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Rede vor dem Hauptausschuß des Reichstages 7. März 1922

Im Mittelpunkt unserer gesamten Aussenpolitik steht nach wie vor das Problem der Reparationen. In dem Augenblick, als im Frühjahr letzten Jahres das Ultimatum von Deutschland unterzeichnet wurde und dadurch das Reparationsproblem in sein gegenwärtig aktuelles Stadium trat, waren drei Auffassungen in Deutschland gegenüber diesem Problem erkennbar.

Die eine Auffassung ging dahin, es müsse Festigkeit gezeigt und Widerstand geleistet, es müsse, komme, was da wolle, die Leistung der Reparationen überhaupt abgelehnt werden. Ich glaube nicht, dass diese Anschauung eine verbreitete war, sie ist aber in der Oeffentlichkeit zum Ausdruck gekommen. Niemand hat den Versuch gemacht, darzulegen, mit welchen Mitteln eine solche Politik geführt werden könne, und zu welchen Ergebnissen sie führen würde. Dieses Ergebnis wäre lediglich die Katastrophe gewesen, die Versenkung Deutschlands in ein Chaos auswärtiger Verwirrungen.

Die zweite Auffassung, die uns entgegentrat, fand Widerklang in diesem hohen Hause. Es war die Auffassung, dass man zwar bis zu einem bestimmten Masse sich dem Reparationsproblem nähern dürfe, dass aber die erste Aufgabe der Reichsregierung darin bestehen müsse, wie man sich ausdrückte, mit aller Offenheit zu erklären, die Leistungen seien vollkommen unerfüllbar und es habe überhaupt keinen Zweck, sie in irgendwelchem bedeutenderen Ausmasse in Erwägung zu ziehen. Diese Politik wurde bezeichnet als die Politik der Offenheit, und es wurde der Regierung der schwere Vorwurf gemacht, dass sie angeblich diese Offenheit nicht aufbrächte. Diese Auffassung war unpsychologisch, denn der andere hörte aus dem »Wir können nicht« nur das »Wir wollen nicht« heraus.

Die dritte Auffassung des Versuches der Erfüllung war die Auffassung der Reichsregierung, und sie ist im Laufe dieses Jahres in erheblichem Masse gefördert worden. Die Reichsregierung ging davon aus, dass eine Verpflichtung für das Reich geschaffen sei durch die Unterschrift seiner massgebenden Stellen. Sie ging davon aus, dass unter allen Umständen der Versuch gemacht werden müsse, den ehemaligen Gegnern zu zeigen, dass Deutschland bereit sei, bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit zu gehen. Ich glaube, dass diese Auffassung die psychologisch richtige war. Sie rechnete mit der Mentalität der ehemals gegnerischen Länder und ging davon aus, dass über kurz oder lang eine Erkenntnis des wirklichen Sachverhalts eintreten würde durch eigene Einsicht der übrigen Nationen.

