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Was das aber nun werden und wie es noch abgehen sollte ohne Zuchthaus, Thronerschütterung und europäischen Skandal, das wußte er selbst nicht. Er saß, anzusehen mit seinem Kopftuch wie ein altes, verhutzeltes Marktweib, auf dem Kasten des Reserveruders, fühlte in seinen alten, brüchigen Knochen die Gicht, stopfte sich, ratlos, wie er war, eine Pfeife und verpestete weithin Gottes Morgen mit seinen Rauchwolken: nun, nun . . . die Götter schicken bekanntlich immer eine Hilfe oder doch wenigstens eine Erleuchtung, solange es in einer solchen Situation auch nur einen Mann gibt, der den Kopf nicht verliert und sich helfen lassen will. Schritte waren zu hören, und der alte Schiffsdoktor merkte, daß es keine Seemannsschritte waren. Unten über das menschenleere Hauptdeck lief der Direktor Samanon.
175 Befreit hatte ihn aus seinem Prison jener Leutnant Kries, der Tischkanten abbeißen konnte, die Beschießung von Monte Carlo verhindert hatte und auch sonst ein vernünftiger Junge war und es im vorliegenden Falle höchst überflüssig fand, daß dieser unglückselige Ambassadeur der Bank von Monte Carlo nutzlos in seinem Gefängnis ersticken sollte . . .
Er sah nun wenig repräsentabel aus mit besudeltem Anzug, besudeltem Gesicht und den Gebärden eines Mannes, der vom Amoklaufen nicht mehr so weit entfernt ist. »Können Sie mir sagen, wie man wieder fortkommt von diesem Höllenschiff?« schrie von unten der Direktor Samanon. »Können Sie mir sagen, wie ein assyrischer Flügelochse auf den Sirius fliegen kann?« brummte böse und mißgelaunt der Doktor. »Zahle im Notfalle auch die Zweitausend«, schrie der Direktor Samanon und gab erst jetzt preis, daß er für den alleräußersten Notfall, um das Schlimmste zu verhüten, das Geld mitbekommen hatte und in seiner Brusttasche trug. Da sagte der alte Crofts gar nichts, sondern pfiff nur wie eine 176 Spitzmaus durch die defekten Zähne. Wenn nämlich die drüben zum Zahlen bereit waren, so waren sie zu einem kostenlosen Arrangement vermutlich erst recht bereit: ganz fern am Horizont sah der alte Herr das auftauchen, was die Diplomatensprache des zwanzigsten Jahrhunderts einen Silberstreifen genannt hat. Er sagte Herrn Samanon, daß man über alles weitere wohl reden, daß aber bei den Verhandlungen ein männlicher Whisky nichts schaden könne. Er kletterte die Treppe hinunter und nahm den Direktor Samanon beim Arm. Beide Herren gingen in die Messe hinunter.
Zuerst hatten sie sich aus der Pantry die Whisky-Flasche geholt, dann hatte der alte Crofts den andern das Geld aufzählen lassen, und dann hatten sie sich . . . die Banknoten auf neutralem Boden in der Mitte . . . einander gegenüber gesetzt an den langen Mitteltisch.
Natürlich ist man rachsüchtig, wenn man für eine volle Stunde in einen Kohlenbunker gesperrt worden ist, und so führte der erste Waffengang zu keinem Resultat. »Wären Sie 177 zu einem gütlichen Arrangement gegen Rückgabe der Summe bereit?« fragte der Doktor und legte die Hand auf das Geld. »Sie fürchten, wenn ich mich nicht täusche, die unausbleiblichen völkerrechtlichen Folgen?« sagte böse auf der anderen Seite der Direktor Samanon und faßte seinerseits nach den Banknoten. Da mußte sich der alte Doktor sagen, daß mit Überrumpelung hier nichts auszurichten war und daß Hilfe herbeigeholt werden mußte. So ließ er also die Banknoten liegen, wo sie lagen, und erbat sich zehn Minuten Bedenkzeit und ging.
Den Kabinenschlüssel drehte er auch dieses Mal so leise, daß sie nichts merkte. Sie hatte sich nun ausgeweint und saß still in der Sofaecke und streckte ihm in ihrer Hilflosigkeit nur die Hände entgegen. »Guten Tag, kleine Hoheit«, sagte sanft der alte Doktor und sagte das so, daß ihr wieder ein ganz klein wenig die Sonne scheinen wollte. Dann setzte er sich neben sie auf das Plüschsofa und schilderte ihr die Situation und gab ihr die nötigen Instruktionen.
