erbebte ihr ganzer zarter Körper und ein schmerzliches Stöhnen wand sich aus ihrer gequälten Brust.

Der Kommissar fühlte das tiefste Mitleid mit der Ärmsten. »Fassen Sie Mut, Fräulein,« sagte er – »ich darf Ihnen sagen, daß Sie doch nicht so ohne Freunde sind, daß ich wenigstens einen kenne, von denen, für die Sie sich damals geopfert haben, der Ihnen im Herzen Dank bewahrt hat und an Ihrem Schicksal Anteil nimmt.«

Das Mädchen blickte ihn überrascht, fragend an. »Ich meine nicht den Schelm Asnik, für dessen Geliebte Sie sich auszugeben für gut hielten, – eine Ehre, die der Mensch nicht wert gewesen, – ich meine …«

Er hielt einen Augenblick inne, sie scharf beobachtend, – ihr blasses Gesicht begann sich zu röten, – ihr sonst so feindseliges, blitzendes Auge fast einen bittenden, ängstlichen Ausdruck anzunehmen.

»Den Grafen Hypolit Oginski!«

Jetzt schoß das Blut in ihr Antlitz, – sie faßte, wie sich selbst vergessend den Arm des Beamten. »Bei der Mutter Gottes, Herr – so ist er verhaftet, so ist er dennoch gefangen, – vielleicht schon gerichtet? O Herr, – ich beschwöre Sie!«

»Beruhigen Sie sich, Fräulein von Marowska, – wenn Sie an dem Herrn Grafen Oginski teilnehmen, so darf ich Ihnen sagen, daß derselbe, obschon sehr des Hochverrats gegen die Regierung verdächtig, sich doch noch auf freiem Fuß befindet und es auch hoffentlich bleiben wird, obschon ich fürchte, daß er sich um – Ihretwillen der Gefahr ausgesetzt hat, verhaftet zu werden.«

»Um meinetwillen?«

Ihre bisherige Bitterkeit, ihr Trotz schien geschwunden zu sein, wie der Schnee vor der Sonne bei dieser Nachricht, die Gefühle, die sie im innersten Schrein ihres Herzens verschlossen, deren Dasein sie selbst gefürchtet und sich abgeleugnet hatte, plötzlich an das Licht emporschießen ließen.

»Ich fürchte, – es geht eigentlich gegen meine Amtspflicht, darüber zu sprechen, daß Graf Oginski um Ihretwillen im Geheimen nach Warschau gekommen ist, von dem er besser fern geblieben wäre, und daß wahrscheinlich seinem geheimen Betreiben die Niederschlagung der Untersuchung gegen Sie und Ihre Freilassung zuzuschreiben ist.«

Ihre schönen glänzenden Augen wandten sich nach oben, eine Träne schimmerte in ihnen.

»Herr, – Herr! Sie haben mir den Glauben an die Menschen wiedergegeben. Aber Herr, wenn Sie mich täuschten, – wenn Sie mir zu irgendeinem Zweck das Zugeständnis ablocken wollten, daß ich diesen Mann kenne, – vielleicht um sein und mein Verderben zu bereiten … wie sonst könnten Sie auch wissen …«

Er unterbrach sie, indem er ihre widerstrebende Hand nahm. »Ich habe Ihnen bereits vorhin gesagt, Fräulein, daß auch ein Polizeibeamter, der streng seine Pflicht erfüllt und nachsichtslos die Feinde der Ordnung und seines Kaisers verfolgt, doch ein Herz für seine Opfer haben kann. Ich habe durch eine seltsame Verkettung von Umständen den Mann, der Ihnen solche Teilnahme eingeflößt hat und sichtlich noch einflößt, an jenem Abend gesehen und weiß längst, daß er es war, der durch ihr heldenmütiges Opfer uns entkommen ist; ich bin ihm vor kurzem wieder begegnet, in einer Situation, wo die Macht nicht in meinen Händen war, und wo er mir selbst das Leben gerettet hat, und ich weiß jetzt, daß er an Sie dachte, als er von einer Ehrenpflicht sprach, um einer Dame willen nach Warschau zu gehen, und daß er seit drei Tagen sich hier am Eingang des Spitals nach Ihnen erkundigt hat.«

Sie preßte die Hand auf das Herz, dessen heftiges Klopfen man fast sehen konnte. Einige Augenblicke stand sie so, – dann sagte sie einfach: »Was beschließen Sie über mich?«

»Wohin wollen Sie sich von hier begeben?«

»Zunächst Herr, zunächst in die Kirche! Nur …« sie warf einen zögernden Blick auf ihren Spitalanzug.

»Ich verstehe. Ich werde Ihnen einen Mantel von einer der Beamtenfrauen verschaffen, bis Sie selbst bestimmen, wohin Ihnen Ihre in Ihrer damaligen unglückseligen Wohnung natürlich konfiszierten Sachen gesandt werden können. Sie werden augenblicklich mittellos sein, – ich lebe freilich nur von meinem Gehalt und habe davon eine Familie zu ernähren, aber es würde mir eine Freude sein, wollten Sie – als Darlehn – eine kleine Summe von mir annehmen, wie meine Verhältnisse erlauben, Ihnen anzubieten.«

Sie schüttelte den Kopf. »Mein Herr, – ich danke Ihnen aufrichtig, aber es geht nicht.«

»Aber mein Kind, wo wollen Sie denn Unterkunft suchen? Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß Warschau in diesem Augenblick sich in einem nicht gerade sehr ruhigen Zustand befindet. Haben Sie denn gar keine Verwandten hier, anständige, solide Leute, denen ich Sie anvertrauen könnte?«

»Ich habe keine Verwandten am Leben, ich bin eine Waise und darauf angewiesen, mich selbst zu ernähren.«

»Das ist schlimm. Sind Ihre Eltern schon lange tot, haben Sie Ihnen keinen Schutz hinterlassen?«

»Mein Vater ist deportiert worden und vor zehn Jahren in Sibirien gestorben. Meine Mutter verlor durch die Subhastation unseres kleinen Gütchens seitens der jüdischen Hypothekengläubiger all unsere Habe, nachdem ihr einziger Bruder, der Kollegienrat Wysocki ermordet worden. Ohnehin hätten wir verschmäht, uns an ihn um Beistand zu wenden, da er ein Abtrünniger und ein Feind meines Vaters war. So zogen wir nach Warschau und nährten uns von unserer Hände Arbeit, bis auch meine Mutter vor zwei Jahren dem Gram und dem Elend erlag. Seitdem stand ich allein mit meinen Sorgen und – meinem Haß!«

»Es ist traurig und erklärt so Manches! – Aber wir müssen zu einem Entschluß kommen. Wissen Sie niemand, zu dem Sie sich unverdächtig auf einige Tage zurückziehen könnten?«

Sie sann einige Augenblicke nach, dann sagte sie zögernd: »Ich kenne eine einzige Dame in Warschau, mit der meine Mutter noch aus ihrer glücklicheren Zeit zuweilen in Verkehr stand und die uns stets Wohlwollen bezeigte und mich aufforderte, mich an sie zu wenden.«

»Wollen Sie mir den Namen nennen?«

»Die Frau Rätin Krautowska, – ihr Mann ist bei der Justizkommission angestellt und sie hat zwei Töchter, die in einer Pension in der Schweiz sind.«

»Und in diesen Tagen zurückkehrten,« sagte der Kommissar ganz vergnügt über die gefundene Auskunft. »Die Adresse ist vortrefflich, und wenn Sie in diesem Hause, und sei es auch nur für die nächsten Tage, Aufnahme gefunden haben, so ist Ihre Zukunft geborgen. Der Rat steht mit Recht im Rufe eines ausgezeichneten Juristen und loyalen Mannes und die Rätin ist eine sehr ruhige verständige Dame.«

Wanda sah den Kommissar etwas erstaunt an, aber sie schwieg.

»Und nun gestatten Sie mir,« fuhr der Beamte fort, »mich einige Augenblicke zu entfernen, um für die nötige Kleidung zu sorgen. Wenn Sie Sachen haben, die Sie mitzunehmen wünschen, mögen Sie dieselben unterdessen zusammenpacken und hierher bringen lassen.«

Damit empfahl er sich, und das Mädchen blieb allein, um über die überraschende Wendung nachzudenken, die soeben ihr Schicksal erfahren hatte.

Während dies im Innern des Spitals geschah, hatten sich andere Dinge auf dem Platz vor demselben zugetragen, die ebenso sehr dazu bestimmt waren, in ihr Leben einzugreifen.

Wir wissen, daß den beiden Polizeidienern der Mann im Mantel und in der Militärmütze nicht unbemerkt geblieben war, der dem Knaben Janko die Schwinge abgekauft und den Inhalt derselben in den Schnee geschüttet hatte.

Der Mann ging mit festem klirrenden Schritt über den Platz hinweg und wandte sich nach den Anlagen, die hier das Hospital von der Bracka trennen. Wie erwähnt, enthielt das Spital zugleich das Warschauer Findelhaus, ein vortrefflich eingerichtetes Institut, das der Stadt zum Segen gereicht und schon manche schlimme Tat verhindert hat.


An dem Ausgang einer der Querstraßen, die auf den Spitalplatz sich öffnen, hielt ein bedeckter Fiakerschlitten. Der Mann im Mantel trat an denselben heran, öffnete das Seitenleder und legte die Schwinge auf den Rücksitz. »Hier bringe ich etwas, Josepha,« sagte er leise in französischer Sprache, damit der Fiakerkutscher ihn nicht verstehen sollte. »Da du nun einmal darauf bestehst, es selbst zu tun, wird es dir das Tragen erleichtern. Aber fühlst du dich auch kräftig genug, Herzchen?«

»Ich werde die Kraft haben, – hab ich doch zu so vielem die Kraft haben müssen.«

Es war eine Frauenstimme, die dem Fragenden geantwortet, sie klang angegriffen und schmerzlich und ein eigentümlicher Ton, wie das leise Weinen eines Kindes, klang dazwischen.

Der Mann im Mantel hustete laut, wie um es zu übertönen. Dann sagte er: »Rasch nun, Josepha, – pack es ein mit dem Bettchen, lege alles, was du mitgeben wolltest, dazu und decke das Tuch darüber, – dann gib es her. Ich nehme den Korb unter den Mantel, bis der Schlitten fort ist.«

Zwei zarte Hände im Innern waren geschäftig, dazwischen klang immer wieder leise das Weinen. Dann reichten die Hände einen korbartigen, in ein dunkles Tuch geschlungenen Gegenstand heraus, den der Mann unter den weiten Mantel barg.

»Kannst du ohne Hilfe aussteigen?«

»Es muß gehen!« Ein in eine weite Pelzkapotte verborgenes zartes sehr bleiches Gesicht erschien in der Schlittenöffnung und schaute sich ängstlich und sorgsam um, dann folgte in langsamen vorsichtigen Bewegungen die in einen weichen kostbaren Pelz gehüllte schlanke Gestalt einer jungen Dame. Als sie auf dem Boden stand, öffnete sie die während des Aussteigens fest zusammengepreßten Zähne und tat einen tiefen Atemzug.

»Gib es mir wieder!«

Der Mann reichte ihr den Korb, dann trat er zu dem Kutscher und reichte ihm ein Silberstück. »Da, – noch ein Trinkgeld! und nun fort mit dir!«

»Kann ich nicht warten, Euer Gnaden?«

»Nein! – fahr zurück – wo du hergekommen bist, du bist dafür bezahlt. Paszol! Der Fiaker begnügte sich mit einem leichten Kopfschütteln, hieb auf die Pferde und der Schlitten flog davon.

Der Mann trat wieder zu der Dame. »Es war wirkliche Torheit, Josepha, bei deinem Zustande! Warum hast du es nicht die Frau hertragen lassen, oder eine andere Person. Mit Geld erkauft man stets das Schweigen.«

»Nein, – Konstantin, um keinen Preis! – ich trenne mich nicht von ihm, bis zum letzten Augenblick. Ich muß es selbst sehen, daß man es aufgenommen hat.«

»Wir hätten zehnmal besser getan, eine Amme zu nehmen und es mit ihr in eine entfernte Gegend aufs Land zu schicken,« murmelte er grollend.

»In dieser Jahreszeit! Nein, Konstantin, sage mir nichts dagegen, wie ich es beschlossen habe. Ich habe dir ja so viel geopfert, so viel gelitten – nun laß mir wenigstens diesen Lohn. Hier, im Besuch dieser barmherzigen Anstalt, dessen sich alle Damen Warschaus unterziehen, kann ich es immer von Zeit zu Zeit sehen, wenn – ich es überstehe!« Sie flüsterte die letzten Worte unhörbar.

»Aber so solltest es du wenigstens mich an Ort und Stelle legen lassen, indem du zur Kirche fährst, wo Lodoiska dich erwarten will. Du bleibst hier und ich bringe dich auf den Platz – es stehen Fiakers dort.«

»Nein, nein, Konstantin, ich muß es selbst tun, ich hätte keine Ruhe sonst! Die heilige Jungfrau hat mir bis hierher geholfen, indem sie die Mutter gerade auf das Gut reisen ließ, kaum wäre es sonst möglich gewesen, mein Unglück zu verbergen. Aber du weißt, daß sie morgen früh zurückkehrt, sie will während des Grochowtages in Warschau sein.«

»Die ganze Verheimlichung ist eine Torheit, Josepha. Was geschehen ist, ist nicht zu ändern. Ich habe dir angeboten, zu deinem Vater zu gehen und offen um deine Hand anzuhalten. Eine rasche Trauung hätte alles gut gemacht. Deine Mutter hätte sich fügen müssen.«

»Niemals, – ihr Fluch hätte mich übers Grab verfolgt! Niemals würde sie zugeben, daß eine ihrer Töchter einen Russen heiratet. Du weißt, welche Szene es schon gegeben hat, daß du Eingang in unser Haus fandest, den man dir doch nicht wehren konnte. Nein, Konstantin, – ich war schwach gegen dich aus Liebe, aber den Fluch einer Mutter kann ich auch um deinetwillen nicht auf mich laden. Bedenke, daß er jetzt nicht uns allein treffen würde.«

Der russische Offizier murmelte eine Verwünschung. Dann sagte er: »So eile dich wenigstens, du kannst unmöglich hier in der Kälte stehen bleiben, wo alle Augenblicke Menschen vorübergehen müssen. Ich werde hier warten auf dich, damit dir nichts passiert, und dich dann zu einem Wagen bringen und zur Kirche begleiten.«

»Auch das nicht, – wir könnten gesehen werden, und du kennst außerdem Lodoiska. Du weißt, daß sie denkt und fühlt wie die Mutter und dich um des Geschehenen willen noch besonders haßt. Nur ihre große Liebe zu mir hat sie vermocht, mir in meinem Unglück beizustehen.«

»Die sittsame künftige Klosterschwester!« sagte ingrimmig und höhnisch der Russe.

»Schmähe sie nicht, Konstantin, sie war eine bessere Polin als ich und gewiß eine treue Schwester. – Und nun, mein Geliebter, mein Gatte – lebe wohl, damit meine Kraft ausreiche. Ich bitte dich, zieh mir den Schleier vors Gesicht.«

Er küßte sie über den Korb hinweg und hüllte den dichten schwarzen Schleier ihr noch um den Kopf. »Wann sehe ich dich wieder, wann höre ich von dir?«

»Sobald es sein kann! Leb wohl! leb wohl!« Sie verschwieg ihm die Härte der jüngeren Schwester, die nur unter der Bedingung ihren Beistand zugesagt, daß sie dem Geliebten entsagen müsse.

Die junge Dame schwankte mit ihrer leichten Bürde über den Schnee in den Winternebel hinein, – er sah noch, wie sie allmählich ihre Kräfte zusammenraffte und ihr Schritt fester und rascher wurde. Die Arme unter dem Mantel gekreuzt schaute er ihr finster nach. »Verdammt sei die ganze Geschichte,« murmelte er, – »wenn sie trotz aller Vorsicht herauskommen sollte, kann ich nur meinen Abschied nehmen und meiner Karriere Adieu sagen. Ich kenne den Zaren.«

Er folgte ihr langsam in weiter Entfernung, um für jeden Fall bei der Hand zu sein.

Die junge Mutter, die von den Verhältnissen zu einem so traurigen Entschluß gedrängt war, ging unterdes auf jene Seite des Spitals zu, an der sich die Anstalt zur Aufnahme der Findlinge, und in einer Art Loggia die einfache Maschinerie befindet, durch deren Drehung das eingelegte Kind nach dem gegebenen Zeichen in das Innere des Hauses befördert wird, wo stets ein paar Frauen anwesend sind, – ohne daß sie von hier aus die Person sehen können, die ihnen das traurige Geschenk bringt.

Jetzt endlich hatte sie den kleinen offenen Raum erreicht und sah sich nochmals scheu und flüchtig um. Sie war allein, nur in einiger Entfernung sah sie unklar im Nebel einen Mann im Mantel stehen – es mußte ihr Geliebter sein, der ihr trotz des Verbotes sorgend gefolgt war. Rasch trat sie jetzt zu der verhängnisvollen Stelle, entfernte den Schleier vom Gesicht und zog das verhüllende Tuch von dem Korbe, in dem man nun ein warmes Kissen und darin sorgfältig verpackt ein kleines, kaum zwei Tage altes Kind hätte erblicken können. Mit heißen Tränen überströmte die junge unglückliche Mutter das unschuldige Wesen und drückte wiederholt ihren Mund auf sein kleines Gesicht. Dann – sich gewaltsam ermannend, – verhüllte sie es wieder sorgsam, tat die zwei Schritte bis zu der verhängnisvollen Nische und setzte den Korb hinein. Ihre Hand suchte zitternd den Griff des Glockenzuges – ein Ruck daran – der Klang der Glocke verkündete den Wärterinnen die Ankunft eines neuen Pfleglings, langsam drehte sich die Maschine und der Korb verschwand im Innern.

Die junge Mutter preßte die Hände vor die überströmenden Augen und taumelte zurück. Sie wollte sich abwenden und forteilen, – aber die mißhandelte Natur forderte ihr Recht, ihre Kräfte verließen sie vollständig, sie tat noch zwei Schritte weiter, und mit einem Schrei sank sie ohnmächtig zu Boden.

Im nächsten Augenblick hatten sie zwei starke Arme umfaßt und hoben sie auf. Der Fall, die Bemühung sie zu unterstützen, hatten die Kapuze der Ärmsten zurückgeschoben. Den Schleier hatte sie ohnehin noch nicht wieder vor das Gesicht ziehen können, und der Blick des Helfers fiel auf dasselbe, das von dem rotgelben Schein der nächsten Gaslaterne genügend erhellt war, um es zu erkennen.

Einige Augenblicke suchte der Mann in seinen Erinnerungen dann stieß er unwillkürlich die Worte aus:

»Gott im Himmel, ich täusche mich nicht, es ist die Komtesse Josepha Dembinska! – und in dieser Situation!«

Eine Hand schüttelte wild seinen Arm. »Das kostet Ihr Leben, Herr!« – – – – – – – –

Der Kommissar Droszdowicz hatte für seinen Schützling bei einer der Beamtenfrauen des Spitals einen alten Mantel aufgetrieben und brachte ihr denselben. So führte sie der Kommissar, nachdem sie sich von dem Direktor verabschiedet, der sie stets wohlwollend behandelt hatte, aus dem Portal.

Bei all seiner Humanität war der Kommissar doch zuerst Beamter und hatte vor allem die Zwecke seines Amtes im Auge. Er blieb deshalb mit dem Mädchen einige Augenblicke auf den erhöhten Stufen des Portals stehen und sandte seine Blicke forschend über den Platz.

»Nun, Fräulein von Marowska,« sagte er laut, – »ist es Ihnen gefällig? – He – du – Kleine da! Ruf einmal einen Fiaker hierher! nach der Paulinow!«

Es war Janko, dem der Ruf galt und die kleine verkleidete Bettlerin gehorchte aufs eiligste.

Aber eben als die Droschke herankam, in deren Schutz sich der verschmitzte Bube wieder heranschlich, eilten die zwei Polizeidiener herbei.

»Pan Komissarz! Pan Komissarz! eine wichtige Entdeckung!«

»Was gibt's? – Einen Augenblick, mein Fräulein, ich stehe sogleich zu Ihren Diensten. – Hierher, Leute, was gibt es? habt ihr ihn?«

»Er soll uns nicht entgehen! Es ist sicher derselbe, der die Plakate verbreitet. Sehen Euer Gnaden, wie geschickt! – In ausgehöhlten Apfelsinen! Wir haben einen ganzen Haufen gefunden.«

Und der Scherge zeigte seinem Vorgesetzten mehrere der Früchte, deren Inhalt, indem man sie auseinanderbrach, die berüchtigte Einladung an das Volk zur Versammlung am nächsten Abend um 5 Uhr auf dem Alten Markt war.