Ich bedaure, dass ein Wort, das ich bei Einleitung dieser sogenannten Erfüllungspolitik gesprochen habe, erheblichen Missverständnissen begegnet ist. Man hat aus Ausführungen, die ich im Reichstag tat, geschlossen, ich wäre der Meinung, Deutschland könne bis zu jedem beliebigen Masse seine Erfüllung treiben; es wäre lediglich eine Frage, wie weit man es für wünschenswert hielte, das Volk in Not geraten zu lassen. Ich würde eine solche Auffassung, wenn sie in meinen Worten erkennbar wäre, auf das tiefste bedauern. Was ich gesagt habe, war aber so ziemlich das Entgegengesetzte. Ich habe für die Möglichkeit der Erfüllung die stärkste Grenze gezogen, die man überhaupt ziehen kann, nämlich die sittliche. Ich habe erklärt, dass das Mass der Erfüllung gegeben sei durch die Frage, wie weit man ein Volk in Not geraten lassen dürfe. Dieses »dürfe« unterstreiche ich, denn darin war die sittliche Verpflichtung enthalten, nur bis zu dem Punkte zu gehen, den der Staatsmann verantworten kann. Diesem Grundsatz ist die Regierung treu geblieben. Es hat sich im Laufe des Jahres dann auch gezeigt, dass die Fragestellung »Möglichkeit oder Unmöglichkeit« der Erfüllung überhaupt nicht diejenige geworden ist, die die Mentalität der übrigen Länder ausschliesslich beschäftigt hat. In kurzer Zeit hat sich ergeben, dass eine weitere Frage hervortrat, nämlich die: wie weit eine Reparationsleistung Deutschlands überhaupt für die übrigen Völker erträglich sei, denn die volkswirtschaftliche Verknüpfung der Länder führte dazu, zu erkennen, dass die Zwangsarbeit eines Landes, auf den Weltmarkt gebracht, nur dazu führen kann, den gesamten Markt der Erde zu zerrütten, und damit, wenn auch auf einer Seite Zahlungen erlangt werden, Nachteile für andere Länder zu schaffen, die so erheblich sind, dass sie z. B. in England allein zu einer Arbeitslosigkeit von 2 Millionen Menschen führten. Psychologisch also hat sich das Vorgehen der Regierung als richtig erwiesen. Es war vermieden worden, eine fruchtlose Diskussion auf den Grad einer theoretischen Möglichkeit zu beschränken. Es war die Möglichkeit dadurch geschaffen, lediglich die Tatsachen sprechen zu lassen; und die Sprache der Tatsachen ist so stark gewesen, dass heute fast in allen Ländern übereinstimmend die Auffassung herrscht, dass das Reparationsproblem von neuem studiert werden muss. Es ist kein Tag vergangen, an dem das Studium des Reparationsproblems in der Welt geruht hätte. In energischer Weise ist die englische Auffassung für erneute Prüfung eingetreten, die Reparationskommission hat sich der Frage angenommen, und gerade in diesem Momente schweben die Verhandlungen darüber, auf welches Mass die Reparationen für das Jahr 1922 begrenzt werden sollen.

Mit dieser allgemeinen Auffassung der Regierung im Zusammenhang stand die praktische Politik, die sie im Laufe des Jahres verfolgt, und deren erste Etappe nach Wiesbaden führte.

Die Aufgabe von Wiesbaden war eine doppelte. Es handelte sich zunächst darum, überhaupt die Möglichkeit zu finden, wie erhebliche Zahlungen von einem Lande an ein anderes geleistet werden könnten; denn es war evident, dass es nicht möglich war, Goldleistungen von Deutschland ins Ausland zu führen, soweit nicht eine erhebliche Aktivität der Handelsbilanz vorhanden gewesen wäre, und diese war nicht vorhanden. Es handelte sich also darum, Modalitäten zu finden, um überhaupt dem Reparationsproblem eine Unterlage der Durchführbarkeit zu geben. Der Begriff der Sachleistungen trat in den Vordergrund. Es wurde versucht, zunächst mit Frankreich ein Abkommen der Sachleistungen zu schliessen und dieses Abkommen so einzurichten, dass der Strom an Gütern, der zu erwarten stand, in erster Linie dem Wiederaufbaugebiet zugeführt würde.

Daneben aber lag die zweite politische Aufgabe mit grösserer Wichtigkeit. Die Anknüpfung der Reparationsbeziehungen zur übrigen Welt war überhaupt nur denkbar, wenn zunächst diejenigen Gebiete berücksichtigt wurden, die am schwersten unter den Zerstörungen des Krieges gelitten hatten. Es ist eine europäische Notwendigkeit, dass die zerstörten Gebiete Frankreichs wieder aufgebaut werden. Solange sie als Wüsteneien zwischen Deutschland und Frankreich liegen, bleiben sie ein Symbol der Spaltung zwischen den Völkern. Immer wieder wird den Bewohnern dieser Gebiete Bitterkeit ins Gemüt geführt, und die Länder der Erde sehen in den zerstörten Gebieten das Wahrzeichen eines noch nicht wiederhergestellten Friedens. Ich halte es für dringend nötig, dass der Wiederaufbau der zerstörten französischen Gebiete sobald als möglich erfolgt, und ich glaube, dass das Zentralproblem der ganzen Reparationen darin liegt, dass Deutschland sein möglichstes tut, um diese Gebiete wiederherzustellen.

