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Der Friedländer

1

Der »glöcklhelle« Herbstnachmittag ging zur Neige, aus Moor und Sumpf und Wald stiegen feine, schneeweiße Nebel sachte auf, als hätten sie längst im Schilf- und Laubversteck gehalten und könnten die hereinbrechende Nacht nicht erwarten. Hier und da nahm ein leiser Luftzug die obersten Spitzen dieser aufsteigenden Nebelwogen mit hinweg, machte fliegende Schwäne daraus oder schneeweiße Röslein, welche links beim Dorfe Küssüben eilig die große Wiesenfläche oder rechts davon über das Gebirge aufstiegen und schnell wieder in unsichtbaren Duft verschwammen. Wo man von Küssüben gen Scharlotten über die Berge muss, stand die untergehende Sonne schon hinter den hohen, ruhigen Tannen und malte unabsehbare Schatten-Lichtstreifen über die Ebenergegend hin und weiter hinab über die Kreuzenacher Hügel und die Hechtensteiner Teiche; und wo gerade zufernst am östlichen Horizont die Sonne eine weiße Mauer oder eine blecherne Kirchturmspitze traf, da fühlte sich das Auge des Beschauers von dem Glanze fast geblendet. Das ansehnliche Dorf Küssüben stand von dieser Beleuchtung so getroffen, dass auf die beiden Häuserreihen, woraus das freundliche, von Gärten umringte Dorf bestand, gerade der riesige Gebirgstannenschatten, und auf den langen, reinlichen Anger, der zwischen der doppelten Häuserreihe hinauflief, der milde Strahl der Abendsonne fiel; in dieser Richtung traf derselbe auch des Johannes Friedländers blanken weitläufigen Hof, das einstöckige Wohnhaus mit dem roten, hölzernen Balkon herum und mit dem Apfelbaum davor, das Federngewölbe dahinter und die Stäubhütte, »wo das Geschäft ruhte«, die Scheune, »wo vor Segen sich die Wände bogen«, und ein Teil des ausgedehnten Gartens, »wo alle Frucht schier zwiefach kam«. Denn es machte des Friedländers Hof gegen Südost hin wie eine kleine Burg den Schluss des Dorfes. Das Licht der Abendsonne traf zugleich die vielen regsamen Menschen vor des Friedländers Haus und hob die allgemeiner Beweglichkeit nur lebhafter hervor. Vor dem Federngewölbe lagen große Säcke aufgehäuft, welche mit schwarzen Nummern zu bemalen einige Männer geschäftig waren; die so nummerierten Säcke hinwegzuholen, kamen Knechte von Zeit zu Zeit herbei. Um einen langen Tisch, dessen Füße tief in die Erde getrieben waren, standen sieben bis acht Männer lebhaft im Gespräche und waren immer eifrig daran, verschiedene Federnsorten prüfend emporzuheben und langsam wieder fallen zu lassen. Rüder, des Friedländers Nachbar und Freund, war unter den Männern und wurde von allen mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt; er läutete dann und wann mit einem Glöckchen, das auf dem Tische neben ihm stand, und auf dieses Zeichen kam jedes Mal ein Federnstäuber aus der Hütte, der über und über mit angeflogenem Flaume befiedert, neue Musterfedern auf die Tischplatte legte. Auf einer Leiter, die an dem Apfelbaume vor dem Hause lehnte, stand die Friedländer-Lottl, die Frucht abnehmend; unten neben einem Korbe stand die Rüder-Anne und fing in ihrer Schürze die Äpfel auf, welche Lottl herunterfallen ließ; dabei aß sie überhastig und plauderte ununterbrochen.

»Ei du mein«, rief sie, eben wieder eine Hand Äpfel in der Schürze auffangend, »du rotgoldiger, lieber, guter Himmeldattel du, wie schönbackig die wieder sind! Muss einem gerade der Mund wässern und das Herz danach lachen. Aber mach' hurtig, Lottl, dass er sich recht verwundern muss, wenn er aus der Sägmühle heimkommt; will er ja nach Scharlotten heute noch mit allem Obst, und da müssen auch all die Äpfel da 'runter und aufgeladen sein. Bist du fertig mit jenem Ästel dort? Lottl, ich seh' nichts mehr daran.«

Vor der Haustüre hatten bis jetzt des Friedländer zwei jüngste Kinder Gucki (Gustav) und Fränzchen in der Abendsonne gespielt und Äpfel unter sich verteilt; und nun kam Gucki zum Äpfelkorb gesprungen und füllte mit Hast in Zipfelmütze und Hosentaschen, um einen neue Tracht Äpfel zu entführen.

»Ei, Kinder, habt ihr noch nicht genug?«, rief Anne, den kleinen Räuber erblickend; »du, Lottl, Lottl, der Gucki ist schon wieder da!«

»Aber Gucki«, sagte Lottl mildverweisend, »wie bist du wieder garstig heut'; gar nicht folgsam und nicht schön. Nun warte, wart', heut kommt der Vater heim, ich will's ihm auch gleich sagen.«

»Und 's große Messer wieder in der Hand«, verklagte Rüder-Anne weiter.

»So wart', so wein' ich, Gucki, wart', und die Mutter ist nur bei der Bas' Nachbarin da drüben, und kommt sie auch sogleich herüber.«

Gucki leerte augenblicks die Äpfel aus Mütze und Taschen wieder in den Korb zurück und übergab der Anne ein großes Taschenmesser.

»Ach, Lottl, er folgt«, rief Anne gleich wieder Frieden stiftend. »Er ist auch wieder brav und hat alles wieder in 'n Korb getan und das Messer mir gegeben. Da hast du einen Schmatz dafür, Gucki, so; und diesen Apfel da! Und jetzt geh' und klaub' lieber zusammen, was da herumliegt. Gelt, Gucki, du folgst mir? Fränzchen, Fränzchen, komm auch her! Sieh, uhdele, der Gucki ist aber brav! Sieh', wie er trachtet und klaubt! Magst du nicht auch kommen und helfen? Fränzchen, du kommst auch, gelt?«

Fränzchen ließ nun auch Spiel und Äpfel im Stiche und kam entzückt und schreiend gesprungen.

»Jessdele Jesu!« rief Anne aufmunternd in die Hände klatschend. »Sind das nun schöne, liebe, brave, zuckerne Kinder! Außer der Weis wie lieb und brav, und Lottl wird nimmermehr weinen, und Mutti wird Freude haben, mehr als zu viel! Lottl, nicht wahr, du auch? Steigst du herunter?«

»Gleich sind wir fertig«, erwiderte Lottl, indem sie zwei bis drei Leitersprossen niederstieg. In diesem Augenblicke stieß sie einen Schrei aus, und Anne, welche die Kinder geherzt hatte, fragte:

»Lottl, was gibt's? Ach, was ist denn das?«

Lottl hatte in trüber Zerstreuung geglaubt, sie werfe die letzte Hand Äpfel in der Freundin Schürze; indessen war Anne weit vom Obstkorbe weggewesen, die Äpfel rollten auseinander, und Lottl kam herab.

»Ich bin in allerlei Denken gewesen«, sagte sie, »und da habe ich gemeint, die Äpfel müssen wie früher in deine Schürze fallen.«

»Wenn du wieder bei deinem Paul bis, so lass mich auf die Bäum' steigen«, erwiderte Anne.

»Du freilich hast gut bleiben, wo du bist. Warum ist das alle Tag' dein erstes und letztes Wort? Quäl' mich nicht, Anne, du kannst mir auch nicht helfen.«

»Nun, ich meine nur, du darfst schon auch noch ein fröhlich Gesicht machen, wenn du auch von deiner Ernt' noch viel draußen hast; dein Vater wird auch noch einmal wieder kommen, und weil alles um ihn weint, darfst auch schon einige Tränen weniger weinen.« Zu den Kindern gewendet, fuhr sie fort: »Brav, Kinder, brav, klaubt zusammen; gelt' Lottl, die lasst ihnen alle? Und was deinen allerliebsten patzigen Paul belangt, den wirst am End' mit Gottes Wetter auch noch trocken unter dein Dach bringen; oder zweifelst du an Gottes Segen?«

»Horch!«

»Hast du was Besonderes gehört?«

»Wie eine Peitsche knallen, einen Wagen rasseln.«

»Ah, da wäre ja der Paul schon zurück.«

»Nein, Anne, es ist das Poltern und Kratzen im Kamin der Bas' Nachbarin drüben. Es ist der Rauchfangkehrer dort. Fast bin ich erschrocken.«

»Ja, ja, fast bin ich selbst erschrocken. Seitdem er den Großen in euerm Hause spielt, ist er und allen gar fürchterlich; er hat Lieb' und den Teufel im Leib. Das ist ein Poltern und Kommandieren den ganzen lieben Tag, und große Geschichten machen, ob alle Sackerloter müssten auf einmal ausgeben werden. Fürchtet ihn auch Knecht und Magd, wo sie ihn nur hören. Aber wahr ist wahr, sonst geht alles an der Schnur.«

»Du siehst doch, seit der Vater fort ist, wie not er tut in unserem Hause.«

»Das gewiss; aber meine Red' ist auch nur, dass die bestellten Herren immer die patzigsten sein.«

»Bestellt ist nicht dein Vater und nicht Paul, und auch sonst ist niemand bestellt; es tut's ein jeder meinem unglücklichen Vater zu Lieb' und meiner traurigen Mutter.«

»Hast auch wieder recht; dass wir alle Stund', die Gott schlagen lässt, drüber streiten müssen! Jetzt komm, dass wir noch geschwinde im Garten den »langen Hans« abklauben; dein hitziger Paul muss jeden Augenblick da sein. Aber recht hab' ich doch, dass dein Paul ein hitziger Kopf ist, ein übersprudelnder Herr im Haus, dass er alles zu wichtig macht und viel übertreibt?« Sie nahm die Leiter vom Baume, lud sich dieselbe senkrecht auf die Schulter und fuhr fort:

»So nimm du den Korb und ich die Leiter – denn wollt' sich dein patziger Paul ein Exempel am Beispiel nehmen und meinem Vater dort folgen, so möcht' er's auch sein lassen mit dem vielen Sprüng' und Wesen machen im Haus, und nicht dich und meine Mutter und eure Knecht' und Dirnen so in Coram halten. Sieh', wie ruhig mein Vater dort sein Geschäft mit den vielen Männern verricht'; man sieht's auch gleich, 's ist nicht für ihn, 's ist für deinen abwesenden Vater. Aber ich will doch mein' Jägerfritz daran wetten, dass mein Vater seine Sach' auch aus dem Tz versteht; er wird euch eher die Wirtschaft halten und stützen, als sie dein gewaltiger Paul beschreien wird.«

»Dein Vater, Anne, ist vierzig Jahr' alt und drüber und hat sein eigen Haus schon zwanzig Jahr' her fleißig verricht', der kann's schon eher mit Ruh' betreiben, aber er wird schon auch seine Zeit und sein' Turbel gehabt haben. Ruh' muss sich auch lernen. Dann hat dein Vater dort mit lauter ernstlichen Männern zu tun, wo auch keiner mehr Fensterln geht und Übersbachspringen spielt; und da geht die Sach' auch leichter als im Haus, wo die Knecht' gleich lässig werden und die Dirnen lieber schlafen und singen als tüchtig schaffen. Ich lass' nichts über den Paul kommen.«

»Ich auch nicht. 's ist freilich ein Bursche, den die Friedländer-Lottl gern schmatzt. Immer 's Hütl überm Ohr verwegen, den ganzen Tag immer schön roterhitzte Wang' und immer »Frisch, Kinder, drauf und dran« im Mund. Nun, nun, ich hab' nichts dawider und lass' nichts über ihn kommen.«

»Und ich will's auch gar nicht verleugnen, dass er mir der Allerliebste ist!«

»Ah, nun ja, das brauchst nicht beichten; das weiß der Nachtwächter so gut wie der Herr Pfarrer, und so gut wie ich und du. Hab's auch ohne Latern' gesehen, eh' du mir's gestanden hast.«

Gucki und Fränzchen hatten die Äpfel gesammelt, der erstere in die Zipfelmütze, die andere in ihr Schürzchen, und standen nun vor Lottchen, ihr sie zu zeigen.

»Ja, ja, Kinder, das ist brav«, sagte Lottl, »sie gehören euch, geht und verteilt's und spielt wieder fein und brav dort vor der Haustüre.«

Nach diesen Worten, welche sie mildlächelnd gesprochen hatte, klopfte Lottl freundlich die Wangen der beiden Kinder und kehrte sich dann wieder mit einiger bitteren Heftigkeit gegen Anne, indem sie sagte: »Und weißt du was? Wem's nicht recht ist, der hat nichts d'rein zu sagen.«

»Nun, nun, erhitz' dich nur nicht«, erwiderte Anne.

»Und dich geht's auch nichts an.«

»Drum bin ich auch schon wieder stille.«

»Und du kommst mir alle Tag, die Gott vom Himmel fallen lässt, mit so Dingen, die niemanden angeh'n.«

»Weil ich mein', du sollt'st auch einen Spaß verstehn.«

»Das ist kein Spaß.«

»Nun, so ist's halt, was du willst.«

»Ich will, dass ich nichts mehr hör' davon.«

»So will ich dem Paul sagen, dass du nichts mehr hören willst von ihm.«

»Nichts Schlimmes, nichts Bissiges.«

»Schlimmes sag' ich nichts – ein Bursch ist's, den man nur gern anschaut. Ich hab' gar viele rot werden seh'n, wenn er sie angeblickt hat, die schönsten Mädel weit und breit; muss allen warm geworden sein. Und wie er tanzt! Und wie er singt! – Nur ich möcht' ihn nicht.«

»O, du – du – hast du nicht selbst einmal gesagt: Hätt'st d' ihn nicht, müsst' ich ihn haben.«

»Nun, schnapp' nur nicht so gierig, wenn du 'n Brocken findst.«

»So siehst, dass dir auch nicht alles Weizenbrot ist, wenn man dir Haferstroh vorsetzt.«

»Ich kann einmal so herausgekudert sein, aber jetzt ist's anders.«

»Etwas davon könnt' ich auch erraten ...«

»Ich schenk' dir 'ne Million, wennst's errat'st.«

»Dass du in vier Wochen den Jägerfritz heiraten wirst.«

»Woher weißt du das?« rief Anne freudig überwältigt und fiel der Lottl um den Hals. »Hab' ich dir's selber schon zu erkennen geben?«

»Freilich ja«, erwiderte Lottl mit herzlichem Lächeln, und der ganze Streit war vergessen.

»So will ich's auch nicht mehr leugnen«, sagte Anne und erzählte:

»Vorgestern in der Nacht werd' ich dir auf einmal wach; die Burschen haben eben an unserm Haus vorübergesungen, und auch der Fritz ist d'runter gewesen, ich kenn' aus einer Million seine Stimme, und er zieht sie am End' vom Lied immer länger hinaus als die anderen – und da hör' ich, wie ich erwach', in der Kammer meine Mutter mit mein' Vater vertraulich reden und hör' die Mutter sagen: »Er isst sein Brot geruhsamer und besser als jeder und gilt nach dem Friedländer der erste im Ort etwas; der Fritz hat freilich den Dienst noch nicht, aber er versieht ihn schon und kriegt ihn auch, denn der alt' Beißer, sein Vater, treibt's nimmer lang. Besser ein' straffen Jäger, der sein Wild umsonst isst, als ein' Bauern, der schaun muss, wie ihm der liebe Gott Hafer genug wachsen lässt. Mag's regnen oder schnei'n, der Jäger hat das Seine im Trocknen. Drum geb' sie ihm, Alterl, wie ich sag'; wirst seh'n, es hälf' auch nimmermehr, nein zu sagen, unsern klein Trotzkopf kennst du, wenn er was will, und der Jägerfritz ist auch nicht von Wachs, wenn man ihm's Feuer entgegenhält. Lieber ja gleich sagen und den Brocken schlucken als Verdruss ins Haus lassen, dass es zum Dach hinausschwillt. Nicht, Alterl, wie? Sag' ja.« Mein Vater hat darauf ein wenig gehustet, wie es seine Manier ist, und hat sich wahrscheinlich, ich denk' mir's, weil es auch seine Manier ist, da am Adamskröpfel hinunter gestreichelt und gesagt. »Hmphm – wo ist meine Dosen?« Dabei hat er auf den Tisch hinausgegriffen und die Dosen hinuntergeworfen. »Sakerdibix!« ist darauf sein Ruf gewesen; das ist mir eine schöne Geschichte das, muss mir das gerade jetzt geschehen; hol' dich der Teufel!« – Mir ist eiskalt worden; darauf aber hat die Mutter wieder gesagt: »Nun, nun, darf man dir nichts sagen? Willst du nicht, so sag's einem gleich, so wird man dir nicht mehr zur Last fallen, das weißt; und dass ich meine Zunge auch wieder einmal in so einer Sach' hab wetzen müssen, weiß ich doch lang, dass du im Friedländer seinem Federngewölb mehr zu Haus bist als in deinem eigenen Haus, und deine Tochter ist dir auch alles eins, ob's krumm geht oder g'rad. Aber brauchst g'rade nicht Höll' und Teufel sagen, wenn ich dir vom Heiraten sag' und geheirat' muss doch einmal sein, ob'st wollen willst oder nicht, und ich tu's nicht anders, kannst tun, was du willst; und dass du's weißt, meine Anne ist so gut meine Tochter wie deine Tochter!« – O mir ist der helle Schweiß auf der Stirn gestanden über die tapfere Sprach' der Mutter. Auf einmal hör' ich mein' Vater in einen Keuchhusten verfallen vor lauter Lachen, dass er kaum hervorbringen kann: »Du rotgoldig's, närr'sch Weib du! Die Dosen ist mir 'runter gefallen und ist aufgegangen, da hat die Nasen Vakanz; dem hat mein Höll' und Teufel golten. Jetzt sei nur ruhig wieder und mach' keine so Sachen weiter, wir haben noch einen Buben fürs Haus, mag die Anne meinetwegen nur Jägerin werden, es ist Herrendienst, ich hab' da nichts dawider.« – Den anderen Tag haben sie gleich mit dem Fritz sein' Vatern gesprochen, und jetzt ist die Sach' so viel als richtig. Nun, Lottl, mach' mir's nach, heirat' in vier Wochen mit mir, wir wollen als zwei Bräut' über einem Hochzeitstisch sitzen, besinn' dich nicht lang'.«