178 Erstens: kleine Königinnen dürfen beileibe nicht geweint haben, wenn sie sich an den Verhandlungstisch setzen. Zunächst also mußten einmal gründlichst die Tränen aus dem Gesicht gewaschen werden, und der alte Herr brachte selbst die kärglichen Kosmetika seiner Toilette, und sie tat das Nötige mit dem Eifer eines kleinen Schulmädchens, dem der alte Onkel zeigt, wie man, ehe die Mutter es sieht, den garstigen Tintenklecks entfernt aus dem neuen Kleid . . .
Zweitens: man mußte, wenn man die Bank zu einem anständigen Arrangement bringen wollte, sofort wieder die regierende Fürstin sein. Eine Fürstin, die es einerseits einsieht, daß es eine Ungehörigkeit ist, wenn einer ihrer Offiziere die Bank von Monte Carlo mit Bomben bedroht und dann den Direktor in einen Bunker sperrt. Eine große Dame aber auch, die es im entscheidenden Augenblick einfach nicht versteht, daß man einer schönen Frau deswegen ernstliche Unannehmlichkeiten bereiten will . . .
Eine Fürstin, die empört ist, wenn man einen 179 Karnevalsstreich aufblasen will zu einer internationalen Affäre. Eine Fürstin, die über den Orden Sixtus des Großmütigen verfügt und ältere französische Herren, wenn sie artig sind, beglücken kann, kleine Hoheit . . .
So war das. Er war ein alter asthmatischer Großvater, der ächzend seiner erwachsenen Enkelin eine Lektion über den Umgang mit störrischen Männern gibt. Und in fünf Minuten hatte er sie so weit, daß sie wieder die kleine Mary war mit dem jungenhaften Lachen und dem unverzagten tapferen Herzen. Da gingen sie denn zu Herrn Samanon in die Messe hinunter.
Daß sie vor zehn Minuten noch bitterlich geweint hatte, konnte man ihr nun wirklich nicht ansehen: sie kam hineingerauscht wie in ihren jungen Jahren die selige Königin Viktoria in eine Parlamentseröffnung. Er seinerseits – der Direktor Samanon nämlich – mochte ja nun wirklich etwas erstaunt sein über die sozusagen vom Himmel gefallene Monarchin; fand aber (ältere französische Herren verstehen das immer ganz 180 ausgezeichnet) sofort allem Groll zum Trotz die Geste des Mannes, der weiß, was er einer großen Dame schuldig ist. Item, es gab ohne besondere Etikette und Zeremonie eine hübsche Begrüßungsszene. Der alte Regisseur goß sich hinter dem Rücken der beiden Akteure rasch einen zweiten Whisky ein.
So glatt freilich sollten diese Verhandlungen nicht verlaufen. Daß sie alles und ganz besonders das dem Direktor Samanon widerfahrene Ungemach auf das allerlebhafteste bedaure, sagte sie . . .
Daß ihm in der Tat eine schwere Kränkung widerfahren sei, sagte der Direktor Samanon.
Daß sie zu jedweder Genugtuung bereit sei, sagte die Hoheit von Labrador.
Daß er diese Güte zu schätzen wisse, sagte der Direktor Samanon. Daß man aber die völkerrechtlichen Folgen nun einmal nicht außer acht lassen könne.
In dieser Gefechtsphase, wo das Kleingewehrfeuer zu prasseln begann, wurde sie wieder die streitbare Hoheit.
Ob er sich überlegt habe, daß gestern so 181 etwas wie Karneval gewesen sei in Monte Carlo?
Ob man an dieser azurnen Küste sich noch erinnere, daß mitunter absonderliche Dinge geschähen in Karnevalsnächten?
Ob man in Monte Carlo nicht wisse, daß der Kapitän Cradock ein Mann sei, über dessen Streiche schon ganz Europa gelacht, und der zum mindesten den Vorzug habe, daß er immerhin etwas Leben zu bringen pflege in die trübselige Atmosphäre des ehedem weltberühmten, nun aber aus der Mode gekommenen Spielkasinos?