Die beiden Aufgaben wurden in Wiesbaden gestellt und gelöst. Es wurde ein Abkommen zwischen Deutschland und Frankreich hergestellt, das auch auf andere Staaten seine Anwendung finden konnte. Leider ist das Ergebnis von Wiesbaden zwar nicht, wie es wünschenswert gewesen wäre, ein Friedenswerk nach aussen und innen gewesen. Nach aussen mehr als nach innen. Im Innern entfaltete sich eine heftige Agitation und Kontroverse gerade gegen die Sachleistungen. Mit wechselnden Argumenten ging man vor. Man behauptete, dass das Wiesbadener Abkommen das deutsche Volk zugrunde richtete, man behauptete, wir hätten damit Frankreich eine Option auf unsere Konjunktur gegeben. Man behauptete, wir wären weit über unsere Verpflichtungen von Versailles hinausgegangen. Jede dieser Behauptungen wurde widerlegt, aber sie wuchsen nach wie die Köpfe der Hydra, und es wurde offenkundig, dass es weniger die wirtschaftlichen als die politischen Bestrebungen waren, die die grosse Agitation gegen Wiesbaden hervorriefen. Das wurde deutlich in dem Augenblick, als man behauptete, das Wiesbadener Abkommen hätte eine so schwere Spaltung zwischen Deutschland und England hervorgerufen, dass nunmehr England endgültig sich von jedem Interesse Deutschland gegenüber losgesagt habe. Dass dies nicht der Fall war, wurde mir von englischer Seite bestätigt; Engländer hoher Stellung erklärten mir, dass sie in dem Wiesbadener Abkommen unseren ersten politischen Schritt zur Verwirklichung des Reparationsproblems erblickten. Sie gingen so weit, zu sagen, dass ohne das Abkommen von Wiesbaden diejenigen weiteren Entwicklungen nicht möglich gewesen wären, die uns im Verlauf der Zeit nach Cannes führten.

Die Konferenz in Cannes ist, meine Herren, wie Sie wissen, nicht bis zu ihrem letzten Ende geführt worden. Sie wurde vorzeitig abgebrochen, durch innerpolitische französische Verhältnisse, durch die Amtsniederlegung des französischen Ministerpräsidenten. Wir können nicht sagen, dass Cannes eine endgültige Regelung im Sinne einer gesamten Ordnung der Zukunft uns gegeben hätte. Wir können aber auch nicht sagen, dass das Ergebnis von Cannes ein negatives gewesen sei. Es ist möglich geworden, durch die Verhandlungen, die dort und zuvor in London stattgefunden haben, ein Abkommen zu präliminieren, wenigstens für das Jahr 1922, das heute noch nicht ganz geregelt ist, aber das vermutlich in den nächsten Wochen seine Regelung finden wird. Es ist möglich geworden, in Cannes, den Vertretern der früher uns gegnerischen Nationen die gesamte deutsche Situation darzulegen, und zwar in grösserer Ausführlichkeit und Klarheit, als wir es vermocht hätten, wenn wir lediglich uns auf den negativen Standpunkt der Ablehnung jedes Erfüllungsversuches gestellt hätten. Es ist ferner in Cannes dazu gekommen, dass eine Konferenz aller Nationen für Genua in Aussicht genommen wurde, die nach wechselnden Schicksalen nun doch wahrscheinlich im April stattfinden soll. Auf der einen Seite ist der Reflex in der deutschen Oeffentlichkeit der gewesen, als Cannes beendet war, dass von Genua sehr wenig zu erwarten sei, dass die Ergebnisse völlig unbefriedigende seien, dass die Regierung dort nicht nur keinen Erfolg, sondern eigentlich, genau betrachtet, eine schwere Niederlage erlitten habe. Im merkwürdigen Kontrast dazu stand es, dass gerade von denselben Stellen, die in Genua eine vollkommene Gleichgültigkeit erblickten, in dem Augenblick, als die Boulogner Beschlüsse stattfanden, erklärt wurde, dass nun die letzte Hoffnung geschwunden sei, die wir in Deutschland hätten aufleuchten sehen. In einem der beiden Fälle müssen die Kritiker sich geirrt haben, entweder war in Cannes doch etwas erreicht worden oder der Verlust, der angeblich in Boulogne erlitten worden sein soll, konnte kein so überaus schwerer sein.

