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Rede vor der Vollversammlung der Genueser Konferenz vom 19. Mai 1922

Der Abschluss der provisorischen Arbeiten der Konferenz gestattet uns einen Ueberblick über die welthistorischen Leistungen der Konferenz, die erst in den kommenden Jahren mehr und mehr hervortreten werden und für die Europa der Genueser Konferenz Dank schuldet. Es wäre ein unberechtigter Optimismus, zu hoffen, dass durch den Abschluss dieser Arbeiten die Weltkrise sofort eine merkliche Linderung erfährt. Eine solche Besserung der allgemeinen Weltlage wird erst dann eintreten, wenn eine Reihe von Prinzipien erfüllt sind, die in den Beratungen der Kommission mit immer wachsender Deutlichkeit hervortraten, wenn sie vielleicht auch nicht ihren vollen Ausdruck in den niedergelegten Leitsätzen gefunden haben.

Indem ich mich an die der Konferenz gezogenen Grenzen auf das strikteste halten werde, will ich versuchen, die vier grossen und unausgesprochenen Wahrheiten darzulegen, die mir aus den Beratungen hervorzugehen scheinen und die, wie ich glaube, unbedingte Voraussetzungen für eine Gesundung der Weltwirtschaft bilden. Die erste dieser Wahrheiten lautet: Die gesamte Verschuldung der Länder ist zu gross im Verhältnis zu ihrer Produktionskraft.

Alle hauptsächlichen Wirtschaftsländer sind in einen Verschuldungskreis hineingezogen, der die meisten gleichzeitig zu Gläubigern und Schuldnern macht. Durch ihre Eigenschaft als Gläubiger wissen die Staaten nicht, wieviel sie von ihrem Guthaben erhalten werden, in ihrer Eigenschaft als Schuldner wissen sie nicht, wieviel sie zahlen können und müssen.

Ueberhaupt kann kein Staat einen wirklichen Haushalt aufstellen, kein Staat kann es wagen, sich in grosse umfangreiche Neueinrichtungen einzulassen, die seine Wirtschaft verbessern und die dem Geldmarkt neue Nahrung geben. Kein Staat kann auf eine gesicherte Stabilisierung seiner Zahlungsbilanz und damit auf seine Wechselkurse vertrauen, mit Ausnahme jenes einen grossen Reiches, das niemandem schuldet und Gläubiger aller ist, nämlich Amerika, ohne dessen Beteiligung der Wiederaufbau Europas unmöglich wird. Vor allem aber können den überschuldeten Ländern neue Mittel, deren sie bedürfen, nicht zugeführt werden, denn die Ueberschuldung liegt vor aller Augen zutage, und so wenig ein freier Gläubiger bereit sein kann, Devisen zur Verfügung zu stellen, so wenig darf ein überlasteter Schuldner es wagen, sie anzunehmen.

Auch in früheren Zeiten waren die Staaten untereinander verschuldet, aber diese Schuld stand in einem Verhältnis zur Produktionskraft und entsprach überdies werbenden Anlagen. Die heutige Verschuldung beläuft sich auf mehr, als die Staaten in Jahrzehnten ersparen und abzahlen können. Sie ist somit eine finanzielle Realität. Eine wirtschaftliche Realität aber ist ihnen so fern, als sie den Produktionsprozess der Welt hemmt.

Es bleibt somit nur derjenige Weg übrig, der von einzelnen Wirtschaftsobjekten stets beschritten wurde, wenn ihre Verschuldung die Produktionskraft überstieg, nämlich der Weg der Sanierung und des Schuldabbaues.

Die zweite der ausgesprochenen Genueser Wahrheiten scheint mir zu liegen in dem Satz, dass kein Gläubiger seine Schuldner am Bezahlen der Schulden hindern sollte. Wenn ein einzelnes Individuum einem anderen Geld schuldet, so kann verlangt werden, daß zur Auszahlung eine vereinbarte Münze verwendet wird, und es ist Sache des Schuldners, solche Münzen sich zu verschaffen, wie sie am Markte in jeglichem Umfange stets erhältlich sind. Ein Land kann einem anderen auf die Dauer seine Schulden nur in Gold bezahlen und, wenn es Gold nicht produziert oder nicht in grösserem Umfange besitzt, in Gütern.

Eine Zahlung in Gütern aber ist dann nur möglich, wenn der Gläubiger sie gestattet. Verbietet er sie, so tritt Zahlungsunfähigkeit ein, und erschwert er sie durch Zölle oder durch andere hindernde Massnahmen, so wird der Betrag der Schuld willkürlich vermehrt; denn wenn um so viel mehr Waren geliefert werden, als erforderlich ist, um die auferlegten Lasten zu bezahlen, dann wird das Zahlungsmittel entwertet und somit die Schuldsumme erhöht.

Es sollte somit jedes Land, das Zahlungen zu empfangen wünscht, seinen Schuldnern solche Erleichterungen der Einfuhr gewähren, die es ihm ermöglichen, den verschuldeten Betrag ohne unwillkürliche Erhöhung zu leisten.

Die dritte der Wahrheiten ist vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck gekommen und ausgesprochen in dem Satz, dass die Weltwirtschaft erst dann wieder hergestellt werden kann, wenn ein imponderabiler Wert wieder gewonnen ist, nämlich das wechselseitige Vertrauen. Dieses Vertrauen kann aber nur wiederkehren, wenn die Welt im wahren Frieden lebt.