»Hier auf dem Platz habt ihr die Apfelsinen gefunden?«

»Ja, Pani, Stefan Stefanowitsch glaubt sogar gesehen zu haben, daß ein Mann im Mantel sie dorthin geworfen. Es ist sicher der Bursche, der schon lange hier umherstrich.«

»Warum habt ihr ihn nicht gefaßt?«

»Wir waren unserer Sache nicht ganz sicher, – wir warteten auf deine Befehle, Väterchen.«

»Dummköpfe! – Die Körbe aller Apfelsinenhändlerinnen in den Straßen und Kneipen müssen sofort untersucht werden. – Wo ist der Mann hin?«

»Dort nach jener Seite. – Pawlowitsch und der schiefe Cyrill halten dort Wache.«

»Ruft noch zwei Eurer Kameraden herbei. Einen Augenblick, dann wollen wir gleich den Herrn Apfelsinenhändler uns bei Licht besehen.« – Er trat zu dem Mädchen, das noch immer vor dem Portal auf ihn wartete. »Fräulein von Marowska, ein unangenehmer Zwischenfall, wie er so oft unsere Zeit in Anspruch nimmt, verhindert mich augenblicklich, Sie zu begleiten. – Bitte steigen Sie ein und fahren Sie nach der Pauliner Kirche. In deren Nähe wohnt der Rat Krauter. Wenn Sie mich in der Kirche erwarten wollen, werde ich selbst Sie zu ihm führen oder Ihnen ein anderes vorläufiges Unterkommen verschaffen. In einer Stunde spätestens bin ich bei Ihnen.« Er bezahlte den Kutscher, hob das Mädchen rasch in den Wagen, dann kehrte er zu seinen Leuten zurück, die sich unterdes auf vier vermehrt hatten.

»Wann habt ihr zuletzt den Verdächtigen gesehen?«

»Vor kaum zehn Minuten. Der Bursche scheint sich darin zu gefallen, fortwährend um das Spital zu wandern.«

»Gut, – so gehen zwei von Euch auf jener Seite ihm nach, – wir auf dieser Seite ihm entgegen. Ihr habt doch keinen Lärm gemacht wegen des Fundes?«

»Bewahre, Väterchen!«

»Also vorwärts!«

Sie waren kaum hundert Schritte gegangen, als ihnen von der Seite des Findelhauses her eine hohe Männergestalt im langen Mantel, den Kragen hoch emporgeschlagen, aus dem Nebel entgegenkam.

»Der ist's, Väterchen, ich schwöre es dir. Auf ihn!«

»Halt!« – Der Kommissar stellte sich dem Fremden in den Weg. »Einen Augenblick mein Herr!«

»Was soll's?«

»Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie mehr solcher Früchte von etwas gefährlicher Süßigkeit zu verkaufen haben?« und indem er ihm eine der Apfelsinen vorhielt, legte er die Hand auf die Schulter des Fremden, – zugleich näherten sich die beiden Polizeidiener wie zwei Doggen, die nur auf den anhetzenden Ruf warten, um ihrem Opfer an die Kehle zu springen.

»Ich glaube, Sie sind närrisch! – was wollen Sie von mir?«

»Sie bitten, ohne Widerstand mit mir zu gehen.«

Der Kommissar, der auf den ersten Blick erkannt hatte, daß er es hier nicht mit dem Studenten Asnik zu tun habe, der eine weit unansehnlichere Figur hatte, glaubte doch einen anderen Fang gemacht zu haben.

»Und wenn ich mich weigere?«

»So wird man Sie dazu zwingen. Ich bin der Polizeikommissar Droszdowicz!«

»Und ich der Kapitän Fürst Ylinski, Adjutant Seiner Hoheit! Ich dächte, Herr, Sie hätten mich oft genug gesehen, um mich zu kennen.« Er schlug den Kragen seines Mantels zurück.

Der Kommissar prallte einen Schritt zurück. »Verzeihung, Durchlaucht,« stotterte er verlegen, »gewiß habe ich die Ehre, Sie zu kennen. Es ist eine unglückliche Verwechslung, veranlaßt von diesen Dummköpfen da.«

»Halten zu Gnaden, Herr,« wagte der ehemalige Grenzjäger im Ärger über seine geschmähten Fähigkeiten zu murren, »ich habe es ganz deutlich gesehen, daß der Herr – ich kenne ihn an seiner Mütze wieder! …«

»Was?«

»Daß der Herr die Apfelsinen in den Schnee warf.«

»Apfelsinen?«

»Ja, Herr, – ich sah es, wenn Sie auch jetzt sagen, daß Sie ein Fürst sind.«

»Sukiensyn! Wer hat es denn schon geleugnet?« fragte lachend der Offizier.

»Vergebung, Durchlaucht, – aber Sie haben die Apfelsinen drüben auf dem Platz fortgeworfen?«

»Gewiß! – oder sollte ich sie etwa in der Tasche herumschleppen?«

»Durchlaucht halten zu Gnaden, hier muß ein doppelter Irrtum vorliegen. Darf ich fragen, woher Sie die weggeworfenen Apfelsinen hatten?«

» Ktschortu! ist es in Warschau nicht mehr erlaubt, einer Bettlerin aus Mitleid ihren Kram abzukaufen? – Ich kaufte sie vorhin auf dem Platz von einem solchen Mädchen, wie ihrer hundert umherlaufen.«

»Dem Unfug,« sagte der Beamte ärgerlich, »soll noch heute ein strenges Ende gemacht werden. Durchlaucht wollen sich selbst überzeugen, was diese Apfelsinen enthalten.« – Er öffnete die vorgezeigte. »Ein Plakat der geheimen revolutionären Propaganda.«

Der junge Offizier lachte. »Wahrhaftig – das ist drollig! Nummer zwei! Es müssen verteufelt schlaue Kerle sein, lieber Kommissar. Ich hörte schon gestern abend auf der Soiree des Fürsten-Statthalters, daß sie die Kosaken meines Kameraden und Standesgenossen, des Fürsten Barinski zum Anschlagen benutzt haben, – nun muß es auch mir passieren, daß ich zur Verbreitung helfe. Daß es ohne Wissen und guten Willen geschehen, lieber Kommissar, das werden Sie mir wohl auf Wort glauben und mich nicht weiter aufhalten.«

»Bitte, Durchlaucht, – ich sehe leider, daß ich dupiert worden bin und mir vielleicht die Gelegenheit, dem Staat einen wichtigen Dienst zu leisten, entgangen ist!«

»Wenigstens,« sagte spöttisch der Fürst, »müssen Sie mir danken, daß ich Sie da auf eine Spur gebracht habe. Die Wetterhexen! Wenn ich wie Sie wäre, ich ließe die kleinen Dirnen samt und sonders auffangen. Auf Ehre, – ich habe schon einige recht hübsche darunter bemerkt! – Da, ihr Schelme,« und er warf den beiden Polizeidienern einige Geldstücke zu, – »trinkt auf meine Gesundheit! Und nun Adieu, ich muß noch Toilette machen, es ist heute Empfang beim Markgrafen!«

Er ging lachend davon. – –

Es war kurz vorher ein Auftritt vorangegangen, bei dem es ihm nicht so launig zumute war!

Die Hand, die sich auf den Arm des Mannes gelegt, der so zufällig der jungen unglücklichen Mutter zu Hilfe gekommen war, wurde rasch von ihm abgeschüttelt.

»Wer sind Sie – was wollen Sie?«

»Sie kennen diese Dame? Sie haben gesehen, was geschah?«

»Und wenn das wäre, – soll ich eine Unglückliche vielleicht hier hilflos sterben lassen, wie andere herzlos getan? – Kommen Sie, helfen Sie mir dieselbe weiterbringen, vielleicht zu einem Wagen in der Nähe. Ich begreife, daß man Sie hier nicht sehen darf. Ist sie in Sicherheit, stehe ich Ihnen zu Diensten.«

Der Sprecher hatte leicht begriffen, daß der andere der Geliebte, der Verführer der jungen Dame sein mußte. Der versteckte Vorwurf, der in seinen Worten lag, hatte übrigens getroffen; er half schweigend dem ersten Helfer, der umsichtig den Schleier wieder um das Gesicht der Dame hüllte, während er dabei die Schläfe der Ohnmächtigen mit Schnee rieb, ihren Körper emporheben und ihn forttragen nach der Seite hin, woher er gekommen war.

Endlich brach er das Schweigen. »Mein Herr, ich sehe, daß ich es auf jeden Fall mit einem Gentleman zu tun habe, – darf ich um Ihren Namen bitten?«

»Ich nehme keinen Anstand, Ihnen denselben zu sagen obschon ich glaube, mit einem russischen Herrn zu tun zu haben und ich ein Ausgewiesener bin. Mein Name ist Hypolit Graf von Oginski und Sie werden meine Adresse stets bei dem Herrn Markgrafen Wielopolski erfahren.«

»Verzeihen Sie, daß ich dies Vertrauen vorerst nicht erwidern kann. Darf ich fragen, woher Sie die Dame kennen?«

»Es war die augenblickliche Eingebung der Erinnerung. Ich kannte sie und ihre Schwester nur als Kinder, vor zehn Jahren, als ich Kadett und viel im Hause ihrer Eltern war. Gott sei Dank, sie erholt sich – sie kommt zu sich. – Wenn ich nicht irre, kommt dort drüben ein Fiaker.«

In der Tat schien die junge Dame aus ihrer Ohnmacht zu erwachen – – ein tiefer Seufzer schwellte ihre Brust. Sie machte eine Bewegung, als wollte sie auf ihren Füßen stehen.

»Jesus Maria, – was ist mit nur geschehen? ich muß fort, ich muß fort! –«

»Beruhige dich, teure Josepha,« flüsterte der Russe. »Du bist bei Freunden, – erschrick nicht, auch dieser Herr ist ein Freund und dein Geheimnis gesichert.«

Sie richtete sich aus den Armen der beiden Männer empor, sie sah wild und ängstlich um sich.

»Wer ist er? Laß mich fort, Konstantin, – ich werde Kraft haben!«

»Um keinen Preis!«

In diesem Augenblick zupfte eine kleine zerlumpte Bettlerin, die im Nebel umhergespäht hatte und sich an die Gruppe drängte, den Grafen am Mantel.

»Die Sie suchen, ist fort, Herr – aber man sucht Sie selbst, die Polizei fahndet auf einen Herrn im Mantel; geben Sie mir das Kleidungsstück und machen Sie, daß Sie fortkommen. Sie müssen gleich hier sein!«

»Dann allerdings, Herr – muß ich die Dame Ihrer Hilfe allein überlassen. Leben Sie wohl, Fräulein und erinnern Sie sich mit Vertrauen eines Jugendfreundes.«

»Nein, Herr Graf, – bleiben Sie. Es gibt ein Auskunftsmittel für uns beide. He, Dirne, lauf und hole den Fiaker, der dort eben gehalten hat, hierher. Doppeltes Fahrgeld!«

Janko flog wie ein Blitz davon, in der nächsten Minute schon klingelte der Schlitten heran.

»Herr Graf, ich darf die Dame nicht begleiten und doch darf sie sich in diesem Zustand nicht allein entfernen. Ich vertraue sie Ihnen an, begleiten Sie dieselbe nach der Pauliner Kirche, wo sie Beistand erwartet, – Sie bringen damit sich selbst außer Gefahr. Ich werde Ihre Verfolger mit leichter Mühe täuschen.«

»Konstantin!«

»Leb wohl, Josepha! – Mut! es muß sein!«

Er wandte sich rasch von ihr ab und der Richtung zu, aus der man bereits die Schritte Nahender hören konnte.

Der Graf begriff, daß nur die schnellste Entschlossenheit die gefährliche Situation ändern konnte. Er hob die schlanke Gestalt der kaum Widerstrebenden empor und trug sie nach dem zum Glück offenen Schlitten, in den er sie hob. Dann den eigenen Mantel lösend und ihn über ihre Füße werfend, setzte er sich gleichfalls hinein.

»Nach St. Karola Baromeusza!« befahl er. »Rasch!«

Der Schlitten flog davon, das Mädchen hatte sich hinten aufgehängt.

Die Kirche zum heiligen Borromäus liegt an der Kurfürstenstraße, im nordwestlichen Teile der Stadt, also in ganz entgegengesetzter Richtung, in der der Schlitten nicht die Verfolgung der Polizei kreuzen konnte. Wenn man erst aus deren nächsten Bereich war, genügte ja ein Zuruf, den Weg zu ändern.

Wir wissen bereits, daß der russische Offizier der Polizei in die Hände gegangen war. – – – – –

Die große, St. Johann geweihte Kathedrale von Warschau liegt in der Altstadt an dem Hügel, auf welchem das Zamek oder königliche Schloß, von König Sigismund III. (1587-1632), dem letzten Sprossen der Jagellonen erbaut, die Weichsel beherrscht, und ist mit diesem durch Korridore verbunden.

In diesem Stadtteil, in der Umgebung des Altmarkts, der von dem Aufruf des Revolutionskomitees zum Versammlungsort der Bevölkerung am nächsten Nachmittag bestimmt war, liegen noch eine Menge interessanter, historischer Gebäude und Kirchen des alten Warschaus, u. a. die Paulinerkirche.

Die Äbtissin von Santa Rosalia hatte mit ihrer Begleiterin unter den beobachtenden Augen den Weg zur großen Kathedrale eingeschlagen. Die Zeit der Fasten war eingetreten und es hatten an diesem Sonntag die abendlichen großen Fastenpredigten begonnen.

Die Mutter Mathildis nahm mit großer Andacht an dem Gottesdienst teil, dann aber verlor sie sich mit einem Wink an ihre Begleiterin in dem Gedränge der Gläubigen, verließ die Kathedrale durch einen Nebenausgang und wandte ihre Schritte der Paulinerkirche zu, mit scharfem Auge umherspähend, ob sie etwa beobachtet werde. Es zeigte sich nichts, was darauf hindeutete, und ihre Begleiterin heranwinkend, befahl sie derselben, voraus zu gehen nach der nur um ein geringes entfernten Paulinerkirche und sich bei einem der Kirchendiener zu erkundigen, welche Geistlichen an dem Abend die Beichte hörten.

Noch vor dem Eingang der Kirche kehrte Veronika zurück und nannte drei Namen von Priestern, darunter den des Paters Hilarius von den Bernhardinern.

»Wo ist sein Stuhl?«

»Der erste im rechten Seitenchor. Bist du wirklich fromm geworden, Täubchen, daß es dich drängt, deine Sünden fremden Ohren anzuvertrauen?«

»Still, Frevlerin! Verlaß mich am Eingang und sieh zu, daß mir niemand zu nahe kommt. Ich habe mit dem Pater zu reden.«

Sie betraten beide die Kirche.

Es mochte jetzt etwa 8 Uhr sein, also wohl eine halbe Stunde nach den Szenen, die sich in und vor dem großen Hospital abspielten.

Die Kirche war um diese Zeit nur noch mäßig besucht und spärlich beleuchtet, namentlich in dem Teil zunächst dem großen Eingang. Die meisten der anwesenden Andächtigen verrichteten ihre Gebete vor den Altären der zahlreichen Seitenkapellen wohl zu Ehren und in der Erinnerung an Freunde und Verwandte, die vor dreißig Jahren an dem Tage von Grochow geblutet hatten, oder bereiteten sich vor, an dem Morgen des Jahrestages das heilige Sakrament zu nehmen.

Etwa zehn Minuten bevor die Äbtissin mit ihrer Begleiterin die Kirche betrat, war vor dem rechten Seitenportal derselben ein Schlitten angefahren, von dessen Hinterkufe rasch ein Bettelmädchen glitt, das sich dort niedergekauert hatte.

Der Mann, der in dem Schlitten neben einer tiefverhüllten Dame gesessen, sprang heraus und jetzt zum erstenmal seit der Abfahrt von dem Platz des Spitals redete er seine Begleiterin an.

»Wir sind an dem Ort, den Sie selbst bestimmt haben. Erlauben Sie mir, Sie heraus zu heben und mich weiter zu Ihrer Verfügung zu stellen?«

»Sie nickte schweigend und der Herr hob sie heraus. »Haben Sie mich erkannt?«

Wiederum ein stummes Neigen des Hauptes.

»Dann werden Sie wissen, daß Sie mir unbedingt vertrauen können. Was befehlen Sie nun?«

»Ich muß in die Kirche, – Lodoiska erwartet mich dort.«

»Darf ich Sie führen?«

»Nein, Herr – ich muß allein gehen. Sie würde Sie vielleicht auch erkennen und dann fragen. Ohne ihren Beistand wäre alles verloren. O mein Gott, was müssen Sie von mir denken!«

»Daß die Liebe eine Macht ist, vor der die traurigen Schranken alles Vorurteils und alles Hasses schwinden. Hoffen Sie; der Gott, der uns die Liebe ins Herz gepflanzt, kann alles zum besten lenken. Ich bleibe in Ihrer Nähe, bis ich sehe, daß Sie in sicherer Hand sind!«

»Dank! Dank!« – Ein Schluchzen erstickte jede weitere Rede, sie drückte ihm nur noch die Hand und wankte in die Kirche.

Der Graf hatte sich wieder in seinen Mantel gehüllt und zögerte eine Weile, ehe er ihr zu folgen wagte. Er wollte eben die Tür des Vorbaues öffnen und eintreten, als neben ihm eine Stimme sagte: »Vorsicht, Herr Graf, die Polizei hat in den Kirchen immer Spione, und Droszdowicz kommt hierher.«

Es war das Mädchen, das ihn gewarnt hatte. »Wie, du hier, Kind – woher kennst du mich?«

»Ich werde doch meinen besten Grafen kennen, meinen Retter aus den Zähnen des Wolfes; fürchten Exzellenz nichts, ich wache über Sie!« sagte lachend die Kleine.

»Du? – den Teufel, du bist doch nicht gar …«

»Der Janko, Herr Graf, versteht sich. Ich muß doch gut verkleidet sein, daß Sie mich nicht wieder gekannt. Oder sollten Sie mich schon ganz und gar vergessen haben? das wäre mir nicht lieb!«

»Nein, Bursche und ich danke dir für deine doppelte Warnung. Aber setze dich selbst keiner unnützen Gefahr aus.«

»Bah, ich bin das alle Tage gewohnt und habe meine Freunde, auch unter der Polizei. Sie suchen die Marowska?«

»Wie, auch das weißt du?«

»Weswegen sonst waren Sie seit drei Tagen vor dem Spital? – Die Marowska ist heute abend fort – sie muß bereits hier sein, oder kommt doch hierher.«

»Hier?«

»Ich werde Euer Exzellenz das später erzählen. Jetzt lassen Sie mich vorausgehen und sehen, ob alles sicher ist«

Er schlüpfte bei dem jungen Edelmann vorüber in die Kirche. Gleich darauf öffnete er wieder die Tür und winkte ihm einzutreten.

Der Graf folgte dem Wink und nahm das Weihwasser. Eine einzige Lampe erhellte die Stelle.

Janko zog ihn sogleich in den Schatten des nächsten Pfeilers.

»Sehen Sie den alten Beichtstuhl gleich hier an der Kapelle?«

»Gewiß!«

»Gehen Sie dahin und treten Sie ein, – er liegt völlig im Schatten. Ohnehin sehen Sie im Mantel aus wie ein halber Mönch.«

»Aber Kind …«

»O – fürchten Sie nichts. Sie sind ganz sicher dort. Er wird schon längst nicht mehr benutzt, – erst der nächste dort, hinter der Kapelle. In der Kapelle liegt die Dame, mit der wir gekommen sind, auf den Knien mit einer anderen.«

»Fräulein Marowska …«

»Geduld, Exzellenz! – ich weiß noch nicht, ob sie schon hier ist oder trotz unseres Umweges erst kommen wird. Ich will umherspionieren und muß Sie dazu in Sicherheit wissen. Verstecken Sie sich ganz dreist in den Stuhl, Sie können von dort alle beobachten. Aber verlassen Sie unter keinen Umständen das Versteck, was auch passieren mag, bis Sie mich wieder in der Nähe sehen und ich drei Kreuze schlage.«

Er schlich dem Grafen voran, öffnete die Tür des in der Tat im tiefen Halbdunkel liegenden, von schwerer altertümlicher Holzschnitzerei in massiven Formen gebildeten Beichtstuhls und hielt sie offen, bis der Graf, fast unwillkürlich dem Rat folgend, hineingeschlüpft war. Dann hatte er sie rasch und geräuschlos geschlossen und verschwand.

Er war kaum verschwunden, als durch das Hauptportal der Kirche die Äbtissin mit ihrer Begleiterin in den Gang des mittleren Schiffs eintrat.

Während die Klosterfrau an dem nächsten Betstuhl niederkniete, orientierten sich ihre Augen über die Lokalität und die Andächtigen. Dann erhob sie sich, machte die nach dem Ritus üblichen Kniebeugungen und ging nach dem Beichtstuhl zu, in dem der junge Edelmann Platz genommen hatte.

Wiederum sank sie in die Knie, die wenigen in der Nähe befindlichen Beter musternd, beugte tief die Stirn und kniete dann auf der Bank an dem Gitter zur Linken des Beichtstuhls nieder. Der vorgezogene Vorhang in der Front und ihr scharfes Auge, das trotz der herrschenden Dämmerung eine Gestalt im Innern sich bewegen sah, bewiesen ihr, daß der Beichtiger auf seinem Posten war, und sie begann mit der gewöhnlichen Eingangsformel der Beichte:

» In nomine domini, Jesu Christi et spiriti sancti – ich armer sündiger Mensch – und so weiter, und so weiter! – He, Pater Hilarius – erinnern Sie sich eines sündigen Beichtkindes, als Sie noch Beichtvater des Klosters der Karmeliterinnen in Krakau waren?«

Ein unbestimmtes Gemurmel galt ihr als bejahende Antwort, denn sie fuhr ohne Unterbrechung fort. »Sie werden sich gewundert haben, als mein Neffe Peter Wysocki Ihnen gestern die Botschaft von mir brachte. Es war ein glücklicher Zufall, daß der Knabe Ihren Namen nannte, denn sonst würde es wahrscheinlich bei der Vorsicht, die ich nehmen muß, längerer Zeit bedurft haben, ehe ich mich Ihnen nähern konnte. Sie werden unzweifelhaft die Anweisung von Rom erhalten haben, mich mit allen Fäden der Agitation bekannt zu machen. Ich erkannte gleich aus der geschickten Weise, in der Sie unsere erste Zusammenkunft vermittelten, Ihre alte Vorsicht. Sie wissen vielleicht schon, daß ich heute morgen von dem Erzbischof empfangen worden bin. – Dürfen wir uns sehr auf ihn verlassen? ich habe für den Notfall einen geheimen Befehl für ihn.«

Im Innern des Beichtstuhls erhob sich ein Geräusch, als wolle der Beichthörende den Raum verlassen.