Ob man hierzulande eigentlich den letzten Rest von Humor verloren habe und ob man, wenn man schon durchaus Rache nehmen wolle, diese Rache durchaus nehmen müsse an ihr? An ihr, die in diesem Falle als Staatsoberhaupt die Verantwortliche und Leidtragende sei? An ihr, die bislang immer an altfranzösische Ritterlichkeit geglaubt habe . . .
Und mit dieser letzten Frage hatte sie denn wirklich die ganz große Kanone abgefeuert gegen die feindliche Stellung. Daß auch ihm 182 dies alles mehr als schmerzlich sei, beteuerte der Direktor Samanon. Daß er gern jedes auch nur halbwegs annehmbare Arrangement eingehen wolle. Daß er freilich selbst nicht wisse, wie die in Cap d'Antibes nun einmal unternommenen Schritte rückgängig zu machen seien . . . hier wurde der Direktor Samanon unterbrochen. Der Leutnant Williams war gekommen.
Er hatte den seelischen Kräften des Leutnants Williams zuviel zugemutet, dieser Morgen. Zuerst war Krieg ausgebrochen zwischen Labrador und Monaco, dann war der Kapitän verrückt geworden, dann war die »grundgütige Landesmutter« gekommen. Dann hatte man dieses Telegramm aufgefangen, das zum dritten Mal an diesem Tage alles auf den Kopf stellte . . ., hatte den Kapitän gesucht, war überall auf verrammelte Türen gestoßen, ward überall mit Flüchen fortgeschickt, fand endlich die Hoheit hier. In dieser unaufgeräumten Messe, wo es nach muffigem Plüsch und kaltem Zigarettenqualm roch . . .
In Gesellschaft des Herrn Samanon, der 183 frisch aus dem Kohlenbunker kam. In Gesellschaft des Doktor Crofts, der in Gegenwart Ihrer Hoheit Whisky trank und ein rotes Tuch um den Kopf gebunden hatte. Etwas überrascht, ja . . . er stotterte und konnte das, was er zu sagen hatte, nicht recht so aufbauen, daß die anderen es verstanden . . .
Täuschung beim Beobachten. Drei Schornsteine, ähnliche Silhouette, große Entfernung. Gar nicht der »Sadi Carnot«. Sondern ein friedlicher Indienfahrer. Der P. & O. Liner »Bornemouth«. Und dann dies hier . . . ein Telegramm, das alles über den Haufen warf . . . der Doktor hatte es ihm schon aus der Hand gerissen.
In Cap d'Antibes hatte, wie erinnerlich, der französische Admiral Constance nicht recht schlafen können in dieser Nacht. Er hatte für die letzte Entscheidung über den telegraphischen Hilferuf Monte Carlos die Rückkehr seines Adjutanten abgewartet . . . Beide Herren hatten zunächst einmal das internationale Flottenhandbuch vorgenommen und hatten festgestellt, daß der labradorische Kreuzer 184 »Persimon« mit seinen alten Donnerbüchsen wirklich nicht viel mehr Gefechtswert besaß als ein ausrangierter verbeulter Petroleum-Tin.
Beide Herren waren sich klar darüber, daß sie, um diese Kriegsmacht niederzukämpfen, mit dem modernsten Kriegsschiff Europas angebraust kommen würden. Daß ihnen also die Gefahr der Lächerlichkeit drohte und daß . . . von allen diesen Dingen abgesehen . . . das Telegramm des Kasinos wie ein übler Karnevalsscherz aussah.
Seeoffiziere, wenn sie sich ohne diplomatische Anweisung des eigenen Staates in internationale Zwistigkeiten einmischen, laufen bekanntlich immer Gefahr, müssen mit der Möglichkeit von üblen Komplikationen und Kammerdebatten rechnen und lassen sich in Zweifelsfällen von ihren Adjutanten gern überzeugen, daß eine Intervention gut und heldenhaft, daß aber Abwarten besser ist. Item: auf dem »Sadi Carnot« hatte der Adjutant noch eine Weile am Bette des gichtleidenden Chefs gesessen, beide Herren hatten 185 die Angelegenheit provisorisch mit einem Whisky-Soda erledigt. Folgende Antwort war also am Morgen hinausgeknattert aus der Funkstation des »Sadi Carnot«, hatte nicht nur die Antennen des Kasinos, sondern auch die der »Persimon« erreicht, und war dann so zu jenem Telegramm geworden, mit dem der Leutnant Williams zwanzig Minuten lang vergeblich durch das ganze Schiff gelaufen war.