»Ach du lieber Himmel, Anne, wo denkst denn hin? Weiß doch von mir weder Vater noch Mutter eigentlich was; und bei unserm Kummer jetzt im Hause! Die Mutter Tag und Nacht im Weinen und Gebet, der Vater – mein Vater, – wir wissen nicht, wohin gebracht. O, du kennst unsern Jammer, wie soll da von mir und meiner Herzenssach' die Rede sein können? Geh, geh, mit mir wird's nimmer so gut werden wie mit dir!«

»Das kannst nicht wissen. Wenn's auch nicht schon in vier Wochen bei dir vom Fleck' will wie bei mir, so kann's doch später sein. Aber du verstehst doch deine Sach' nicht recht, Lottl. Siehst, ich hätt' mich lang hinter die Bas' Nachbarin Aplon gesteckt, die deiner Mutter und dir so viel Freund ist. Jetzt ist grad deine Mutter bei ihr, und wenn du's recht verstünd'st, müsst' es die Aplon deiner Mutter, weißt, so vorbringen, so von ungefähr wie eine Sach', die ihr Paul, der Ziehsohn, selber gesagt oder sich hätt' von Weitem selber erraten lassen. Und da müsst' mir die Aplon herausbringen, was denn deine Mutter dazu sagen tät, wenn's wirklich zwischen dir und Paul grün wär', und müsst' mir die Sach' alle Tag' reifer machen. Der Paul ist immer der Liebkerl von deinem Vater gewesen und wird's noch sein, und wird nun dein Vater auf einmal wiederkommen, so ist ein Anlauf doch gemacht, und du kannst weiter springen.«

»Anne, wenn du schweigen wollt'st, ich möcht' dir wohl was sagen; willst schweigen?«

»Wie das Grab. Heirat'st du doch in vier Wochen?«

»Ach, so weit ist es noch nicht, aber ich hab' mich wirklich hinter die Bas' Nachbarin Aplon gesteckt, sie hat's ohnedies lange gemerkt, und jetzt eben ist vielleicht drinnen die Red' davon.«

»Brav, Lottl, brav! Sorg' dich nur nicht um die Aplon, die hat noch jeden unter'n Tisch gered't, und wenn's der best' Kanzler gewesen wär'.«

Man hörte von der Halbstraße her ein öfteres Peitschenknallen, und die Mädchen fuhren erschrocken zusammen.

»Horch«, rief Lottl, »jetzt kommt der Paul aus der Sägmühle zurück, und wir haben noch so viel zu schaffen, und wir stehen doch hier und plaudern; komm geschwinde!«

Rüder-Anne lud sich eilig die Leiter wieder auf, welche sie während des Gespräches weggelehnt hatte und sagte: »Jetzt ist's in ein paar Minuten das zweite Mal, dass ich über den Paul erschreck'. Wenn du ihn heirat'st, den musst mir zahm machen, dass er's Futter von der Hand nimmt.«

»Gelt, aber du wirst schweigen, was ich dir von der Nachbarin Aplon gesagt habe?« erwiderte Lottl.

»Und du, was ich dir vom Dischkurs meiner Alten um Mitternacht gesagt habe? Es weiß es auch keine Maus im Dorfe weiter.«

In diesem Augenblicke sagte eine Mannesstimme dicht hinter Anne: »Ich weiß es doch«, und folgte ein herzliches Lachen.

Es war des Friedländers Oberknecht, Michel, welcher vor einigen Augenblicken mit einer verbesserten Pflugschar aus der Dorfschmiede gekommen war und Annes letzte Worte fast nur im Vorübergehen gehört hatte.

Anne drehte sich erschreckt und erzürnt um und sagte heftig: »Du alter Beichtstuhl, du! Was kannst du wissen? Bist du überall hinter einem her? Kein' Löffel in Mund stecken kann man sicher vor dir; jed's Vaterunser stiehlst einem von der Zung' weg, du verlegener Sorgenpelz du! Was kannst du schon wieder wissen?«

»Huiii! Da hat die Stabstrompeten wieder Luft; zertröml's nur nicht! Du wirst für dein' Jägerfritz noch manchen Verschnaufer brauchen können – den du in vier Wochen heiraten wirst ...«

»Wie kannst du das wissen?« rief Anne. »Wer hat dir das gesagt?«

»Wie ich heut' früh das Dings da, die Pflugschar, zum Schmied hinunter bring', hast du's der Schmieds-Christin' in der Kammer so erzählt, dass wir's in der Schmiede draußen trotz Blasbalg und Gehämmer recht gut umsonst haben hören können. Wär' 'ne Kanon losgangen, wir hätten's auch noch verstanden. Seit Mittag machen die Spatzen schon Liedeln d'raus.«

»Das ist nicht wahr so. Ich hab's der Schmied-Christin' kaum ins Ohr gesagt.«

»Das kann sein, so ist's dein stillstes Sagen; man hört's doch durch 'nen Karnonschuss durch. Wollt'st du's einmal laut sagen, dann braucht es keine Zeitung mehr drucken und kein Pfarrer von der Kanzel mehr lesen, man höret's ohnedies bis Indigo und La Mantsch.«

»Willst du auch was sagen? Du hast das böseste Maul, soweit man reden hört.«

»Wenn du nicht red'st!« sagte Michel laut und herzlich lachend und ging nach einer offenen Leitertreppe des Hauses, um die Pflugschar nach dem Verschlage hinauf zu tragen.

»Und diesen Menschen hat dein Vater auch wieder lieb und leid't ihn sechzehn Jahr schon im Haus«, klagte Anne leidenschaftlich und fast weinend; »Und weißt du, dass er deinen Paul auch verstänkern möcht', wo er nur kann? Gib acht, der versalzt euch die Suppe noch heut' oder morgen, dass euch kein Bissen mehr schmeckt.«

Michel musste teils über seine Gedanken, teils über die Klagen Annes wieder so herzlich lachen, dass er nicht höher steigen konnte, sondern auf einer Sprosse der Leitertreppe rasten musste. »Wie wird erst dies Maulwerk mich verkäuen, wenn's herauskommt, was ich heut' angestellt habe«, sagte er für sich.

Lottl begütigte die Freundin, so viel es ging, und zog sie fort, indem sie sagte: »Nun, nun, lass dich nur nicht gleich wieder mit dem Damm fortreißen und komm lieber, ich hör' des Andresl seine Zwirnstimm' schon bei der Einfahrt. Der Michel ist doch ein Prachtmensch, den mein Vater rechtschaffen lieb hat und mit Recht. Kein Hof weit und breit hat keinen solchen Oberknecht nicht, der alles von Grund versteht und fleißig und ehrbar auch ist wie nicht jeder. Komm, du hast ihn nur jetzt so auf der Klappermühl', weil er dich beleidigt hat. Komm!«

»Nun gib nur acht«, erwiderte Anne, »ob er deine Lieb' auch immer wie jetzt wird behalten!«

Beide Mädchen entfernten sich mit Leiter und Obstkorb nach dem Garten. Man hörte das Knallen einer kleinen Peitsche immer näher.

Michel war aus seinem Lachen schnell in wehmütiges Nachdenken übergegangen, als er Lottl so gut von ihm reden hörte; er sagte dann zu sich selber: »Wie gut sie von mir denkt; jetzt reut's mich schon, was ich getan habe. Ich hätt's doch nicht tun sollen, der guten Lottl halb' schon nicht.« Aber die rufende Stimme des Stallbuben Andresl, die draußen bei der Einfahrt »Michel, Michel, Michel!« rief, störte ihn ebenso schnell aus seiner Verstimmung wieder auf, dass er sagte. »I nun, gescheh'n ist's, so muss es auch schon so bleiben.« Lachend raffte er sich dann auf und erkletterte den Verschlag; die zwei Türflügel oben zog er schnell hinter sich zu.

Jetzt erschien des Friedländers Stallbub, der Andresl, »wie ein brennender Löw« im Gesichte, schnalzte ohne Unterlass mit der kleinen Peitsche und rief fort und fort: »Michel, Michel, Michel!«

Er hörte nicht gleich das ziemlich laute Kichern Michels, der den Kopf aus dem Verschlage steckte und leise sagte: »Ui je, der hat's hitzig; nun Gnad' mir Gott.«

»Michel, Michel!« rief der Stallbub wieder und merkte jetzt das Kichern. »Aha, ich hör' dich schon lachen, gelt, merkst, dass ich dich such' und warum. Da hast dich geschwind auf den Heuboden 'nauf versteckt; o, ich hör's recht gut, du wirst dein Pulver schon auf die Pfann' kriegen; nur herunter – aha, lachst schon wieder? – Nur herunter!«

»Miiauuiiiauquau!« tat Michel im Versteck droben und zog sich wieder zurück.

»Ah!« schrie Andresl, ängstlich über den fürchterlichen Katzenton und lachte dann wieder, halb erfreut, den Ort zu entdecken, wo Michel sich verborgen hielt. »Ja, ja, ja«, rief er, »da droben bist, komm nur herunter gleich; nun wart' nur, dein bös' Gewissen plagt dich so schon, von dem wegen hast dich da 'nauf geflücht'. Müsst nur der Paul nicht bei den Rossen bleiben, er wär' schon selber kommen; so schickt er nur mich. Aber jetzt geh' nur herunter, ich darf nicht lang ausbleiben, und gib mir, was ich brauch, und du musst mitgehen. Wir liegen eine Viertelstund' von da halb auf der Straß'; komm herunter, du hast es uns getan, das Weitere wirst schon erfahren.«

Da sich jetzt geheimnisvoll sachte die beiden Verschlagstürflügel zu öffnen begannen und wieder ein Schreckmanöver zu erwarten stand, so schrie der Andresl nur noch lauter, sprang lachend auf und nieder, klatschte in die Hände und dann wieder mit der Peitsche und zeigte hin- und herhüpfend mit dem Finger auf die sacht auseinander gehende Türe, um seine Angst zu betäuben. »Ah, hahaha, ah«, rief und lachte er, »du bist es schon, du bist's, Michel, ja, du willst mich erschrecken, ich soll dir davonlaufen, und ich will nicht; nur hervor, nur heraus, du bist der Michel doch, wenn du auch tust wie ein alter Kater, ich kenn' dich auch als Kater! Ah! Jetzt wirst herausschießen auf mich mit deinem »Quauwau – so schieß' heraus!«

»Quisiauquau!« fuhr Michel plötzlich aus dem Verschlage.

»Ah, hahaha, ah!« schrie Andresl lachend und weinend und ergriff mit bedeckten Augen die Flucht.

Michel saß, überlaut lachend, auf den obersten Sprossen der Leitertreppe; Andresl wollte nach dem Garten fliehen und stieß auf Lottl und Anne, welche neugierig herbeigekommen waren.

»Nun, Andresl, was schreist und laufst so?« fragte Lottl, indem sie denselben auffing und zurückbrachte. »Ist der Paul da? Wo ist er? Will er noch mit dem Obst nach Scharlotten heut? Oder ist ihm gar was geschehen, weil du so peinlich tust?«

»O Jekus, Jekus!« sagte Michel oben für sich, »jetzt kommen die auch noch dazu, wie wird's mir da ergeh'n!«

Der Andresl lag der Lottl noch halb im Arme, hielt sich mit der linken Hand die Augen zu, und mit der rechten zeigte er nach der Gegend hin, wo Michel auf der Leiter saß: »Dort, dort, Lottl, der dort!«

»Was denn, der dort? Der Michl dort? Was willst denn sagen vom Michel?« fragte Lottl.

»Aha, Lottl«, sagte Anne, »ich spann' vielleicht schon was; aha, der Paul ist nicht da, da ist gewiss auf dem Weg was gescheh'n, und der dort hat ihnen's angetan. Siehst deinen Prachtmenschen jetzt, dort sitzt er und lacht und faulenzt, und den Paul halt er zurück, wer weiß durch was, dass er hier sitzen und faulenzen kann!«

»Ist alltag Karfreitag, dass d' Ratschen so läuten?« sagte Michel.

»Ist alltag Pfingstsonntag, dass d' Hühner und d' Knecht auf der Stangen sitzen?« erwiderte Anne.

»So seid doch still«, sagte Lottl, »müsst ihr den immer stänkern, ist alltag Feuer im Dach? Andresl, sag', wo ist der Paul, ist ein Unglück geschehen?«

Andresl, der Stallbub, hatte indessen wieder nach der Leitertreppe zu schauen gewagt und sprang jetzt wieder schreiend und lachend hinzu: »Ah, hahaha, ah, du bist es doch, Michel, ich hab' dir's gleich gesagt, du bist der Kater; jetzt nur herunter da, 's ist grad recht, die Lottl ist auch da, jetzt sag' ich's vor allen!«

»Wenn'st schweigst«, sagte Michel herzlich lachend, »will ich dich auch nie mehr mit'm Kater schrecken.«

»Nein, nein, nein, Andresl, nein!« rief Anne und zog ihn aus der Nähe Michels weg, »wenn'st red'st, so kriegst ein ellenlanges Butterbrot von mir mit Honig drauf. Red' nur alles heraus, kein Stümpchen, kein Wurzelchen lass drinnen, was du weißt. Die Lottl soll'n nur auch kennen lernen, wie er den Paul sekiert und wie er auch allen alles möcht' unter die Füß legen, der alte Schabernack, der!«

»Red' geschwinde, Andresl«, sagte Lottl, »und bleib da bei uns.«

Michel stieg halb flüchtig noch eine Stufe rücklings höher und sagte wie von allen Seiten gekitzelt und gestochen: »Du, dummer Bub du, wenn'st nur ein' Tropfen verschütt'st von unserem Geheimnis, so kannst Riss kriegen nach der Noten!«

»Red' nur, fürcht' dich nicht«, sagte Anne.

»Red', wo ist der Paul?« drängte Lottl.

»Ja, er hat uns es angetan«, schrie Andresl überlaut, um bei der Aussage seine Furcht zu bemeistern, und schielte dabei ängstlich nach dem Michel; »da liegen wir schon eine halbe Stund' auf der Straß' draußen, nicht weiter als eine Viertelstund von da und können nicht von der Stell' – ja droh nur, o, ich sag es doch ...«

»Red' aus, lass dir nicht Angst machen, red' aus, warum liegt ihr auf der Straß' draußen?« munterte Anne auf und ließ es geschehen, dass sich Andresl wie zum Schutze halb in ihre Schürze wickelte.

»Und was ist dem Paul dabei geschehen?« fragte Lottl. »Mach schnell und sag's: Warum liegt ihr auf der Straßen?«

»Ja, da hat es auf einmal knack gemacht«, fuhr Andresl fort, »und wir haben nicht gleich gewusst, warum. Paul hat gesagt: ‚Dresl, sieh nach, wo's am Wagen fehlt, es muss wo fehlen', und da lauf' ich rund herum und guck' die Deichsel an und die Speichen und die Kipf und die Leitern und kann halt nicht merken, wo's fehlen tät'. Da sagt Paul: ‚Du bist auch ein kleiner Dattä'l du, geh' her und nimm die Zügel und fahr' ein wenig und lass die Pferd so scharfen Schritt fortgeh'n, lass mich nachseh'n.' Da knackt's wieder und viel stärker, und der Paul ruft zornig: ‚Ah, hier fehlt's, da ist ein alt's schädig's Rad dran, das tragt uns nicht hundert Schritt mehr.' Da knackt's nochmal und nochmal, und das Rad' ist hin, und der Paul kennt sich selber nicht mehr und ruft zornig: ‚Das Rad hat der Michel angetan, die Räder an dem Wagen sind alle neu und nur das ist ein altes; das ist ein Schelmstück, und wir müssen da liegen, bis ein neues Rad kommt.' Dann ruft er ‚Oh' den Pferden und legt die Winden unter und stützt den Wagen von den schädigen Seiten und sagt: ‚Bub, hast schnelle Füß'? Meld' zu Haus meinen Zorn, ich hätt' den Schelmenstreich sogleich vermerkt, und lass den Michel ernst verwarnen, er soll mich ja nicht lange dastehen lassen, sonst wird's anders zwischen uns, verstehst? Jetzt geh' und sag's!' Ich bin hergelaufen, hahaha! Und da hat der dort sich richtig schon versteckt gehabt und getraut sich immer noch nicht 'runter ... Ah, willst wieder wie ein Kater tun? Ja, lach' nur, jetzt lauf ich dir gewiss nimmer davon; die Lottl und die Anne werden mir bezeugen, dass ich nicht schuld bin, dass wir so spät mit einem neuen Rad' zum Paul hin kommen.«

»Da hast du's, Lottl, du siehst's nun selbst mit deinen eigenen Ohren, will sagen, Augen, was der Michel für einer ist; das hat er zu Fleiß deinem Paul zum Trotz getan; jetzt wirst ihn auch sicherlich nimmermehr den Pracht-Michel heißen wie zuvor; es wird auch nicht ausbleiben, dass du noch mehr von ihm hörst«, brach Anna schadenfreudig los.