Ich glaube, dass tatsächlich ein doppelter Irrtum vorlag. Auf der einen Seite wurde die Genueser Konferenz unterschätzt in dem Augenblick, als sie auftrat, auf der anderen Seite wurden die Boulogner Beschlüsse überschätzt in dem Augenblick, als sie zur Wirklichkeit wurden. Diejenigen, die der Entwicklung näher standen, haben niemals daran gezweifelt, dass Genua nicht die Stelle sein konnte, an der von einem Gremium aus mehr als 40 Nationen, von denen ein grosser Teil weder Unterzeichner von Versailles noch Kriegsbeteiligte waren, dass von diesen Nationen Beschlüsse nicht gefasst werden konnten über die Versailler Grundlagen oder über die Grundlagen der Reparationen. Boulogne hat die Bestätigung dafür erbracht, dass das Reparationsproblem und der Versailler Vertrag diesem Gremium zur Beschlussfassung nicht unterliegen kann. Eine Ueberschätzung von Genua kann indessen darin liegen, dass man erwartet, es könne von dort aus sofort eine neue Regelung der europäischen Verhältnisse ausgehen. Ich halte es für bedenklich, zu glauben, dass eine Gemeinschaft von 40 Nationen mit Vertretern, deren Zahl in die Hunderte geht, eine aktive Politik führen kann, die mit einem Schlage uns in eine neue politische Weltkonstellation führt, den Vertrag abändert und die Reparationen auf ein normales Mass zurückführt. Wohl aber wird die Möglichkeit vorhanden sein, dass in Genua die allgemeinen Ursachen der Welterkrankung erörtert werden, und dass die Nationen gemeinschaftlich nach solchen Wegen suchen, die zu einer Gesundung des ganzen Kontinents führten. Genua wird voraussichtlich das erste Glied einer Serie von Konferenzen sein, die vermutlich dieses und das nächste Jahr in Anspruch nehmen werden. Einen anderen Weg als den Weg der Konferenzen gibt es unter den heutigen Verhältnissen leider nicht. Begegnung der Staatsmänner findet statt auf Seiten der Entente; dort ist die Möglichkeit der Aussprache kontinuierlich gegeben. Für uns aber, die wir nicht in gleichem Masse in Verbindung stehen mit unseren Nachbarvölkern, ist eine Konferenz schon deswegen von Wichtigkeit, weil sie uns die Möglichkeit mündlicher Aussprache, persönlichen Kontaktes gibt, der unter allen Umständen vorzuziehen ist dem Wege der Noten und der diplomatischen Verhandlungen.

Wer also der Auffassung ist, dass von Genua eine neue Aera des Geschehens ausgehen wird, der, fürchte ich, wird eine Enttäuschung erleben. Ich habe den Eindruck, dass in wirtschaftlichen Kreisen trotz aller Enttäuschung über Boulogne ein solcher Optimismus besteht, und ich würde nicht wünschen, dass er sich befestigt. Wer aber der Meinung ist, dass von dem gegenwärtigen schwerkranken Zustand des gesamten europäischen und Weltwirtschaftskörpers ein Weg gefunden werden muss zu einer Gesundung, und wer der Meinung ist, dass dieser Weg nur durch gemeinschaftliche Aussprachen erreicht werden kann, dass dieser Weg zwar lang, aber unter allen Umständen beschreitbar ist, der wird, glaube ich, in Genua dasjenige finden, was er sucht.