»Unsinn, Hilarius – bleiben Sie – ich dächte, Sie hätten Zeit genug gehabt, den alten Groll schwinden zu lassen. Bei dem Andenken unseres Kindes, ich war nicht schuld an der Entdeckung, und ich bin von der Zuchtrute dieser sogenannten Kirche der christlichen Liebe ganz anders getroffen worden, als Sie mit der einfachen Strafversetzung in das Warschauer Bernhardiner-Kloster. Es ist ein Gift und ein Haß in mir, daß ich eine Welt vernichten könnte, und ich freue mich auf die Ströme von Blut, die hier fließen werden. –«

»Still!«

»Nein – es hört uns niemand, die treue Veronica, die sich bei der Kindergeschichte so glücklich herauslog, hält Wache, daß kein fremdes Ohr uns belauscht. Ich habe sie von Krakau kommen lassen – ich glaube überhaupt hier schon festen Fuß gefaßt zu haben mit dem Vorwand eines Prozesses um ein Vermächtnis von meinem Urgroßvater Oginski her. Man hat mir die Beweise in Rom in bester Ordnung übergeben – ich habe hier nur noch nach der Familie eines alten Reitknechts des Schatzmeisters und nach einer Verwandten der Wysocki, einer gewissen Marowska zu forschen, die im Besitz wichtiger Papiere sein müssen.«

Im Begriff, auf jeden Eklat hin die Geständnisse dieses gefährlichen Beichtkindes zu unterbrechen, fiel der Blick des Grafen in das Kirchenschiff – das jetzt von einer Anzahl herabkommender Kerzen heller strahlte.

Es schien eine Art improvisierter Prozession zu Ehren einer Person, und in der Tat war es so: – die Person aber, der die Ehrenbezeugung galt, und die höchst verlegen, ja scheu sich von so vielen Personen umdrängt und von zwei Priestern geführt sah, war keine andere, als das Fräulein Wanda von Marowska.

Es war ein toller Einfall des Knaben Janko, der das unglückliche Mädchen in diese Situation gebracht hatte. Der Schlingel hatte die Gesuchte bald in einer der Betenden an dem Gitter vor der Krypta herausgefunden und sein Übermut hatte es sich, ohne die Folgen zu bedenken, nicht versagen können, einigen alten Weibern zuzuraunen, daß die Beterin, auf die sich wegen ihrer Verstümmelung schon manche neugierige Blicke gewendet hatten, die bekannte Konditormamsell sei, deren heldenmütige Aufopferung für die Sache der Patrioten damals natürlich in ganz Warschau rasch bekannt geworden war und große Teilnahme erregt hatte. Da man aber später nicht wieder von ihr hörte, wie das so vielen geschah, die von der politischen Polizei ins Gefängnis gebracht wurden und oft spurlos daraus verschwanden, so hatte das Interesse sich bald auf andere Dinge gerichtet. Daß es jetzt um so heller bei der unerwarteten Nachricht wieder aufloderte, war der allgemeinen Aufregung des Publikums für die bevorstehende Feier der Grochower Schlacht gegenüber sehr natürlich, und rasch war die Nachricht unter den noch vorhandenen Andächtigen verbreitet und hatte auch die Geistlichkeit erreicht.

Der Bernhardiner Pater war der erste, der sie zu einer Demonstration veranlaßte.

Auf seinen Wink schlossen sich ihm zwei jüngere Geistliche an, und jeder eine Kerze tragend, näherten sie sich dem nichtsahnenden Mädchen.

»Wanda Marowska,« sagte der Mönch, – »die heilige Jungfrau hat dich begnadigt, für ihren heiligen Glauben und für dein Volk zur Märtyrerin geworden zu sein. Und ob du, o Jungfrau! auch die Hände nicht mehr falten magst zum Gebet an sie, die Heiligste und Getreueste – die eine Hand, die du erhebst zu ihr, ist ein Wegweiser zum Himmel und ein Ruf für dein geknechtetes Volk, auszuharren, bis der Tag der Befreiung und des Sieges gekommen! kyrie eleison! kyrie eleison! Laßt uns führen Wanda, die Märtyrerin zum Altar der heiligen Jungfrau und mit ihr beten dort, daß ihr Opfer nicht vergebens gebracht worden sei!«

Alles sammelte sich um die Bestürzte, die von den fanatischen Priestern halb mit Gewalt emporgezogen und fortgeführt wurde zu dem Altar, der der gnadenreichsten Muttergottes von Czenstochau, der Schutzheiligen des alten Polens insbesondere geweiht war.

Obschon die Kapelle mit dem Altar der heiligen Jungfrau auf der anderen Seite der Kirche lag, war es doch im Interesse der Priester, den Umzug so lang als möglich auszudehnen, und sie führten denselben daher den Gang zur Rechten herab an dem Beichtstuhl entlang, in dem der Graf Oginski ein Versteck gefunden.

Die Äbtissin hatte sich bei der Annäherung der Lichter und des Menschenhaufens, der eine bekannte, von der Polizei streng verpönte Hymne auf Polens Märtyrertum und endlichen Sieg anzustimmen begann, eilig erhoben und war zu ihrer Begleiterin getreten, die mit einer alten Frau sprach.

»Was bedeutet das alles?«

»Sie sagen, einem Mädchen, Marowska heißt sie, seien von den Russen die Arme abgeschnitten worden, damit sie nicht mehr für den Sieg der polnischen Sache beten könne, und der Pater Hilarius – ich möchte wissen, ob es derselbe ist, den wir in Krakau kannten – der ein gewaltiger Redner sein soll, wolle eine Predigt darüber halten.«

»Marowska? – Hilarius? – Was willst du damit sagen? Wo ist der Pater Hilarius?«

Die alte Frau, welche die Frage gehört, wies auf den stattlichen Priester, der an der Seite des Mädchens daherkam. Der Pater war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, groß, kraftvoll gebaut und von finsterm fanatischen Aussehen. »Da kommt er selbst. Wer in Warschau kennt nicht den frommen Pater Hilarius von den Bernhardinern!«

Die Äbtissin wankte – ihr bleiches Gesicht wurde noch fahler, ihr drohendes Auge fuhr mit einem Tigerblick hinüber nach dem geschlossenen Beichtstuhl.

Der Zug sollte sein Ziel nicht erreichen.

Wie der Knabe schon vor dem Eintritt in die Kirche dem jungen Edelmann gesagt hatte, fehlte es auch während des Gottesdienstes nicht an Spionen oder Agenten der Polizei.

Die Begleiter der Einarmigen hatten nicht sobald die verbotenen Nationallieder angestimmt, als zwei Polizeibeamte, indem sie ihre Paletots öffneten und sich als dazu berufene oder bevollmächtigte Beamte legitimierten, dem Zug in den Weg traten.

Obschon die russische Regierung sich bisher sehr gehütet hatte, den religiösen Zeremonien innerhalb der katholischen Kirchen Hindernisse in den Weg zu legen, war doch neuerdings eine weit schärfere Beaufsichtigung eingetreten, da die Geistlichkeit anfing, die Kanzel zu aufregenden Reden über Unterdrückung der Kirche zu benutzen.

»Im Namen des Gesetzes,« erklärte mit lauter Stimme einer der Polizeibeamten, – »ich untersage diesen Umzug und diesen Gesang und fordere jedermann auf, der daran teilgenommen hat, seinen Namen und seine Wohnung anzugeben!«

Man wußte nur zu gut, was das zu bedeuten hatte – schwere Geldstrafen, wenn nicht gar Gefängnis. Der Zug begann sich sehr rasch zu lichten, die Teilnehmer, meist Frauen aus den unteren und mittleren Ständen, verschwanden in den Kirchenbänken oder in den Schatten der Pfeiler.

Der Polizeiagent hatte frischen Mut bekommen, er sah, daß noch zwei seiner Kameraden herbeigekommen waren.

»Was ist das für ein Frauenzimmer, die den ganzen Skandal angestiftet hat? – He, – sie scheint mir aus einem Gefängnis entsprungen!«

Nur der Pater Hilarius hatte bei der Beschuldigten ausgehalten, die sich begnügte, dem Beamten einen flammenden Blick zuzuwerfen.

»Wahren sie sich,« sagte drohend der mutige Priester, »eine Unschuldige zu beleidigen, die der Himmel der Gnade eines Märtyriums für ihre Überzeugung gewürdigt hat. Diese Ärmste steht unter dem Schutz der Kirche und Sie haben kein recht, frevelnd in dies Gotteshaus einzudringen und ohne Vollmacht Personen zu verhaften, die hier nur ihrer Andacht Ausdruck geben. Hüten Sie sich!«

»Hüten Sie sich selbst, – man kennt Sie genug, als einen Aufwiegler und Ruhestörer! Was dies Frauenzimmer betrifft, so will ich wissen, wer sie ist und wo sie wohnt.«

»Es ist das Fräulein Wanda Marowska!«

»Und wo kommt sie her? – Sie trägt die Spitalkleidung? Wo wohnt sie?«

Die Polin trat einen Schritt vor. Sie schob mit der Rechten den Mantel zurück und deutete auf den leeren Ärmel. »Sie haben recht, ich komme aus dem Spital,« sagte sie mit finsterem, unheimlichem Ausdruck in den abgezehrten Zügen. »Was ich dort getan, das sehen Sie. – Wo ich wohne, fragen Sie? – Wo die Armen und Verlassenen ihren Schutz suchen und finden – im Hause Gottes. Eine andere Wohnung habe ich nicht!« Die von einem erhaben schmerzlichen Ausdruck getragenen Worte waren nicht ohne Eindruck auf alle geblieben, die aus Angst und Besorgnis um die eigene Sicherheit noch nicht das Feld geräumt, – selbst der Polizeiagent vermochte nicht, sich ihm gänzlich zu entziehen, und sagte mit weniger rauhem Ton:

»Es tut mir leid, aber wenn Sie keine Wohnung haben und keine Legitimation oder zuverlässigere Bürgschaft stellen, wie den Mönch da, muß ich Sie als Obdachlose und Landstreicherin betrachten und in den Polizeigewahrsam oder das Arbeitshaus bringen.«

Die Nächststehenden wurden zur Seite gedrängt, ein schlanker großer Mann im Mantel, von vornehmem Ansehen trat an die Seite der Bedrängten und nahm ihren Arm.

»Fräulein von Marowska,« sagte er streng, »ist nicht ohne Schutz und Bürge. Keine Unverschämtheit weiter gegen die Dame. Kommen Sie, Fräulein!«

Sie war erschrocken zusammengefahren bei dem ersten Laut dieser Stimme, – sie sah zu ihm empor, eine tiefe Röte überzog ihr hageres Gesicht.

»Bürgen Sie hübsch für sich selber, Herr,« sagte brutal der beleidigte Beamte. »Wer sind Sie? in welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Frauenzimmer?«

»Fräulein von Marowska ist – meine Verlobte!«

»Ein bekanntes Auskunftsmittel zum Schutz aller Dirnen, wenn sie die Polizei fassen will. Die Louis sind auch in Warschau Mode und wissen sich ein Air zu geben. Wer sind Sie denn eigentlich?«

»Ich bin …«

»Der Graf von Czatanowski aus Preußen,« sagte eine scharfe Stimme hinter ihm. »Der Herr Graf wohnt, wie ich im Hotel d'Angleterre; ich bin die Gräfin Zerboni, Äbtissin von Santa Rosalia in Rom, dieses junge Mädchen gehört zu meiner Verwandtschaft und ich bitte sie, einstweilen mit mir meine Wohnung zu teilen.«

Die Klosterfrau, die während des Vorganges nicht aufgehört hatte, mit scharfem Auge den eben verlassenen Beichtstuhl, den Bernhardiner Pater und die Vorgänge zu beobachten, hatte bei der ersten lauten Drohung gegen das unglückliche Mädchen die Tür des Beichtstuhls im Dunkel sich öffnen und, von niemand weiter bemerkt, den Mann heraustreten sehen, der ihr am Morgen im Hotel von dem Wirt im Vorübergehen als Graf Czatanowski bezeichnet worden war und dessen Identität sie aus den Mitteilungen ihres Neffen besser kannte.

Ein Blitz voll Drohungen sprühte auf den Kavalier, als er hastig an ihr vorüberschritt, ohne auf sie zu achten, dem bedrängten Mädchen zum Beistand auf jede Gefahr für sich selbst hin; – aber im Augenblick hatte sie sich gefaßt und gewußt, welche Stellung sie den beiden gegenüber einzunehmen hatte.

Ihn in der Gefährdung zu lassen, in die er sich gestürzt, konnte leicht sie selbst verderben, wenn er mit einem Wort das Gehörte verriet; – noch kannte sie seinen Charakter nicht genug, um zu wissen, ob er einer Indiskretion, eines Verrats fähig war, – sie mußte ihm zu Hilfe kommen!

Der Polizeiagent, einigermaßen von den vornehmen Namen verblüfft, hatte doch bald wieder seinem brutalen mißtrauischen Charakter die Oberhand gelassen.

»Das mag alles wahr sein, oder auch nicht – ich kenne Sie nicht, und da Sie selbst angeben, daß Sie Fremde sind, habe ich um so mehr Ursache, auf einer Legitimation zu bestehen oder muß Sie meiner strengen Instruktion nach verhaften.«

Der Graf hatte mit einem flüchtigen aber durchdringenden Blick die Klosterfrau gestreift, die so ungerufen sich für ihn verbürgt; – er wußte in der Tat in diesem Augenblick nicht, was tun, um sich und seinen Schützling aus der peinlichen Lage zu befreien.

In dieser Verlegenheit glaubte sein unter den Anwesenden umherstreifendes Auge hinter der Reihe der Polizeibeamten im Halbdunkel ein Gesicht zu erblicken, das er kennen mußte.

Ein Augenblick genügte, sich das Wo und Wann der Begegnung zurückzurufen.

Der Mann, der dort stand, trug den Uniformpaletot und das Abzeichen eines höheren Polizeibeamten. Er hatte die Arme übereinander gekreuzt und sah mit ruhiger Beobachtung auf die Szene – wie lange schon, ließ sich nicht erraten – ohne den geringsten Versuch sich einzumischen und seine höhere Autorität geltend zu machen.

Ihre Augen begegneten sich, – der Graf glaubte einen leisen Wink in denen des andern zu bemerken und hatte im Nu begriffen.

Er zog eilig sein Portefeuille aus der Brusttasche seines Rockes, nahm eine Karte heraus und reichte sie dem Polizeiagenten.

»Genügt dies zu meiner Legitimation, Herr?«

Der Polizist hatte kaum das Auge darauf geworfen, als er sie höflich zurückgab und zur Seite trat.

»Gewiß, Herr, – warum zeigten Sie das nicht gleich? Sie können mit den Damen passieren!«

Der Graf reichte nochmals Fräulein von Marowska den Arm und sah sich nach der Dame um, die sich selbst als die Äbtissin eines fremden Klosters bezeichnet hatte. Sie war zurückgetreten und wechselte einige Worte mit dem Bernhardiner Pater. In der Erwartung, daß sie ihm folgen werde, führte er die Marowska nach dem Ausgang, den eilig, das Weihwasser bietend, ein kleines Bettelmädchen aufwarf.

Als der Graf an dem Mann im Uniformpaletot vorüberging, hatte sein Auge diesem gedankt. Auch die Marowska schien ihn erkannt zu haben, denn sie hatte fragend und erstaunt ihn angesehen, was der Beamte mit einem freundlichen Kopfnicken beantwortet hatte, ohne sie weiter anzusprechen.

Die Äbtissin stand neben dem Bernhardiner Pater, der in den Schatten eines Pfeilers getreten war.

»Hilarius,« sagte sie flüsternd in italienischer Sprache – »Du weißt jetzt, wer ich bin. Kennst du jenen Mann?«

»Du nanntest ihn Graf Czatanowski, aber ich kenne ihn. – Warum bist du nicht gekommen, wie ich Dich bescheiden ließ?«

»Ein unglücklicher Irrtum, – wir sind beide verloren, wenn du ihm nicht den Mund schließen kannst, – für ewig. Er kennt unser Geheimnis!«

»Um so schlimmer für ihn! – Er ist ein Verräter, ich ahnte es schon damals, als er im Herbst bei uns krank lag; – sahst du nicht, daß er mit der Polizei in Verbindung steht? – Noch diesen Abend sollen es die Schwarzen erfahren. – Geh jetzt und folge ihm.«

»Er ist mir sicher genug. Leb wohl! Sende mir Nachricht durch den Knaben Peter.«

Sie beugte sich vor ihm, als hätte sie seinen Segen erbeten und empfangen, dann folgte sie eilig dem Paare, das vor dem Portal wartete, während die Laienschwester in geschickter Auffassung bereits einen Fiaker herbeigewinkt.

Im Hotel angekommen, ließ die Äbtissin ihr Nichterscheinen im Palais Wielopolski entschuldigen, – sie hatte Wichtigeres zu tun. Für das Fräulein von Marowska war in ihrem eigenen Zimmer ein Bett aufgeschlagen worden und die kirchliche Würdenträgerin überhäufte sie mit Freundschaftsbezeigungen. –

Der Polizeibeamte, der die Verhaftung der Fremden hatte vornehmen wollen und dann die Legitimation des Grafen so willig respektierte, hatte bei dessen Entfernung den Oberbeamten, der hinter der Gruppe gestanden, erblickt, und ihn sofort erkannt.

»Vergebung, Pani Komissarz,« sagte er eifrig, »ich hatte keine Ahnung, daß Sie zugegen wären. Die Karte war von Ihnen selbst unterschrieben, – ich erkannte auf der Stelle Ihr geheimes Zeichen.«

»Du hast gut getan, mein Sohn,« sagte der Kommissar Droszdowicz. »Diese Karte muß stets respektiert werden.«

»Und die Frauen – ich wußte nicht, ob sie wirklich zu ihm gehörten?«

»Du hörtest, daß sie seine Verlobte sei, – ob sie grade in den Händen der anderen gut aufgehoben sein wird, darüber muß ich mir erst Gewißheit verschaffen. – Laß die Türen bewachen und notiere alle Personen, die noch in der Kirche sind.« – – – – – – – – – –


Trotz aller Vorsichtsmaßregeln der Polizei war der Altmarkt am andern Tage, Montag, den 25. Februar, schon vor 5 Uhr von Volksmassen bedeckt, ebenso die dahin führenden Straßen.

Auch am Montag Morgen hatte man in und vor den Häusern die gedruckten Zettel gefunden, welche die »polnischen Brüder« zur Versammlung um 5 Uhr auf dem genannten Markt einluden. Damit war die frühere Parole des Trauergottesdienstes am Mittag auf dem Schlachtfeld jenseits Praga aufgehoben. Die Mitteilung des Fürsten-Statthalters an die Herren vom landwirtschaftlichen Verein von der gleichzeitigen Parade der Truppen daselbst, hatte doch gefruchtet und man hatte den Plan wieder fallen lassen.

Der Nebel hatte sich am Nachmittag wieder niedergesenkt, die Flammen der schlechten englischen Gasbeleuchtung glühten nur wie matte rote Feuerkugeln. Kopf an Kopf drängte es sich auf den Trottoirs, auf dem Straßendamm, über den ganzen großen Platz des Altmarkts hinweg, und nicht etwa nur ordinäres Volk, Pöbel und Arbeiter, – nein auch Männer, denen man es auf den ersten Blick ansah, daß sie den bessern, wohlhabenden Ständen angehörten, Bürger und Kaufleute, Beamte, zwischen den noch immer halbleibeigenen Knechten im schmutzigen Schafpelz, der Edelmann mit dem beschnürten Rock – und Frauen, Mädchen und Kinder in fast überwiegender Zahl.

Kaum daß die grauen, aus dem grauen Nebel aufragenden Reitergestalten der Gendarmen- und Kosakenpatrouillen, die langsam hin und wieder reitend die Passage frei zu halten suchten, ihre Pferde durch die Menschenmasse zu drängen vermochten. Vergeblich war es, daß die zahlreichen Polizeimannschaften die Menge zum Weitergehen drängten, daß der Oberpolizeimeister, Oberst Trepoff, selbst dazu aufforderte.

»Ist sich wie eine Mauer,« sagte im Sattel sich umdrehend der Fürst Barinsky zu ihm, »ist sich eine verstockte Nation die polnische die. Würd' ich machen nicht so viel Federlesens und geben Order Kosak meinigten, zu brauchen die Karbatsche auf Köpfe ihrigte. Sollten sehen, wie Gesindel laufen würde.«

»Schweigen Sie um Himmelswillen, Fürst. – Sie wissen, was Seine Hoheit befohlen haben. Noch ist nichts geschehen, was uns zu einem ernsten Einschreiten berechtigt.«

»Warum sind die Kerle, die räsonnieren so klug, nicht in Sitzung von die Verein von die Landwirtschaft, die sie doch halten heute abend. Hab ich doch gesehn schon zwei von Ihrigten in dieser Kanaille hier. Ist sich verstocktes Volk, parbleu!«

Ein Reiter drängte sich durch die Menge. Es war der Adjutant des Fürsten-Statthalter, der Kapitän Fürst Ylinski.