»Der Flottenchef der Station von Cap d'Antibes betrachtet die Meldung der Bank von Monte Carlo, daß ein labradorischer Kreuzer die Bank mit Artilleriefeuer bedrohe, für einen unangemessenen Karnevalsscherz, den er sich dringend verbittet. Eventuelle Ruhestörungen in Monte Carlo unterliegen als innere Angelegenheit der dortigen Staatsexekutive. Unterzeichnet: Constance, Vizeadmiral.«
So war der Wortlaut. Katastrophe. Schwerste Niederlage der Bank. Der Direktor Samanon war in sich zusammengebrochen, sah aus, als sei er plötzlich zwanzig Jahre älter geworden . . . ich glaube nicht, daß Napoleon nach Waterloo sehr viel anders ausgesehen 186 haben kann. »Glaube, daß meine Mission hier beendet ist«, sagte tief gebrochen der Direktor Samanon. »Glaube, daß diese Mission eben erst beginnt«, sagte die Hoheit von Labrador. Und was sie dann in Szene setzte, das war schlechthin ein Meisterstück weiblicher Diplomatie . . .
»Wollen wir auf Deck gehen?« fragte sie und wechselte mit dem Doktor einen Blick. »Wollen Sie die Güte haben, mich zu führen«, fragte sie Herrn Samanon und hing sich in seinen Arm ein. Ach ja, es tut gut, eine schöne Frau durch die Morgenbrise der Côte d'Azur zu führen . . . es tut doppelt gut, wenn man die Fünfzig hinter sich hat und wenn die schöne Frau eine regierende Fürstin ist . . .
Sie promenierten zu zweit . . . der Doktor hatte sich beurlaubt, saß vor seinem Logis und hatte mit einem Male eine ganz dringende Schreibarbeit zu erledigen . . .
Sie promenierten zu zweit. Arm in Arm. Dreimal um das Hauptdeck. Das aber war das diplomatische Meisterwerk der kleinen Mary, daß sie den auf der ganzen Linie geschlagenen 187 Direktor Samanon so behandelte, als sei nicht er, sondern sie die Geschlagene, die Hilfsbedürftige, die auf die Ritterlichkeit ihres Partners Angewiesene. »Internationaler Skandal« . . . das blieb auch nach diesem Telegramm bestehen. »Ganz persönliche Verpflichtung, der Bank und ihrem Direktor Genugtuung zu geben« . . . das blieb ebenfalls bestehen. Und was doppelt und dreifach bestehen blieb, das war ihre Bedrängnis als verantwortliches Staatsoberhaupt und als hilfsbedürftige Frau.
»Arrangement«, sagte schließlich, als sie nach viertelstündiger Deckpromenade zum zwanzigsten Male bei dem Logis des Doktors vorbeikamen, die Hoheit.
»Was in den Kräften eines Mannes steht, der Ew. Hoheit sich ganz persönlich verpflichtet fühlt«, sagte Herr Samanon.
»Habe da inzwischen etwas entworfen«, sagte der Doktor und hatte inzwischen Williams' Füllfederhalter ruiniert und ein halbes Dutzend Bleistifte abgebrochen, »wofern es beliebt, kleine Hoheit.«
188 Es waren zwei Entwürfe. Ein amtliches Kommuniqué der Bank und eine inspirierte Notiz für die gesamte Presse der Côte d'Azur. Unangemessener Karnevalsscherz eines in dieser Richtung international bekannten Seeoffiziers . . . durchaus nicht (wofür der Bank hinreichende Beweise gegeben seien) ernst zu nehmen. Peinlicher Vorfall, durchaus zu mißbilligendes Benehmen des Kapitäns . . . in Wirklichkeit aber durchaus keine schlimme Absicht. Keinerlei Attentate auf die Bank. Keine geladenen Kanonen. Keine Ursache zur Beunruhigung . . .
Summa summarum: nichts, als ein schlimmer Streich, für den die Regierung des einschlägigen Staates (der Name wurde nicht genannt!) angemessene Bestrafung des betreffenden Offiziers zugesagt habe. »Fünf Tage Stubenarrest«, proponierte der Doktor.