»Ist's denn wahr, und hast du das getan?« sagte Lottl vorwurfsvoll und betrübt zu Michel; »hast du den Paul zu Fleiß das alte schädige Rad angetan? Da hättest du sehr nicht recht getan, und ich habe immer so viel auf dich gehalten.«

»Schick' die Maultrommel da fort, Lottl, und den klein' Dudelsack, der auch alles auspfeifen muss, so will ich sagen, was eigentlich ist«, sagte Michel, einige Sprossen heruntersteigend und dann ernsthaft bleibend; aber der Andresl brachte ihn wieder zum Lachen, der da ausrief: »Ja, ja, jetzt wird er's wieder verleugnen wollen, die ganze Sach', wie sie ist.«

Anne sagte: »Was? Und mich will er fortschicken? Wo ein Michel ist, kann auch eine Anne sein!«

»Wenn du dich rein machen kannst, so tu's vor allen«, sagte Lottl.

Michel stieg nun langsam herunter und wischte sich den »Schwitz« von der Stirn. Sein Betragen schwankte anfangs zwischen Heiterkeit und Ernst und ging dann in volle, tiefe Erschütterung über. Er sagte: »Nun gut, so kann es auch so sein; ich hab' mich ohnedies nicht lange mehr hinter die Tür stellen wollen mit dem, was ich mein' und was mir nicht recht ist. Es kann's die Dorfglocken da ausläuten früh und spät, meinetwegen, es ist mir jetzt schon alles eins. Du Spanifankerl brauchst dich auch nicht mehr zu fürchten, ich verzeih' dir alles; wir bringen dem Paul das Rad mitsammen – wart' ein wenig ... Lottl, ich bin sechszehn Jahr' Knecht im Haus, solang' ist dein Vater da, so alt bist du grad' und die sechzehn Jahr' hat dein Vater keinen ‚brav' gesagt und auf die Schulter klopft, ich bin der erst' darunter immer gewesen. Ich hab's nie verschütt' mit eurem Haus, und es hat mich dafür immer vorangestellt. Und wenn ich geh'n müsst', ich überlebet's nicht; in einer Wildnis leget' ich mein Haupt hin und weinet, bis es mir das Herz abgestoßen hätt'; keinem andern Haus möchte' ich auch nimmer dienen, ich kann nur mehr bei euch sein. Da kommt man verwichen um die Mitternacht und klopft deinen Vater aus dem besten Schlaf auf, er muss sich über Hals und Kopf in Kleider werfen, und fort geht's ohne Erbarm' und Antwort mit ihm, weiß nicht deine Mutter, nicht du, nicht ich, niemand, wohin. Unser Schreien und Weinen hilft nichts, wir können ihn nicht halten; wir können nichts für ihn tun; er ist wie in einen Abgrund gefallen, und man weiß nicht, lebt er. Und man kann nicht sagen, wird er wiederkommen. Da ist nun euer großes Haus zu verwesen, der große Hof mit Feld und Wald und Wiesen, und der große Handel, den dein Vater von zehn Jahren her mit Federn treibt. Vom Handel will ich nicht sagen, das versteh' ich nicht; der brave Rüder dort, Annes Vater da, versieht das auch gut, und nach dem Friedländer, deinem Vater, am besten von uns allen. Aber auch der Hof verlangt einen Mann, der's versteht, und es verständ's wohl so mancher, aber nicht jeder hat das Recht dazu, dem Friedländer seiner Wirtschaft den Zaum anzulegen und aufzuschau'n, dass man nicht dorthin zieht und dahin schleppt und alles aus der Ordnung geht. Und da gebühret deiner Mutter erst das Recht, im Hause Ordnung zu schaffen, sie ist Herrin im Haus, ihr könnt's niemand bestreiten; aber deine Mutter weint sich noch zu Tod, wenn das so fortgeht; für die Wirtschaft hat sie kein Herz mehr, kein' Sinn mehr, kein Aug' mehr, seit dein Vater gefangen ist, und lauft sich nur die Füß' wund und kann doch nichts helfen und erfahren. Hätt'st du einen ältesten Bruder, so hätt' der nach deiner Mutter ein Recht, auf den Hof zu seh'n; aber du hast keinen Bruder, und du selber, Lottl, bist für ein so großes Regiment im Haus noch viel zu jung und viel zu unerfahren. Nun, und da alles das nicht ist, so wär' nun ich an der Reih', und ich glaub', sechzehn ehrliche Jahre wären einmal auch ein Recht. Und ich weiß auch, was der Friedländer hat sagen wollen beim Abschied, die Schergen haben ihm aber nicht Zeit gelassen. Sein letzt's Wort ist mein Name gewesen, dann hat er still sein müssen; in seinem Aug' ist noch das andere gestanden. Ich könnt' mein Recht nun verlangen, ich könnt' das alles vorbringen; ein so gutes Recht wirft keiner von selbst in Brunnen. Und eine Schand' ist's; der muss seine Sach' nicht verstehen, heißt's allerwegen, sonst hätt' er nicht so geschwinde für ein' andern aufgeräumt, für diesen Paul, der sich anstatt mir in das Haus gedrängt hat, der immer nur da bei seiner alten Bas' und Ziehmutter Aplon im Stillen gelebt hat. Und warum hat sich dieser Paul das getraut? Weil er dem Friedländer sonst immer lieb gewesen und deiner Mutter und dir! Er nimmt sich aber zu viel heraus; er will alles und alles sein; er tut, als müsst' ein Feld zwanzig Mal geackert und die Ernt' hundert Mal heimgebracht werden im Jahr! Das tut kein gut; Mensch und Vieh strengt er zu viel an. Das übertreibt die Arbeit, und es hielt's kein Elentier so mehr aus. Zu unsers Friedländers, deines Vaters, Zeit, ist alles anders gewesen, da ist alle mehr geschont und doch in allem mehr ausgericht' worden. Das ist's rechte Maß. Sonst ist' kein Leben!«

»Siehst du, siehst du, das hätt' ich nicht gedacht, wie du dem Paul so feind bist«, sagte Lottl lebhaft betrübt und fuhr begütigend fort: »Das alles ist wahr so, du könntest dich beklagen, wenn du wolltest; wahr ist wahr! Du solltest zu sagen haben in unserm Haus, jedem andern zuvor. Sieh' ich sag' dir's ja auch, und gelt, das freut dich? Meine Mutter hat's gestern erst gesagt: Es ist doch schön von unserm Michel, dass er gar keinen Neid und Verdruss gegen den Paul nicht hat, wenn nur alles in Ordnung geschieht, so ist ihm alles eins, wer das erst' Wort im Hause führt. Nun, nun, es ist auch nicht Neid, gelt? Dass der Paul in allem zuerst red't, es ist nicht Verdruss. Aber dir ist nur nicht recht, dass der Paul seine Macht und Gewalt übertreibt. Er ist halt das erst' mal so mächtig, und da wächst einem der Kamm, und möcht' man's Wasser gleich auf die Turmspitz' 'naufleiten und ein ganz Gebirg' mit der kleinen Zeh' auf die Seit' schieben. Das soll von heut' an nicht mehr geschehen; wir wollen den Paul heut' noch in Coram nehmen, gleich jetzt, wie er zurückkommt. Gelt? Und dann wirst auch wieder ganz zufrieden sein? Wirst dem Paul dein' Rat und Tat nicht mehr verweigern? Und gelt, aber den ersten im Haus lasst du ihn doch noch bleiben? Kannst leugnen, dass es ihm gut ansteht und dass er die Sach' auch sonst ordentlich versteht? Gelt, du kannst's nicht leugnen? Nun siehst; und 's and're wird sich geben.«

»Jedem andern hätt' ich längst gezeigt, wo der Zimmermann 's Loch gelassen hat; dem Paul hab' ich alles bis heut' angehen lassen und hab' nichts gesagt, deiner Mutter zu lieb, dir zu lieb.«

»Und meine Mutter und ich wollen heut' noch abschaffen, was dir nicht recht ist, und du sollst von heut' an machen können, was du willst, sollst aufsteh'n und dich niederlegen, wann du willst; kannst auch von Morgen wie dein Schaffer nur neben den Leuten nebenhergehen und selber nichts tun, bloß dass du siehst, dass du was giltst im Haus und eigentlich der erste bist.«

»Ich hab' nicht für mich gered't, es ist mir ums Ganze gewesen. Die andern Knecht' und Dirnen sind auch Menschen, und das Vieh im Haus gehört auch dazu. Ich für meinen Teil bin schon auf dem Platz, ob's auch kein Peter und kein Paul befehlen. Bei mir bleibt's Morgen, vor die Sonn' kommt, und Nach wird's, wenn kein Licht im Dorf mehr brennt. So ist's gewesen und so bleibt's. Und schaffen lass ich mir alles von dem, der's Recht hat; ich lass mich an einen Heuwagen spannen, wenn's sein muss, ich zieh' wie ein Gaul den Pflug, wenn mir's dein Vater oder deine Mutter so schaffen, aber ich reiß' kein' Zwirnfaden ab, wenn' jemand schafft, der's nicht verbrieft von deinem Vater oder deiner Mutter hat.«

»Du musst gut Freund werden mit dem Paul, ich geb's nimmer nach; es muss noch heut gescheh'n. Ich geh' mit, wenn du jetzt dem Paul das neue Rad bringst, oder ich lauf gar voraus; ich will dem Paul zuerst das Maul stopfen, dass er nicht losfährt, wenn du kommst. Ihr müsst euch die Hand geben, hilft euch nichts. Gelt, du tust's, wenn ich bitt' darum und weil's die Mutter auch freuen wird, wenn sie's hört? Der Paul hat dich auch sonst recht lieb, der tut's gewiss. Was sagst du mir, eh' ich voranlauf'?«

»Ich brauch' niemand, der für mich bei einem andern bitt'.«

»Ich will ja nicht bitten für dich, ich will ihm nur sagen, was du mir gesagt hast von dir. Der Paul soll dich in Ehr' und Acht halten und nachdenken, was du für Recht hast, überall im Hause selber voran zu sein. Gelt, es ist doch besser, es sagt ein anderes von unserem Recht und Verdienst als wir selber? Nun, was sagst du?«

Michel nahm die Tabakflasche aus der Tasche, schlug durch den engen Hals derselben ein Häufchen auf die linke Hand zwischen Daumen und Zeigefinger, schnupfte, indem er zwei Mal unter der Nase hin- und herfuhr, schwieg eine Weile und reichte plötzlich die Tabakflasche dem Andresl hin. Dieser erschrak ein wenig über die unvermutete Handbewegung Michels und wickelte sich rasch aus Annes Schürze, wo er sich noch immer halb versteckt gehalten hatte: »Ah, hahaha, ah!« rief er dann lachend und sprang davon: »Schnupfen? Ich danke schön. Lottl, er wird schon wieder gespaßig!«

Den Michel überkam nun wieder die beste Heiterkeit, und er sagte zu Lottl, indem er auf Anne zeigte: »Lassen wir die auch mitgeh'n, wenn wir dem Paul jetzt das Rad bringen?«

»o du siebentes Wunder! Glaubst, ich soll dich erst fragen?« erwiderte Anne darauf.

»Nun, nun«, sagte Lottl, »heut' muss überall noch Friede werden, fangt ihr da zuerst an.«

»So komm', lieber Altweibersommer«, sagte Michel und schwang seinen rechten Arm um Annes Hals, »ich möcht' dich gewiss auch so gern heiraten als dein langer Jägerfritz, kannst mir's glauben.«

»Wenn'st du mich wieder 'mal bös machst, sag' ich dir was drauf, jetzt nicht«, erwiderte Anne und duldete den Arm um ihren Hals.

In diesem Augenblicke konnte sich Michel nicht enthalten, mit der linken Hand nach dem Andresl zu haschen, der in die Nähe gekommen war; aber Andresl entschlüpfte, noch verdrießlich lachend.

»Auch mit dem mach' Frieden«, sagte Lottl.

Michel erwiderte herzlich lachend: »Lottl, den musst du mir wieder gut machen; gib ihm auf meine Fürsprach' ein Butterbrot wie ein Dungbrett so groß.«

»Das soll er haben«, rief Lottl.

»Ja, ja, dass er mir's wieder aus der Hand schlägt wie neulich«, schrie Andresl und lief davon. Alle folgten ihm lachend.

2

Indessen war es um den Tisch sehr lebendig geworden, an welchem Rüder mit den anderen Männern mehrere Geschäfte abgeschlossen hatte. »Nun sei es«, sagte er jetzt und reichte seine beiden Hände herum, den Männern, mit Ausnahme einiger, die ihren zu schütteln, »so sei es«; ich tu's im Namen meines Freundes Friedländer, der Segen kommt von oben. Seid glücklich für euch, so seid ihr's für den Friedländer auch, denn ihr sein ehrlich. Heut' erst seh' ich recht von Grund aus, ihr seid wahre Männer, eure Händ' noch einmal – mein Herz will springen.« Dann blickte er einige Zaudernde an und klingelte, indem er sagte: »Ihr bedenkt euch noch immer; wisst aber zum zehnten und tausendstem Mal, ich kann nicht anders, ich tu's nicht anders, denn es ist nicht für mich.« Ein Stäubgeselle erschien an der Schwelle des Stäubgewölbes, und Rüder rief ihm zu: »Schleiß und Flaum für diese da!« Dabei zeigte er auf die Männer, die er zuletzt angeredet hatte. Der Stäubgeselle erschien glich darauf mit den verlangten Mustern, dann verschwand er wieder in dem Stäubgewölbe. Rüder aber nahm einen der Männer, dem er vor allen die Hand warm gedrückt hatte, jetzt bei Seite und sprach:

»Wie muss ich Euch danken, Kordik, Euer Beispiel hat den Ausschlag geben. Hart wär's hergegangen, denn es sind ein paar Schwerköpf' darunter, die vier Gäul' nicht fortbringen, wenn sie sich stemmen.«

»Dankt mir nicht, Rüder, das ist's wenigste«, erwiderte Kordik. »um die paar Gulden auf oder ab ist bei mir der Red' nicht wert, es ist nur um die andern gewesen. Nun die mehrsten sind nach, es ist in Friedländers seinem Geschäft, da tut jetzt jeder ein klein Übriges gern; die Landwehr dort wird auch noch folgen. Es ist für Euch ein glücklicher Geschäftstag heut' gewesen.«

»Ja, ja; aber wenn es so kommt, muss ein jeder zeigen, wem er Freund ist.«

»Der Handel macht harte Köpf'; doch ist kein Zweifel, in der Liebe zu unserm Friedländer sind gewiss alle eines Sinnes. Es ist ihnen wohler, wenn sie mit Müh' einkaufen; viel Reden weiht die War' ein, heißt es.«

»Im anderen zweifl' ich nicht, Kordik, kommt unser unglücklicher Friedländer heut' oder morgen wieder; er nimmt nicht an, was ich höher im Preis hinaufgetrieben hab'. Aber es ist zu tun, dass man ihm überall die Lieb' erweist, die man für ihn fühlt. Blüh'n muss sein Werk, weil ihm's Freunde besorgen. Hab' ich recht? Tag und Nacht soll man nicht ruh'n, dass man einem solchen Mann eine Freude mache. Und fürwahr, Kordik, ich ruh' auch nicht. Mein Aug' mag offen sein oder zu sein, ich seh' ihn immer und immer vor mir, fast will mir kein Schlaf mehr kommen. Hört, da drückt's mich schon einige Tag', wie ich ihm seinen Rehberg anbrächt', den er schon lange gern losgeschlagen hätt'. Fast hoff' ich schon, es geht. Der Meier hat sich sonst immer gewehrt, den Kauf rundweg einzugeh'n; jetzt sagt er halt auch, dem Manne muss alles zu Lieben geschehen; noch zwei Tag' Bedenkzeit, und er kauft den Rehberg doch wahrscheinlich.«

Kordik sagte nach einer Weile: »Rüder, ist der Meier im Stand', das eine zu tun, so tu' das andere auch. Wollt Ihr in seinem Namen mein Wäldchen kaufen? Jetzt müsst' es schon sein, dass es mit Ketten an mir häng', wenn ich jetzt noch Umstände machen wollt'. Das Wäldchen ist des Friedländers sein liebster Wunsch immer gewesen, so kauft es, es ist sein. Was der Meier tut, tu' ich auch; was für unseren Friedländer ist, will ich auch.«

»Wisst Ihr was, Kordik? Man kann nicht wissen, wie der Friedländer zurückkommt. Es könnt' ja auch sein, er hab' unterdessen alle Freud' und Lust verloren mit allen Dingen, und nach dem, was diesem Mann geschehen ist, wär's auch begreiflich. Drum wär' auf die Weis' des Guten fast zu viel in seinem Namen getan. Aber wisset was? Es bleibt auf Weiteres bei Euerm Wort, bis er selber wiederkommt. Will er dann das Wäldchen noch, so gut, so schlagt Ihr ein. Hab' ich recht oder nicht? Ich meine.«

»Gut. Es bleibt dabei, wie Ihr es meint.«

Rüder sah durch das Dorf hinab und sagte: »Wer kommt denn dort?«

Kordik folgte Rüders Blicken mit den seinen und sagte: »Der kommt von weiter her. Wie? Sollt' ich den Mann nicht kennen?«

Nach diesen Worten ging Kordik dem Nahenden einige Schritte entgegen. Von dem langen Tische vor dem Federngewölbe her waren indessen zwei Männer vorwärts gekommen, und der eine sagte zu Rüder: »Rüder, ich nehm' den Schleiß; die War' ist gut, und der Mann, dem sie gehört, ist noch viel besser. Mit einem Ehrenmann tut man immer wohl. In Gottesnamen denn; unser gut's Schwoberland hat noch kein' zu Grund gehen lassen, auch ist ein gutes Jahr dort heuer.