»Herr Oberpolizeimeister, Seine Hoheit sendet mich, Sie nochmals zu bitten, mit der äußersten Schonung zu verfahren. Nur was gradezu wie Aufruhr gegen die Regierung Seiner Majestät aussieht, soll durch Einschreiten unterdrückt werden. In jeder anderen Richtung möge man das Volk gewähren lassen.«

Der Oberst hob die Hand und horchte über den Markt hin, – tausend Köpfe richteten sich nach der Ausmündung der Taubenstraße, es ging wie eine große gewaltige Meereswoge, die zum Strande rollt, über die Tausende von im Nebel halb verschwimmenden Menschenköpfen hinweg.

»Sie kommen! sie kommen!«

»Ich fürchte, Herr Kapitän, die Anempfehlung Seiner Hoheit ist gut gemeint, aber nicht mehr am Ort. Sehen Sie selbst und berichten Sie! – Oberst Mesenceff, ich muß Sie bitten, durch Ihre Gendarmen den Eingang der Johannesstraße hier absperren zu lassen.«

Es war die Straße, die von Altmarkt zum Schloß- oder Siegismunds-Platz führt, dieselbe, an deren Eingang die Reiter eben hielten.

Es kam wie ein gewaltiges Brausen her über den Platz. – Ein Choral, erst ferner, dann näher und näher, immer mächtiger anschwellend, derselbe, den die Andächtigen in der Pauliner Kirche am Abend vorher angestimmt hatten, als der Pater Hilarius die verstümmelte polnische Jungfrau zum Altar der Himmlischen führen wollte.

Durch die fernen Nebelwellen bewegten sich zahllose Lichter näher und näher!

Ein Mann drängte sich gewaltsam mit der Kraft seiner Fäuste und Ellbogen durch die Menge zum Eingang der Straße, wo er den Oberpolizeimeister und seine Umgebung erkannte.

»Comissarz Karlowicz läßt von der Pauliner Kirche her melden, daß das Volk in großem Zug dieselbe verlassen hat, um zur Statthalterei und über die Praga-Brücke vors Tor zu ziehen. Sie tragen polnische Fahnen. Er habe zu wenig Mannschaften gehabt, um sich widersetzen zu können. Kaum vermochte ich dem Zuge voraus zu kommen.«

»Der Mensch hat keine Energie! Sind sie bewaffnet?«

»Nein, Gnaden! sie tragen nur Preuze und Fähnchen, die Studenten! Die Geistlichen der Kirche geleiteten sie zum Ausgang.«

»Es war zu erwarten!« Der Oberst erteilte hastig einige Befehle an seine Mannschaften.

Näher und näher kam die Prozession, mächtiger und mächtiger schwoll der Gesang an, in den ein großer Teil der auf dem Markt versammelten Menge bereits einstimmte.

Jetzt betrat der Zug den Platz und ein stürmischer nicht endender Jubel der Menge begrüßte die große Fahne mit dem polnischen Wappen, dem Weißen Adler im roten Felde, die ihm vorangetragen wurde.

Zum Träger der großen Fahne mit dem polnischen Wappen war von den geheimen Leitern der Bewegung ein bei den Arbeitern sehr beliebter Werkführer einer Fabrik ausgesucht worden.

Hinter ihm folgte eine Anzahl junger Leute, meistens Studenten der medizinischen Akademie, der landwirtschaftlichen Schule, der Kunstakademie und des adligen Instituts, sowie junge Leute aus dem Handwerkerstande, meistens mit kleinen Fahnen in den polnischen Nationalfarben – rot und weiß – und mit Fackeln. Eine bunte Menge Volks hatte sich angeschlossen.

Die Priesterschaft war an der Tür der Kirche zurückgeblieben, – die geheimen Leiter des Ganzen hielten sich im Hintergrund, in der Masse des zu einer unnützen Opferung angereizten Volkes versteckt. Man wollte einen möglichst zahlreiche und unschuldige Opfer kostenden Zusammenstoß mit den Regierungsorganen provozieren, um auf Grund dessen den Unwillen der Bevölkerung zu erregen und das auswärtige Urteil zu täuschen.

Der Zug überschritt singend und von dem Zuruf der Menge begleitet den Platz und näherte sich dem Eingang der Johannisstraße, die jetzt von einer Doppelreihe berittener Gendarmen gesperrt war, während sich die Kosaken weiterhin vor dem Schloß und dem Palais des Statthalters aufgestellt hatten, in dem der landwirtschaftliche Verein eine sehr zahlreich besuchte und animierte Sitzung hielt.

Vor der Front der Gendarmen hielten der Oberpolizeimeister und der Kommandeur derselben. Oberst Trepoff ritt dem Zuge entgegen und gebot mit einem Winke der Hand Stillstand, Ein lebhaftes Heulen, Pfeifen und Gellen der Menge beantwortete diese Bewegung und verschlang seine Ermahnung, sich ruhig aufzulösen, indem von der Obrigkeit keine Erlaubnis zu einem solchen demonstrativen Aufzug gegeben worden sei, und er seine Fortsetzung nicht dulden könne.

Gleich als existiere er gar nicht für sie, setzte der Zug vielmehr seinen Weg fort, dicht an dem jetzt von Polizeidienern umringten Oberpolizeimeister vorüber und berührte bereits die Reihe der Gendarmen.

Das Volk heulte, pfiff und lachte, – die Teilnehmer des Zuges setzten ununterbrochen ihren Gesang fort.

Die Situation drohte für die Polizei ins Lächerliche umzuschlagen, das Gefährlichste für ihre Autorität.

»Nehmt dem großen Schurken da die Fahne ab und verhaftet ihn!« befahl der Oberst.

Wohl ein Dutzend Polizeidiener stürzten sich gegen den Fahnenträger, aber die jungen Leute mit den Fähnchen und Fackeln nahmen ihn in ihre Mitte und hielten den Polizeibeamten ihre Fackeln entgegen. Dabei drängten sie singend immer vorwärts und die stäubenden Funken und Flammen der Wachs-, Kien- und Pechfackeln begannen bereits die Pferde unruhig zu machen, deren Reiter knirschend vor Erbitterung nur den Befehl zu einem Angriff erwarteten.

Der Oberpolizeimeister erhob sich in den Bügeln. Wir haben bereits erwähnt, daß er dem verewigten Kaiser Nikolaus sehr ähnlich sah, auch in der martialischen Gestalt, und deshalb schon außer seiner Strenge bei der polnischen Bevölkerung sehr verhaßt war.

»Zum letztenmal: Zurück! oder ich lasse Gewalt brauchen!«

Aus den Gliedern der Gendarmen klang das Kommando: Gewehr auf! – und die Säbel rasselten aus den Scheiden.

Die Antwort auf den Befehl des Oberpolizeimeisters war, daß einer der Fackelträger seinem Pferde, offenbar absichtlich, mit der Flamme ins Gebiß kam, so daß das Tier scheute und einen gewaltigen Seitensprung machte, der zwei der Polizeidiener zu Boden warf. Alles lachte und pfiff.

Der Oberpolizeimeister wurde kirschbraun im Gesicht und riß das Pferd herum.

»Oberst Mesenceff, – es ist an Ihnen!«

»Attackiert! Flach gehauen!«

Aber die Gendarmen, alte gediente Soldaten der russischen Armee, waren viel zu erbittert, als daß sie das letzte Kommando genau hätte beachten sollen. Im vollen Trabe rasselten die beiden Glieder vorwärts grade in die Prozession und die dichtgedrängte Menge hinein, und es regnete Hiebe auf Kopf und Schultern der Flüchtenden oder sich zur Wehr Setzenden.

Der letzteren waren nicht wenige. Die Mitglieder des Zuges wehrten sich mit ihren Fackeln und Fähnchen, das Publikum mit Stöcken und Schirmen; wildes wütendes Geschrei erfüllte den ganzen Platz, an fünfzig, sechzig Stellen wurde heftig gekämpft; aus den flachen Schlägen der Gendarmen, die wütend durch den Widerstand und zahlreiche Brandwunden waren, wurden scharfe Säbelhiebe! Blut floß, das Geschrei der Verwundeten und Überrittenen, das Geheul der flüchtenden Menge, zwischen die sich die Polizei noch mit ihren kurzen Lebensverteidigern warf, erfüllte den Platz mit einem Höllenlärm; in der Zeit von einer Stunde war der ganze Altmarkt gesäubert, und das Volk selbst aus den benachbarten Straßen gedrängt, die sofort abgesperrt wurden.

Das Gerücht von dem Geschehenen in hundert Übertreibungen und Entstellungen flog auf Windesflügeln durch die ganze Stadt. Die Polizei hatte zahlreiche Verhaftungen vorgenommen, aber noch viel mehr der teils leichter, teils schwerer Verwundeten waren mit der flüchtenden Volksmenge glücklich entkommen und suchten jetzt unterm Schutz der Nacht einen Zufluchtsort.

Zwei Menschen – wie es immer geht, grade nur der Anwesenheit und des leichtsinnigens Zuschauens Schuldige, lagen tot auf dem Platz, – über sechzig Personen mochten verwundet sein.

Die Läden und Lokale, die in Warschau sonst bis spät in der Nacht geöffnet bleiben, wurden sofort geschlossen, die ganze Garnison trat unter Waffen und besetzte alle öffentlichen Plätze, Patrouillen der Gendarmerie und der Kosaken sprengten durch die Straßen und duldeten nirgend Ansammlungen des Publikums; – der Kantschuh, den der Fürst Barinski so sehr liebte, fand bereits reichliche Verwendung, da bis spät in die Nacht das Volk umherwogte.

Auch in den Sitzungssaal des landwirtschaftlichen Vereins war die ja erwartete Nachricht von dem Angriff der Gendarmerie auf das so »ruhig demonstrierende waffenlose Volk« sofort gebracht worden und der Präsident hatte Mühe, bei der allgemeinen Exaltation die Sitzung schon um 8 Uhr zu schließen, während die Versammlung sonst gewöhnlich bis nach 10 Uhr debattierte. –

Am andern Morgen war ganz Warschau in Aufregung; das Revolutionskomitee hatte noch in der Nacht Sitzung gehabt und es war wiederum zu heftigen Debatten mit dem Abgesandten der »Weißen« gekommen. Die »zwei Toten« genügten nicht, um damit die Sympathie Europas anzurufen und die russische Regierung vor der öffentlichen Meinung anzuklagen. Das Militär hatte nicht auf das Volk gefeuert, und das war es, was man erzwingen mußte. Die Roten forderten daher heftig eine Erneuerung der Demonstration, – die Adelspartei wollte vorerst auf Grund der Abendvorgänge beim Statthalter remonstrieren.

In der Tat begaben sich am Mittag die sämtlichen Adelsmarschälle zu dem Fürsten-Statthalter, um sich über das bewaffnete Einschreiten der Polizei zu beschweren.

Der Statthalter erwiderte ihnen, daß nicht die Polizei den Konflikt hervorgerufen habe, sondern das Volk selbst. Das bereits festgestellt wäre, daß an verschiedenen Stellen mit Steinen auf die ruhig haltenden oder in Patrouille ziehenden Reiter geworfen worden sei, und daß die ganze Haltung der Masse bewiesen habe, es sei auf Unruhen abgesehen. Er müsse die Herren Marschälle bitten, ihren ganzen Einfluß aufzubieten, daß die Exzesse und Demonstrationen sich nicht wiederholen möchten; – er habe zwar der Truppenführung seinen Willen ausgesprochen, und der Polizei befohlen, mit der größten Schonung aufzutreten und von den Waffen nur im Fall eines wirklichen Angriffs Gebrauch zu machen, – aber der Militärgouverneur von Warschau habe seine bestimmten Vollmachten und sei nicht der Mann, die Soldaten des Kaisers ungestraft insultieren zu lassen. Man trennte sich gegenseitig sehr kühl.

Noch am nämlichen Vormittag war in den Zeitungen eine Bekanntmachung des Oberpolizeimeisters erschienen und angeschlagen worden. Dieselbe lautete: »Am 23. d. M. waren an verschiedenen Orten Aufrufe an das Volk, sich am 25. um 5½ Uhr abends in der Altstadt zu versammeln, umher gestreut worden. Der Haupturheber dieser schädlichen Proklamation wurde gestern früh auf frischer Tat ergriffen und verhaftet. Trotzdem hatten die Aufrufe die beabsichtigte Wirkung und trieben gestern eine Menge Neugieriger nach dem Marktplatz der Altstadt. Um 7 Uhr abends kamen aus der Pauliner Kirche gegen fünfzig Leute mit Fahnen und Gesängen und wollten in dieser Weise durch die Stadt ziehen. Da dergleichen Umzüge der öffentlichen Ordnung zuwider und nicht gestattet sind, mußte die Polizei diesem tumultarischen Vorgehen entgegentreten und nahm die Führer des Zuges in Haft. Indem der mit den Funktionen des Ober-Polizeimeisters Betraute die Einwohner von Warschau hiervon benachrichtigt, macht er sie auf Befehl der höheren Behörde darauf aufmerksam, daß dergleichen Umzüge und Gesänge, da sie die öffentliche Ordnung stören, nicht geduldet werden können. Sollte jedoch ferner noch Ähnliches wider Erwarten sich erneuern, so haben die ruhigen Einwohner sich aufs sorgsamste von solchen Zusammenrottungen fern zu halten, um sich nicht der verursachten Ruhestörung mitschuldig zu machen, (gez.) Oberst v. Trepoff. Der sehr nachgiebige unsichere Ton derselben, die offenbare Beschönigung und Verschweigung des Tatbestandes raubten derselben jede Wirkung und erhöhten im Gegensatz den Übermut des Pöbels und die Tätigkeit der Unruhestifter. Man erkannte deutlich, daß die Regierung sich schwach fühlte und beschloß, dies aufs Schleunigste auszubeuten.

Als Antwort auf die Proklamation erschien die ganze Stadt in Trauer. Die Männer trugen schwarzen Flor auf ihren Hüten und Mützen, die Frauen den polnischen Trauerputz: Weiß und Schwarz. In den Schaufenstern zeigten sich auf einmal eine Menge Trauergegenstände.

Der Tag ging jedoch ruhig vorüber, ohne daß es zu Exzessen oder einem Zusammenstoß kam, und der Fürst-Statthalter gab sich bereits der Hoffnung hin, daß alles ruhig vorübergehen werde.

Wir finden am Abend dieses Tages mehrere uns bereits bekannte Persönlichkeiten wieder in der Wohnung der Wäscherin, der Tochter des Waldwärter Stenko versammelt.

Unter dem Heiligenbild in der Ecke saß, wie gewöhnlich, der alte Lagienki, teilnahmslos seine Pfeife dampfend. Stenko und sein Enkel waren ausgegangen, durch die Straßen zu streifen, nur der Student und ein fremder Mann saßen an der einen Seite des Tisches, an der anderen in einer braunen Kapuzinerkutte der Pater Hilarius und ein Weib in zottigem Schaafspelz, die Stirn mit dem roten Kopftuch umwickelt, eine kurze Tonpfeife im Munde, das Gesicht eckig, faltig – boshaft – es war die Dienerin der frommen Äbtissin aus Rom, die Pförtnerin Veronika. Auf dem Tisch lag die Proklamation des Oberpolizeimeisters.

»Sie haben Furcht! offenbar Furcht!« schrie der Student auf den Tisch schlagend. »Der Schurke Trepoff mußte sich erst die Nase verbrennen an der Fackel des dummen Paul Willing, ehe er die Kurage bekam, den Gendarmen Befehl zu geben. Wenn nur der Lempke käme.«

»Warum hat man grade jenen Mann zum Fahnenträger gemacht, Pater,« frug der Fremde, »da er doch einen deutschen Namen trägt?«

»Eben deshalb, Oberst, – er ist ein Pole durch und durch, aber der deutsche Name macht seine Verhaftung mich zur Nationalsache für zahlreiche Leute, die sich sonst vielleicht weniger eifrig zeigen würden.«

»Trau den Klosterleuten, trau den Klosterleuten, Oberstchen,« meinte das Weib. »Sie haben immer den besten Grund für alles.«

»Das sieht man an deiner Frau,« murmelte der Pater. »Es ist ein Satan von Chorrock, sonst würde sie nicht darauf bestehen, den Oginski aus der Welt zu schaffen.«

»Sie haben es deutlich gesehen, Pater,« frug der Fremde, den sie als Obersten bezeichnet hatten, obschon er keineswegs wirklich diesen Rang, sondern nur den eines ehemaligen Oberstleutnants von den Ingenieuren hatte, – »Sie haben es gesehen, daß der Genannte im Besitz einer Polizeilegitimation war?«

»Ich sah, daß er die Karte, welche die Beamten als Legitimation tragen, den Schergen vorzeigte und diese ihn darauf ungehindert, ja mit einem gewissen Respekt passieren ließen. Droszdowicz selbst war zugegen.«

»Das macht freilich die Sache verdächtiger, denn Sie werden wissen, daß mehrere der unseren in Besitz nachgemachter Karten sind. Aber das Auge jenes Menschen, eines der gefährlichsten Verfolger der guten Sache, läßt sich nicht so leicht täuschen. Sie verlangen also seinen Tod?«

»Ich fordere ihn in wichtigen Interessen. Er ist die Bedingung für meine und anderer Personen weitere Tätigkeit.«

»Es ist nichts an ihm verloren,« sagte giftig der Student, »er ist ein Aristokrat und ein Geizhals dazu.«

Der Oberst schüttelte noch immer den Kopf. »Sein Tod wird uns unwiderruflich mit der Adelspartei entzweien.«

»Man muß ihn deshalb den beiderseitigen Feinden zuschieben,« bemerkte der Mönch.

»Aber wie?«

»Warten Sie, bis der Okuliarnik kommt und uns die Beschlüsse des Komitees bringt. Wenn man ihn unter das Volk locken kann bei der morgenden Demonstration, in die Nähe des Zusammenstoßes mit dem Militär, wird man sich seiner ohne Verdacht entledigen können.«

»He he!« meinte die Pförtnerin. »Ein kaltes Brautbett! Einstweilen benimmt er sich wie ein Turteltäubrich gegen die Einarmige. Sie hat erst getan, als wäre es nur eine Faxe gewesen, ein Auskunftsmittel vor der Polizei, daß er sie für seine Verlobte in der Kirche erklärt hat; aber die Hochwürdigste hat es verstanden, ihr alle Bedenken wegzuschwatzen. Jetzt ist sie ganz stolz darauf, daß sie sich für ihn hat den Arm zerquetschen lassen und es tut ihr nur leid, daß es nicht beide gewesen sind!«

»Für ihn?« fragte spöttisch der Student. »Ich dächte, es wären noch ganz andere Leute dagewesen, denen die Marowska ihre Aufopferung schuldete!«

»Bei den vierzehn Nothelfern, die doch keinem Menschen helfen,« sagte giftig die Alte, in langer Wolke den Rauch von sich blasend, »man ist doch auch jung gewesen und weiß, wie's tut. Es soll ein schlechter Kerl noch dabei gewesen sein, für dessen Geliebte sie sich sogar ausgegeben, um ihm zu helfen, – aber er hat sich nicht einmal einen Pfifferling um sie bekümmert. He, wir Mitglieder vom schönen Geschlecht wollen wenigstens unsern Dank haben für all das, was wir euch tun! Es ist schade um den Oginski – er ist ein schmuckes Kerlchen, aber die Hochwürdigste ist nun einmal fuchswild auf ihn!«

»Alte Hexe!« brummte der Student.

Der Name Oginski schien die Lebensgeister des alten Kriegers geweckt zu haben.

» Oginski? – was befiehlt mein Oberst? – die Papiere sind im Tornister, Oberst! – Hurra, die Russen rücken an!«

»Was ist das für ein alter Kerl?« fragte die Frau.

»Ein Invalide aus alter Zeit,« belehrte sie der Priester. »Die Wäscherin verpflegt ihn aus einer kleinen Pension. – Doch Oberst Traugut, was sinnen Sie nach, was liegt Ihnen auf der Seele? – Billigen Sie den Plan der morgigen Wiederholung der Demonstration nicht, auch ohne die Zustimmung der weißen Partei?«

Der spätere Diktator, unter dessen eiserner Leitung die blutigste und letzte Phase der Rebellion sich abwickeln sollte, hob den Kopf.