Was die Entwicklung der Reparationen selbst betrifft, so wird ihr Gremium voraussichtlich bis auf weiteres die Reparationskommission bleiben, und hinter der Reparationskommission diejenigen Mächte, die in erster Linie die Empfangsberechtigten sind. Ich glaube, dass die Entwicklung des Reparationsproblems folgenden Gang nehmen wird: man wird für das Jahr 1922, auch wohl für das Jahr 1923 zu Lösungen zu kommen suchen, die zunächst nur provisorische Lösungen sein werden. Sie können nur provisorisch sein, denn auf der einen Seite ist ein gewaltiges Geldbedürfnis bei den empfangsberechtigten Staaten, auf der anderen Seite ist die Zahlungskraft Deutschlands, insbesondere in Barmitteln, eine begrenzte. Die Erkenntnis ist wohl heute so ziemlich in der ganzen Welt verbreitet, dass ein Volk dem andern nur dauernd zahlen kann aus dem Ueberschuss seiner Zahlungs- und Handelsbilanz. Unsere Zahlungsbilanz ist schwer passiv, unsere Handelsbilanz ist in den letzten Monaten um eine Kleinigkeit aktiv geworden. Zahlungsmittel in bar sind somit nur in beschränktem Masse aufzubringen. Es kann daher für 1922 und 1923 wahrscheinlich nur ein Provisorium gefunden werden, das auch nicht entfernt den Wünschen extremistischer Gegenseiter entspricht, die im Anfang des vorigen Jahres noch die öffentliche Meinung beherrschten. Wir sehen heute einen erkennbaren Massstab für Barleistungen in der Tatsache, dass, sobald diese Leistungen eine bestimmte Menge überschreiten, die Wechselkurse gegenüber Deutschland ins Schwanken, in lebhafte Bewegung kommen. Die Dekadenzahlung von 31 Millionen, die als Vorprovisorium für die ersten Monate dieses Jahres uns zugemutet worden ist, von der ich in Cannes den Beteiligten gesagt habe, dass sie nur auf wenige Wochen beschränkt sein dürfe, hat bereits den Wechselkurs gegen Deutschland in starkem Masse zu unseren Ungunsten beeinflusst. Man darf sagen, dass die deutsche Leistungsfähigkeit in Barzahlung direkt ihr Mass findet in der Bewertung des Dollars an der Berliner Börse. Ich habe die Mitglieder der Reparationskommission, die sich vor einiger Zeit in Berlin aufhielten, darauf aufmerksam gemacht, wie unbedingt nötig es sei, schon jetzt, gleichviel ob die Regelung für das Jahr 1922 sich noch etwas hinzieht, die Dekadenzahlungen zu verringern, um den Dollarkurs nicht weiter in Bewegung zu setzen. Denn was es bedeutet, wenn die deutsche Währung ihren scharfen Rückgang fortsetzt, das wissen wir alle. Wir wissen, dass damit das Budget ins Wanken kommt, dass alle Lasten sich erhöhen, dass alle Lohn- und Gehaltsbemessungen von neuem in Frage gestellt werden, dass die ganze Kette der Bewertungen im Lande sich in Bewegung setzt. Es ist möglich, dass an den letzten Dollarbewegungen bis zu einem gewissen Grade Spekulation beteiligt war. Wir dürfen nicht vergessen, dass grosse Mengen deutschen Geldes im Besitz des Auslandes sind, und die Gefahr ist gross, dass, wenn eine starke Bewegung in unseren Valuten stattfindet, das Ausland erhebliche Beträge seiner Markbestände auf den Markt bringt. Ich hoffe nicht, dass gleiches spekulativ von deutscher Seite geschieht. Denn wenn man sich vorstellt, dass von deutscher Seite spekulative Käufe in fremden Devisen stattfänden, so wäre es das traurigste Phänomen, das man sich denken kann. Wir müssen im Auge behalten, dass jeder Deutsche, der spekulativ fremde Valuten kauft, auf nichts anderes als das Unglück unseres Landes spekuliert. Diese Kenntnis sollte sich soweit nur irgendmöglich verbreiten. Ich hoffe, dass Deutsche an der spekulativen Bewegung unserer Währung nicht beteiligt sind.

Wenn wir also für das Jahr 1922 und vielleicht auch für das Jahr 1923 nur zu provisorischen Regelungen kommen, so muss dafür gesorgt werden, dass einmal die endgültige Regelung eintritt. Und sie kann nur dann eintreten, wenn der grosse Kreis der wechselseitigen Verschuldung in Europa sich lockert. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass das Reparationsproblem nur ein Teilproblem innerhalb des allgemeinen Weltverschuldungskreises bedeutet. Die Weltverschuldung umfasst Europa und Amerika gemeinschaftlich. Die europäischen Staaten fast sämtlich schulden direkt oder indirekt an Amerika, sie schulden ausserdem untereinander. Die meisten sind Gläubiger und Schuldner zugleich; diejenigen, die ausschliesslich Schuldner sind, sind wir. Schwerlich wird sich das Reparationsproblem aus dem allgemeinen Weltverschuldungsproblem herauslösen lassen. Dieses Weltverschuldungsproblem wird aber Gegenstand der Erörterungen in der Politik aller Länder während der nächsten Jahre sein müssen. Gelingt es, dieses Problem – und es wird nur gelingen unter dem Hinzutritt von Amerika – einer erträglichen Lösung zuzuführen, so ist damit auch die Lösung der deutschen Reparation ermöglicht.