Der zweite sagte: »Rüder, die Wasserln und der Flaum sind mein. Euer Preis gilt für diesmal, müsst' ich's auch dem Friedländer zu Lieb' schon gelten lassen. Sechzig (Zentner) von beiden nehm' ich; der Augustin ist mein Geleitsmann mit einem Träger. Wir versuchen's wieder 'mal im Tirol.«

Rüder drückte erfreut und bewegt den beiden Männern die Hände und sagte: »Nun, so wär' mir ja alles erfüllt, was mein Wunsch für heut' gewesen. Das wär' ein Tag, der mich glücklich machen könnt', wär' unser Friedländer da!«

»Rüder, Rüder!« rief jetzt Kordik, in höchstem Staunen zurückkommend. »Sollt' ein glücklicher Mensch das glauben? Wüsst' ich nicht, dass ich wach bin, ich glaubte das nur so zu träumen. Der Zogelmann ist's von Scharlotten, der kommt!«

»Der den Friedländer vor zwei Jahren um so viel gebracht hat? Der Zogelmann ist's?« rief der erste der Männer nicht minder erstaunt.

»Er ist ja seit gestern erst aus der Schweiz zurück, und der getraut sich her? Und kaum, dass er heim ist?« sagte ein anderer.

»Was bringt den Mann daher!« ließ sich auch Rüder sehr verwundert hören.

»Was ihn herbringt? Das ist nicht schwer zu raten«, sagte Kordik. »Was gilt's, der hat von des Friedländers Gefangenschaft gehört und kommt fischen, weil er alles in Verwirrung drunter und drüber glaubt.«

»Still«, ermahnte Rüder, »der Mann geht schnell, da ist er schon.«

»Gelobt sei Jesus Christ, guten Tag, Männer«, grüßte Zogelmann.

»Auch guten Tag – in Ewigkeit Amen«, dankten die anderen alle.

»Ei, ei, Zogelmann, Euch sieht man auch wieder einmal?« sagte Rüder. »Wie lange ist' denn gar her? ...«

»Dass Ihr kein' Spitzbuben mehr seht?« fiel Zogelmann kurz mit Schärfe ein.

»Nein, nein, dass man Euch nicht mehr sieht.«

»Zwei Jahr' ist's her; all eins.«

»Nun, verhofft hätten wir Euch nicht hier, das muss ich schon sagen.«

»Sagt nur das andere auch, Ihr wünscht mich hin, wo der Pfeffer wächst, ich weiß, drum macht keine Geschichten nicht.«

»Nun, wie Ihr meint, kann auch geschehen. Aber sagt uns dann: Was führt Euch wieder vor des Friedländers seine Schwell'? Ihr seid hier schwer zu dulden, Zogelmann; was führt Euch her?«

»Neugier nicht.«

»Das grade hätt' ich gemeint.«

»Weil ich herumblick' da verwundert? Weil ich staun', dass alles doch in Ordnung noch ist wie vor Zeiten?«

»Ihr seid ja gestern erst heimgekommen aus der Schweiz? Seltsam und geschwinde zeigt Ihr Euch hier. Das macht, dass ich's auf Neugier schiebe; es müsst' wohl sonst was Schlimmeres sein.«

»Schnelligkeit macht den Geschäftsmann.«

»So hofft Ihr da Geschäft zu machen?«

»Eins zu End' bringen möcht' ich; angefangen hab' ich's mit dem Friedländer vor zwei Jahren schon.«

»Ich hoff', Ihr wollt hier Ehrenmänner finden.«

»Rüder, ich kenn' euch alle ... Ist's wahr? Ist der Friedländer in Verhaft genommen? Ist es so? Auf Meilen in der Runde hört man nichts anderes mehr reden als davon.«

»Ich wollt', ich könnt' jedem sagen: Nein, es ist nicht so. Mir will das Herz zerspringen; ein Messer steckt mir in der Brust, wenn jemand mich nur fragt.«

»Die Leute sagen, um Mitternacht wär' man kommen, hätt' geklopft und ihn geweckt und ihm kaum Zeit gelassen, dass er sich in Kleider werfe. So hätte man ihn fortgebracht, und kein Mensch erfahr', wohin und warum. Ist das alles so? Und acht Tage ist's her? Und seitdem wär' auch kein Wort von ihm verlaut?«

»Das alles ist so; aber Euch führt ja keine Neugier her?«

»Was mich herführt, sollt Ihr noch hören. Seid so gut und sagt mir's, wenn Ihr mehr wisst, Rüder. Mich führt nicht Neugier her.«

»Was Ihr gehört habt, das ist alles so. Mehr weiß ich nicht, mehr weiß niemand.«

Zogelmann machte eine schmerzliche Bewegung, ging einige Schritte bei Seit', nahm den Hut ab und streifte sich die Haare über die Stirne, kam dann zurück und sagte sichtlich gewegt: »Rüder, Ihr traut mir nicht; das verdenk' ich Euch nicht. Der Friedländer ist sechzehn Jahr' da, und so lang seid Ihr immer sein lieber Freund gewesen. Ihm tut keiner ein Leid, er tut's auch Euch. Ihr habt also ein Recht, mir nicht zu trauen. Aber habt Verdacht auf mich, solang Ihr lebt, Rüder, nur diesmal vertraut mir alles, was Ihr wisst. Ist Euch gewiss nicht mehr bekannt von des Friedländer seiner Verhaft?«

»Gewiss nicht. Ich hab' die Wahrheit gesagt, Zogelmann, Ihr dürft's glauben. Verstellen, das habt Ihr aufs Best' von jeher immer brav gekonnt, aber weinen nicht wie jetzt. Euch drückt, so viel Schuld gegen den besonderen Mann auf dem Herzen zu haben. Sagt nun, was führt Euch her? Was Ihr wisst, das ist Wahrheit und alles.«

»Noch eins. Ist die recht' Nachfrag' auch gescheh'n?«

»Überall, durch jedermann. Man wird nichts inne. Die Beamten auf dem Land, die wissen weiter nichts, und die Beamten in der Stadt, die wollen nichts wissen. Die Friedländerin haben sie überall mit schönen Worten wieder heimgericht', sie sollt' nur nicht gar zu viel trauern, sie sollt' nur 's Allerbest' hoffen, es würde gewisse nicht lange mehr dauern, es hätt' wahrscheinlich in Kurzem sein End'. Das gute Weib hat noch immer mehr geweint, wenn sie zurückkommen ist, als wenn sie fortgangen ist.«

»Führt mich zu ihr.«

»Sie ist nicht heim jetzt; ich hab' ihr selber zugered't, dass sie 'nübergehen möcht' zur Nachbarin Aplon, die red't gern und wird sie wieder aufrichten.

»Ich hab' auch gehört, Ihr sollt ja alles in allem indessen hier sein; Ihr sollt Haus und Handel allein verwalten.«

»Ich bin allein. Kaum hat sich's verbreit', der Friedländer ist gefangen, ist das ganze Dorf kommen und auch weiter her die Leut', man hat Gespann und Werkzeug gebracht und Knecht und Dirnen geschickt, dass die Friedländerin für ihr großes Haus behalt' und nütze, was sie brauchen kann; da hab' ich mir herausgenommen, das Wort zu führen im Namen der Hausfrau und habe alles mit Dank zurückgeschickt. Der Himmel, hab' ich gesagt, wird's fügen, dass unser Friedländer bald wohlbehalten wiederkommt, bis dahin will ich sein Haus verwesen wie sein bester Freund; sollt' ich fremde Hilfe brauchen, ich werde schon darum bitten. Seitdem seh' ich dem Handel nach und tu', was ich kann; der Paul, der Ziehsohn der Nachbarin gleich da, besorgt die Aufsicht im Hof', und so geht in Ordnung und Frieden alles weiter.«

»Wie der Mann ist keiner mehr geliebt und geschätzt«, sagte Zogelmann nach einer Weile tief erschüttert vor sich hin.

»Ja, wenige sind's, die gegen den Mann etwas auf dem Herzen haben«, erwiderte Rüder mit Beziehung.

»Und die leben«, fuhr Zogelmann fort, »und sind frisch und gesund, und sind frei ...«

»Mein Gedanke, da ich Euch vor mir seh'.«

»… Ich hab' nicht geschlafen heut' Nacht«, fuhr Zogelmann fort, »kann sein aus Müdigkeit ... kann auch sein, weil ich zu viel hin und her gedacht habe ... Sagt, Rüder, warum kommt so was über den Besten und nicht über den Schlimmsten? Deswegen vielleicht, weil der Beste sich oft nur gut genug sein lässt für den Schlechten ... Wie kommt's, dass ich so viel gegen ihn auf der Seel' hab'? Wie kommt's? Er hat's angeh'n lassen, dass er mir nur gut genug ist gewesen zu argen Streichen ... Rüder, da Ihr so viel nun seid in des Friedländer seinem Haus ...«

»So viel ich gesagt«, fiel Rüder ein.

»So kommt auf ein Wort beiseit' ...«

Jetzt waren auch alle andern Männer von dem Tische herzugetreten, die sich eben nicht weniger wunderten, den Zogelmann hier zu sehen und so reden zu hören. »Nicht wahr«, sagte Kordik, »das verwundert auch euch gewaltig? Ich spann' da allerhand dahinter. Gebt acht, es ist doch wohl so, er spioniert das Geschäft aus und sieht's auf den Rüder ab, den will er sicherlich herumkriegen. Aber das soll er sich unterstehen! Dem wollt' ich heimleuchten, ohne Latern', wie's ihm gewiss nicht geschehen ist noch.«

Einer der Männer erwiderte: »Hm, wie er aber ausgeseh'n hat, das betrachtet. Zum Wenigsten ist er mir noch nie so vorkommen. Es scheint doch, er will was anderes.« – »Verstellen kann er sich aus dem Tz«, sagte Kordik, »die Kanaille kann sich machen wie s' will, lang und kurz, schön und wild, heiß und kalt; auch weinen kann er, wenn er will. Haben's ja gesehen, dass er auch reden kann wir ein Apostel in allen Zungen. O, ein feiner Zeisig, ein Fuchs, eine Blindschleich', ein Wolf.« Ein anderer sagte: »Nur damals, wie er den Friedländer das letzt' Mal so angesetzt hat, wie schön ist er kommen, die Seel' aus dem Leib' hätt' er einem gered't, noch leichter das Geld aus dem Beutel, die War' aus 'm Gewölb.« Und ein dritter sagte wieder: »Dieser Zogelmann ist's auch gewesen, der uns ganze Strecken in der Schweiz, im Tirol, im Schwäbischen und am Rhein wurzweg verdorben hat. Darf von uns keiner mehr hin. Sand hat er in die Federn gemischt und so ums Gewicht betrogen; sonst auch hat er die War' bis auf den Grund verdorben. Es gibt kein Wirtshaus mehr dort, er ist überall schuldig blieben, wenn er auch das Geld dazu in der Tasch' gehabt hat; Genad' aber dem, der ihm nur einen Heller schuldig geblieben wär', es hätte das Hemd vom Leibe müssen, bis er bezahlt worden. Seinetwegen sind wir alle verrufen dort, und man sagt uns nur: Ah, seid ihr auch aus dem Zogelmannland? Kennen euch schon; eure War' kann gut sein, aber ihr seid nicht sauber. Und geh'n müssen wir und uns 's gefallen lassen. Mir selber ist's geschehen.« »Schaut aber hin«, sagte ein anderer, »ich behaupt' halt doch, den Mann müsst' was anderes herführen – schaut, seht – auch der Rüder ist ganz bleich im Gesicht, es schüttelt ihn am ganzen Leib' – und drückt er nicht dem Zogelmann gar die Hand jetzt? Schaut doch hin!« »Was ist das?« rief Kordik selber aus. »Wie geschieht dem Rüder? Es ist natürlich das alles!«

Gleich darauf kam Rüder mit Zogelmann zu den anderen Männern zurück; beide waren außerordentlich erschüttert. »Mann ... Mann«, sprach Rüder und konnte nicht vollenden. Zogelmann sagte: »Leb' ich noch länger, so braucht niemand zu wissen, warum. Und bin ich morgen dahin, so braucht's auch niemand zu wissen, warum. Hört Ihr? Sagt es also niemanden weiter.« »Nein, nein!« rief Rüder aus: »Das geht Euch nicht so hin, das muss bekannt werden und überall verbreit' wie das Gebet des Herrn!« Dann kehrte er sich zu den Männern und fuhr fort: »Nun, Männer und Freund', da hört etwas und vergesset's nimmermehr und erzählt es Weibern und Kindern von Haus zu Haus ... Der Zogelmann ist gekommen, wisst ihr, warum? ...« »Nun, sprecht, warum denn? Sprecht!« riefen alle wie aus einem Munde. »Da muss doch ganz was Besond'res sein«, sagte Kordik, »und wen geht's an?« »Dich, mich, ein jed's Kind im Dorf, alle Leut' in der ganzen Gegend, den Himmel zu allermeist – obwohl den Friedländer ganz allein!« »Das versteh' ich nicht«, erwiderte Kordik. Aber Rüder wartete diese Worte nicht ab und kehrte sich wieder zu Zogelmann: »Was für ein Engel hat Euch das Herz so bekehrt? ... Ich kann nur meine Hände zusammenschlagen!«

Alles drängte sich jetzt um die beiden noch dichter zusammen, und Zogelmann fuhr fort zu reden zu Rüder allein gewendet:

»Ich weiß von keinem Engel, hab' keinen geseh'n, hab' keinen gehört. Der Friedländer ist in Verhaft genommen, das ist's, was ich seh' und hör'. Zerreißt mich und nehmt mir das Wort wieder heraus – meine Ruh' ist auf und davon ...«

»Jetzt hört das Reden an«, sagte Kordik. Ein anderer sagte: »Ist der Mann zum Kennen?«

Zogelmann fuhr fort: »Immer hab' ich den Friedländer für 'ne Eiche gehalten, dem das schärfst' Spitzbubenmesser kein' Rindlein Glück abhackt, und solang hab' ich gehackt, gebissen, genagt an ihm – jetzt ist er umgehau'n, und das wirft auch mich danieder, und all' das Gift und all' die Messer und die Streich', die dem Friedländer so vergeben, ihn zerstochen und verwundet haben, die arbeiten jetzt da, da, in dieser Höll' da ... Ich bin ein geschlagener Mann!«

»Da könnt Ihr recht haben, Zogelmann«, sagte Kordik, »ich möcht' um alles nicht auf mir haben, was Euch drücken muss; aber schön ist's doch, dass Ihr das mit so viel Schmerz gesteh't.«

»Wenn ich oder Ihr oder einer von uns in Verhaft genommen wär'«, fuhr Zogelmann fort, »ich hätt's verdient, Ihr einer könntet es verschuldet haben, weiß man's wie? Jetzt aber ist der Johannes Friedländer gefangen – und wir alle gehen frei herum!« Er nahm einen großen Leibgurt herunter und reichte ihn dem Rüder hin: »Da ist's, da nehmt; nehm't Ihr's nicht, ich müsst' mich selbst anfallen. Schlafen kann ich nicht, und mein Haus freut mich auch nicht mehr, und den Friedländer muss ich zahlen. Wenn er heut' oder morgen wiederkommt, er muss sehen, sein letzter Feind ist dagewesen und will Friede machen. Rüder, Ihr kennt seine Bücher, braucht Ihr mehr? Sagt mir's jetzt oder morgen oder übermorgen; sagt mir's, Ihr wisst mich zu finden, ich geb' Euch mehr. So viel als hier ist mein Betrug gewesen, viel mehr hab' ich ihn gekränkt und tausend Mal mehr hätt' ich ihn noch betrogen. Das sagt ihm, wenn er wiederkommen sollt'; ich hätt' wieder auch ein Herz, und ich wär' geschlagen genug. Schlaf' ich heut' Nacht besser, so grab' ich morgen Keller und Garten um und um und schick' Euch alles, alles, was ich verborgen hab' ... Gott befohlen ... Der Zogelmann ...« Er ging.