»Sie haben alle den besten Willen, aber Sie sind keine Soldaten. Die augenblickliche Truppenzahl der Garnison würde bei einer ernsten Erhebung des Volkes allerdings nicht genügenden Widerstand leisten können, aber vielleicht hat das Gouvernement bereits Verstärkung requiriert. Dies müßte man wissen, ehe ich mich dafür entscheiden kann, ob wir morgen einen Zusammenstoß mit gewaffneter Hand suchen sollen, oder das gestrige Spiel wiederholen mit etwas mehr Kitzeln der russischen Tyrannei. Wenn das erstere geschehen soll, denn müssen wir überhaupt losschlagen und das Volk zu den Waffen rufen. Sind die Waffenvorräte in den Kellern Ihres Klosters zur Verteilung geordnet?«

»Alles ist bereit für jeden Augenblick!«

»Und die im Grabowskischen und Ekkertschen Hause?«

»Das ist Sache des Revolutionskomitees, aber soviel ich weiß, ist alles in Ordnung.«

Der Oberstleutnant blieb im Nachsinnen. »Der ganze Putsch würde nichts nutzen, wenn wir nicht imstande wären, die Russen aus Warschau zu jagen. – Es hängt alles davon ab, ob bereits Orders an die Truppen, zunächst in Modlin, abgegangen sind.«

»Wer würde die Befehle dazu erteilt haben?«

»Wer anders als der Generalkriegsgouverneur! – Pater, Ihr habt Eure geheime Polizei doch noch schlecht in Ordnung, daß dies nicht einmal zu ermitteln ist.«

»Der Student lachte pfiffig. »Ich wüßte wohl einen Weg!«

»Dann heraus damit.«

Prot Asnik wies mit dem Daumen über die Schulter nach der Küche, wo man die Frau hantieren hörte.

»Sie hat Zutritt beim Adjutanten des Generals – sie hat uns schon manches von dort gebracht.«

»Bei dem Adjutanten? – Wie meinen Sie?«

»Beim Kapitän Atschikoff. Er ist Chef der Kanzlei. Sie müssen ja wissen, Oberst, ob das genügt.«

»Zum Teufel, gewiß! Jede Requisition an General Liprandi oder die Chefs der einzelnen Truppenteile müssen durch seine Hand gehen. Ja, wer einen Blick in das Abgangsjournal tun könnte!«

»Sie schmeichelt's ihm vielleicht ab – aber –«

»Nun, was aber?«

Der Student lachte faunisch. »Er ist Junggeselle und sie noch immer eine hübsche, runde Person, die besondere Qualitäten haben muß, oder der Kapitän, wie man wissen will, besondere Gelüste. Aber sie hat in der letzten Zeit nicht mehr recht heran wollen, zu ihm zu gehen.«

»Torheit! – Rufen Sie sie herein!«

Der Student öffnete die Tür der Küche und winkte der jungen Frau.

Sie säuberte sich geschwind, so gut es gehen wollte, von den Spuren ihrer Beschäftigung und trat in das Zimmer.

Der Student hatte recht gehabt, die junge Frau war noch immer eine hübsche, für sinnliche Männer sogar sehr verlockende Persönlichkeit von drallen, üppigen Formen.

»Was wünschen Sie?«

»Höre, Frau,« der Oberstleutnant hatte das Wort genommen, »du bist ja wohl eine gute Polin?«

»So wahr mir die heilige Jungfrau gnädig sein mag, ich bin's von ganzer Seele. Ist doch der Stenko Siwak mein Vater, und der Janko mein Kind. Fragen Sie den hochwürdigen Herrn hier, er ist mein Beichtvater und kann's bestätigen.«

»Es braucht deiner Beteuerungen nicht! Wenn's nicht so wäre, – ich bin zwar zum erstenmal hier – würde man mich nicht zu dir gewiesen haben. Dies Vertrauen der Patrioten legt dir aber auch die Pflicht des unbedingten Gehorsams auf.«

»Ich bin stets bereit gewesen, zu gehorchen, Herr, und habe selbst manches getan, was mein Gewissen bedrücken könnte, wenn mir's nicht der heilige Herr hier vergeben hätte.«

»Und er wird dir die kleinen Sünden, denk' ich, auch ferner vergeben. Du kennst den russischen Kapitän Atschikoff?«

Das Blut schoß der Frau ins Gesicht. »Ich wasche für viele russische Herrschaften,« sagte sie stotternd, – »mit Erlaubnis der Herren!«

»Ich weiß. Ich spreche jetzt speziell von dem Kapitän Atschikoff, dem Adjutanten des General Paniutin.«

»Ja, – auch für ihn, Herr!«

»Du stehst in näheren Verhältnissen zu ihm?«

»Herr,« sagte sie finster, – »welches Recht habt Ihr, so zu fragen? – Fragt diesen da,« – sie wies auf den Pater, – »und verschont mich in Gegenwart anderer mit solchen Fragen.«

»Törin, – es handelt sich hier nicht um einfältige Prüderie, sondern um deinen Eid, den du Polen geschworen. Antworte auf die Frage.«

»Ich – ich bringe die Wäsche zu ihm, – aber ich will nicht mehr zu ihm gehen.«

»Das wird sich finden! Wo wohnt der Kapitän?«

»Im Krasinskischen Palais, – im jetzigen Gouvernementspalast,« sagte der Pater. »Er ist die rechte Hand des Generals.«

»Wenn du zu ihm kamst, – geschah es in seiner Wohnung?«

»Er hat ein Arbeitszimmer, Herr, – das stößt an die Kanzlei, auf der andern Seite liegt – seine Schlafstube.«

»Du hattest Zutritt zu dem Arbeitszimmer? Du hast mehrfach, da du lesen und schreiben kannst, und Russisch verstehst, Papiere auf seinem Schreibtische eingesehen, wie man mir sagt?«

»Ja, Herr!«

»Hast du je dort ein Buch gesehen, in das er die Briefe einschreibt, die er absendet? Ein großes, langes Buch?«

Sie sann einige Augenblicke nach. »Ich glaube mich zu erinnern, – ich sah durch die Glastür, als ich – warten mußte, daß er die Adressen von Briefen hineinschrieb, die auf dem Pult lagen. Es liegt in einem Fach desselben. Auch die Depeschen schreibt er ein, die mit den Telegraphen kommen.«

Der Oberstleutnant sann nach, dann setzte er seine Fragen fort. »Wann mußtest du gewöhnlich zu ihm kommen?«

»Am Morgen, Herr, – der Kapitän pflegt nicht vor 11 Uhr aufzustehen.«

»Nun merke wohl auf, es ist wichtiger, als du meinst. Kannst du das Buch, und wäre es auch nur für eine Stunde, in irgendeiner Weise stehlen?«

»Ich – stehlen? – ich habe noch niemals gestohlen, selbst in meinem größten Elend nicht, und mein Knabe soll es auch nicht.«

»Närrin, – Geheimnisse sind kein Geld! – Ich frage dich, ob es möglich wäre?«

Die junge Frau schauderte. »Möglich wäre es vielleicht, aber dann mußte ich wieder zu ihm gehen und ich will nicht! ich habe es dem Unmenschen schon beim letztenmal gesagt, daß ich auf den elenden Verdienst lieber verzichte, – ich will nicht!«

»Du mußt! – warum weigerst du dich?«

Sie wandte sich ab – und wies auf den Studenten, der mit großem Behagen der schändlichen Unterredung zugehört. »Laßt den da hinausgehen, ich mag vor ihm nicht mehr reden!«

Der Student schlug ein lautes Gelächter auf. »Bist du närrisch, Mama Siwak? Willst du vielleicht die keusche Susanna spielen, mir gegenüber? Geh, geh, Kind, wir wissen's besser! erzähle hübsch weiter und recht ausführlich, ich möchte gern wissen, was der Herr Kapitän besonderes an dir findet!«

»Schuft, – feiger Schuft!« rief die junge Frau mit blitzenden Augen nach dem Messer greifend, das auf dem Tisch lag. »Du weißt doch am wenigsten von mir zu erzählen! Wenn ich meinen Leib verkauft habe für Polen, so will ich doch meine Seele nicht verkaufen, und nicht dafür zum Spott eines Elenden werden, der sicher noch einmal uns alle an den Galgen bringt!«

Der Student war etwas blaß geworden bei der Anschuldigung. »Unsere Freunde kennen mich und wissen, was sie von mir zu halten haben. Nimm dich in acht, daß ich dir's nicht eintränke!«

»Ruhig, – keinen Streit unter denen, die alle der Befreiung Polens dienen. Auch das schlimmste Mittel wird heilig und rein durch den Zweck. Du mußt den Versuch machen, wie sehr dir's auch widersteht.«

Die Pförtnerin schlug sich ins Mittel. Komm' hinaus, Frau, mir kannst du schon vertrauen, was du den Männern nicht zum besten geben willst. Es wird so schlimm nicht sein, – in den Klöstern lernt man Ärgeres. Meint Ihr nicht auch, Pater?«

»Schweig, Verruchte!«

Die Laienschwester führte die Frau in die Küche, kam aber bald wieder mit Gelächter herein, die glühend Errötende hinter sich dreinziehend. »Dacht ich's doch – der Kerl ist ein Vieh oder ein Narr, da brauchst du dir wenig Gewissen drum zu machen, und hier der Pater Hilarius absolviert dich dreimal, wenn das eine Mal zu fadenscheinig ist! – Sie wird gehen, Oberstchen, ich bürge dir dafür! Du mußt sie nur gut instruieren.«

»Das soll geschehen!« Und es geschah. Wo ein Pfaffe, ein altes, durchgesottenes Weib und ein Mann, der für seinen fanatischen Zweck bereit ist, jedes göttliche und menschliche Gesetz mit Füßen zu treten, zusammen beraten, da muß eine gute Satansfrucht herauskommen.

Die Tochter des rauhen, aber ehrlichen Waldwärters, die Wäscherin Siwak sträubte sich nicht länger – sie versprach, zu gehorchen. Nur als der Student riet, sie solle den Knaben Janko, wie schon öfter in die russischen Häuser, in denen sie verkehrte, mitnehmen, damit er – in seiner Verkleidung als Mädchen auf sie wartend – ihr bei der Fortschaffung des Journals behilflich sein könne, – erwachte ihr früherer Widerwille, und sie erklärte entschlossen, nie solle ihr der Knabe in jene Wohnung folgen. »Ist es nicht genug, daß er mich gefragt, ob ich keine Tochter, kein junges, unschuldiges Kind habe? Niemals, niemals, oder meine Seele möge verdammt sein!«

Der Aufschrei der Mutterangst rührte selbst diese Herzen, – man entwarf einen andern Plan.

Von der Tür her erklang das Zeichen um Einlaß, das nur die Vertrautesten kannten.

Die Frau ging zu öffnen, – mit dem Okuliarnik kehrten der Waldwärter und sein Enkel zurück.

»Ein merkwürdig Schauspiel,« sagte lachend der Okuliarnik, »sie streichen aneinander vorüber, wie die Hunde und die Wölfe, die einander die Zähne fletschen und an die Gurgel springen möchten, es weiß nur keiner, ob er anfangen soll. Hui, – einen tüchtigen Brand dazwischen, wie der Stenko da an der Grenze ihn warf, als wir mit den feinen Kavalieren konversierten, und der Teufel ist los!«

»Was ist entschieden worden?« fragte der Oberstleutnant kurz.

»Warum wart Ihr nicht selbst da, es wäre doch ein entschlossen Wort mehr gewesen!«

»Sie wissen, Bruder, daß ich noch nicht zu dem Ausschuß gehöre.«

»Noch nicht! aber es wird kommen. Was trieb Sie hierher aus Litauen, Oberst, als die Witterung. Lassen Sie sich die Lust vergehen, Sie sind ein schlechter Spürhund, Oberst! es soll kein Blut fließen, außer polnisches! höchstens ein Loch in einem Tatarenschädel von einem Steinwurf. Es ist alles Dreck, – die Weißen haben wieder gesiegt! Große Prozession um die Mittagstunde aus der Karmeliterkirche, die Leszno herab über die Szmaterscka nach Praga. Diesmal soll die Geistlichkeit mit heran. – Aber wer ist das Weib da?« Er wies auf die Pförtnerin.

Der Pater und der Oberstleutnant hatten bei der Mitteilung des Okuliarnik einen raschen Blick getauscht, sie schienen beide denselben Gedanken gehabt zu haben. »Ich bürge für sie,« sagte der Mönch. »Wir sprechen nachher weiter über sie, – es betrifft den Oginski!«

»Den Lauen, den Verräter! Hol' ihn der Teufel, ich hatte schon Lust, seine Anwesenheit anonym der Polizei zu denunzieren.«

»Das wird kaum nötig sein,« meinte der Student höhnisch. »Wie der Pater erzählt, steht er in Verbindung und unterm Schutz derselben.«

»Das hätt' ich mir denken können, sonst würde er nicht diesen gefährlichen Hund, den Droszdowicz, damals der gerechten Strafe entzogen haben. Tod dem Verräter!«

Der Knabe Janko machte eine Bewegung, als wollte er vorspringen, aber er schien sich eines anderen zu besinnen und schlich sich geräuschlos in die Küche zu seiner Mutter, die dort, den Kopf in die Hand gestützt, still weinend saß.

»Was fehlt dir, Matka? Haben sie dich geärgert? Das fremde Weib drinnen hat ein häßliches Gesicht. Was wollen sie mit dem Grafen tun, meinem Grafen? Ist es das? ich weiß, du hast ihn auch lieb, obschon du ihn nicht kennst, weil er den Janko vor den Zähnen des Wolfes bewahrt hat.«

»Schweig', Kind – frage nicht! Es freut mich, daß du ein anhänglich Herz hast. –«

»Eben drum will ich wissen, was sie vorhaben. Paß auf, Mutter, daß sie mich nicht überraschen.«

Er stieg auf den Herd, zog aus der Verbindung desselben mit dem Kachelofen drinnen zwei Steine und steckte den Kopf in das Loch. So konnte er alles hören, was sie redeten.

Der Oberstleutnant hatte das Gespräch über den angeblichen Verräter an der Nationalsache fallen lassen, um von dem Okuliarnik weiteren Bericht über die Pläne der Verschworenen zu verlangen und der Brillen-Ludwig gab ihn jetzt ausführlicher, indem er die Anordnung und den Gang der neuen Prozession beschrieb. Es war diesmal nicht öffentlich dazu aufgefordert, sondern die Nachricht durch das früher erwähnte Zehnmännersystem in der Stadt verbreitet, und das Geheimnis wurde in der Tat so gut bewahrt, daß die Polizei wohl erfuhr, es sei eine neue Demonstration im Werke, aber nichts von dem Wann, Wie und Wo?

»Dann nimmt also die Prozession ihren Weg an dem Bernhardiner-Kloster vorüber?« fragte der Litauer.

»So ist die Absicht!«

»Wenn man an dieser Stelle einen Konflikt mit dem Militär hervorrufen könnte? – Vielleicht ein Eindringen in die Kirche, eine Entweihung des Gotteshauses durch die Soldaten, – das würde das Volk aufreizen.«

»Vortrefflich!«

»Zum Henker –,« sagte der Student, »warum macht man aus dem Begräbnis der beiden Toten von gestern nicht eine Demonstration?«

»Sie sind beide auf Befehl der Polizei schon heute abend in aller Stille begraben worden.«

»Schwerenot, – sterben denn nicht mehr Leute in Warschau? Irgend ein altes Weib oder ein Spittelmann, – es ist alles egal, wenn's nur ein Begräbnis ist!«

Der Oberstleutnant hatte die Idee rasch aufgegriffen. »Das wäre vortrefflich! Ein Begegnen des Leichenzuges mit der Prozession nach Praga, an irgend einer richtigen Stelle die Nachricht verbreitet, daß es die von den Gendarmen Erschlagenen sind. Das dumme Volk glaubt alles!«

Der Pater sann nach. »Wenn mir recht ist, habe ich gehört, daß in der Neuen Welt gestern in einem Hinterhause zwei Personen an Kohlendunst erstickt sind.«

»Da hätten wir ja, was wir brauchen, Pater Hilarius wird dafür sorgen, daß alles auf die Stunde arrangiert wird. Es werden arme Teufel sein, die froh sind, wenn sie die Geistlichen nicht zu bezahlen brauchen, nötigenfalles kann es auf ein Stück Geld nicht ankommen. Wir stellen lebendige Telegraphen auf den beiden Wegen, die die richtige Zeit avertieren, die Jungen sind vortrefflich dazu, das kann der Janko arrangieren. Wo ist der Schelm?«

»Draußen – Küche! Mutter!« sagte der Waldwärter einsilbig.

»Laßt ihn, wo er ist, – der Junge braucht nicht alles zu hören.«

Man besprach nunmehr noch verschiedene Maßregeln. Es fand sich, daß in der Nähe des Bernhardiner-Klosters ein Neubau aus der besseren Jahreszeit liegen geblieben, bei dem es an Steinen nicht mangelte.

»Wen stellen wir an die Spitze der Prozession? Sie darf nicht im ersten Teil des Weges verhindert werden und doch muß etwas dabei sein, was das Volk packt und rechten Zulauf veranlaßt.«

Wieder hatte der Student einen Ausweg, – er deutete auf den alten, stumpfsinnigen Soldaten.

»Wie wär's mit dem Lagienki hier? – Halb Warschau kennt ihn. Ein Mann aus der Zeit von Koscziusko an der Spitze der Prozession nach Grochow – das könnte packen. Er ist ohnehin zu nichts mehr gut!«

»Aber es wäre vielleicht unvorsichtig,« bemerkte der Pater. »Seine Wohnung ist leicht zu ermitteln, die Polizei kennt sie gewiß ohnehin, und das könnte zu Nachfragen und Visitationen führen, die Ihnen einen bisher sichern Zufluchtsort versperrten. Herr Asnik und Stenko könnten unmöglich dann hier bleiben.«

Der Student verschwor sich mit einem lästerlichen Fluch, er sei dieses Verstecks bei einem alten Verrückten, einem unwirschen Weibe und einem naseweisen Jungen längst müde und wolle es anderswo versuchen. Auch der alte Stenko werde leicht für kurze Zeit ein anderes Unterkommen finden. Sie könnten ja sagen, die Nachbarn oder das Volk hätten mit Gewalt den greisen Lagienki herausgeholt. Die Polizei werde sich bald beruhigen, da sie hoffentlich andere Dinge zu tun habe. Frau Siwak werde Schutz genug finden und dann – wenn man noch nicht offen auftreten könne, – werde die Wohnung desto sicherer sein.

Es gehörten Männer, die vor nichts zurückschreckten, dazu, den gespensterhaften Eindruck zu überwinden, als sie durch den Tabaksqualm immer und immer wieder auf den Greis sehen mußten, über dessen Leben und Tod sie eben verhandelten und der dazu mit matten, glanzlosen Augen starr durch die Dampfringel vor sich hinblickte, als ginge ihn die ganze Verhandlung nichts an.

»Ihr mögt jetzt einen Augenblick in die Küche gehen, Stenko, und Eure Tochter hereinschicken,« empfahl der Pater, »wir haben mit ihr noch zu reden; haltet den Jungen draußen, er braucht es nicht zu wissen.«

Der Waidmann war an Gehorsam gewöhnt, er ging nach der Küche und schickte die Frau hinein, die widerwillig gehorchte. In Gegenwart des Großvaters durfte der Knabe natürlich nicht horchen und mußte seinen Lauscherposten verlassen.

In der Stube wurden nun die verschiedenen Pläne nochmals verhandelt und die Frau, trotz ihrer Bitten, sie zu verschonen, angewiesen, sich am andern Vormittag in den Gouvernementspalast zu dem Adjutanten des Generals zu begeben, um dort zu versuchen, sich des Journals zu bemächtigen. Sie sollte es in ihrem Wäschekorb aus dem Palais schmuggeln und in ein bestimmtes Haus an der Dluga bringen, wo der Oberstleutnant sie erwarten wollte. Nach dem Gebrauch – wenn das überhaupt dann noch nötig sei, – könne sie ja unter irgendeinem Vorwand sich wieder Eintritt zu verschaffen suchen und das Buch in der Wohnung des Offiziers an einen Ort bringen, als habe er es selbst verlegt gehabt.

Von den Nachrichten, die der Oberstleutnant daraus ersehen wollte, sollte es abhängen, ob ein Konflikt mit der Polizei und den Truppen als Versuch der wirklichen bewaffneten Erhebung gewagt werden könne oder nicht. Ein Signal war leicht verabredet; der Okuliarnik übernahm es, den ersten Ausbruch an der Bernhardiner-Kirche zu leiten.

»Und der Oginski?«

Veronica war es, welche zuerst wieder den Namen nannte.

Der Pater unterrichtete den Brillen-Ludwig jetzt von dem, was er in der Kirche gesehen, und ohne weiter zu prüfen, stimmte der blutdürstige Mensch dafür, daß man eine mindest so zweifelhafte und in vieles eingeweihte Person sich vom Halse schaffen müsse.

Zur Ausführung des Planes, den Grafen zu vernichten, als sei er im Tumult von der Hand der Russen gefallen, war nur eines nötig: – ihn in den beschlossenen Konflikt zu verwickeln. Dann ließ sich's leicht aus der Mitte der Verschworenen selbst tun.

Der Pater Hilarius wußte hier Rat. Unter den jungen Leuten, die gestern den Zug aus der Paulinerkirche mitgemacht und mit den Gendarmen auf dem Altmarkt in Konflikt gekommen waren, befand sich auch der Neffe der Äbtissin, der junge Peter Wysocki. Er war leicht verwundet und von seinen Kameraden in das Bernhardinerkloster vor den Patrouillen geflüchtet worden. Dort befand er sich noch, und Veronica konnte leicht veranlassen, daß die Äbtissin unter dem Vorwand, dem Gottesdienst in der Bernhardinerkirche beizuwohnen, ihn am Vormittag besuchte.

Was war natürlicher, als daß sie die Marowska mit sich nahm und der Graf sie ins Kloster begleitete, in dem er vor fünf Monaten ja selbst hilfreiche und versteckte Aufnahme gefunden hatte.

Das andere mußten dann die Umstände ergeben.