»Drei . . . um der Form zu genügen«, sagte Herr Samanon.
»Vierzehn Tage, bei ebensolanger Enthebung vom Kommando«, entschied streng und klug die oberste Kriegsherrin von 189 Labrador. Nach außen machte sie dabei das Gesicht der großen Katharina, als sie ihren ehemaligen Freund Menschikow nach Sibirien schickte. Innerlich war sie in der Stimmung eines Mannes, der im Traum seine Tante geschlachtet hat und hingerichtet werden soll und aufwachend erkennt, daß alles eben nur ein Traum und der etwas fette Räucheraal von gestern abend gewesen ist.
So war das. Reinschrift und Unterzeichnung so bald wie möglich. Ein kleines nettes Kommuniqué, das den beiden Partnern nicht wehe tat. Das schöne Erklärungen gab, Beruhigung schuf und die Schädigung der Hotels nach drei Tagen schon wieder gutgemacht haben würde durch die Auswirkung einer hübschen Propaganda für dieses ein wenig aus der Mode gekommene Monte Carlo.
Durch das Aufhorchen der Welt. Durch die Sensation. Durch die Aussicht für Chicagoer Industriewitwen und New-Yorker Shopkeepertöchter, in Monte Carlo gelegentlich einen netten kleinen Nervenkitzel erleben zu können. Einen Nervenkitzel, den Cannes und Nizza 190 und San Sebastian bisher nicht hatten bieten können . . .
So war das also. Aufatmen. Befreiung. Am Himmel der rosige Schein, den der Direktor Samanon sah, der kam vielleicht von dem fürstlich-labradorischen Großkreuz Sixtus des Großmütigen her . . .
»Und nun . . .« sagte die Hoheit.
»Und nun Frühstück«, sagte der Doktor Crofts. Und dann sagte er noch, daß man die ganze Menschheit einteilen könne in böse Menschen, die morgens eine trockene Semmel herunterwürgen . . . und in gute, die um sechs Uhr früh schon den Appetit einer Riesenschlange haben. Ein liebes nettes kleines Frühstück. Frugal aber nett. Eier, Zunge, Schinken, Lachs, Kaviar, Langusten, Birkhuhn, Roastbeef, Honig, Butter, Jams, Schwarzbrot, Kognak. Das sagte der Doktor Crofts. Dann gab sie dem Leutnant Williams (als dem in Behinderung des Kapitäns Rangältesten) die nötigen Anweisungen, äußerte die Vermutung, daß die Herren jetzt ja wohl das Bedürfnis haben würden, sich umzukleiden, und daß (bei der 191 Ähnlichkeit beider Staturen) der Frühstücksdreß des Direktors Samanon am besten wohl aus der Zivilgarderobe des Doktor Crofts bestritten werden könne.
Das sagte die Hoheit. Dann sagte sie noch, daß vielleicht noch ein fünfter Gast – der verlorene Sohn nämlich – an der Frühstückstafel teilnehmen werde. Und dann, nachdem die Herren entlassen waren, befahl sie, den Kapitän Cradock zu rufen. –
Eine ganze Weile verging, bis er kam. Sie war allein. Sie lehnte an der Reling, sah nach Monte Carlo hinüber. Sonne und das satte Grün der Hänge . . . fernes Rufen und das Farbenspiel der bunten Wagen auf der Straße nach Cannes. Leben, das erwachte.
Sie dachte nach. Leben war gut. Leben war heilig. Was aber da in dem verlogenen Bau mit seiner verlogenen Stuckfassade sich Nacht für Nacht gebärdete, das war das Leben nicht.
War Formlosigkeit und Verwesung. Geschrei und Getöse eines Geschlechtes, das auch zur Lasterhaftigkeit längst zu müde war . . .
Sie runzelte die Stirn. Ihr eigenes Leben war 192 freudlos gewesen. Streng und kalt und leidlich sauber. Es sollte so bleiben.
Sie ging auf und nieder auf dem leeren Deck. Der Mann, den man geliebt hatte in zehn öden Jahren, war ein Mann. Aber ein schönes, ungezähmtes Tier zugleich . . . Ein Abenteurer, der Verwirrung stiften konnte. Es sollte nicht so sein, daß er ihr Leben verwirrte. Es sollte nicht so sein. Sauber und stark und klar sollte es bleiben. Wie bisher. Sie nahm den Spiegel und ordnete sorgfältig ihr Haar. Da hörte sie Schritte. Der Cradock war gekommen.