Eine lange Pause des Erstaunens trat ein, bis endlich einer der Männer sagte: »So ist der Jüngste Tag nicht mehr weit – das ist ein Zeichen.«

Ein zweiter sagte: »Es gescheh'n halt doch noch Dinge, die nit möglich sind.«

Ein dritter sagte: »Ist das heut' geschehen, so kann's morgen hinaufregnen und übermorgen herunterwachsen.«

»Nun, Kordik, Rüder«, sagte der erste wieder, »hat's euch auch die Red' auf 'ne gut' Weil' verschlagen? Ihr steht zum Wenigsten beide so da.«

»Fragt mich morgen drüber aus«, erwiderte Kordik, »der Brunnen ist mir viel zu tief, den schöpf' ein anderer aus ... Nun, Rüder, bist auch stille und sagst kein Wort?« –

Rüder lehnte sich bewegt auf Kordiks Schulter. »Kein Pfarrer auf der Kanzel und im Beichtstuhl' ist je im Stand' gewesen, dieses Herz von Eisen weich zu machen«, sagte er dann, »der Mann hat sein' Vater und Mutter sterben seh'n und hat kein nass' Aug' bekommen; der Mann hat sich aus Geiz von seinem Eh'weib geschieden und hat seine Kinder nackt in die Fremd' getrieben aus Geiz, weil man geglaubt hat, der Mann kenn' keine Lieb' und kein Erbarmen; zu diesem Mann ist noch kein Armer kommen, er wär' denn mit Schimpf und Fluch für eine Gabe wieder gangen; wie einem bösen Geist ist ihm bis heute alles ausgewichen – ‚der Zogelmann nimmt dich mit', ruft man den Kindern, wenn man sie erschrecken will und zum Schweigen bringen ... Und was ist's nun, dass der Mann auf einmal seine Schätz' ausgrabt und bringt und das Weinen wieder lernt und Tag und Nacht keine Ruh' mehr findet und sich selbst wie eine giftige Natter hasst? ...« Er hielt inne und wischte sich die Augen, dann fuhr er nach einer Weile fort: »Unser Freund Friedländer ist das im Stande gewesen – Männer, da liegt es mir, ich könnt' weinen wie ein Kind. Jetzt haben wir geseh'n, was den größten Feind besiegt und das Allerschlimmst' an ihm, ein eisern' Herz. Was dieser Mann unserm Friedländer getan hat, wie er ihn um Tausende gebracht hat, seine Ehr' gekränkt und seinem Kredit geschadet hat, das wissen wir all'; aber weiß man auch, dass ihm der Friedländer dafür nur das kleinste Korn Böses dawider gestreut hätt'? Dass er ihn wieder verschädigt, gekränkt hätt' oder an Ehr' und Kredit verkürzt? Dass er je einmal gesagt hätt': ‚Was macht der Zogelmann, der Lump?' Niemand, niemand weiß so was. Da seh'n wir's alle: sein groß' Herz bricht hier ein feindlich Gewissen.« Wieder schwieg Rüder eine Weile und fuhr dann fort: »Und um diesen Mann, um den alles weit und breit herum jammert und weint, um diesen Friedländer, der mir lieber als tausend Mal ein Bruder und zehntausend Mal jed' anderer Freund ist – um den kommen die Häscher nachts und klopfen ihn heraus, und er muss sich in Gewand werfen und mitgeh'n wie ein Verbrecher ... Das ist nicht erhört und nicht zu tragen, und wenn ich sterben müsst' hier gleich auf dem Platz, ich träumt' und weinte noch im Grab davon ...« Pause; dann richtete er sich auf und sagte: »Kommt, kommt jetzt, geht mir herein in sein Haus. Bringen wir sein Geschäft, wie wir's zubest können, zu End'. Sollt es auch jetzt noch ein' von euch reuen, dass wir dem Friedländer zu Nutz' heut also gut übereingekommen sind alle? Keinen, ich seh' euch's an.«

»Da wär' ja der Zogelmann weit braver als wir alle«, sagte Kordik, »das darf nicht sein.«

»So kommt und lasst uns unterschreiben. Auch sollt ihr Zeugen sein, wie viel gebracht ist worden in diesem Gurt.« Nach diesen Worten ging Rüder voraus, und alle andern folgten ihn in des Friedländers Haus.

3

Ein Postillon blies lustig in das Dorf Küssüben herein. Gucki und Fränzchen, des Friedländers jüngste Kinder, kamen wieder vor der Haustüre zu spielen, nachdem sie teils im Hause, teils im Garten gewesen waren. Gleich darauf erschien auch Prumler, der Dorfschuster, fast außer Atem und blickte sehr neugierig herum.

»Wo, wo?« sagte er. »Soll dagewesen sein und wieder fort sein und weiß Gott, warum dagewesen sein? Kein Mensch hat ihn kommen seh'n, aber fortgeh'n jeder. Gleich stürzt der Schmied herüber: ‚Der Zogelmann ist zum Friedländer 'nauf und wieder davon wie die Höll', wisst ihr nicht, was der hat woll'n? Ihr wisst's gewiss.' Hinter dem Schmied kommt die Semmel-Fanni: ‚Was hat denn den Zogelmann zum Friedländer 'naufkugelt und wieder 'runterg'wickelt?' Hinter dieser Klappermühl' kommt der Hanf-Seppi: ‚Jess', Jess', und da hat's ja wieder gezogelt beim Friedländer droben, das ließ' sich hören, wenn man's wüsst'?' Und hinter'm Hanf-Seppi kommt der Dudl-Franz, und hinter'm Dudl-Franz kommen der Ettelpeter und der Jäger-Fritz, und wenn das so fortgeht, so häng' ich mich auf. Ich soll alles hören und seh'n und riechen, alles will von mir alles erfahren, ich soll alles wissen. Ich hab' schon kein' gute Fensterscheiben mehr, seit der Friedländer in Verhaft ist, vor lauter Neugier und Klopfen. Alles soll ich wissen! Woher nehmen und nicht stehlen? Ich häng' mich so noch auf; die Neugier anderer Leut' ist's, die mich umbringt. Jetzt will ich erfahren, was der Zogelmann da hat woll'n, dann häng' ich mich auf.« Er ging auf Gucki und Fränzchen los, welche vor der Haustüre mit Obst spielten, und sagte: »Kinder, ist eure Mutter zu Haus?« Im nämlichen Augenblicke sahen diese den Rauchfangkehrer aus dem Schlot des Nachbarhäuschens steigen und liefen erschrocken zur Nachbarin Aplon hinüber. »Kreuzhimmeldum!« rief Prumler, »ist nicht alles wie behext da? Die Kinder laufen davon vor mir, und die Alten rennen mir zu Haus alle Türen ein und lassen mir kein Fenster ganz mehr, da mag ein anderer Schuster Prumler sein, ich nicht, ich häng' mich lieber auf.« Jetzt entdeckte er den Rauchfangkehrer, der auf der Krone des Schlotes saß und halb singend seine Formel sprach, indem er den Besen in Kreuzhieben schwang:

»Von Feuer und Zaubereien frei
Dieser Schlot hier für alle Zeiten sei;
O Herr, o Herr, dass keine Hex' hier erschein',
Dass kein Klagemütterlein in diesem Schlote wein',
Dass kein Flämmchen sich an dieser Mauer fang',
Dass kein Höllischer komm' wie Drach oder Schlang';
Lass nichts von alledem, o Herr gescheh'n,
Nur Segen lass aus und ein hier geh'n!«

»Nun ja, wenn so ein Drach' da oben sitzt, sollen die Kinder nicht davonlaufen«, rief Prumler, den Rauchfangkehrer oben entdeckend. »Aber halt, mit dem Mann darf ich's nicht verderben; im Rauchfang steigt mit dem Rauch noch allerlei Geheimnis hinauf. Der geht dann zum Friedländer 'nüber, wer weiß, was er da alles hört. Vielleicht weiß er schon, warum der Zogelmann dagewesen ist. Ich will ihn gleich vornehmen ... He!«

Der Rauchfangkehrer verschwand wieder im Schlote.

»Plumps, ist er unten, wie ich nur Miene mach', mit ihm anzubinden. So ist's mit jedem, den ich anred', plumps wie ein Frosch unter Wasser. Ich häng' mich auf. Warum für andere neugierig sein? So ist's sein Lebtag nicht gewesen wie jetzt. Ich will nur in aller Geschwindigkeit noch erfahren, was denn den Zogelmann hergeschneit und so geschwind wieder weggeschmolzen hat, dann häng' ich mich noch auf.«

Indem er nach der Friedländers Haustüre gehen wollte, rief eine Stimme hinter ihm: »Prumler!« Der Gerufene wendete sich schnell und sagte:

»Hier! Da! Was gibt's?«

Es war der Ettelpeter, der gerufen hatte; er kam mit einem Rechen über der Schulter. »Prumler«, fuhr er fort, »wisst Ihr's schon? Da ist eben mit der Post ein Herr angekommen, sieht aus wie ein helllauterer Prinz. Vorm Wirtshaus hat er halten lassen und ist wie der Blitz drin verschwunden, er hat sich auch ein' Koffer so schwer wie voll Geld nachtragen lassen. Ich muss mir ein bisschen Laub im Buchenwäldel rechen, sagt mir, wenn ich zurückkomm', was das wieder für ein Herumschießen von dem Herrn ist, der weiß sicherlich vom Friedländer seiner Geschicht' das Allerbest', und Ihr seid der Mann, der hinter alles kommt.«

Der Schuster wurde blass wie eine Leiche, dass eine solche Entdeckung wieder ohne sein Wissen gemacht worden war; doch fasste er sich gleich und gab seiner Wichtigkeit etwas voraus, indem er sagte: »Das hättet Ihr mir gar nicht trätschen dürfen, ich weiß all seit gestern davon.«

Darüber war der andere noch höchlicher erstaunt und sagte: »Kann das sein?«

Der Schuster erwiderte wichtig: »Ich hab' Briefe.«

»Kreuzsackerlot, was steht da drin?«

»Das erzählt man an keinem Wochentag. Geht, rech't Euer Laub. Morgen ist Sonntag, da will ich bei Seit' legen, was für Euch ist. Holt's für 'nen Krug Bier.«

»Den Krug Bier sollt Ihr haben; aber das wisst Ihr doch schon, warum sich der Zogelmann hier wieder 'mal durchgezogen?«

»Das hätt' ich Euch gestern schon versiegelt geben können.«

»Das sagt mir, 'vor ich Laub rechen geh'.«

»Um keine Million.«

»Warum denn nicht? Wenn Ihr's gestern schon hättet geben können, so seh' ich nicht ein« –

»Versiegelt hab' ich gesagt; erbrochen darf's auch heut' noch nicht werden.«

»So habt Ihr auch Briefe?«

»Ja. Auch das leg' ich morgen zu Eurer Sach'. Geht Laub rechen.«

»Himmeldonnerwetter«, sagte Ettelpeter plötzlich, als er sich zum Fortgehen umwendete, »dort spaziert jener Herr durchs Dorf herauf, Prumler, der wie ein Prinz so schnell aus dem Wagen geschossen ist; er geht jetzt langsam, die linke Hand legt er über'n Rücken, mit der rechten Hand guckt er durch ein Augenglas – du Kreuzsackerlot, er kommt gerade auf uns los. Jetzt, Prumler, stell' deinen Mann, ich brauch' dir nicht aufzutragen. Ich geh' Laub rechen!«

Er ging, und Prumler sagte zu sich selber: »Das ist entweder ein Prinz oder ein geheimer Kommissar oder ein Inschinir, aber ganz gewiss einer vom stillen Gericht, wo alles so sacht' hergeht wie auf den Zehen. Der weiß alles vom Friedländer. Aha! Da verwend't er auch kein Aug' mehr vom Friedländer seinem Haus – er kommt wie an der Schnur hergezogen, geradeaus her. Wahrscheinlich wird er tun, als wüsst' er ganz und gar nichts, aber das kennt man auch, und wenn man nur vorsichtig ist, man kriegt am End' alles aus einem heraus.«

»Der Rauchfangkehrer war wieder aus dem Schlot gestiegen und kam über Dach und Leiter herab. Prumler benutzte die Augenblicke vor dem Erscheinen des Fremden in der Nähe, um den Rauchfangkehrer ganz auf seine Seite zu kriegen. »Hört, Vetter aus der Höll'«, scherzte er, »kehrt Ihr nicht zunächst im Friedländer seinem Rauchfang drüben?«

»Ja, jetzt geh' ich 'nüber.«

»Ihr dürft gut kehren, wenn Ihr heut' noch in mein' Rauchfang kommen wollt.«

»Es wird grad' kommen, dass ich bei Euch über Nacht bleib'.«

»So kommt, kommt; kommt ganz gewiss. Ich lass Euch gleich ein ordentlich Lager in der Stub' machen, wenn Ihr gewiss kommen wollt.«

»So komm' ich gewiss. Ihr habt keine Kinder, das ist mir bei Euch lieb; so schreck' ich niemand.«

»Wird Euch auch seltsam im Friedländer seinem Rauchfang oben.«

»Könnt Euch's denken. Es ist so immer wie stilles Weinen in jedem Rauchfang. Wird mir schwer fallen, weil ich glaub', ich hör' dem Friedländer sein ganz Unglück wieder – na, ich geh'.«

»Eben jetzt ist der Ettelpeter dagewesen, der sagt, man soll im Friedländer seinem Haus noch sonst allerlei hören und seh'n. Gestern zum Beispiel soll was wie ein feuriger Lämmergeier den Zogelmann, wie er leibt und lebt beim Kragen gebracht haben und mit ihm in des Friedländers sein' Rauchfang hinab geschossen sein.«

»Nicht möglich. Den Zogelmann bringen nicht vier Gäul' her, zuwenigst ein Lämmergeier.«

»So habt Ihr vorhin nichts gehört?«

»Ich hab' im Rauchfang 'kehrt und mein Liedel 'pfiffen, und wenn ich aufgehört hab', ist's gewesen, als ob die Friedländerin bei der Aplon drinnen gesprochen und geweint hätt'. Nun, was soll's denn gewesen sein?«

»Der Zogelmann ist wirklich dagewesen mit vier Pferden vorhin, ist aber gleich wieder auf und davon. Der Schuft hat's der Friedländerin zur Schmach getan und hat zeigen wollen, ich bin doch auf dem Platz und nicht in Verhaft wie dein Friedländer, der Großtuer! Ich fahr' mit Vieren und dein Mann mit Würmern unter der Erd' – ich bitt' Euch, so ein Schuft!«

»Jetzt geht! Auf diese Weis' hätte ja der Bösewicht wieder ein verdammtes Glück in der Schweiz gemacht. Aber dass ich gar nichts gehört hab'!«

»Je nun, nicht jeder hat 'ne Tonne Ruß im Ohr. Lasst's Euch eine Witzigung sein und putzt Euch die Ohren, wenn Ihr an einem Ort seid, wie des Friedländer sein Haus ist.

»Mein Seel', ich will horchen. Vielleicht erfahr' ich auch einmal was, das Ihr nicht wisst, Prumler.«

»Gut, erfahrt was; von Euch ist ohnedies niemals was zu erfahren.« Nach diesen Worten kehrte Prumler dem Rauchfangkehrer verdrießlich den Rücken und sagte: »Auch der weiß nichts; nun gut, ich häng' mich ohnedies auf – dort kommt mein Mann.«

Der junge Fremde war nun auf dem Anger vor des Friedländers Hause erschienen und blieb stehen, rings die Gebäulichkeiten betrachtend. Prumler suchte eine Stellung zu gewinnen, in der er von dem Fremden gesehen und im Notfalle als Auskunftgeber angeredet werden konnte. Und das geschah auch gleich darauf. »He«, rief ihn der Fremde, »Ihr dort! Sagt mir doch, wem gehört denn dieses allerliebste Haus mit all den schönen und weitläufigen Gebäulichkeiten herum?« Aha, dachte der Schuster, der fangt's gut an, als wüsst' er gar nicht, – o das hab' ich vorausgesagt; ich will auch tun, als ob ich gar keinen Verdacht nicht hätt'. Laut erwiderte er dann auf die Frage des Fremden: »Ei'm gewissen Johannes Friedländer; es ist der größte Hof auf Meilen in der Rund', auch ist dort des Friedländer sein groß' Federngewölb' und daneben die Staubhütte, weil der Johannes Friedländer auch der reichst Kaufmann in diese War' ist. Der Mann ist auch sonst ein Prachtmann, gar nicht umzubringen ist seine Herzensgüte. Sein Weib könnt' seine Schwester sein, so stark und fromm und gutherzig ist sie wie er. Sie haben drei lebendige Kinder, hübsch, dass alles teufelt, beneid't sie auch ein jeder darum.«

»So, so. Ich danke Euch. Es muss jedenfalls der erste Mann sein im Orte, denn es steht dieses Gebäude da wie ein kleines Lustschloss unter den übrigen des Dorfes. Und Küssüben heißt der Ort?«

»Ja, Küssüben, gestrenger Herr.«

»So; es sieht fast einem Städchen ähnlich. Es macht euch Ehre, ihr Küssüber; ihr habt das alles so reinlich und nett; der Rasen muss im Sommer aussehen wie grüner Samt, er kann kaum betreten werden, sonst wär es nicht möglich, dass er jetzt noch so frisch und wie aus einem Stücke aussehen könnte. Wer hält denn da so rühmliche Ordnung?«

Prumler dachte: Aha, es lässt sich riechen, wonaus er will; ich darf nur immer das Nämliche aussagen. Dann sagte er laut: »Der Johannes Friedländer hat das so eingerichtet und hält es aufrecht. Es ist Straf' darauf, wer den Rasen unnützerweis' verschändet und darauf herumtollt, deswegen sind die schönen Fußweg' gemacht worden.«

»Ei, und dort habt ihr Alleen gepflanzt von lauter Obstbäumen?«

»Gehört der Gemeinde und ist auch gepflanzt auf des Friedländer sein langes Zureden und Dringen.«

»Ein kluger und tätiger Mann, der zu so was aufmuntert. Auch begegnet man nirgends einem Bettler; ist das auch dieses Friedländers Werk?«

»Wer arbeiten kann, muss arbeiten, und dass sich keiner ausred't, schafft der Friedländer jedem Arbeit, der keine hat; für die anderen wird sonst gesorgt.«

»Das ist ja ohnedies von der Regierung vorgeschrieben.« –

»Ja, aber niemand hat's früher gehalten, weil kein' rechte Aufsicht ist. Der Friedländer hat's erst rechtschaffen durchgesetzt.«

»Immer besser, was man von dem Manne hört. Sagt, das war wohl früher auch schon so, dass die Leut' hier Bücher lesen, wenn sie Feierabend machen? Ich habe da mehrere Bauern vor ihren Häusern sitzen und ihren Weibern und Kindern recht hübsch vorlesen hören.«

»Das ist auch erst vom Friedländer her. Er hat alle zu einer klein Beisteuer verschwadriet, und er selbst gibt das Allermeist', und dafür werden Bücher angekauft.«

»Nun sagt, ist er jetzt zu Hause? Ich muss ihn kennen lernen.«

Holla, dachte Prumler, der Musjö treibt's weit in der Verstellung. Dann sagte er laut: »Der Friedländer, gestrenger Herr ...«

»Nun, ist er zu Hause?«

»In diesem Augenblick' gerade nicht ... ich glaube ...«

»Nun, nun, Ihr braucht deshalb nicht verlegen zu sein, könnt Ihr denn dafür, dass er nicht zu Hause ist? Sagt's nur heraus, der Friedländer ist über Feld ...«

»Wie Sie das gleich wissen können, Gestrengen ...«

Der Fremde lächelte über die Einfalt und sagte: »Nun, das ist eben so schwer nicht. So will ich später noch einmal kommen, in einer Stunde kann der Friedländer wohl zu Hause sein. Lebt wohl.«

Dem Meister verging Hören und Sehen auf einen Augenblick, dann rief er vor sich hin: »Wie? Wo? Wa –? O Himmel! O guter Gott! O Maria! Da hat er einen Tropfen Geheimnis verschütt', der mir lieber ist als der beste Krug Wein! 'raus ist's! In einer Stunde ist er da!« Der Hausknecht aus der Schenke kam jetzt und sagte: »Gestrengen, ein Brief, da der. Er ist schon von gestern da der. Er ist volleid für Ihnen, wenn Sie so heißen. Der ist's, da der.« Der junge Fremde griff rasch danach. »So darf ich vielleicht den Freund nicht hier erwarten? Es ist seine Hand«, sagte er, öffnete den Brief und las.