Der heutige Zustand der Welt ist nicht Frieden, sondern ein Zustand, der dem Kriege ähnlich ist, jedenfalls ist es kein vollkommener Friede. Leider ist in den einzelnen Ländern die öffentliche Meinung noch nicht demobilisiert. Die Ueberreste der Kriegspropaganda zirkulieren noch immer und belasten die Atmosphäre. Jeder, der seine Mittel und seine Arbeit einem Lande anvertraut, hat daher mit der Gefahr zu rechnen, dass dieses Land binnen kurzem durch Verhältnisse höherer Gewalt, die nicht in Naturereignissen, sondern in politischen Ereignissen liegen, gefährdet und verwandelt werden kann. Vor allem ist die Erkenntnis nicht gesichert, dass ein Schuldner, zumal wenn er verarmt ist, der Schonung bedarf, und dass er unfähig wird, zu leisten, wenn ihn die Mächte seiner Möglichkeiten, namentlich seines Kredits, berauben. Dass dies tatsächlich die Imponderabilien sind, die den ehemals so grossen Austausch des Produktions- und Konsumptionsverkehrs hemmen, geht aus der Tatsache hervor, dass die Produktionsmittel der Welt nahezu vollkommen erhalten sind. Selbst wenn man alle tief bedauerlichen Zerstörungen des Krieges und vor allem der Nachkriegszeit in Rechnung zieht, darf man annehmen, dass im gesamten Produktions- und Verkehrsapparat selbst mehr als 90 Prozent erhalten sind. Die gewaltigen und tief beklagenswerten Zerstörungen innerhalb des russischen Reiches greifen in den Welthandel nur mit etwa 3 Prozent ein.

Trotz der grossen Menschenverluste des Krieges sind aber die menschlichen Produktionskräfte fast vollständig erhalten, denn sie haben sich in starkem Umfange ergänzt. Wenn somit die Geldmaschinerie nicht arbeitet, obgleich sowohl ihre Substanz wie ihre Triebkräfte fast vollständig erhalten sind, wenn auf der einen Seite Millionen von Händen feiern, auf der anderen Seite Millionen von Menschen hungern, wenn auf der einen Seite unzählige Gütermengen unverkäuflich sich aufstapeln, auf der anderen Seite an den gleichen Gütern der schwerste Mangel besteht, so liegt das daran, dass die wechselseitige Verschuldung als psychologisches Moment wirkt. Als weitere psychologische Momente sind der mangelnde Friedenszustand und das mangelnde Weltvertrauen bestimmend.

Wenn man sich nun fragt, ob es denn wirklich kein Mittel gibt, die erschlafften Kräfte des Weltaustausches neu zu beleben, die Maschinerie der Weltproduktion von neuem in Bewegung zu setzen, so ergibt sich die vierte der unausgesprochenen Thesen, nämlich die, dass nicht durch irgend einen oder zwei Käufer, sondern durch das Zusammenwirken aller in den ökonomischen und Weltproblemen neue Bewegung zugeführt werden kann.

Wie sollte auch nach einem Zerstörungswerk sondergleichen die Welt geheilt werden, wenn nicht sämtliche Länder der Erde sich dazu entschliessen, gemeinschaftlich Abhilfe zu bringen. Durch ein universelles Opfer der Welt und der leidenden Menschheit kann nur eine leidende Welt geheilt werden. Niemals ist ein Wiederaufbau anders gelungen als durch Aufwendung gewaltsamer neuer Mittel. Solche Mittel werden nicht aufgebracht werden, solange ein jedes Glied der Weltwirtschaft mit wenigen Ausnahmen überschuldet ist. Das erste Opfer wird somit in dem allgemeinen Abbau des Verschuldungskreises zu suchen sein. Das weitere Opfer besteht in der gemeinsamen Aufbringung grosser neuer Mittel für den Wiederaufbau, sei es auf dem Wege allgemeiner und wechselseitiger Kredite, sei es auf anderen Wegen, deren Erörterung zu weit führen würde. Dass die Genueser Konferenz zur Erörterung dieser Fragen geführt hat, ist eine Tatsache, die in der Geschichte Europas unvergessen bleiben wird.

Ein weiteres historisches Ergebnis der Konferenz erblickt die deutsche Delegation in der Annäherung des grossen, schwerbedrängten russischen Volkes an den Kreis der besten Nationen. Durch manche Aussprachen hat Deutschland sich bemüht, zu einer Annäherung der beiderseitigen Gesichtspunkte beizutragen. Deutschland hofft, durch die Fortsetzung der beiderseitigen Besprechungen das Werk des Friedens zwischen Ost und West zu fördern.

Für den Schutz, den Italien diesem Werk des allgemeinen Friedens gewährt hat, schuldet die Welt dieser hochherzigen Nation und ihren Führern den tiefsten Dank. Die Geschichte Italiens ist älter als die der meisten europäischen Nationen. Auf diesem Boden sind mehr als einmal grosse Weltbewegungen entstanden. Abermals und hoffentlich nicht vergebens haben die Völker der Erde ihre Augen und Herzen zu Italien erhoben in der tiefen Empfindung, der Petrarca den unsterblichen Ausdruck verliehen hat: Io vò gridando Pace, Pace, Pace!

Anhang


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