In diesem Falle muss nämlich der Versuch gemacht werden, mit Hilfe aller europäischen und aussereuropäischen Kapitalstaaten eine grosse Anleihe zu Lasten Deutschlands aufzunehmen, sie den Empfangsberechtigten zu übergeben und damit das Reparationsproblem endgültig zu beseitigen. Ob unter den heutigen Verhältnissen Kapitalaufnahmen seitens Deutschlands in erheblichem Masse möglich sind, ist zu bezweifeln, denn der Versailler Vertrag steht der Kreditgewährung an Deutschland entgegen. Darüber hat sich niemand deutlicher ausgesprochen als der Leiter der Bank von England. In dem gleichen Masse, wie die Erkenntnis des Gesamtverschuldungsproblems in den Mittelpunkt des öffentlichen und des Weltinteresses tritt, wird man den Versuch machen müssen, der Kreditwürdigkeit Deutschlands zu helfen und dadurch eine Finanzoperation zu ermöglichen, die von ausserordentlich grossem Umfange sein kann und sein muss, um das grosse Problem zu lösen. Schon aus dem Grunde möchte ich wünschen, dass das Reparationsproblem seine Beendigung durch eine grosse Weltanleihe fände, weil ich der Meinung bin, dass der Zustand auf die Dauer schwer aufrechtzuerhalten ist, dass ein Volk Zahlungen direkt an einen oder mehrere seiner Nachbarn leistet. Die Anonymisierung der Schuld wird die Schuld erleichtern und wird sie dauernd tragbarer machen. Die Schuld an Nachbarn nimmt die Form eines Tributes an, und ein solcher Tribut ist nicht diejenige Form, unter der sich der Weltfrieden am besten konsolidiert.

Ich habe von den Aussichten Genuas gesprochen und darauf hingewiesen, dass auf der einen Seite vielleicht eine Enttäuschung für diejenigen entsteht, die von Genua die endgültige Regelung der Reparationsfrage erhoffen, dass aber auf der anderen Seite doch für uns die Erwartung besteht, dass Genua einen Markstein in der allgemeinen Entwicklung zum Weltfrieden darstellen wird. In hohem Masse wird das Ergebnis von Genua davon abhängen, welche Stellung Amerika entschlossen ist, zu dem Reparationsproblem, zum Friedensproblem überhaupt einzunehmen.

Amerikas Macht ist durch den Krieg gewaltiger gewachsen als die irgendeines anderen Landes. Der Eingriff Amerikas in das Schicksal der Welt ist keinem anderen Eingriff zu vergleichen, der seit Jahrhunderten in das Leben der Völker stattgefunden hat. Durch sein Eintreten in den Krieg hat Amerika den Krieg entschieden, durch sein Eintreten in den Friedenskongress hat Amerika den Frieden entschieden und durch seinen Eintritt in die Weltprobleme der Verschuldung und der Sanierung wird Amerika in der Lage sein, die Weltentwicklung in wirtschaftlicher und friedenbringender Richtung zu entscheiden.