»Mein lieber Jeneveldt, es hält mich eine dringende Amtspflicht einige Stunden länger in der Hauptstadt zurück, als ich vorausgesehen habe, und ich eile deshalb, dich davon in schnelle Kenntnis zu setzen, damit du nicht etwa Küssüben verlässt, weil ich nicht zur bestimmten Stunde da. Längstens bis 9 Uhr abends bin ich am verabredeten Tage doch in Küssüben. Es trifft sich gerade, dass eine bekannte Privatgelegenheit denselben Weg einige Stunden später als die Post und wenigstens ebenso schnell als diese fährt; die werde ich benutzen können, um in deine Arme zu eilen. Warte also. Um recht ungestört miteinander plaudern zu können, wollen wir die eine Nacht gleich in Küssüben bleiben, wo ich weiß, dass der Wirt zwei nette Zimmerchen für Gäste einräumen kann. Ich wiederhole dir, dass mich außer der Sehnsucht, dich nach vielen Jahren wiederzusehen, noch manche andere Gründe nach Küssüben dir entgegenführen. Um dich vor Langeweile zu schützen, mache ich dich auf die Menschen dort aufmerksam und auf ihre eigentümliche Art zu leben. Den Namen Friedländer wirst du sehr oft mit großer Besonderheit hören, ich selbst leite dich im Vorhinein darauf, weil uns beiden der Mann bald genug sehr merkwürdig werden dürfte. Adieu, mein Lieber. Rechne mein späteres Kommen nicht mir an und zerstreue dich, bis ich komme, wie du kannst. Der Gedanke tröste dich, er kommt ja doch noch heute. Adieu. Dein getreuer Steiner.«

Jeneveldt legte den Brief zusammen und sagte: »Auch gut; eine Stunde gibt's hier herum schon Zerstreuung.« Zum Wirtsknechte gewendet fuhr er fort: »Ach, wartest du? Ist nicht nötig, geh' nur.« Er selbst wollte sich entfernen, aber die Stimme des Schusters, welche plötzlich wieder rief, »Gnädiger Herr!« machte ihn zurückblicken, und er sagte: »Ja so, wir sind ja auch noch da; nun Adieu indes und viel Dank für die Auskunft vorhin. Kommt doch, Euch was auf meine Rechnung zugute zu tun, hört Ihr? Heut' Abend im Wirtshause. Aber um Himmelswillen, wie seht Ihr denn aus? Was ist Euch denn?« Der Schuster hatte inzwischen mit Freude, lebhafter Ungeduld, halbbefriedigter Neugier gerungen; er hatte zufällig aus dem Briefe einige abgerissene Worte und Sätze gehört, wie »dringende Amtspflicht« – »in schnelle Kenntnis zu setzen« – »Küssüben« – »Längstens bis 9 Uhr abends« – »Warte also« – den Namen »Friedländer« – »er kommt ja doch noch heute ...« Jetzt brach er wie rasend los und rief: »Gestrengen, ich häng' mich so noch auf, ich bitt' um alles, ich bitt' um Gotteswillen um das andere auch, um was Sie noch mehr wissen! Sie kommen mir nicht mehr aus! Ich hab' schon zu viel 'raus, ich will wissen, was Sie wissen! Ich bitt' um den Brief, ich bitt' um alles, alles, was Sie noch wissen!«

»Nun, nun, Lieber«, sagte Jeneveldt lachend, »Ihr scheint ja gar an einem schlimmen Übel zu leiden; Ihr seid ja neugierig für ein ganzes Königreich. Pah, alle Wetter! Wie könnt Ihr denn einen Brief verlangen, der Euch gar nichts angeht? Und was soll ich denn für Geheimnisse wissen?«

»Ja, ja, Euer Gestrengen wissen, es wird Ihnen da geschrieben, dass er kommt, um 9 Uhr abends kommt er, und Sie wissen, wo er gewesen ist und warum er dort gewesen ist, und ich bin Ihr Freund so gut wie ein anderer und weiß gern auch was ein anderer weiß. Euer Gestrengen sind ein Prinz und meinetwegen ich nur Ihr Untertan, das macht nichts; aber ich muss, muss alles wissen!«

»Alles?«

»Alles, alles, ich kann mir nicht helfen, ich häng' mich so noch auf.«

Jeneveldt lächelte und ließ den Brief fallen, mit der Miene, als merkte er's nicht, und sagte dann: »Nun, wenn ich wüsste, dass auch meine philosophischen Geheimnisse von Gott, Unsterblichkeit, Freiheit und Knechtschaft und so weiter was nütze sein könnten, warum sollte ich Euch nicht wenigstens einige davon mitteilen? Nun sagt, was verlangt Ihr denn vor allem zu wissen?«

Prumler hatte schnell seinen Fuß auf den Brief gesetzt und sagte sehr verlegen nach einer Weile: »Euer Gestrengen, es geht schon etwas stark gegen Abend, die Sonn' steht schon hinter den Bäumen. Euer Gestrengen werden hungrig sein. Bei uns ist's nicht wie in der Stadt, wo man jede Minut' in ein Kaffeehaus oder in ein Wirtshaus 'neinrumpeln kann und gleich was Warmes kriegt. Man muss bei uns schon Nachmittag bestellen, wenn man auf die Nacht was Warmes haben will. Gestrengen, ich bitt', geh'n Sie fort jetzt; bestellen Sie sich was Warmes auf die Nacht. Die Wirtin ist bei uns so viel langsam im Kochen, besonders wenn's schon auf die Nacht zugeht, da kennt sie sich schon gar nimmermehr aus vor Schlaf. Jetzt wär's noch Zeit; eine kleine Minut' später bringt sie auch kein gesotten' Wasser mehr zusammen. Ich bitt' jetzt um nichts mehr ...«

»Also wollt Ihr meine Geheimnisse nicht mehr? Nun meinetwegen, so behalte ich sie denn für mich. Adieu, mein Lieber.« Nach diesen Worten kehrte er sich herzlich lachend hinweg und sagte für sich: »Der Schelm hält seinen Fuß auf meinen Brief und merkt nicht, dass ich eine Spitze des Kuverts hervorblicken sehe. Nun, ich will ihm die Position sauer machen.« Er tat, als ob er ginge, und wendete sich plötzlich wieder um: »Ja, aber wissen möchte ich, Lieber, welche Geheimnisse Ihr eigentlich vorhin verstanden habt?« Prumler wollte sich eben um den Brief bücken und fuhr erschreckt gerade in die Höhe: »Wissen, Gestrengen? Nichts will ich mehr wissen. Aber, aber – die Wirtsmiazl wird Ihnen was Schön's köcheln, wenn Sie's so spät anfrimmen. Ich warn' Sie nur, geh'n Sie lieber.« »Ihr habt recht, bald hätt' ich auf mein Nachtmahl wieder vergessen. Adieu.« Doch gleich kam er wieder zurück: »Wisst Ihr was? Wollet Ihr nicht mein Gast sein und mir mein Nachtmahl verzehren helfen, Lieber? Was sagt Ihr?« Prumler stand seit dem letzten Zurückkommen Jeneveldts bewegungslos da und schaute mit stierer Verwunderung und gutmütigem Verdrusse auf denselben; dann sagte er nach einer langen Pause: »So was ist nimmer natürlich. Wer wird denn so oft zurückkommen? Schickt sich das? Wenn Euer Gestrengen ein Prinz wären – aber Sie können kein Prinz nicht sein! ...«

»Nun, warum nicht?«

»Nein!«

»Aber warum denn nicht?«

»Fürs erste« –

»Nun?«

»Weil ein Prinz niemals so oft zu einem kommt wie Sie, man muss herentgegen eine schöne Öften zu ihm kommen, wenn man was haben will.«

»O, Ihr Erzpolitikus, Ihr!« lachte Jeneveldt.

»Fürs zweite« –

»Warum könnte ich fürs zweite kein Prinz nicht sein?«

»Jesus und Gottes! Wär' denn mit Ihnen auch ein Weiterkommen? Zehn Gäul' bringen Sie nicht vom Fleck'.«

»Schaut, schaut, wie gescheit Ihr manchmal reden könnt! Jetzt ist mir erst recht leid, dass ich mit Euch nicht mehr reden kann; ich tu's nicht anders, wir müssen heut' noch einige Stunden beisammen sein. Kommt, und seid mein Gast. Adieu, adieu!« Er entfernte sich, und Prumler hob den Brief mit Jubel auf. »Also der Friedländer kommt, noch heute, längstens bis 9 Uhr! Das weiß ich mutterseelenallein im ganzen Dorf, jetzt Fifat! Ich weiß doch immer das Erst' und Beste!«

4

Ein fernes, dumpfes Lärmen und Schreien war an sein Ohr gedrungen, und als er sich umkehrte, um nach dieser Seite des Dorfes zu blicken, sah er sein Weib außer Atem auf ihn zukommen, die man im Dorfe nur die Präschelln nannte, weil sie keine geringere Trätscherin war als ihr Prumler.

»Mann, Mann, Prumler«, rief sie schon von Weitem, »muss man dich den ganzen Tag suchen? Bist du schon wieder hier? Bist gar nicht zum Sitzen zu bringen, und springst zum Fenster 'naus, wenn man dich kaum zur Tür hineingeschoben hat? Meinst, nur vom Friedländer seinem Dach' fallen die Geheimniss' herunter? Muss man jetzt von andern Leuten hören, was du nicht weißt und ich nicht weiß? Mach' die Ohren auf und horch' da nur ein wenig 'nunter und 'nüber – hörst nichts? Wie's brummt und lärmt und saust von Leuten? Allerwegen lauft alles zusammen; alles schreit: Der Friedländer ist wieder 'raus! Der Friedländer kommt! Auf der Straß' gegen Scharlotten schwillt's über von Menschengementer übereinand' – und du lasst mich da allein zu Haus sitzen und warten und kein Hüstele von der ganzen Geschicht' nicht wissen, weißt selber nichts! O, du, du, ‚Ich-häng'-mich-so-noch-auf', schäm' dich, bis du blau wirst, und geh' heim jetzt, der Krüger ist unter, will geschwinde den Riemen am Schnürschuh genäht haben, er kommt geradewegs aus der Stadt, und der hat die Nachricht gebracht, dass der Friedländer wieder befreit ist und heute noch heimkommt. Der Krüger sagt, der Friedländer hab' ihn zum Weinen gebracht, so bleich ist er gewesen und so sanft, und seine Stimme so traurig. Aber grad' aufrecht ist er doch gangen, und gelächelt hat er und gesagt: ‚Mein' Gruß mit Vorsicht an Weib und Kinder und auch an all die andern Freund' und Bekannten, mir geht es wohl.«

Prumler stand anfangs wie vom Blitze getroffen da, wechselte alle Farben und brach jetzt in ein langes, verdrießliches Gelächter aus. »Das sagt der Krüger?« rief er, »was kann der Krüger wissen? Ich hab' Nachricht, ich, aus der Stadt, brieflich. Der Krüger kann keinen Tantes nicht wissen. Von dem ist jedes Wort ein Bomben, die er fallen lasst, dass sie in tausend Lug und Trug zerspringt. Was sagt der Krüger? Bis zu welcher Stund' soll er denn kommen, der Friedländer? He? Siehst du, dass ihr alle nichts wisst, nicht was auf ein Kaffeelöffelchen 'naufgeht, nichts! Und du mitsamt deinem Krüger Blattersteppen, den sie nur deshalb nicht zum Soldaten genommen haben, weil er mit seinem Gesicht das ganze Regiment versprengt hätte – geh', heirat' ihn und lass dir die Stund 'naufbinden, wenn der Friedländer kommt!«

»Hörst du, aber grob kannst du sein und gottlos, dass einem die hellen Funken vor den Augen umspringen«, sagte die Prumlerin.

»Weil's wahr ist«, erwiderte Prumler, »weil jetzt jeder alles wissen will, und keiner doch nichts weiß. Wenn alles drein red't, wird viel gelogen, punktum. Geh', geh' zu deinem Krüger, dem Regimentsgespenst, der ist ja jetzt so dein alles, dein Messbuch, deine Schublad für Geheimniss', dein Prophet und deine Hütten. Geh' heim und schreck' dich an ihm, so viel du willst – und näh' ihm seinen Schuhriemen selber an – ich häng' mich so noch auf!«

Die Schusterin erwiderte: »Dort kommt der Krüger just selbst. Mach's mit ihm selber aus. Ich lauf' geschwinde um ein' Korb Abendkartoffel aufs Feld, derweil' ist der Friedländer vielleicht schon da!«

Sie entfernte sich eilig, während sich Krüger eilig näherte und schon von Weitem rief: »Nun, das ist wahr, Prumler, warten lasst Ihr einen, bis ein'm die andern Riemen auch vom Schuh faulen. Ihr seid mir ein goldiger Meister, habt Dank, dass ich hab' so lang auf Euch warten dürfen. So will ich in Gott's Namen denn mit so 'nem Flanken zur Friedländerin 'nein; die Botschaft kann nicht länger warten.«

Prumler erwiderte: »Ihr habt Ursach' zu klagen, Ihr. Was sprengt Ihr denn da vom Friedländer unter die Leut'? Man weiß es besser, wann er kommt, wo er gewesen und warum er wo gewesen – und dass Ihr's nur wisst, ich hab's seit drei Tagen her aus freier Hand – hier ist der Brief!«

Aufgebracht sagte ihm Krüger drauf: »Ihr seid ein Esel, Prumler. Bis Euch jemand schreibt und gar so in einer Sach', geht die Sonn' auch alle Tag' fünf Mal auf und unter!« Damit ging er schnell in des Friedländers Haus. Prumler rief ihm nach: »Und bis Ihr mehr wisst als ich, müsst Ihr auch erste zehn Mal Wachtmeister sein bei Euerm Regiment!« Prumler nahm sich vor, unter die Leute zu stürzen und dem Krüger seine Lügen umzubrechen wie einen Wald voll dürrer Bäum'. Vor 9 Uhr abends sollte ja niemand den Friedländer erwarten.

Indessen hatte die Prumlerin vorhin nur ausgesagt, was sich wirklich so verhielt, und wenn sie diesmal bei der Wahrheit ohne Übertreibung stehen blieb, so war nur der Umstand schuld, dass sie keiner lebhafteren Schilderung des allgemeinen Tumults und Jubels fähig gewesen war. Der Jägerfritz strich unweit Küssüben gerade durch ein Kartoffelfeld, um Rebhühner aufzutreiben, als ihm der Dudlfranz zurief: »Der Friedländer kommt heut' noch heim, weißt es schon?« Da knallte der erfreute Bursche seine Doppelflinte in die Luft und sagte: »So muss man ja gleich bis in die geschlagene Nacht ein freudig Lärmschießen geben!« Als der Herr Lehrer von des Friedländers Ankunft hörte, ging er mit großen Schritten durch das Dorf und rief den spielenden Kindern zu: »Lauft, was ihr könnt nach Haus und erzählt, dass heute der Friedländer wieder heimkommt!« Bald war's ein Durcheinanderrennen, ein Fragen und Lärmen, dass niemand mehr sein eigen Wort verstand. Um Genaueres über des Friedländers Haft und Heimkehr zu erfahren, suchte man über Hals und Kopf diejenigen Männer auf, welche sonst immer das Meiste wussten oder zu wissen vorgaben, und dazu gehörte denn auch der Alleswisser, der Schuster Prumler. Er hatte mit aller Schnelle widersprechende Nachrichten in Umlauf gebracht und eben nicht sehr bescheiden auf seine Geheimnisse angespielt, sodass man nun fast allgemein glaubte, er wisse wirklich mehr als jeder andere. Aber anstatt seine vorgeblichen Geheimnisse gleich auf dem Platze auszuplaudern, zog er sich vielmehr mit diplomatischer Wichtigkeit in seine Stube zurück und ließ jetzt die vermehrte Neugierde um sich zusammenstürmen. »Geht zu euerm Krüger«, sagte er anfangs mit der verdrießlichen Miene eines Beleidigten; »der Krüger ist ja jetzt euer Herrgott, der kann ja hexen, wenn er will, und weiß mehr als der Patriarch Jeremias. Geht zu ihm; ist noch keinem der Weg versperrt.« Innerlich aber war er entzückt über den Zulauf der Menge. Er hätte die Neugier der Meisten wahrscheinlich noch länger hingehalten, wenn der Wagner-Lorenz ihn nicht plötzlich ausgelacht und an seinem Ansehen schwer verletzt hätte; denn der Genannte zog unverhofft sein Lederkäppchen und warf den Schuster damit, indem er sagte: »Schaut das vermaledeite Schusterpech an, ist's grad, als ob man von seiner Gespreizerei leben müsst'. Tut's in Honig Euer Geheimnis, wenn man's nicht frischweg verkosten soll!« Ein allgemeines Gelächter folgte, und an zwanzig Lederkäppchen flogen über den Schuster her. Der Herr Lehrer, welcher eben vorüberkam, fragte, was denn das sei, und wurde von Prumler, der über die zugefügte Beleidigung hoch erzürnt war, in die Stube gebeten, um zur Beschämung seiner Beleidiger und zur endlichen Zufriedenstellung aller Neugierigen den Brief an Jeneveldt zu lesen. Alles war über die Zuversicht des Schusters betroffen. Der Lehrer ging hinein, alles war mäuschenstille; der Wagner-Lorenz zog sich verlegen zurück. Als aber der Brief gelesen war und der Lehrer mit ernsthafter Miene den Prumler ansah und fragte: »Woher habt Ihr den Brief? Darin steht ja kein Wort von dem, womit Ihr Euch gegen die Leute berühmt«, da wurde der Schuster erst blass, dann gelb, dann blitzblau vor Verlegenheit, wischte sich die schwitzende Hand am Schurzfelle ab und machte einen unglücklichen Versuch zu lachen, der ausfiel wie das Stakkatoblasen auf einer Kindertrompete – und war in der Kammer verschwunden.