Da stand er. Ein Mann, der in einem etwas verwegenen Salto das Genick gebrochen hatte und sich keine Illusionen machte über die Folgen. Ein Mann, der gewillt war, die Folgen auf sich zu nehmen.
Da standen sie also. »Haben Sie mir nichts zu sagen, Kapitän Cradock?«
Er schwieg. Er sah auf seinen Degen, den er vorhin bei seinem Abgang fortgeworfen hatte und der dort noch immer lag. Es gab nun keinen Kapitän Cradock mehr. Er schwieg. Da half sie ihm.
193 Sie sah sich um. Das Deck war leer. »Komm«, sagte die kleine Mary. Sie gingen an die Reling.
Sie nahm die Perlen aus der Tasche. Perlen, die einmal einer unglücklichen Frau gehört hatten. »Du wolltest mir eine Freude machen?« sagte die kleine Mary.
Er nickte stumm.
»Sie haben uns nicht viel Glück gebracht, Frederic William.« Wieder nickte er. Da nahm sie das Kollier und warf es ins Wasser. »Es ist wohl besser so für uns beide«, sagte sie. Da nahm er plötzlich ihre Hand und küßte sie. »Verzeih du mir«, sagte der Cradock und begriff, daß da noch etwas anderes über Bord geworfen worden war als ein Schmuck. »Verzeih.«
Da drehte sie sich rasch um und hatte wohl etwas an ihrem Haar zu ordnen. »Oh, kein Grund mehr, Frederic William«, sagte die kleine Mary und machte ein trotziges und tapferes Jungengesicht. »Kein Grund.« Dann ging sie dorthin, wo der Degen lag.
»Willst du ihn wieder haben?«
194 Er schüttelte stumm den Kopf. Er hatte sie schwer kompromittiert – es war in der Ordnung, daß sie ihn fallen ließ. »Habe dir zuviel Ungelegenheiten gemacht.« Da sagte sie ihm alles.
Daß kein »Sadi Carnot« kam. Daß kein internationaler Skandal da war. Daß kein Direktor mehr im Kohlenbunker saß. Daß der Direktor Samanon gegenwärtig Frühstückstoilette machte. Daß alles gut war, daß nur ein paar Tage Stubenarrest übriggeblieben waren . . . ihr zuliebe . . . sonst nichts . . .
Er nahm den Degen. Er küßte wieder ihre Hand. Dann sah er traurig vor sich hin.
»Willst du mir dein Wort geben, daß du nicht mehr spielst?« fragte sie.
Er nickte.
»Nie mehr?«
Er nickte. Ganz leicht war das nicht. Mußte aber sein einer gütigen Frau zuliebe. »Mein Wort.«
»Und dann das andere. Daß du nie mehr Kriege erklärst ohne meinen Willen? An die europäische Zivilisation?«
195 Da lächelte er. »Solange ich in Ew. Hoheit Diensten bin.«
»Immer, Cradock!«
Da schüttelte er traurig den Kopf. Ein Mann war ein Mann. Mußte so sein, wie Gott ihn erschaffen hatte.
Ein Abenteurer war ein Abenteurer. Mußte so sein, wie Gott ihn erschaffen hatte.
Ein Komet war ein Komet. Mußte ruhelos durch das Weltall sausen, Unfug stiften, bis er irgendwo zerspellte . . .
Es mußte wohl so sein. Er schüttelte den Kopf. »Solange ich in deinen Diensten bin.«
»Immer!«
»Nein.«
Es war wohl besser so für sie und für ihn. Er konnte dieses Schiff führen . . . noch ein halbes Jahr. Des Anstandes halber. Der Form wegen, die gewahrt werden mußte. Dann wollte er gehen.
»Wohin?«
Er sah sie stumm an, machte eine etwas müde Handbewegung.
»Cradock, wohin gehst du?«
196 Er lächelte ein wenig und schwieg. Abenteurer wissen nicht, wohin sie gehen. Da nickte sie stumm. Es war so. Es mußte wohl so sein. Und daß es nun ein sauberer, scharfer Schnitt war – das war wohl das Gute daran.