Die Mutter Jankos war während der Verhandlung im Zimmer geblieben, da man sie nicht wieder hinausgehen geheißen. Sie hatte sich um den Greis zu tun gemacht, der von einer ganz ungewöhnlichen Aufregung ergriffen schien, während vor seinen Ohren so oft der Name Oginski genannt wurde.

Er murmelte unverständliche Worte, verlangte, daß man ihm einen alten Tornister oder Jagdranzen bringe, der fast so alt war, wie er selbst, und den er mit kindischer Sorgfalt und Angst in seinem Bett verwahrte, ein Andenken an seine früheren Feldzüge, und beruhigte sich erst, als der Knabe Janko wieder hereingerufen wurde und ihn zu Bett brachte.

Der Student gähnte und streckte seine hageren Glieder, er meinte, es sei Zeit, daß man sich für die Ereignisse des nächsten Tages durch einen tüchtigen Schlaf stärke. Die Sitzung wurde aufgehoben und der Priester entfernte sich mit der Pförtnerin durch den einen Ausgang, während der Okuliarnik seinen Weg durch einen anderen nahm. Der litauische Oberst fand sein Nachtlager in einer nicht leicht bemerkbaren Kammer auf dem Boden des Hauses. In seine Wolfsschur gewickelt, die Pistolen im Bereich seiner Hand, brütete der finstere unheimliche Mann über seinen wilden, blutigen Plänen, aber der Traum, der ihn umgaukelte, als der Schlaf endlich seine Fittiche auch über ihn senkte, hatte nichts mit dem Meer von Blut und Mord zu tun, in das seine wachen Gedanken ihn versenkt, sondern führte ihn in die erste Jugendzeit zurück, als die Mutter noch in langen Winterabenden am Kamin saß und spann, oder den blonden Lockenkopf des Knaben an die Brust drückte und ihm bange machte mit der Geschichte von dem grauen Wehrwolf, der mit roter Zunge und feurigen Augen draußen durch die unendlichen Wälder Litauens schweifte.

War er doch selbst jetzt aus diesen Wäldern gekommen, ein grimmer Wolf, der nach dem Blut derer lechzte, die er einst im Kadettenhause, in der Garnison und auf dem Schlachtfeld seine Kameraden genannt!


Es war ein eigentümliches Verhältnis, das sich zwischen den drei Personen, die sich in der Paulinerkirche zusammengefunden, gebildet hatte. Die Äbtissin, so klug und schlau sie alles erwog und ihre Fragen stellte, konnte nicht zur Entscheidung gelangen, ob Graf Oginski sie als die Beichtende wiedererkannt habe, die ihm im Glauben, den Pater Hilarius vor sich zu haben, so schreckliche Dinge anvertraut hatte. Der Graf verhielt sich mit kalter, ruhiger Höflichkeit gegen sie, und keine Silbe in seiner Unterhaltung deutete auf die Szene im Beichtstuhl. In eben der Weise hatte er ihren Anspruch auf die Verwandtschaft mit seiner Familie aufgenommen und hütete sich selbst, über die revolutionäre Frage, seine Mission seitens des Pariser Zentralkomitees und seine etwaigen Verbindungen in Warschau mehr als durch den Zusammenhang mit der heroischen Tat des Fräulein von Marowska hervorgerufen wurde, zu sprechen.

Daß diese allein es war, die ihn zu weiterem Verkehr mit der Äbtissin veranlaßte, war leicht ersichtlich und geschickt verstand die schlaue Frau, daraus für ihre Absichten Vorteil zu ziehen.

Hilflos, jedes anderen Unterkommens entbehrend, hatte die junge Dame dankbar das Anerbieten der Klosterfrau angenommen. Daß der Graf bei jener Gefährdung sich öffentlich als ihren Verlobten erklärt, hatte zwar einen tiefen Eindruck auf sie gemacht, und ihrem Wesen gleichsam eine neue Spannkraft verliehen; indes war sie, – obschon damit wahrscheinlich der verborgenste Traum ihres Herzens in Erfüllung ging – doch zu edel und selbstlos, um – als er später in Gegenwart der Äbtissin diese Erklärung wiederholte und offen und männlich um ihre Einwilligung bat, – nicht ebenso bestimmt ihn abzuweisen, indem sie seine Werbung als einen Akt bloßer Dankbarkeit, die ihm eine Last für das Leben aufbürden müsse, indem sie ihn unauflöslich an eine Verkrüppelte binden würde.

Vergebens beteuerte Graf Hypolit, daß jene heroische Aufopferung ihr nicht bloß seine Dankbarkeit, sondern in der Tat auch sein ganzes Herz gewonnen habe, daß dieses bis dahin frei gewesen sei, von dem Augenblicke an aber, wo er von ihrer edlen Handlung gehört, sich so lebhaft mit ihrem Bilde beschäftigt habe, bis er gefühlt, daß er sie liebe und in ihr das Ideal seines Herzens gefunden habe. Schmerzlich lächelnd sah die polnische Jungfrau bei dieser Bezeichnung auf ihren verstümmelten Arm nieder, eine fliegende Röte des Glücks färbte ihre hageren Wangen, – aber sie blieb fest bei ihrer Resignation, und selbst die schlauesten Vorstellungen ihrer neuen Beschützerin vermochten sie nicht, dem geliebten Mann eine günstigere Antwort zu geben.

Selbst seinen Vorschlag, sie den hiesigen Verhältnissen zu entziehen und im Ausland für ihr Unterkommen in einer passenden Familie zu sorgen, – ein Vorschlag, der keineswegs den Beifall der Äbtissin fand, da er das schutzlose Mädchen ihrem Einfluß entzogen hätte, – wies sie entschlossen zurück und erklärte, schon in den nächsten Tagen wieder eine Kondition suchen, am liebsten aber in das große, städtische Krankenhaus zurückkehren zu wollen, um sich dort als Krankenpflegerin auszubilden.

»Ich sehe die Zeit nahe,« sagte sie mit Begeisterung, »wo wir Frauen die heilige Pflicht zu üben haben, die Wunden der Kämpfer für die Wiedergeburt Polens, für die Freiheit unseres Vaterlandes zu pflegen und zu heilen, an der Seite der Blutenden zu stehen und ihren Mut zu stärken oder den Scheidenden den Trost in das Grab mitzugeben. Es ist vielleicht das Beste so, wenn ich auch früher hoffte, in der Stunde, da es gilt, wie die Heldenfrauen unseres Volkes, wie Cäcilie von Platen den Säbel in der Hand mich auf die Feinde werfen zu dürfen; – der Weg, den ich gehen muß, ist jetzt ein anderer und der Wille der Heiligen geschehe!«

Das Auge der Schwärmerin leuchtete, fast mit Andacht sah Graf Hypolit auf die Begeisterte. –

Die Abendversammlung des landwirtschaftlichen Vereins war überaus erregt gewesen, es waren wohl 2000 Mitglieder anwesend, und die Reden, die gehalten wurden, ließen auf die kommenden Ereignisse schließen. Man erfuhr später, die Regierung freilich zuletzt, daß in dieser Versammlung und in der kaufmännischen Ressource bereits die berüchtigte Adresse an den Kaiser vorbereitet wurde. Trotz der nachgiebigen Zusicherung des Fürsten an die Deputation der Adelsmarschälle, welche die Freigebung der Arretierten verlangt hatte, daß die Verhafteten nur eine polizeiliche Strafe erleiden würden und ihr Vergehen nicht als ein politisches betrachtet werden sollte, – wollte man sich nicht damit beruhigen, und es wurde eine neue Deputation an den Statthalter aus Mitgliedern des landwirtschaftlichen Vereins für den 27. beschlossen.

So kam der Mittwoch, der zur Herbeiführung eines ernsthafteren Konflikts bestimmte Tag.

Wir wissen bereits, zu welchem schmachvollen Auftrag die Tochter des Waldwärters gezwungen worden war, und in der Tat hatte sich die arme, von den Drohungen der Wortführer und ihres Beichtvaters eingeschüchterte Frau auf den Weg gemacht, nachdem es ihr zuvor gelungen war, ihrem Knaben einige Warnungen in bezug auf das gegen seinen Beschützer beabsichtigte Attentat zu geben.

Janko versuchte, den Grafen in seinem Hotel aufzusuchen, aber der Portier jagte den als russigen, schmutzigen Kohlenjungen aufs beste verkleideten Burschen aus dem Hausflur. Der Knabe beschloß, sich auf sich selbst zu verlassen und nahm gegen 11 Uhr seinen Posten in der Nähe der Bernhardinerkirche ein.

Einen genauen Beobachter hätte es auffallen müssen, daß eine große Anzahl von Kindern, Knaben und Mädchen, die ganze Krakauer Straße entlang, bis zur Neuen Welt, und ebenso nach der anderen Seite am Theaterplatz entlang zur Lesznostraße in geringen Zwischenräumen postiert war und in fortwährendem Verkehr blieb. Die Krakauerstraße bis zum Berhardinerkloster war mit zahlreichen Posten von Infanterie besetzt und die Patrouillen der Kosaken suchten die Menschenhaufen in Gang zu halten.

Dem Gottesdienst in der Karmeliterkirche der Lesznostraße zu Ehren der beiden am 25. Gefallenen war von der Polizei kein Hindernis in den Weg gelegt worden. Schon um 11 Uhr war die Kirche so gefüllt, daß niemand mehr sich eindrängen konnte und viele Hunderte lagen vor dem Kirchenportal auf den Knien und sperrten die Straße.

Es war mittags 12 Uhr, als plötzlich diese Menschenmasse in Fluß kam.

Aus dem Portal der Kirche entwickelte sich eine neue Prozession; drei Geistliche eröffneten sie, schwarz umflorte Kreuze tragend, hinter ihnen Männer und Frauen in dichte Reihen geschart. Die Spitze hatte kaum das Kirchentor passiert, als von dem nächsten Eckstein ein Knabe sprang und sich Bahn brach durch die Menge, nach dem Theaterplatz zu. In Entfernung von zweihundert Schritten löste ihn ein dort postierter ab.

Langsam, unter dem Absingen eines Chorals nahm der Zug seinen Weg die Lesznostraße herab, gleich einer Lawine sich vergrößernd mit jedem Schritt vorwärts.

In der Neuen Welt hielt vor einem großen Hause ein Leichenkondukt; zwei Särge wurden herausgetragen – man wußte nicht, welche Hand es getan, aber bevor sie noch auf den Leichenwagen gehoben wurden, lagen Lorbeerkränze mit weiß und roten Bändern, und Dornenkronen auf dem Sargdeckel.

»Die Opfer vom Montag! Die Erschlagenen auf dem Alten Markt!« – Der Ruf ging wie ein Lauffeuer durch die auf der Straße umher wogende Menschenmasse. Die Weiber weinten und schluchzten, die Männer drängten sich um die Särge, sie zu berühren, nahmen sie von dem Wagen und hoben sie auf ihre Schultern.

Als der erste Zug aus der Karmeliterkirche die Senatorska erreicht hatte, entstand ein kurzer Halt – die umdrängende Menge öffnete sich, und zwei junge Akademiker führten eine Gestalt heran, die anfangs mit Staunen, dann aber mit dem stürmischen Ruf » Zgie Polska!« und dem Anstimmen des Nationalliedes:

» Jescze Polska nie zginela«

begrüßt wurde.

Es war der fast neunzigjährige Krieger aus der Zeit Koscziuskos, der Pensionär der Wäscherin Siwak, der Veteran Lagienki.

Der alte Mann schien willenlos alles mich sich machen zu lassen, seine Augen starrten glanzlos auf die Menge. Man hatte ihm eine alte Uniform der Krakusen angelegt und die bekannte viereckige Mütze auf das graue fast kahle Haupt gedrückt, über das die lange blutrote Narbe weglief.

Die beiden jungen Männer, die den Greis mehr trugen, als führten, traten hinter den drei Geistlichen an die Spitze des Zuges, und hundert Hände streckten sich aus, sie zu unterstützen.

Langsam bewegte die Menge sich vorwärts – näher und näher dem verhängnisvollen Ort, der zum Zusammenstoß der beiden Züge ausersehen war. – Noch hatte man ihn nicht erreicht, als durch die Teilnehmer des Zuges das Gerücht lief: »Die Särge! die Särge kommen! Die Gemordeten von ehegestern!«

Der kleine Kosakenoberst, der selbst auf der Krakowiecka auf und nieder ritt, hielt bei General Sabolotzki, der das Kommando der Truppen führte.

»Ist sich nichtswürdigster Pöbel, General! Wollen nicht Platz machen mit Gewalt. Kommt großer Zug von die Senatorska her, Straßen ganz schwarz von die Menschenköpfe. Sind sich die Pfaffen voran, toujours à la tête, tragen große Kreuz und singen. Kommen Zug von die andere Seit, wollen begraben zwei Personen, sagen, daß sie erschlagen haben die Gendarmen.«

»Haben Sie Oberst Trepoff gesehen?«

»Ist sich aufgestellt an die Bernhardinerkloster! Ganze Popenschaft die, hätte große Lust gehabt, sie jagen zu lassen von Kosaken meinigten mit die Kantschuh in die Kirch, wo gehören sie hin! Lassen Oberst Trepoff bitten, zu verhindern, daß Leichenzug kommen zusammen mit die Prozession.«

»Das ist offenbar der ganze Zweck der Schufte! – Major Horetzki, lassen Sie die Straße sperren und die Führer des Leichenkondukts bedeuten, daß er nicht passieren kann.«

Der kleine Oberst salutierte. »Will ich tun das meinigte. Hab ich die Ehre zu sagen.

Er sprengte zur Kirche zurück. Das Pfeifen und Gröhlen des an den Häuserreihen entlang postierenden Pöbels folgte ihm.

An der Bernhardinerkirche war es bereits zum Handgemenge gekommen. Der Oberpolizeimeister von Trepoff hatte sich auch hier dem Zuge entgegengestellt, und Zurückgehen und Auflösung der Volksmenge verlangt. Als man dies verweigert, hatte er durch die Polizei die Spitzen des Zuges zurückdrängen lassen. Aber die Menge flutete wie ein brausendes Meer gegen die Polizeidiener heran und jagte sie vor sich her wie Spreu, obschon die Polizei bereits von ihren Kurzsäbeln Gebrauch machte.

Ein Steinwurf traf den Oberpolizeimeister schwer an der Schulter, daß er sich zurückführen lassen mußte.

In diesem Augenblick kam ein Detachement von 40 oder 50 Kosaken, geführt von dem Adjutanten des Fürsten Leutnant Mustapha, herangesprengt, der Oberst selbst folgte langsam, die Zigarre rauchend. Die wilden Söhne des Kaukasus holten ihre kleinen Kantschuhs hinterm Sattel hervor und begannen auf die Spitze des Zuges, zunächst auf die drei Geistlichen mit den Kreuzen einzuschlagen. Die Geistlichen setzten sich zur Wehr und verteidigten sich mit den schweren Kruzifixen. Die Teilnehmer der Prozession und das Volk, das sie umgab, griffen nach den Steinen, die von einem Hausbau dort lagerten, brachen das Pflaster auf und begannen ein schweres Steinbombardement gegen das Militär, das zurückgedrängt wurde.

Wir müssen einige Augenblicke inmitten dieser tumultuarischen Szenen zu den Personen zurückkehren, die wir in dem Hotel d'Angleterre verlassen haben.

Schon in den ersten Morgenstunden war von Dienstleuten ein Koffer für Fräulein von Marowska abgegeben worden, der Schlüssel eingesiegelt. Das Kuvert enthielt außer dem Schlüssel nur einen anonymen Zettel mit den Worten:

»Rat eines Freundes an W. M. und H. O.:
Verlassen Sie schleunigst Warschau.«

In dem Koffer befanden sich, allerdings sehr in Unordnung, die wenigen Sachen des jungen Mädchens, die nach ihrer Verhaftung in der kleinen Wohnung, die sie in der Konditorei inne gehabt hatte, saisiert worden waren, aber nichts fehlte, bis auf einen kleinen Revolver, den sie unter ihren Effekten verwahrt gehabt, selbst ihre wenigen Familienpapiere und, gewiß ein unerhörter Fall bei der russischen Polizei! eine kleine Geldsumme, die sie erspart oder aus dem geringen Nachlaß ihrer Mutter erzielt hatte, waren vorhanden.

Die Hand eines wohlwollenden Freundes war unverkennbar, und es gehört wenig Scharfsinn dazu, ihn zu erraten. Als sie mit der Äbtissin und dem Grafen davon sprach, erzählte ihr der letztere, in welcher Weise er bei jenen Vorgängen an der Grenze zu der Sicherheitskarte gekommen war, und ein Vergleich der Schrift mit dem Inhalt des Zettels ergab, daß beide von derselben Hand geschrieben waren.

Die Klosterfrau bemerkte, die Augen gen Himmel schlagend: »Ein neuer Beweis für die Macht der Heiligen, daß sie Gewalt haben auch über die Schlimmsten und Verstocktesten, damit ihre Herzen milde werden und zugänglich dem Gebet der Gerechten. Es ist in dieser bösen Zeit gut, Freunde auf beiden Seiten zu haben und nun, da unsere liebe Wanda in Stand gesetzt ist, jenes traurige Gewand, das Zeichen ihrer überstandenen Leiden, mit einer anderen Kleidung zu vertauschen, wird sie es sich nicht länger versagen, mich auf einem Wege der Barmherzigkeit zu begleiten und den verwundeten Knaben zu besuchen, der uns ohnehin beiden näher steht durch die Bande des Blutes. Wir können damit die Pflicht verbinden, am Altar des Herrn nochmals unsern Dank niederzulegen für die Wendung der Dinge und unser Gebet für den Sieg Polens und der heiligen Kirche; unsere Wanda aber wird da gleich die erste Gelegenheit haben, das neue Amt anzutreten, zu dem sie sich bestimmt hat, – es sei denn etwa, sie zöge es vor, dem Befehl jenes Dieners der Unterdrückung nachzukommen und Warschau in der Stunde der Gefahr zu verlassen.«

»Niemals! Mein Herz, meine Kräfte gehören dem Vaterland!«

»So lassen Sie uns denn unsere Anstalten zu dem kleinen Gange treffen. Ich hoffe bestimmt, Herr Graf, daß Sie uns ihre Begleitung und Ihren Schutz dabei gewähren werden.«

Der junge Mann verbeugte sich. »Ich werde die Ehre haben, obschon ich den Entschluß des Fräuleins nur bedauern kann.«

»Dann beeilen Sie sich etwas, Herr Graf, wir werden sogleich bereit sein. Ich rate Ihnen, obschon ich ja eine Frau des Friedens und der Versöhnung bin, nicht unbewaffnet zu gehen, da mir die Straßen heute etwas unsicher erscheinen.«

»Sie vergessen, hochwürdigste Frau, was ich vorhin erwähnte, daß ich mich Herrn Droszdowicz mit meinem Ehrenwort verpflichtet habe, innerhalb dieser drei Monate an keiner politischen Agitation oder Demonstration teil zu nehmen. Nur unter dieser Bedingung wurde mir jenes Mittel gewährt, in Warschau zu verweilen, um eine heilige Pflicht der Dankbarkeit zu erfüllen.«

Ein Strahl der Liebe aus den Augen des Mädchens folgte dem jungen Mann, als er den Salon verließ.

Eine Viertelstunde später waren die vier Personen – die Pförtnerin Veronika begleitete ihre Herrin – auf dem Weg nach der Bernhardinerkirche, die sie ungefährdet und ungehindert von dem bereits patrouillierenden Militär erreichten, und wo Pater Hilarius sie in Empfang nahm.

Ein Blick auf die Äbtissin enthielt die Frage – sie nickte stumm ihm die Bestätigung.

Das erste Urteil der roten Vehme in dieser furchtbaren Tragödie, die man die letzte »polnische Revolution« nennt, war gefällt!


Das Zurückdrängen der Kosaken hatte diese natürlich sehr erbittert und indem sie ihre Flinten vom Rücken nahmen, schossen sie, um das Volk zu erschrecken, auf den Befehl ihrer Offiziere mehrere Salven über die Köpfe hinweg, ohne jemanden zu verwunden, und machten dann eine neue Attacke mit dem Kantschuh auf die Menge, die sie bis zur Bernhardinerkirche zurücktrieben.

Hier kam es zu einem ernstlichen Handgemenge. In diesem Augenblick wurden von innen die Pforten der Kirche weit aufgetan und man sah durch das Schiff bis zum Hochaltar, auf dem die Kerzen brannten, während der Priester mit den dienenden Brüdern vor demselben das Hochamt zelebrierte.

Die drei Geistlichen, die dem Zuge voran die Kreuze getragen und die beiden Akademiker mit dem Greise drängten und wurden zum Eingang der Kirche gedrängt, um hier Schutz zu suchen.

Der kleine Oberst hielt unfern der Stelle, er schaute mit echt orientalischem Gleichmut der wilden Szene zu.

Hinter ihm hielten zwei Ordonnanzen, kräftige Tscherkessengestalten, beide zu den Muselmännern des Korps gehörig.

Plötzlich, – soeben hatte einer der Priester mit dem schweren Kreuz einen der Kosaken vom Pferde geschlagen, wandte sich der Fürst zu den Ordonnanzen und wies mit der Zigarre nach der Szene.