Die Friedländer-Lottl, die Rüder-Anne, der Paul und der Michel hörten das fortwährende Schießen des Jägerfritz im Kartoffelfelde und sahen die Menschenmenge zusammenlaufen, ohne gleich den Grund alles dessen zu ahnen, bis die Prumlerin vorüberkam und ihnen zurief: »Wisst ihr denn nichts? Lottl, dein Vater kommt ja heim!«

Da musste Michel, der sich mit Paul bereits versöhnt hatte, den Großmütigen machen und allein den Wagen nach Hause führen, die andern alle eilten voraus; selbst dem Andresl gab der gute Oberknecht die Freiheit, indem er feuchten Auges sagte: »Geh', kleiner Schelm, lauf' auch mit den andern, hast Verlaub dazu!« Andresl schrie ein »Juchhe!«, bildete sich ein, er sei ein wettlaufendes Füllen und schnalzte mit der Peitsche davon. Die Friedländerin erfuhr erst, dass ihr Mann heimkomme, als sie eben, Gucki und Fränzchen an den Händen führend, mit der Nachbarin Aplon aus deren Häuschen trat; beide sprachen eben von Paul und der Lottl, und die Friedländerin zeigte viel Freude über die Entdeckung, dass sich die Kinder einander lieb hatten, aber sie fügte hinzu, es müsse doch alles sein und bleiben, bis ihr Mann heimkäme. Da schlug der Ruf der Menge: »Der Friedländer kommt! Der Friedländer kommt!« an ihr Ohr. Die lebensgefährliche Wirkung dieser unverhofften Nachricht blieb nicht aus; kurz darauf hörte man das betäubte Weib bald schmerzlich aufschreien, bald wahnsinnigen Jubel ausstoßen, und der herbeieilende Rüder kam zu spät, ihr die Kunde mit Vorsicht beizubringen. Die Friedländerin ließ sich nicht zurückhalten, trotz der gefährlichen geistigen und körperlichen Anwandlungen, ihrem heimkehrenden Manne entgegenzugehen; man musste ihr endlich den Willen lassen und sie mit Vorsicht den Weg gegen Küssüben führen. Bald war ihre angelegenste Frage, wer die Botschaft gebracht hatte, und als der neben ihr gehende Krüger sich meldete, musste er haarklein erzählen, wo er den Friedländer und wie er ihn getroffen habe, es sollte kein Umstand verschwiegen bleiben, und also erzählte der Krüger:

»Es ist noch kaum eine Stund', dass ich in Scharlotten gewesen bin, wo ich in eigenen Geschäften habe sorgen müssen. Ich habe von Friedländers seiner Heimkehr keine Silbe gewusst, bin meine Straß' heimwärts rüstig fortgeschritten, kein bekanntes Gesicht hat mich eingeholt, keins ist mir entgegengekommen; bis ich gegen das Gebirg' herwandere, wo ich ein Wägelchen halten seh', aus dem ein rüstiger Mann steigt, bis an die Ohren in einen Mantel gewickelt, den Hut tief über die Augen herunter. Er geht einige Schritt' vor mir, auf einen derben Stock gelehnt und sieht nicht rechts und sieht nicht links, nur in trüben Gedanken vor sich nieder. Weil aber mein Schritt eiliger ist als der seine, so komme ich ihm bald an die Seit' und schau' ihm tiefer in das Aug', kann ihn aber nicht erkennen. Er verstellt in etwas die Stimm' und fragt mich, ob das der recht' Weg sei nach Küssüben, und ich bejah' es. ‚Geht nur mit mir', sag' ich, ‚Ich weis' Euch schon zurecht', er aber sagt darauf: ‚Nun, Ihr braucht nicht eben Wegweisens halber vorausgeh'n, geht neben mir und erzählt, was denn das für ein Unglück ist, das hier so viel Reden macht, die Verhaft eines gewissen Friedländers, mein' ich.' Darüber erzähl' ich ihm nun ausführlich, was ich weiß, und er fragt weiter, was man denn glaubt, warum der Friedländer verhaftet wär'; darauf ich sag', dass keine Seel' in der ganzen Gegend glaube, der Friedländer habe seine Haft verschuldet, vielmehr seh' und hör' man nur überall ihn beklagen und beweinen. In solchem Gespräch' kommen wir auf die Höhe des Gebirgs, und Küssüben liegt nicht weit vor uns im Ebenen – da auf einmal schlägt der Mann den Mantel auseinander und sagt: ‚Krüger, so kennt Ihr mich wirklich nicht mehr? Ich bin es selbst, der Friedländer, bin wieder frei und kehre heim', dabei ist er sehr bewegt gewesen und ist ihm eine Trän' um die andere über die Wang' herabgelaufen. Er hat ruhig zugeseh'n, wie ich ihn mit einem Schrei um den Hals stürz' und anfang' bitterlich zu weinen. Wie ich mich drauf endlich erheb', ist der Friedländer wieder ganz gefasst und sagt: ‚Krüger, ich kann nicht jetzt sogleich nach Küssüben geh'n, Ihr müsst mich melden. Indes ich mich auf dem Felsenvorsprung dort lagere oder dort im Gebirgshof einsprech', geht Ihr mir voraus und bereitet mir Weib und Kinder behutsam vor; die Nachricht von meiner Wiederheimkehr lasst in Küssüben nicht eher kundig werden, als bis ihr mein Weib und meine Kinder in ganzer Fassung wisst; ist dies geschehen, dann meinetwegen lasst meine Heimkehr auch im Dorf verlautig werden.' Zuletzt sagt' er noch hinzu: ‚Habt Dank für Eure Erzählung; was seit meiner Verhaft in meinem Haus und in der Gegend Frohes und Ernstes geschehen ist, Ihr seid mir ein lieber Begleiter gewesen ... Wie freut es mich, dass mir wenigstens keines der lieben Meinen gestorben ist.' Ich bin ihm drauf wieder an den Hals gefallen und hab' ausgerufen: ‚Wie glücklich bin ich, dass ich der erste sein kann, der hierhin und dorthin ausruft: Der Friedländer kommt! Er ist frei geworden und ist schon nahe! Das wird ein Rennen und Fragen durcheinander geben, man wird mir den Weg vertreten vor Neugier, es wird kein leichtes Vorwärtsschreiten sein. Wie Ihr geliebt seid, o Friedländer, das hat sich erst jetzt bewiesen; solches hat noch keiner von uns allen gesehen, wie man Euch empfangen wird. O, bleibt nicht allzu lange, wenn ich meine Nachricht verbreitet hab', sonst reißt mich die Neugier der Leut' in Stücke, und bald glauben möchte man, ich habe Lügen ausgestreut!' Hierauf bin ich hergeeilt; jedoch vergebt mir meine Sünde, Friedländerin, ich habe nicht reinen Mund gehalten, das Verschweigen ist über meine Kraft gegangen, ich hab' geplaudert, eh' Ihr selber es erfahren, Friedländerin, und da seh'n wir nun, was ringsherum in ihrer Teilnahm' und Freud' die Leute treiben!«

Der Schmerz- und Freudenjubel der Friedländerin erneuerte sich nun mit voriger Gewalt, während der Zusammenlauf des Volkes immer dichter wurde, bis das Abendglöcklein der erschütternden Szene eine mildere Wendung gab. Das Lärmen verstummte, die laute Freude wurde zur stillen Wehmut, der Schmerz fand Tränen und das bedrängte Gemüt mildernde Ableitung des innern Sturmes zum Gebet. Eine Viertelstunde später lag der vergötterte Mann der Gegend im Arme seines lieben Weibes.

5

Noch immer Abendläuten, das heute länger dauerte als sonst, der feierlichen Stunden halber; Väter, Mütter, Kinder drängten sich in stillen Scharen durch Küssüben wie ein frommer Wallfahrtszug herauf und mündeten nach und nach auf den freien Platz hin vor der Friedländers Hause. Die Häupter aller männlichen Zuschauer waren entblößt, alles blickte nach einer Richtung hin, wo der heimkehrende Johannes Friedländer ging, erschüttert und das Haupt etwas gesenkt, an seiner rechten Seite sein Weib, das leise schluchzend den linken Arm um seinen Hals schlang und mit der rechten Hand den kleinen Gucki führte; dem Friedländer zur Linken ging die Lottl, an ihrer Hand das Fränzchen führend – und neben und hinter dieser Wandergruppe kamen die Nachbarin Aplon, Paul, Rüder, Kordik, Krüger, die Rüder-Anne, der Stallbub Andresl und fast unabsehbar noch ein stummer Menschenzug.

»Lass nun, wein' nicht mehr, mein liebes Weib«, sprach der Friedländer seinem Weibe ermunternd zu, »das Schlimme alles ist nun vorüber, da bin ich wieder, du siehst mich, kannst meine Stimme hören; wir bleiben von heut an wieder beisammen, komme was kommen mag. O, sei ruhig, mein gutes Weib!«

»Dich fangen um Mitternacht, dich in Verhör nehmen wie Dieb und Mörder, dich in Gefängnis werfen – ich kann's nicht denken und vergessen mein Leben lang, ich muss weinen darüber fort und fort, wenn du auch da bist, wenn ich dich auch hab' und nimmer lassen werde!«

»Komm, komm, nichts mehr davon; ich bin frei. Geh' nun hinein indessen mit den Kindern; was es gewesen ist, warum ich in Verhaft genommen worden bin, mein liebes Weib, das will ich jetzt hier öffentlich allen sagen, dass weiter auch zu Schein' kein Flecken an mir hafte. Geh' hinein mit den Kindern, du sollst es dann, wenn du ruhiger bist, ganz allein und besonders von mir hören ... Ich hab' dir viel zu sagen ...«

»Von dir halten, du habest betrogen oder geraubt oder ums Leben gebracht – ich bring's nicht aus dem Herzen mehr, nicht mehr aus dem Kopf, es ist gerade, dass mir alle Freude für immer verloren geht und dass ich beinah' von Sinnen komm' ... Ich geh' hinein, o zürn' mir nicht, weil ich so schmerzhaft bin, ich will dir schon einmal später sagen, was ich gelitten hab' ...«

»Ja, später, Katharina, wenn wir allein sind und nichts anderes zu denken haben als unser Leid. Geh' mit hinein, du meine liebe Tochter, und nehmt die Kleinen mit, ich müsst' meine Fassung verlieren, wollt' ich jetzt schon die nach Herzenslust drücken und herzen.«

Aber laut aufschreiend umschlang die Friedländerinn noch einmal ihres Mannes Hals und rief: »Dich hab' ich wieder, bist frei, bist heim! Ich will dich halten und halten bis an mein letztes Lebensend', und wenn man dich mit glühenden Zangen von mir reißen will, du darfst mir nimmer von meiner Seit' mehr kommen!« Sie nahm an jede Hand eines ihrer Kinder und sagte schluchzend: »O Kinder, meine Kinder ...« Dann ging sie mit denselben langsam gegen das Haus und die Stufen zur Haustüre hinauf, folgendes Gebet mit Schmerzen sprechend:

»Herr, o Herr, gib uns im Unglück Kraft,
O Herr, lass uns im schwersten Schmerz nicht wanken;
Dein Plan ist's, der aus Schmerz oft Freuden schafft,
Fürs Unglück auch muss man dir oftmal danken.

O Herr, o Herr, ich wein' und kann's nicht stillen,
Heiß mich nicht trotzig gegen deinen Willen,
Nimm's anders, Herr, nimm's, weil ich schwach nun bin,
Dürft' ich nicht weinen, ich wär' um meinen Sinn.«

Die Abendglocke schwieg. Friedländer dankte nun seinen Freunden für die Müh'n und Sorgen in seinem Hause mit tiefer Herzlichkeit und bat die ganze Bewohnerschaft des Dorfes, vor seinem Hause versammelt zu bleiben, damit er sie nicht länger in Zweifel lasse, weshalb er in Verhaft genommen und endlich wieder freigegeben worden. Dann begann er, indem er sich setzte:

»Das, o Freunde, nun voraus ... Ihr alle wisst, wie ich vor sechzehn Jahren aus dem Thüringischen zu euch gekommen bin, dass anfangs keine Seel' mich hier gekannt hat und wie ich mir dieses Haus mitsamt allem Grund und Boden, der jetzt dazu gehört, gekauft habe und wie ich angefangen, meinen Handel nach und nach zu gründen und immer mehr ins Große zu treiben. Mein liebes Weib ist damals allein mit mir hierhergekommen, und mancher von euch wird sich erinnern, wie ich frohlocket habe, dass mir bald darauf mein ältest' Kind, meine Lotte, geboren worden und frisch am Leben geblieben ist ...«

Er hielt eine Weile inne und fuhr dann in düsterwehmütigem Tone fort:

»O Freunde und Nachbarn, welcher gute Vater und welche gute Mutter frohlocket denn nicht, dass ein erstgeborenes Kindlein glücklich atmet und lebt, weil man darin sich selber neugeboren sieht und den lieben Erben erblickt von all unserem Denken und Schaffen? ... Seht, seht, und doch freut man sich bei solcher Geburt gar oftmal kaum so viel, als man darüber trauert und weint. Ich meine nicht, o Freunde, weil nach jedem, solang er lebt, mehr Leid als Freude zugerechnet ist; ich meine, ein Kind ist oftmal aus gar anderem Grund kein Segen. Denn seht, vor vielen Jahren (siebzehn sind es eben) ist im Thüringischen einem jungen Hausvater auch ein erstgeborenes Söhnlein zu Leben gebracht worden, und das Jubilieren darüber hat kein Ende nehmen wollen; der junge Vater hat gemeint in seinem Glücke, sein schönster Tag wär' mit diesem erstgeborenen Kind herangekommen – und dennoch ist dieses Kind gerade bald der Mutter bitterster Gram und Tod, des Vaters Tod geworden, und wer weiß, zu welchem Gram es selbst noch in weiter Fremde aufbewahret lebt ...«

Nach einer Pause fuhr er mit Schwermut fort:

»Ich bin schon bei meinem eigenen Leid, o Freunde, Nachbarn, wenn ich von diesem Trauerfall erzähle – o hört ihn alle, und lasst es euern erwachsenen Kindern eine warnende Stimme sein vor heimlichem Umgang und Liebesbanden hinter Vaters und Mutters Rücken. Denn als jene thüringische Mutter ein Jahr später von schwerer Krankheit befallen wird und nah' zu sterben ist, da öffnet sich ihr gepeinigtes Gewissen ihrem Manne, es sei, gesteht sie, ihr erstgeborenes Söhnlein nicht seiner, sondern einer anderen Liebe Frucht ... Der Vater ras't und tobt und will sich und alles um sich ermorden im ersten Schmerzanfall, nur das weinende Aug' der sterbenden Mutter mildert endlich seinen Gram; er vergibt ihr, weil sie sterben will und überlässt's geduldig einer anderen Welt, wie sie ein solch' Vergehen vergeben oder strafen wolle ... Allein die Mutter stirbt nicht, sie bessert sich mit nächstem, sie genes't, sie kann ihr Bette endlich wieder verlassen und fängt von Neuem an als Hausfrau das ordnende Wort zu führen, lässt aber ihr erstgeborenes Söhnlein zu einer fernen Verwandten verschwinden, damit ihre Schuld nicht ferner leibhaftig vor ihrem Manne steh' und seinen Gram vermehre. Der Mann beschließt nun jetzt auch, was nicht zu ändern steht, zu tragen und fasst sich, so gut es geht, aber kann es oft nicht wehren, dass sein Aug' mit dunklem Blute unterläuft, dass sein Mund seltsame Dinge redet, die wie Drohung klingen; gramvolle Zusprache der Mutter braucht es immer, bis sich des Mannes brausendes Wüten legt ... Eines Tages geschieht es, dass beim Tanz an einem Tisch, wo die zechenden Männer sitzen, Streit ausbricht und im Zorn viel mehr als sonst getrunken wird; allerlei Reden durchflechten sich kreuz und quer, und manches Geheimnis springt im Gespräche mit hervor. Unter den Streitern ist auch jener junge Hausvater, den sein erstgeborenes Knäblein so betrübt, und als jetzt das Toben, Zanken, Wüten recht die höchste Höh' erreicht, da bricht auch ihm sein Geheimnis mit wilder Klag' aus der Brust und macht alles erstaunen und erbleichen. Zu spät ist's, dass er sich besinnt, was er gesagt hat; er wird auf einmal nüchtern, dass er nun seh', was er getan. Aber anstatt durch Widerruf, durch Scherzen oder Lachen das Übel gut zu machen, statt der Ehre seines Weibes wieder aufzuhelfen durch übertriebenes Lob ihrer Treue, überkommt ihn jetzt die rechte Wehmut erst; er zeigt sie auch ohne Rückhalt, weil es doch wahr sei, was er ausgesagt; in schweren Tropfen läuft die Träne ihm über seine Wangen, und düster drohend bricht er auf und denkt nach Haus zu gehen ... Die Nacht ist lau, die Luft ist schweigsam; Mond und Sterne steh'n am Himmel – zur selben Stund' verlass' auch ich die Schenke und wandere bewegt im Freien hin und her, kehr' aber bald zurück und hol' mein Liebchen ab, das bald mein Weib geworden, und führ' es heim ...«