Vielfach hat man bei uns die Vorstellung, Amerika sei ein Land, das lediglich seinen grossen materiellen Aufgaben lebt, von der Natur begünstigt und in grossartiger Isolation. Ich glaube, dass wenig Länder so entschieden durch Erwägungen ideeller Art zu bewegen sind wie Amerika. Ich glaube, dass die Motive, die Amerika zum Krieg und zur Friedensschliessung getrieben haben, nicht so sehr auf materiellen Wünschen beruhten, wie auf der Ueberzeugung einer Verantwortung, und ich glaube deshalb, dass Amerika sich nicht derjenigen Verantwortung entziehen wird, die ihm durch sein entscheidendes Eingreifen in die europäischen Schicksale erwachsen ist. Ich weiss, dass in Amerika eine starke Tendenz besteht, die dahin gerichtet ist, zu sagen, Europa ist weit entfernt, mit den Händeln dieses alten Kontinents wollen wir nichts zu tun haben. Es ist durchaus verständlich, wenn eine solche Auffassung gehegt wird. Aber ich glaube, in Amerika werden Gegenkräfte wach und stark sein, die die Auffassung vertreten, Europa darf nicht zugrunde gehen, die Quellen der ältesten und stärksten Zivilisation dürfen nicht erschüttert werden. Es darf nicht vergessen werden, dass derjenige, der den Krieg bestimmt hat und den Frieden bestimmt hat, nun auch für das Wohlergehen derjenigen Völker, deren Schicksal bestimmt wurde, eine Verantwortung trägt. Ich glaube auch, dass diejenige Auffassung in Amerika, die sagt, wir sind materiell am Geschick Europas so gut wie uninteressiert, nicht das Richtige trifft.

Ich habe von Amerika her Stimmen vernommen, die behaupteten, der ganze Aussenhandel Amerikas nach Europa bedeute ausserordentlich wenig, er bedeute, sagten die einen 4 Prozent, die anderen 7 Prozent der amerikanischen Produktion. Ich glaube, dass diese Zahl in Amerika sehr ernstlich der Nachprüfung bedarf und dass sie auch eine Nachprüfung finden wird. Wäre tatsächlich die Produktion Amerikas 15 mal grösser gewesen als seine Weltausfuhr, so wäre diese Produktion so gewaltig, dass sie sich mit der Arbeiterzahl, über die Amerika verfügt, nicht entfernt hätte leisten lassen. Der Anteil der Ausfuhr an amerikanischer Produktion ist tatsächlich erheblich grösser, und Amerika wird auch in materiellem Sinne erkennen, dass es wünschenswert ist, einen so starken Konsumenten, wie es Europa ist, gesund zu erhalten. Es besteht somit die Hoffnung, dass auf amerikanischer Seite ideelle und materielle Momente zusammenwirken werden, um die gewaltige Kraft dieses Landes den europäischen Schicksalen wieder zuzuwenden, die von ihr abhängen. Gleichviel, ob Amerika sich entschliesst, sich an Genua zu beteiligen oder nicht, glaube und hoffe ich, dass Europa nicht ganz allein auf sich selbst in der Regelung seiner überaus schwierigen Verschuldungsverhältnisse und in der Ordnung, in der Wiederherstellung seiner tief erkrankten wirtschaftlichen Gliederung angewiesen sein wird.

Wenn wir in einigen Wochen nach Genua gehen werden, so werden wir es nach eingehender Vorbereitung aller derjenigen Probleme tun, die Deutschland beherrschen, und vor allem derjenigen, die auf das Schicksal Europas einen wirtschaftlichen Einfluss ausüben. Ich glaube, dass es uns möglich sein wird, dort einen Boden zu finden, der für die Erörterung wirtschaftlicher Grundfragen vorbereitet ist, und hoffe, dass die Anbahnung eines künftigen wirklichen Friedenszustandes gelingt. Wir leben freilich nicht mehr im Kriege, aber wir leben noch immer weit entfernt vom wirklichen Frieden. Noch immer leben die Völker in dauernder, sich verstärkender wirtschaftlicher Abschliessung, noch immer leidet Deutschland unter einseitiger Behandlung, noch immer leben wir unter der Regie von Noten, die unser politisches Leben erschweren und beunruhigen, noch immer ist im Osten schlesisches Land besetzt und im Westen die Städte, die unter dem Namen von Sanktionen okkupiert worden sind. Das ist noch nicht der wahre Friede der Welt, das ist noch nicht der wahre Friede Deutschlands! Ich habe die Hoffnung und den Glauben, dass dieser wahre Frieden der Welt herannaht. Die Aufgabe unserer Politik ist, mit allen Mitteln daran zu arbeiten, dem Frieden näher zu kommen, Vertrauen im Kreise der Völker zu erwerben und zu erhalten, aber auch gleichzeitig unsere Rechte zu wahren. In diesem Sinne gedenken wir die Fahrt nach Genua anzutreten, in diesem Sinne hoffen wir, dass Genua einen Markstein auf dem Wege zu wirklicher Befriedung der Erde bilden wird!


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