»Hinein! holt sich mir den Kerl mit die weiße Kutte, der den Olis Georgewitsch vom Pferde geschlagen. Paschol!«

Die beiden Tscherkessen spornten ihre Pferde ohne jede Rücksicht in das Menschengewühl und mitten hinein in die Menge, alles, was nicht wich oder weichen konnte, zu Boden werfend, und drangen so mit kräftigen Peitschenhieben in das Kirchenportal, ja – als der Priester, den sie zu ergreifen beauftragt waren, in die Kirche und auf die Stufen eines der Seitenaltäre flüchtete, bis zu diesem vor, schlugen auf ihn los, die heiligen Geräte dabei zu Boden werfend und rissen den sich Festklammernden vom Altar.

Der Wutschrei, der bei diesem Sakrilegium aus der in der Kirche und vor derselben gedrängten Menge sich erhob, war wahrhaft furchtbar. Nur mit Preisgebung ihres Gefangenen und Anwendung aller Kräfte gelang es den Kosaken, ihre Gefährten wieder zu erreichen. Ein förmlicher Hagel von Mauer- und Pflastersteinen stürzte auf die Reiter nieder.

In diesem Augenblick, wo die Wut des Volkes auf das Höchste gestiegen war, erschien in dem Portal der Kirche die hohe Gestalt des Pater Hilarius mit flammendem Angesicht, ein Kruzifix in der Rechten schwingend, und sprang auf einen der Ecksteine, so daß er über die kämpfende Menge hinwegragte.

»Polnische Brüder! Eure Heiligtümer sind entweiht, eure Altäre geschändet! Nieder mit den Unterdrückern des Volkes, herein zu uns – öffnet die Grüfte, holt von den Toten zur Bekämpfung der Tyrannen die Wa…«

Eine kräftige Hand riß den Mönch herunter von dem Stein. »Wahnsinniger – wir sind verloren, wenn sie's erfahren! Keine bewaffnete Hand – nur das Märtyrerblut kann uns nützen!«

Es war die Hand des Oberstleutnant, die den Priester herabriß und in die Kirche zurückdrängte. »Laß sie's verspritzen, wir haben noch genug davon! – Ich habe das Orderbuch gelesen,« flüsterte er dem sich Sträubenden zu, – »zwei Regimenter sind von Modlin beordert und rücken noch diese Nacht ein – die Kanoniere der Zitadelle stehen zum Bombardement der Stadt bereit – Warschau ist ein Schutthaufen, wenn wir jetzt losschlagen!«

Rrrtamtamtam! Rrrtamtamtam! – rasselten die Trommeln von der Krakowiecka her; – während eine Abteilung Infanterie die Straße gesperrt hielt gegen den Leichenzug, hatte eine zweite Kehrt gemacht und kam im Sturmschritt heran zur Unterstützung der zurückgeschlagenen Kosaken.

Eine Salve von Steinen begrüßte die Truppen.

Zweimal noch wirbelten die Trommeln, zweimal antwortete der Steinhagel der Aufforderung zur Räumung der Straße.

Der General Sabolotzki hielt hinter den Truppen, mit finsterm Blick auf das Gewühl niedersehend – jetzt traf ein schwerer Steinwurf den Adjutanten, der zwei Schritt hinter ihm zur Linken hielt.

»Sie wollen es nicht anders – und wenn's mich Sibirien kostet, – es muß sein!«

Der General hob den Degen, – als hätten die Offiziere nur darauf gewartet, scholl der Befehl: »Erstes Glied fertig zum Feuern!«

Das Hohngelächter der Menge, Pfeifen, Heulen, Geschrei übergellte den Befehl.

»Schlagt an! – Feuer!«

Die Salve schlug in die Masse – Ächzen, Stöhnen! das Jammern der Verwundeten, das wilde Rachegeschrei der Flüchtenden, dazwischen ein rascher vereinzelter Schuß, ohne daß man sah, woher er kam, ob aus dem Volk, ob vom Militär! – Auf dem Pflaster der Straßen lagen Tote und Verwundete, – an die Mauer der Kirche war noch ein junger Mann von hoher schlanker Gestalt gesunken und hielt, um sich aufrecht zu erhalten, die Säule umfaßt, – ein Mädchen in dunklem Mantel war zu ihm geflogen und hielt ihn mit dem rechten Arm umschlungen, ein Blutstrom drang aus der Seite des Mannes und färbte den Boden.

»Hypolit! Hypolit! Barmherzige Jungfrau, nur das nicht! Geliebter meiner Seele, stütze dich auf mich!«

Wenige Schritte davon, auf dem Straßendamm, lag die Gestalt des Greises – das Blut quoll langsam aus einer Wunde in der rechten Brust. Neben ihm lag tot, durch den Kopf geschossen, einer der beiden Akademiker, die ihn geführt hatten, Michael Arcichiwicz mit Namen, wie die späteren Ermittelungen ergaben. An der Seite des Veteranen kniete ein Knabe in schmutzigem Anzug, Hände und Gesicht von Kohlen geschwärzt.

»Vater Lagienki! Vater Lagienki, ermanne dich! Fluch über die verruchten Mörder!«

Der alte Mann hatte die Augen auf das Kind gerichtet, sie waren nicht mehr starr und ausdruckslos, sondern voll Verständnis. »Mein Feldherr ruft mich, Jan! es ist Zeit, daß ich gehe! Ich sterbe für Polen!«

Die Straße war einige Augenblicke fast leer auf der Unglücksstätte, dann eilten die Bewohner der gegenüberliegenden Häuser und die Geistlichen und Diener des Klosters herbei, Hilfe zu leisten; zugleich klang von rechts und links der Ruf: Die Gendarmen! Die Polizei! und alles was Besorgnis hegen mußte, mit ihr in Berührung zu kommen, suchte das Weite.

Unter dem Portal der Kirche standen der Pater Hilarius und die Äbtissin des römischen Klosters – ihre Hand deutete nach dem gefallenen Veteranen. »Laßt ihn hereinschaffen, ehe sie sich seiner bemächtigen! ich muß ihn sprechen, bevor er stirbt! – Dann schließt die Pforten!«

Der Pater selbst half den Körper des Verwundeten in die Kirche tragen, Veronika unterstützte ihn, der Knabe folgte. Aber zugleich, ehe man die Türen schließen konnte, und von einem weichherzigen Klosterbruder unterstützt, führte die Marowska, mit ihrem einzigen Arm sie umschlingend, die blutige Gestalt des geliebten Mannes über die Stufen, obschon die Äbtissin eine Bewegung machte, als wollte sie das verhindern; aber ein gebietender Blick des Mädchens scheuchte sie zurück und hinter ihnen warfen die Laienbrüder die mächtigen Flügel des Portals ins Schloß und verriegelten sie.

Die Reiter rückten jetzt vor und säuberten die Straßen – die Toten wurden vorläufig in dem nahen Karmeliterkloster niedergelegt – die Verwundeten waren meist von ihren Verwandten und Freunden fortgeschafft worden. Auf den Befehl des Fürsten-Statthalter, dem sofort über die Vorgänge Bericht erstattet worden, zog sich die Infanterie zurück und beschränkte sich darauf, die Hauptkreuzungspunkte des Verkehrs zu besetzen. –

Wir haben zu der Einzelszene, die wir zuletzt geschildert, noch einen kurzen Kommentar zu geben.

Die Äbtissin hatte den Besuch bei ihrem ungefährlich verwundeten Neffen so lange ausgedehnt, trotz der Mahnungen ihres Begleiters, bis es zu spät gewesen war, das Kloster zu verlassen und sich durch die Volksmassen und das Militär zu drängen.

Man mußte es der Klosterfrau lassen, daß sie Mut hatte, – sie stand bei dem Andringen der Kosaken im Eingang der Kirche, mit ihren Begleitern von einem der vorspringenden Pfeiler geschützt, und beobachtete mit kaltem berechnendem Blick die tumultuarische Szene, auf die begeistert die ehemalige Konditormamsell, mit finsterer Mißbilligung der Graf sah.

In dem Gedränge, der Klosterpforte gegenüber, konnte man einen Mann bemerken, der die Pelzmütze tief in die Augen gezogen hatte, und in einen gewöhnlichen Schafpelz gekleidet, zu den Leitern und Anhetzern der Menge zu gehören schien, sich aber immer vorsichtig reservierte und die anderen vorschob. Sein Blick fuhr häufig hinüber in die Gruppen an und in der Kirchenpforte und einmal wechselte er Zeichen mit der Pförtnerin, deren robuste Arme häufig unter den Andrängenden Platz machen mußten und die sich stets hinter dem Grafen Oginski oder an seiner Seite hielt.

Auch eine andere Person hielt den Mann mit der Pelzmütze scharf im Auge, es war der kleine Kohlenträger, der am Morgen versucht hatte, sich in das Hotel einzudrängen, um zu dem Grafen zu gelangen. Er versuchte wiederholt sich durch die Menschenmauer zu winden und in die Nähe jenes Mannes zu gelangen, in dem befreundete Augen leicht den Studenten Prot Asnik erkannt hätten, aber vergeblich; denn das Gedränge war zu stark für seine jungen Kräfte und seine Aufmerksamkeit war überdies auch seit dem Erscheinen des alten Veteranen auf dem Platz zum Teil diesem zugewendet.

Es war bei dem zweiten Zurückwerfen der Reiter durch das Volk, als die Aufmerksamkeit der Äbtissin sich durch das Wutgeschrei der Menge auf den Veteranen richtete, der von dem einen der aus der Kirche vertriebenen Reiter einen rohen Schlag über das ehrwürdige Haupt erhalten hatte.

»Ha! – das ist schändlich! Sehen Sie den Greis dort – er blutet! Das ist die Uniform der alten Krakusen! Wer mag er sein?«

»Er diente noch unter dem großen Koscziusko,« sagte die Pförtnerin, »und heißt Lagienki, wie man mir gesagt hat!«

» Lagienki?« die Äbtissin kreischte den Namen laut auf, »Lagienki? – das ist der Mann, den ich suchte, der Reitknecht meines Urgroßvaters!« – Sie wandte sich hastig zu dem Grafen und faßte seinen Arm. »Hinaus Herr, wenn Sie ein Oginski sind! Retten Sie den Mann hierher! Sie retten Ihrer Braut ein Vermögen!«

Sie stieß ihn fast aus dem schützenden Portal.

In diesem Augenblick war es, wo das vorgedrungene Militär die Charge gab.

Die Kugeln schlugen in das Volk!

»Heilige Jungfrau schütze ihn! Zurück Hypolit, zurück!«

Die Äbtissin hielt das hinauseilende Mädchen fest, noch sah dieses durch den Pulverdampf die hohe Gestalt des geliebten Mannes fest stehen und zwei Schritte vortun nach dem zu Boden gestreckten Greise hin.

Da knallte durch den Pulverdampf her ein letzter Schuß, nur schwach – wie ein Pistolen- oder Revolverschuß – aber sie sah den Grafen wanken, mit der Hand nach der Seite fassen – an die nahe Säule des Vorsprungs sich lehnen –

Im nächsten Augenblick war sie an seiner Seite! –


Die Aufregung in der Stadt infolge dieser Ereignisse war unbeschreiblich.

Das Volk wogte in Massen durch die Straßen, man holte die Toten aus dem Karmeliterkloster, man legte sie auf Bahren und Bretter und trug sie so, durch die Straßen.

An den Kirchtürmen, an den Straßenecken stellte man Büchsen und Teller aus zur Sammlung für ein feierliches Begräbnis, für ein Denkmal zu Ehren der Gemordeten.

Diese Aufregung, dieses Durchwogen der Straßen dauerte bis tief in die Nacht, der landwirtschaftliche Verein, die kaufmännische Ressource waren überfüllt und erklärten ihre Sitzungen in Permanenz, bis das »ungeheure Verbrechen« gesühnt sei, bis eine feierliche Beerdigung der Opfer Genugtuung gegeben.

Von dem Balkon des Hotels de l'Europe wurde die Adresse an den Kaiser verlesen, ein »Schmerzensschrei der polnischen Nation,« wie man sie nannte, die angeblich im Palais Zamoiski entworfen sein sollte; in der Ressource ausgelegt, bedeckte sie sich alsbald mit Unterschriften.

Dieser Aufregung gegenüber schien der Fürst-Statthalter in der Tat den Kopf verloren zu haben, obschon man die Sache, wie sie gekommen, doch hatte erwarten können. Deputationen drängten sich auf Deputationen schon am Nachmittag und Abend des 27. zu ihm. Man forderte Einsetzung eines Sicherheitsausschusses mit amtlichen Machtbefugnissen, Zurückziehung des Militärs, Absetzung der mißliebigen Beamten, Stellung des Generals Sabolotzki vor ein Kriegsgericht usw.

Diesem allen setzte der Fürst nur Beruhigungsbitten, und eine laue Proklamation an die Bevölkerung entgegen. Oberst Trepoff wurde unter dem Vorwand seiner Verwundung bereits am 27. seiner Stellung enthoben, Oberst Dumoncal mit seinen Funktionen betraut. Aber auch dieser dünkte den Agitatoren zu gefährlich, und noch um 1 Uhr nachts erschien der Marquis von Paulucci unter den versammelten Volksmassen auf dem Platz vor dem Palais, verkündete, daß der Fürst ihn zum Chef der Polizei ernannt habe, und fragte – – ob man ihn dazu haben wolle?

Ein stürmisches Ja! antwortete ihm, – man konnte sich vorläufig kein nachsichtigeres Regiment wünschen!

Acht Personen waren auf dem Platz tot gefunden worden, darunter die Gutsbesitzer Marcel Kurczewski und Zdistow Kutkowski, der Arbeiter Karl Brendel aus den Eisenwerkstätten, der Schüler Arcichiewicz.

Am andern Tage wurde die Adresse an den Kaiser durch eine Deputation, an deren Spitze man den Erzbischof sich zu stellen genötigt hatte, dem Statthalter übergeben. Sie war in französischer Sprache abgefaßt, und forderte in unverblümter Weise Selbstständigkeit der polnischen Nationalität und erklärte, daß das Volk mit allen bisherigen Regierungseinrichtungen unzufrieden sei.

Der Statthalter versprach sofort wegen Annahme dieser Adresse nach Petersburg telegraphieren zu wollen. Auf den Bericht über den Konflikt zwischen Truppen und Volk kam die telegraphische Anfrage: »Wieviel Tote das Militär? Wie viel Personen mit den Waffen in der Hand gefangen genommen?« und als die Antwort lautete: »Keine!« die Erwiderung: Dann begriffe man die Sache nicht! Der Staatsrat Karnicki solle sofort nach Petersburg gesandt werden, um mündlich zu berichten.

Der Sprecher der städtischen Deputation, der die Stellung des General Sabolotzki vor das Kriegsgericht »wegen Ermordung friedlicher Untertanen,« die Freigebung der Gefangenen und die Absetzung der mißliebigen Beamten gefordert, der Kaufmannsälteste Xaver Schlenker hatte seine Anrede mit den Worten begonnen: »Hoheit! Im Namen der Stadt habe ich die peinliche Pflicht, Ihnen zu sagen, daß wir schlecht regiert sind, daß diejenigen, die an der Spitze der städtischen Behörden stehen, unser Vertrauen nicht besitzen, und daß sie durch andere ersetzt werden sollten!«

Dies alles, dies fortwährende systematische Andrängen von Deputationen, die Niederlegung ihrer Ämter seitens vieler vornehmer Polen, scheint den greisen Statthalter so verwirrt und angegriffen zu haben, daß er, alle Energie seines früher so zähen Charakters verlor und ohne weiteres alles versprach, was man forderte.

Der sofort zusammentretende Sicherheitsausschuß bestand aus den Patres Wyszynski und Stecki, dem General der früheren polnischen Armee Lewinski, dem Kaufmannsältesten Schlenker, den Bankier Kronenberg und Rosen, den Chefredakteuren der beiden bedeutendsten Zeitungen Krasjewski und König, dem Künstler Bayer, dem Dr. Chalubinski und einigen Bürgern.

Der einzige unter den russischen Spitzen, der den Kopf nicht verloren und die alte Energie bewahrt hatte, war der Generalkriegsgouverneur Generaladjutant Paniutin, dessen Proklamation »Trotz der Warnung vom 26. richteten sich die Einwohner nicht nach den Anordnungen der Polizei. Am 27. gingen die Massen auf ihre Aufforderung nicht auseinander. Ein Kosackenposten auf der Krakauer Vorstadt wurde mit Steinen geworfen und eine Infanterie-Patrouille vor dem Malczschen Hause war beim Zurückweisen heftiger Würfe genötigt, sich durch einige Schüsse den Weg zu bahnen. Im Auftrage der höheren Behörde werden die Einwohner daher wiederholt darauf aufmerksam gemacht, daß alle Versammlungen auf den Straßen streng verboten sind und der ersten Aufforderung der Polizei zu gehorchen ist, widrigenfalls man sich der ganzen Strenge des Gesetzes aussetzt und traurige Folgen sich selbst zuzuschreiben hat.« den Belagerungszustand androhte.

Das erste, was der Sicherheitsausschuß tat, war die feierliche Beerdigung der Gefallenen auf Sonnabend, den 29. März anzusetzen, und jede Einmischung der gesetzlichen Behörden dabei zu verbitten. Selbst der neue Oberpolizeimeister Marquis Paulucci, der sich an die Spitze des Zuges stellen wollte, wurde zurückgewiesen. Die halbe Stadt bildete den Trauerzug. Die Zünfte waren überaus zahlreich vertreten, ebenso die Geistlichkeit. Die Kruzifixe waren in Flor gehüllt, auf den Särgen die sämtliche den über eine halbe Stunde langen Weg von der Jugend auf den Schultern getragen wurden, lagen Palmenzweige und Dornenkränze. Alle Läden waren geschlossen, kein Amt, keine Behörde, kein Vergnügungslokal war geöffnet – ganz Warschau war in Trauerkleidern. – – – – – – – – – – –

Das Begräbnis war vorüber – wie der Sicherheitsausschuß versprochen, war musterhafte Ordnung dabei gehalten worden, keinerlei Exzeß vorgekommen; die aus jungen Männern, den Schülern und jungen Kaufleuten und Handwerksgehilfen gebildete »Sicherheitswache« hatte in der Tat ihre Aufgabe aufs beste erfüllt.

Das vorausgeplante System der Beschwerden, Vorschläge und Forderungen auf »legalem Wege«, das der Regierung nach und nach jeden Boden, jede Macht entziehen und in die Hände der neukreierten »Sicherheitskommission« legen, das ein ganz neues Verwaltungsnetz über das Land ziehen sollte, auf das man sich bei der künftigen Erhebung verlassen konnte, – trat jetzt immer ausgedehnter ins Leben.

Wir haben es mit jener systematischen Verdächtigung und Anfeindung aller mißliebigen höheren russischen Beamten hier nicht zu tun, die mit der Enthebung des Geheimen Rat Mukhanoff am 23. März begann, die förmliche Verfolgung desselben bei seiner Abreise trotz Geheimhaltung, – die weit voraus auf die Stationen gegebene Signalisierung seiner Ankunft und Arrangierung des nötigen Skandals bewies bereits den weiten Einfluß, den das geheime Revolutionskomitee ausübte. An seine Stelle trat der Markgraf Wielopolski, der indes nach kurzer Zeit schon von dem Sicherheitsausschuß, der sich förmlich zum Revolutionskomitee ausgebildet hatte, wieder verdrängt wurde. – Mit der Beurlaubung des Fürsten Gortschakoff von seinem Posten als Statthalter und am 26. April der provisorischen Ernennung des General Suchozannet dazu, der Schließung des Landwirtschaftlichen Vereins und der Ressource am 6. und 12. April ermannte sich endlich die russische Regierung, nachdem am 8. April das Militär nochmals gezwungen worden war, auf die revoltierenden Massen zu feuern, und es trat nun jene Periode des stillen und erbitterten Kampfes ein, die als die zweite – mit Blut und Verbrechen gefüllte – Phase dieser drei Jahre dauernden Rebellion bezeichnet werden muß und die wir bei einer späteren Gelegenheit zu zeichnen haben werden.

Es war am zweiten Abend nach dem Begräbnisse, Montag den 4. März. Der düstere Schein einer Ampel erhellte allein das gewölbte Gemach, in dem die Mönche des Bernhardinerklosters in einem Nebenflügel die beiden Verwundeten untergebracht hatten, die sie an dem Tage des Konfliktes aufgenommen. Man hatte ihre Anwesenheit verheimlicht und die Polizei hatte in diesen Tagen teils anderes zu tun, teils bereits von ihrem Ansehen schon zu viel verloren, um auf Haussuchungen nach weiteren Opfern der unheilvollen Katastrophe aus zu sein.

Zwei treue Pfleger hatten die beiden Kranken: den Knaben Janko und Wanda von Marowska. Man hatte sie zwar anfangs aus dem Kloster entfernen und die Wartung der Kranken anderen Personen übertragen wollen, aber das Mädchen hatte dagegen energisch protestiert, daß selbst Pater Hilarius es für geratener gehalten hatte, sie ungestört in der übernommenen Pflicht zu belassen.

Der Knabe Janko ging ab und zu – er brauchte jetzt nicht besorgt zu sein, daß das scharfe Auge des Polizeikommissars ihn erkennen würde – die Polizei war eben brach gelegt.

Aber eine seltsame Veränderung war mit dem Knaben seit jenem Tage vorgegangen. Er, der sonst so munter und zu jedem schlauen und kecken Streich aufgelegt war, schlich jetzt mit einem weit über seine Jahre hinausgehenden Ernst umher, – es war etwas Scheues, Unheimliches in ihm, und wenn er sich unbeobachtet glaubte, hingen seine Augen mit dem Ausdruck unsäglicher Angst und Trauer auf dem verstümmelten Mädchen und ihrem Geliebten.