Sie standen zusammen an der Reling. Ein Boot kam. »Meine alte Violet.« Sie lachte.
Ein Windstoß fuhr über die Bucht, der böse Husten kam wieder. Er sah sie erschrocken an.
»Und du?«
Sie lächelte nur. Sie hatte ihr tapferes Knabengesicht.
»Du bist leidend?«
»Oh, nicht der Rede wert.«
»Und gehst nun nicht dorthin«, er machte mit dem Kopf eine Bewegung dorthin, wo hinter Meeresbläue und Sonnenfeuer Ägypten lag. »Und gehst nicht dorthin . . . meinetwegen?«
Da lachte sie. »Die Kohlengelder, mein Herr Kapitän, liegen dort, wo die Perlen liegen.« Da senkte er den Kopf. Sehr tief beschämt. Er war ein ritterlicher Cradock. Daß sie etwas, was ihr zukam, entbehren sollte seinetwegen: das war die bitterste Lektion.
197 »Ich werde keine Kriege mehr erklären ohne dich.« Da sah sie sich um auf dem menschenleeren Deck, vergewisserte sich, daß es niemand sah. Ging zu ihm und strich ihm beruhigend über das Haar, in dem wirklich noch kein Grau zu finden war. »Alter, dummer Junge!« sagte die kleine Mary.
Unten am Fallreep brummte schon der Motor. Violet Gräfin Hensbarrow, Zofe Susan und fünf nun etwas deplazierte Lederkoffer.
»Nun wird es wohl ein Ende haben mit uns beiden«, sagte die kleine Mary.
»Nun muß es wohl sein.«
Sie sahen sich an. Nein, keine Vertraulichkeiten. Scharfer, sauberer Schnitt und tapfere Herzen. Sie gaben sich die Hand.
»Du.«
»Du.«
»Und vergibst mir?«
»Dummer Junge!«
Die anderen, sie hatten nun ihre Frühstückstoilette beendet. In goldbetreßtem Gala-Zweispitz und funkelnden Lackstiefeln ein frisch 198 aus dem Ei geschälter Marineleutnant Fennimore Williams.
In etwas abgetragener Uniform ein alter, dicker, asthmatischer Schiffsdoktor Wilbour Crofts.
In einem ausgeliehenen, aber angesichts der gleichen Staturen leidlich sitzenden Cutaway ein nun wieder sauberer und stattlicher Direktor Samanon.
In einem würdigen, leicht nach Kampfer duftenden und mit Hilfe der Zofe Susan glücklich zugehakten Reisekleid eine ältliche, auf Zucht und gute Sitte haltende Hofdame, Violet Hensbarrow.
Vorstellung und Tischordnung und zu allem ein tapferes Weiberherz, das sein Inneres nicht offenbart.
Eine angemessene Tischordnung.
Die Hoheit von Labrador und der Repräsentant der Bank von Monte Carlo.
Die Gräfin Hensbarrow und der Doktor Crofts.
Kleine Flottenleutnants bekommen noch keine Tischdame.
199 Und der verlorene Sohn namens Cradock sitzt zur Linken der Hoheit von Labrador.
Bomben auf Monte Carlo sind gut. Aber zu Tisch gehen ist besser. Und alle die bösen Menschen haben morgens keinen Appetit, und alle die guten Menschen haben um sechs Uhr früh schon einen Hunger wie eine Riesenschlange. Ein nettes, liebes, kleines Frühstück. Frugal aber nett. Eier, Zunge, Schinken, Lachs, Kaviar, Langusten, Birkhuhn, Roastbeef, Honig, Butter, Jams, Schwarzbrot, Kognak. So, und nicht anders . . .
Am Abend aber, als die Hoheit von Labrador sich von dem Direktor Samanon noch nach der Corniche führen ließ, war da unter dicken, mit dem letzten Kohlenschutt gespeisten Rauchwolken ein kleines Schiffchen zu sehen, das in Savona Gelder für neue Kohlen vorfinden sollte.
Ein kleiner silbriger Kreuzer, der Kurs nach Osten nahm.
Der Herr Direktor Samanon fragte, wohin er ginge.
200 Die Hoheit an seiner Seite überhörte die Frage und antwortete nicht.
Abenteurer kennen ihren Weg nicht.
Und nie steigt ein Mann höher, als wenn er nicht weiß, wohin er geht.