So durfte der verwundete Graf jetzt wohl genannt werden: – auf und an dem Schmerzenslager hatten ihre Herzen sich gefunden und einander geöffnet. Es lag nichts mehr zwischen ihnen, keine Schranke, kein Eigenwille, kein Mißtrauen.

Aber trotz dieses Verständnisses der Herzen und der Seelen, begannen immer düstere Schatten sich auf der Stirn des liebenden Mädchens zu lagern.

Der Arzt des Klosters, der den Wunden den ersten Verband angelegt, hatte zu ihrer großen Beruhigung des Grafen Wunde für nicht gefährlich erklärt, da die Kugel an den Rippen abgeglitten, keine edlen Teile verletzt hatte. Es war ihm auch beim ersten Versuch schon gelungen, die Kugel aus der Wunde zu entfernen. Es war eine Pistolenkugel und der Knabe Janko hatte sich ihrer bemächtigt, um, wie er sagte, sie seinem Herrn und Retter zum Andenken aufzubewahren.

Wohl zwanzigmal hatte sich die Marowska von ihm jene Szene erzählen lassen, als die Entschlossenheit des Grafen ihn aus den Zähnen des grimmigen Wolfes gerettet hatte.

Aber so hoffnungsvoll der erste und zweite Tag für sie und den Verwundeten vergangen waren – die folgenden entsprachen nicht den Erwartungen, die der Zustand der Wunde zuerst erregt hatte.

Das Wundfieber, statt zu verschwinden, nahm zu. Die anfangs die rasche Heilung verbürgenden, fast rosenroten Ränder der Wunde nahmen eine braunrote, brandige Farbe an und der alte Arzt betrachtete sie kopfschüttelnd und besorgt.

Er hatte mit dem Pater Hilarius von dieser Veränderung gesprochen und von ihm die Zuziehung eines zweiten, durch seine Geschicklichkeit in Behandlung von Schußwunden bekannten Arztes verlangt.

Dies hatte der Knabe erlauscht; aber er hatte auch gehört, wie der Pater Hilarius, der von den Mönchen allein mit dem verborgenen Krankenzimmer verkehrte, den Vorschlag barsch abgeschlagen unter dem Vorwand, daß jener Arzt ein Deutscher, und zugleich Militärarzt sei.

Der Zustand der Wunde war darauf von Stunde zu Stunde schlimmer geworden; der Kranke litt heftige Schmerzen, die nur die getreue Pflege der Geliebten ihm erleichtern konnte. Endlich, am vierten Tage, hatten die Schmerzen gänzlich aufgehört – der alte Arzt, als er schied, drückte dem Mädchen, das ihn hinausbegleitet, die Hand und eine Träne hing an seinen grauen Wimpern. Aber Wanda Marowska hatte noch immer keine Ahnung von der Wahrheit, sie klammerte sich mit der ganzen Gewalt ihrer energischen Seele an die Hoffnung, an den günstigen Ausspruch des Arztes damals, als er die Wunde zum erstenmal verbunden hatte.

Sie sprach mit dem Geliebten von ihrer und des Vaterlandes Zukunft. Sie erklärte sich bereit, mit ihm nach Paris zu gehen und erst dann nach Polen zurückzukehren, wenn die Stunde der Gesamterhebung des Volkes gegen die Unterdrücker geschlagen habe.

Der Kranke lächelte zustimmend, aber schmerzlich. Eine Stunde vorher, als die Marowska sich eben für kurze Zeit entfernt hatte, hatte er ihre Abwesenheit wahrgenommen, um von dem Arzt die Wahrheit zu erfragen.

Der alte Doktor sah finster vor sich nieder. Endlich schlug er die grauen Augen auf und richtete sie ernst auf den Kranken.

»Der Opfer, die dem Vaterlande gebracht werden müssen, sind viele,« sagte er trübe. »Ich darf Ihnen nicht verhehlen, daß der Zustand Ihrer Wunde in einer Weise sich verschlimmert hat, daß ich Ihnen nicht verschweigen will, Sie befinden sich in großer Gefahr.«

»Aber sie schien doch so leicht, – Sie selbst sagten mir …«

»Ich selbst kann mir die Sache nicht erklären,« fuhr der Doktor fort, »es müßte denn sein, daß man annimmt …«

»Was?«

»Die Kugel sei vergiftet gewesen.«

»Schändlich! Niederträchtig! Soldaten schießen auf ein unterdrücktes, nur seine heiligsten Gefühle verteidigendes Volk mit vergifteten Kugeln!«

Der alte Arzt sah ihn lange prüfend an – aber er schwieg; – nur der Knabe, der an dem Lager des Alten kauerte, ließ ein Schluchzen hören und biß krampfhaft die Zähne in das Laken.

»Doktor,« sagte der Graf – »ich habe gelernt, dem Tode ins Auge zu sehen, in schrecklicherer Gestalt auf den Eisfeldern Sibiriens, ohne Freunde, die mein Lager umstanden hätten – während hier eine geliebte, sanfte Hand mir das Todeskissen bereitet. Ich bitte Sie, mir die volle Wahrheit zu sagen.«

»Ich darf Ihnen nicht verhehlen, daß der Brand bereits in die Wunde getreten ist.«

»Und wann, Doktor – wann?«

»Gott allein bestimmt die Stunde der Menschen. Sie haben keine Schmerzen mehr?«

»Nein – nur zuweilen läuft es mir wie Frost ans Herz!«

»Mein armer Freund! ich habe Sie lieb gewonnen auf Ihrem Schmerzenslager in hundert kleinen Zügen. Männer wie Sie gehörten der Zukunft Polens und hätten sie gründen können.«

»Möge sie über meinem Grabe erblühen! Wann, Doktor, wann?«

Der Arzt wandte sich ab. »Vor morgen abend nicht – aber Gott kann noch alles zum besten lenken.«

Es herrschte eine tiefe Stille im Zimmer, nur von dem unterdrückten Schluchzen des Knaben unterbrochen.

Dann sagte der Kranke: »Ich danke Ihnen für die Wahrheit. – Doch bitte ich Sie noch, mir eins zu sagen. Werde ich morgen – im Delirium sein?«

»Nein – Ihr Ende wird, wie immer in solchen Fällen, ein sanftes sein.«

»Und Sie werden mich morgen Vormittag besuchen? – Ich habe einiges zu verfügen.«

»Soll ich den Notar des Klosters …«

»Nein! – Meine Unterschrift und Ihr Zeugnis wird genügen. Was ich mein nenne, befindet sich in den Händen eines Ehrenmannes, der meinen Willen achten wird.«

»Ich werde zur Stelle sein!« – Der Doktor wandte sich noch zu dem Lager des Greises. »Ein seltsamer Zustand, diese Agonie,« murmelte er. »Der längst verwitterte Körper muß fast blutleer sein und dennoch hält das Leben zähe fest und will nicht weichen; – fahre fort, mein Kind, deinem alten Verwandten, oder was er dir sein mag, von Zeit zu Zeit einen Löffel von dem Medikament einzuflößen, das ich mitgebracht.«

Die Marowska kam zurück und geleitete ihn zur Tür. –

Es war in der Tat ein eigentümlicher Zustand, in dem sich der alte Mann befand. Er lag wie in tiefem Schlummer, nur zuweilen öffneten sich seine Augen und suchten dann den Knaben mit Liebe und Verständnis. Aber er hatte bis dahin kein Wort gesprochen.

Vergebens hatte wiederholt die Äbtissin den Versuch gemacht, selbst und durch den Pater Hilarius ihn zum Sprechen zu bringen, ob er wirklich der Mann sei, der zur Zeit der Schlacht von Maciejowice in dem Jägerregiment des Großschatzmeisters von Litauen, und speziell in dessen persönlichem Dienst gestanden? Ob die Papiere noch in seinem Besitz, ob sie später zurückgegeben worden, oder wo sie hingekommen? – keine Silbe ging über seine Lippen, stumm und unbeweglich lag er da, und man mußte zuletzt zu dem Glauben kommen, er verstehe nichts mehr, oder die Altersschwäche und jene alte Wunde, die seinen Geist umnachtet, habe auch den letzten Funken des Gedächtnisses in ihm verwischt, und es bleibe nichts, als ihn ruhig sterben zu lassen.

Der Knabe Janko teilte seine Aufmerksamkeit, seine Dienste zwischen den beiden Kranken; nicht einmal das Begräbnis der Gefallenen hatte ihn von dem Krankenlager entfernt, und er wechselte in den Nachtwachen getreulich mit dem Fräulein ab. Nur auf kurze Zeit in der Abenddämmerung besuchte er täglich seine Mutter. Es war das einzige Mal bei jener Unterredung des Grafen mit dem Arzte, daß er eine laute Äußerung des Schmerzes nicht hatte unterdrücken können. Sonst kauerte er still, düster in sich hineinbrütend an einem oder dem anderen Lager.

Dem Grafen Hypolit blieb jetzt eine traurige und schwere Aufgabe: die Geliebte auf sein Scheiden und ihre Trennung in dieser Welt vorzubereiten.

Aber Wanda Marowska zeigte, als das schwere Wort endlich gesprochen war, eine wunderbare Resignation, die nur der feste Glaube an das Wiedersehen, nur die hohe Begeisterung für das Vaterland, auf dessen Altar sie auch dieses Opfer, das schwerste ihres jungen Lebens niederlegen sollte, erklärlich machte.

Noch an demselben Abend verlangte der Kranke das heilige Sakrament. Als aber der Pater Hilarius erschien, es ihm zu reichen, weigerte er sich mit Energie, es aus seiner Hand anzunehmen; man mußte schließlich seinem Willen nachgeben und einen anderen Priester, einen würdigen Greis, dessen Namen der Kranke von seinen Pflegern erfahren hatte, herbeirufen, ihm die Absolution zu erteilen und den Leib des Herrn zu spenden.

Von diesem Augenblick an verließ die junge Polin das Sterbelager ihres Freundes nicht mehr, ihm die Gebete seines Glaubens vorlesend, mit ihm fast heiter und ruhig sprechend, oder seinen leichten Schlummer bewachend.

Die Äbtissin Mathilda hatte, nachdem ihre Bemühungen um den alten Mann gescheitert waren, sich nicht wieder sehen lassen und nur Veronica geschickt, um sich nach dem Grafen und seiner treuen Pflegerin zu erkundigen. Den Knaben schien jedesmal bei ihrem Eintritt ein nervöses Zucken zu ergreifen, und er mied sichtlich ihre Nähe.

Es war am Morgen um die Zeit des Sonnenaufganges, als der Kranke von seinem Schlaf erwachte und seine Hand nach der Pflegerin streckte.

»Mein letzter vor dem ewigen, geliebte Wanda,« sagte er. »Ich träumte von meiner Mutter, die mir Gott schon als Knabe genommen hat. Sie breitete die Arme aus und drückte mich ans Herz, indes meine Tante Oginska und Kasimira, meine Cousine, dich in ihre Arme schlossen. Du trugst ein weißes Kleid und die Orangenkrone in deinem Haar. – Glaube mir Geliebte, es ist alles ruhig und friedlich in mir, denn ein Oginski stirbt willig für das Vaterland.«

Der Knabe drüben am Lager des Veteranen stöhnte auf bei den Worten und ballte die Hand.

Es konnte nicht das Stöhnen sein, was plötzlich eine Bewegung des Greises veranlaßte.

Er wendete mühsam das Haupt, und sein sonst so umflortes Auge wendete sich klar auf den Knaben.

»Wer spricht von den Oginski, Kind – wer nannte den Namen?«

»Einer, der das Recht dazu hat – er selbst ein Oginski! – Wie geht es dir, Urvater?«

»Still! – Was fragst du nach mir? Ist der Mann dort, der sich Oginski nennt, ein Sohn des Michael Oginski, der bei Maciejowice focht, meines Herrn?«

Der Alte sprach, obschon nur flüsternd, so klar und richtig, als sei er jung und kräftig und sein Geist nie umschattet gewesen.

»Er soll ein Enkelkind sein, oder doch verwandt, Urvater, so hörte ich die böse Frau sagen.«

»Die im weißen Kleid, mit den Teufelsaugen. Ich verstand sie wohl, aber sie soll es nimmer haben. Jan, mein Kind, – wo ist der Jägersack, der unter meinem Kissen lag, mein einzig Gut aus jener Zeit?«

»Ich hab' ihn versteckt, Urvater – sie suchten deine Sachen aus, die mörderischen Männer, aber ich brachte ihn vor ihren Nasen in Sicherheit.«

»Gott segne dich, mein Kind! – Merk auf! Der Boden ist von doppeltem Leder. Die Papiere, die ich darin treu meinem Herrn bewahrt, als ich mit ihm floh, gib dem Mann dort, der sein Erbe ist!«

»Heilige Jungfrau,« stöhnte der Knabe, – »sie nutzen ihm nichts mehr, Urvater. Er muß sterben, wie du – jenes Weib, vor dem dir graute, hat ihn ermordet.«

Der Greis richtete den in Todesstarre übergehenden Blick auf den Knaben, seine hagern Finger wühlten auf der Decke des Lagers. »Meinen Fluch auf sie!«

Das Haupt sank zurück – er verfiel offenbar wieder in den früheren Zustand. –

Im Laufe des Vormittags war der Arzt zurückgekehrt – er sah auf den ersten Blick, daß der letzte der Krieger des großen Feldherrn seiner Auflösung entgegenging. Aber auch der jüngere Mann, an dem er so freundlichen Anteil nahm, war seiner Stunde näher, dahin deutete der fast übernatürliche Glanz des Auges.

Er winkte den Doktor heran. »Sie sind ein ehrlicher Mann, Doktor, nehmen Sie Papier und Feder und schreiben Sie!«

Der Doktor tat ohne Widerspruch seinen Willen, nachdem er auf den Wunsch des Kranken die treue Pflegerin an das andere Ende des Zimmers zum Bett des Greises geführt.

Halblaut diktierte ihm der Graf jetzt einige kurze Bestimmungen. Er besaß einige Fonds im Ausland, deren Scheine in die Hand des Grafen Czatanowski, seines Verwandten, niedergelegt waren. Die Hälfte davon bestimmte er dem polnischen Zentralkomitee in Paris als Ersatz der Summe, die er im Herbst nach Warschau gebracht, und die er bei seiner Flucht aus der Konditorei hatte in die Hände der russischen Polizei fallen lassen müssen, die andere Hälfte seiner Braut und Pflegerin. Tausend Franken sollte der Knabe Jan erhalten. Das kurze Testament, das er mit fester Hand unterzeichnete und von dem Arzt mit unterschreiben ließ, war an den Grafen Czatanowski gerichtet.

Als es beendet war, wurde die Jungfrau wieder an sein Lager gerufen und er legte das Papier in ihre Hand, die er von da ab nicht mehr aus der seinen ließ.

Der scheidende Arzt hatte den Prior benachrichtigt, daß es mit den beiden Kranken schneller zu Ende gehe als er selbst geglaubt, und den Gebräuchen der katholischen Kirche gemäß sammelten sich die Priester in und vor dem Sterbezimmer und stimmten die lateinischen Gebete für die Sterbenden an, während die kleine Glocke der Kirche ihren traurigen Sang begann.

Es war ein ausnahmsweise schöner, heller Märztag, die Mittagssonne warf ihre Strahlen durch das große Fenster in das Gemach und auf das Lager des jungen Edelmannes, an dem die Geliebte kniete.

Seltsamerweise nahmen die Kräfte des Greises und des jungen Mannes in gleicher Weise ab.

Die geweihte Kerze leuchtete in der Hand der Sterbenden, der vor dem Kruzifix in der Ecke kniende Priester murmelte die Oration:

»Tibi Domine commendamus animas famulorum tuorum, ut defuncti saeculo tibi vivant. Per Christum dominum nostrum. Amen!«

und von der fernen Straße herüber tönte der Hoffnungsgesang einer vorüberziehenden Schar des Volkes:

» Jescze Polska nie zginela!«

Die Augen des Sterbenden belebten sich, ihr Blick flog zum letztenmal in das Sonnenlicht und senkte sich dann auf das sanft weinende Mädchen.

»Drüben Wanda! Halte fest zum Vaterland!« und während die Stimme des Priesters murmelte:

» Requiem aeternam dona iis Domine et lux perpetua luceat iis!«

waren die Seelen der beiden treuen Kämpfer Polens hinübergegangen in jenes Land, wo es keinen Haß der Nationen und keine Feindschaft gibt.

Der Pater Hilarius war zwischen die Sterbelager getreten und hob das Kruzifix:

»Gesegnet seien die Toten, die für die Freiheit Polens starben!«

Durch die feierliche Stille des Sterbezimmers zischte es wie ein Hauch und keiner wußte, woher der Laut kam:

»Lügner!«

Der Pater ließ schnell das Kreuz sinken und sah umher – – wer konnte den Mut, die Frechheit gehabt haben, in solcher Stunde die furchtbare Anklage ihm ins Gesicht zu schleudern? Aber niemand regte sich, kein Auge hatte sich erhoben – es mußte eine Anklage des eigenen Gewissens gewesen sein, was er vernommen.

Den Toten waren die Augen von liebender Hand geschlossen worden, – der alte Geistliche, der dem Grafen die kirchlichen Gnadenmittel gespendet, versuchte das arme Mädchen aufzuheben und zu entfernen, aber sie bat so dringend, sie bei dem Toten die letzte Wache halten zu lassen, daß man ihren Bitten nachgab. – – – – –


Der Abend war rasch herabgesunken, zu Häupten der mit weißen Laken bedeckten Leichen brannten zwei Kerzen und warfen ihren unheimlichen Schein durch das Gemach.

An dem Lager des so rasch gewonnenen und verlorenen Freundes kniete noch immer die begeisterte Märtyrerin für die heilige Sache, der sie sich geweiht und aufs neue zugeschworen an dieser Stelle!

Zur offenstehenden Tür herein, die leise ins Schloß fiel, über die Steinfließen des Bodens hinweg huschte ein dunkler, koboldartiger Schatten.

»Pana Wanda! Pana Wanda!«

Es zupfte an ihrem Gewand – die Beterin wandte langsam das Haupt. »Störe mich nicht, Jan – mein Gebet gilt auch deinem greisen Freund wie dem jungen!«

»Dann räche sie – ich bin ein Knabe, ich bin zu schwach und gering es zu tun!«

»Das wollen wir im treuen Kampf für das Vaterland!«

»Du mißverstehst mich! Nicht für die heilige Sache Polens sind sie gefallen, wie der falsche Priester log! – gemordet sind sie, schändlich gemordet von den eigenen Freunden!«

Die Beterin fuhr empor – ihre eine Hand schüttelte das Kind, ihre Augen sprühten Feuer.

»Knabe – was sprichst du? Hüte dich!«

»Die Wahrheit, Pana! Ich hörte selbst den schändlichen Anschlag, das andere vertraute mir die Mutter, damit ich meinen Grafen retten könnte. Ich konnte nicht zu ihm gelangen, nicht zu dir! Ich sah, wie er die Pistole hob und auf ihn schoß, aber ich wußte nicht, daß die Kugel vergiftet war! Der Doktor selbst hat es meinem Grafen gesagt …«

»Wer? wer?«

»Der Prot Asnik, der feige Schuft! Bei der heiligen Mutter Gottes, ich hab' es mit eigenen Augen gesehen.«

Die Marowska streckte die Hände in die Höhe – dann schlug sie damit wie zum Gelöbnis das Kreuz. Ein wildes Feuer loderte, flammte in den schwarzen Augen, als sie auf den Toten fielen, und sie das verhüllende Linnen von seinem Körper riß. Das Mädchen schien wie mit einem Zauberschlage verändert, ein dämonisches Weib, eine Gorgone daraus geworden.

»Warum? warum?«

»Sie haben ihn angeklagt des Verrats!«

»Ihn? – wer?«

»Weil er die Karte von Droszdowicz hatte! Aber es muß ein schlimmerer Grund zum Hasse gewesen sein. Der Priester war's und das alte finstere Weib auf Befehl der Klosterfrau! Ich sah es, wie sie in der Paulinow an den Beichtstuhl ging, in dem er saß! Auf ihr Verlangen geschah es!«

Wieder hob die Polin den Arm, wieder schlug sie das Kreuz.

»Wer hat ihn verurteilt? Wo?«

»In der Wohnung meiner Mutter und des alten Lagienki. Der Priester war's.«

»Wer noch?«

»Der Okuliarnik, wie sie ihn nennen. Pan Lempke.«

Wieder jene furchtbare Bewegung! – »Wer noch?«

»Der fremde Mann aus Litauen. Romuald Traugut heißt er. Das waren die vier.«

Zum fünftenmal hob sich die Hand. »Du sprichst die Wahrheit? Bei deiner und deiner Mutter Seligkeit?«

»Bei unserer Seligkeit!«

Sie trat zu dem Toten und küßte den kalten Mund. Eine wahrhaft entsetzliche Ruhe hatte sich über ihr leidensvolles Antlitz gelegt.

»So sei es! Heiliger Märtyrer – erst das Vaterland – und dann die Vergeltung! So allein ist es deiner würdig. Geh' Knabe und schweige, bei deinem Leben von allem, was du hier gesagt hast. – Laß mich bei den Toten!« –

Das war der erste Akt von der trauriger: Tragödie von Warschau – das war der schwarze Dämon der Rache, der hinter den finstern Spielern des Dramas sich drohend erhob!



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