Er stand auf und sagte nach einer Weile mit einfacher, doch erschütternder Betonung:

»In jener Nacht ist der junge Vater ermordet worden auf dem Weg nach Hause ...«

Nach diesen Worten senkte er das Haupt etwas und erblasste merklich, indem er sich am Stuhle aufrechthielt. Alles drängte sich gespannter um ihn zusammen. Dann fuhr er fort:

»Betäubt ist alles, da sich am andern Morgen die Nachricht von diesem Mord verbreitet. Wie der Blitz fährt der Verdacht herum, und das Gericht fängt an, dem Mörder nachzuspüren. Das hat man gleich eingesehen, viel wär' an Tag gekommen, wenn man erfahren hätte, wer der Vater jenes Unglückes gewesen, wahrscheinlich ist der dem Heimkehrenden gefolgt und ans Leben gegangen – aber als man dies Geheimnis von der Mutter erzwingen will, stirbt sie den Richtern untern Händen ... Indessen ist doch von dem Tag an die Gerechtigkeit wach geblieben, hat manchen Unschuldigen gefangen und geprüft, aber auch bald entlassen. Ein halbes Jahr darauf hab' ich mein Weib genommen, und wieder ein halb Jahr später bin ich ausgewandert aus dem Thüringischen hierher. Aber ein böser Argwohn des Gerichtes ist mir nachgeschlichen, ich hab' es selbst nicht gewusst; er hat mich sechzehn Jahr' hier friedlich walten lassen, der Argwohn hat sich nicht verschlimmert, ist aber auch nicht abgestorben – bis er mich kürzlich unvermutet überfallen hat, um Mitternacht, im Schlaf, und vor den Richterstuhl gezogen; eine sterbende Magd hat ausgesagt gehabt, ich sei der Vater jenes Unglückskindes ... Allein ich hab' mich aufgerafft und hab' vor Gericht mein sicheres Wort geführt; meine Unschuld ist erwiesen ...!«

Alles bezeigte jetzt die lebhafteste Freude, und Friedländer sagte: »Nein, nein, nichts mehr ist zu besorgen von diesem Tag an; das Wetter ist vorübergezogen, jetzt wird es Sonnenschein geben, immer, für immer!«

Rüder drückte dem Friedländer mit zitternder Heftigkeit die Hand und rief: »So habt ihr Euch wirklich von dem letzten Verdacht befreit? O Friedländer, ich drück' Euch die Hand für alle! Wär't Ihr ein Mörder, so wären wir's zehnfach alle!«

Friedländer erwiderte: »O Freunde, ich denk' so gesinnt ist von euch ein jeder.«

Alle riefen freudig durcheinander: »Jeder, jeder!«

»So dank' ich euch von Herzen«, sagte der Friedländer, »für eure Liebe und für euren Glauben; lebt wohl; heute wollen wir noch alles Geschäft ruhen lassen, morgen soll alles wie einstens frisch und heiter gehen. Geht und beruhigt alle, die noch um mich bangen möchten, grüßt mir, die noch um mich weinen und dankt nochmals allen in meinem Namen ... Setzt aber hinzu, wo ihr wollt und könnt: ein Übel müsst' es sein, gar nicht zu sagen und zu fassen, wer sich schuldig wüsste, zwischen vier Kerkerwänden – mir stirbt das Wort im Mund', da ich euch die Warnung sage – o warnet jeden vor solcher Schuld, ein Übel wär' es, nicht in Wort' zu fassen ...«

Nach diesen Worten wollte der Friedländer sein Haus betreten, aber ein heftiges Weinen machte, dass er stille stand und umsah, wer so weine. Die Nachbarin Aplon war es; sie lag ihrem Ziehsohne Paul am Halse und schluchzte bitterlich und immer lauter.

»Was ist Euch, Nachbarin«, fragte der Friedländer, »warum weint Ihr so sehr?«

Apollonia gab keine Antwort und rief nach einer Weile nur, den Paul noch heftiger umarmend: »O du Unglücklicher, o du Ärmster! Was wird dein Los noch werden? Das Unglück deiner Mutter ist vergessen und vergeben gewesen, jetzt ist es auf einmal wieder da und wird dich um alles bringen, was du gehofft hast und lieb gehabt! O Unglückskind! O Unglückskind!«

»Base, wie meint Ihr das?« fragte Paul.

»Du bist der Unglückssohn, von dem der Friedländer jetzt geredet hat; deinetwegen ist Vater und Mutter gestorben und ist der Friedländer in Haft gekommen!«

Wer sich früher schon entfernen wollte, der kehrte jetzt wieder zurück; das größte Staunen und Verwundern kam erst jetzt. Alles drängte sich wieder dicht um die Nachbarin und um den Friedländer zusammen.

Dieser stand lange da, als wäre alles Leben aus seiner Gestalt gewichen; einige betrachteten ihn eine gute Weile mit der höchsten Neugierde, was er zu dieser Entdeckung sagen würde, aber vergebens war es, wie sich der Friedländer nicht von der Stelle bewegt, so sprach er auch keine Silbe.

Unter der Menge Volkes waren auch Jeneveldt und Steiner. ...

Die Aplon jammerte noch lange am Halse Pauls, und manches Nähere erfuhr man aus ihren hingestreuten Worten über die Art, wie Paul ihr einst geheimnisvoll hier übergeben worden; sie war eine ferne, fast verschollene Verwandte von Pauls Mutter, und bei ihr hielt diese ihr Unglückskind gesichert und geborgen.

Mit unsäglicher Wehmut wendete sich die Aplon endlich zum Friedländer und sagte, indem sie den Paul an der Hand ihm näher führte: »Friedländer, o Ihr wisst das Allerschlimmst' noch nicht, ich muss es Euch jetzt erst sagen. Wenn Ihr um meinen Paul hier so viel gelitten habt, werdet Ihr's ihm entgelten lassen, der nichts dafür kann, werdet Ihr ihm deshalb Eure Lieb' entziehen und Euer Haus verschließen? Kann er für alles das? Wenn die Eltern fehlen, kann das für ihn eine Buße werden, was er nicht verschuldet hat? Hört, oh hört! Mein Paul ist immer Euer lieber Bursch gewesen, Ihr habt nicht sein können, wenn er Euch nur einen halben Tag gefehlt hat; werdet Ihr jetzt anders gegen ihn denken und ihn weniger in Euer Herz einschließen? Werdet Ihr das tun? Dann wäre Unglück über Unglück fertig, und wer weiß, wie vielen bricht noch das Herz darüber! Wisst, o Friedländer, zwischen Paul und Eurer Lottl steht es anders, kein Reden und Schelten, kein Drohen und Zwingen wird da mehr helfen, sie haben sich zu lieb gewonnen! Gebt darum niemand eine Schuld, o Friedländer, Ihr wisst ja, wie das kommt, dafür kann niemand, und das Unglück ist ja nur, dass Ihr habt so viel leiden müssen wegen meines Ziehsohnes Vater und Mutter! Sagt, was tun wir jetzt? Was ist zu tun?«

Diese Worte mussten im Innern des Friedländers eine furchtbare Gewalt der Empfindung rege gemacht haben, denn ob er sich auch nicht von der Stelle bewegte und auch sonst nicht viel Veränderung in seiner Haltung sehen ließ, so unterliefen doch seine Wangen und Augen unnatürlich und schnell mit Blut. Nur einen kaum merkbaren Blick ließ er flüchtig über die Zuschauermenge gleiten und bemerkte darunter Jeneveldt und Steiner.

Nach einer Pause trat das frühere Blass in seine Wangen zurück, und ein wunderbares Lächeln drängte sich auf seine Lippen.

»… Nachbarin«, sagte er, »bekümmert Euch nicht zu viel ... Wohl hab' ich viel gelitten, aber ich will nun gern alles vergeben und vergessen ... Kommt zu mir in einer Stunde, ich hab' mit Euch zu reden ...«

Nach diesen Worten ging der Friedländer mäßigen Schrittes nach seinem Hause, und Paul und Aplon folgten ihm in ihrer Freude.

6

Die Menschenmenge verlief sich nach und nach; Steiner und Jeneveldt blieben allein zurück.

»… Nun sei mir nochmals und gleich tausend Mal herzlich gegrüßt!« sagte Jeneveldt, »es war ein köstlicher Einfall, dass du mir bis Küssüben entgegenkamst; wir sind hier freier, ungenierter, und wenn wir unsere Herzen recht herzlich ausgetauscht haben, pack' ich zusammen und fahre auf meine Güter zurück, du magst in deiner Hauptstadt deinen Bürostaub und deine Akten wieder suchen .. Freund, was war nur diese Szene hier wert! Solang ich lebe, werde ich dran denken!«

»Ich denke, wir lassen das jetzt. Wir wollen uns lieber zusammensetzen und eine gute Flasche auf eine fröhliche Vergangenheit leeren.«

»Das auch, das ganz gewiss. Nur liegt mir die Erschütterung noch in allen Gliedern, dass ich unmögliche so schnell in fröhliche Stimmung überspringen kann ... Freund, kein würdiges Leben ist es, das nicht so viele und so vieler Verehrung erwecken kann, und das Paradies auf Erden wäre fertig, lebte nach seinen Kräften und seinem Vermögen wie dieser Friedländer ein jeder!«

»Komm, komm; hier wirst du mir nimmermehr fröhlich. Nicht Schwärmens halber sind wir seit unseres Universitätsabschiedes heute das erste Mal wieder zusammengekommen. Nur erst ein gutes Glas Wein im Blute, und eine lustige Erinnerung soll sich bald in bunten Schilderungen ergehen; selbst was tot und traurig soll ein fröhliches Auferstehen feiern ...«

»Nun, ich könnte erraten, warum du mich gerne von diesem Schauplatze da weghättest und warum du nicht besonders heitere Mienen zu diesen Szenen vorhin gemacht hast ... Wie? Bist du vielleicht gar einer von den wunderlichen Weisen, die in der Hauptstadt diesen Friedländer auf der Waage der Gerechtigkeit prüften? ... Freund, liebte ich dich weniger und hätte die volle Gewissheit darüber, ich würde mich an dieser richterlichen Beschämung jetzt etwas ungezogen weiden. Doch genug, wir wollen eins trinken auf künftige Bescheidenheit eurer richterlichen Schwerter, die auch nicht allen Grund durchdringen, wohin ihr sie fallen lasst! Mach' dir nichts draus, Bruder – aber hier habt ihr wieder einmal einen Preisbock geschossen, ihr geschäftigen Richter – und gelt, Bruder, du selbst warst einer von den eifrigen Mordjägern, was? Nun, irren ist menschlich! Du wirst noch immer blass statt rot, wenn du dich schämst – alte Gewohnheit! Gelt, du warst einer von des Friedländers Richtern?«

»Ich habe den Prozess führen helfen – warum es leugnen?« ...

»Seltsam, wie der Zufall oder Argwohn der menschlichen Gerechtigkeit oft spielen kann, dass man unter den unschuldigen Menschen oft gerade den unschuldigsten hervorsucht, um die schlimmen Folgen einer fremden Tat auf ihn zu häufen und mit einer Kälte dabei zu Werk zu gehen, die selbst am Schuldigen kaum billig wäre. Ist es möglich, dass man einen Mann wie diesen Friedländer eines Mordes beschuldige, der das Leben nur rastlos begünstigt durch jede Pflicht der Nächstenliebe, der die verdrießliche Seele der Armut, die vom Leben sich kaltblütig wendet, für das Leben wieder zu erwärmen sucht durch jeden Rat und jede Hilfe? Der Gedanke schon bewegt mich unsäglich, wie dieser Mann sich zu Kerkerwänden verhalten solle, wie irgendein Richterauge mehr als zwei Augenblicke brauchen könne, diesen Mann in seiner vollen, lieblichen Menschenwürde zu erfassen und danach gleich von jedem Flecken frei zu sprechen. Und dennoch war es möglich, dass Wochen vergehen konnten, bis man ihn aus seiner Haft entließ und von ihm das böse »Schuldig« wieder nahm! Geht, geht, das war ein herzloser Streich! Steiner, ich kann dir nicht ersparen, dich schon in den ersten Augenblicken unseres Wiedersehens mit solchem Vorwurfe zu empfangen, ein sehr bewegter Augenblick gibt mir ihn ein, und meine sonstige Freude über unser Willkommen möge dir das vergüten!«

»Mich freut es, dass du bei deiner philosophischen Muße so viel Menschenliebe und Lebenswärme behalten hast und dass dir von dem Menschen im Ganzen besser zu denken erlaubt ist, als mir im Einzelnen mein Amt gestattet. Es ist ein großes Glück, eine Stellung im Leben einnehmen zu können, von der aus wir bei stetem Überblick der menschlichen Dinge erhalten, nicht nötig haben, in die gemeineren Tiefen des Lebens herabzusteigen und viele Zeit selbst darin zu wühlen und zu hausen. Unser Geistesauge sieht kindlicher so, unser Herz pocht gleichmäßig wärmer, unsere idealischen Vorstellungen in jeder Weise wenden sich ohne viele Korrekturen an auf Menschen und Dinge. Es geht dabei aber wie bei dem Anblicke einer freundlichen Landschaft von einer Mittelgebirgshöhe herab, wir stehen eben hoch genug, dass uns das wilde Brauen des Flusses nur als sanftes Rauschen noch erreicht; wir sehen die Frühlingssaat eben noch in leichten Wallungen sich bewegen, rote Wohndächer blinken uns von Ferne noch freundlich aus Gärten und Auen entgegen, und wir sind gerade tief genug gestellt, dass uns die Wolken den freien Blick nicht trüben. Von dem, was die Landschaft bietet und Beschwerliches, von dem sehen wir nichts, und lieben das ferne Hügelwäldchen, weil es zum harmonischen Bilde der Gegend so frisch und freundlich dient – ohne dass wir den Räuber ahnen, der sich in seinem Schatten verborgen hält. Mein Freund, sei immerhin beglückt und urteilsfähig in deiner Weise, liebe den Menschen aufs Geratewohl hin, wie er sich dir gibt in weiter Ferne, so wirst du jenen notwendigen und glücklichen Charakteren angehören, welche denen zur Stütze dienen müssen, die über die Übel des Lebens, denen ihr prüfendes Auge zu nahe gerückt wird, gerne verzweifeln möchten. Und sieh, in dem Augenblicke, als wir uns nach Jahren sehen und grüßen, stellen sich an uns beiden auch schon zwei fertige Repräsentanten solcher Gläubigen dar: Du bist in verdrießlicher Leidenschaft, weil man dir einen Mann verdächtigt und in Untersuchung genommen, den du gerne für einen Heiligen hieltest; ich bin verstimmt und traurig, weil dieser bravste Mann der Gegend – wirklich schuldig ist!«

»Wie? Was ist das?«

»Diese Nacht wird sich zeigen, welche unserer Meinungen die unstatthafte ist.«

»Begreif' ich dich recht, so ist dieser Friedländer zum Scheine nur frei, und du bist hergekommen, wie ein böser Dämon seinem freien Schritte zu folgen, und wenn er es im Geringsten nur versähe, den Mann von Neuem auf die richterliche Folterbank zu werfen? Sage nein; in allzu argem Lichte stündest du jetzt vor mir!«

»Die Sache verhält sich so, doch begreife du sie anders ...«

»Nein, nein! Das ist nicht, das kann nicht sein! Sagtest du mir vorhin nicht selber, wie makellos dieser Mann immer ein Leben führe, auch keine Silbe Tadel könne ihn darin treffen? Er sei wohlhabend und ein wahrer Vater der Armen weit und breit; er sei klug und erfahren, und sein trefflicher Rat lenke die ganze Gegend hier; er sei so würdig fromm, dass sich ihn alle zum Muster nehmen, welche von religiösem Drange sich noch erschüttert fühlen ... Hast du mir das nur bestätigt, um mich jetzt so schmerzlich zu enttäuschen? Warum seid ihr also schon einmal in eurer Weisheit auf dem Richterstuhle gesessen und hat euch der arglos schlichte, kräftige Mann seine Unschuld zehn für einmal dargetan?«

»Freund Jeneveldt ...«

»Willst du ihn denn durchaus zum Mörder haben? Wohlan, soweit es dir Gesetz und Vernunft zur Pflicht gemacht haben, bist du gegangen, nun fällt es weder der Vernunft noch dem Gesetze mehr ein, den Verbrecher noch in diesem Friedländer zu suchen – er ist glänzend entlassen worden. Nun, so lass' auch du ab, dich zum Gebärdenspäher einer braven, gerechtfertigten Männerseele herzugeben, sonst ist dir das Gesetz nicht mehr heilig, weil du es durch übertriebene Anwendung missbrauchst, und deine Gesinnung müsste einer Verdächtigung verfallen, die für dich ewig schmerzlich wäre. War der Mann gesetzlich nicht zu haben, so ist er überhaupt durch dich nicht mehr zu haben. Lass ihn also mit sich selbst ausmachen, was mit ihm noch auszumachen ist, denn nach dir kommt noch ein Richter, dem vorzugreifen du nicht berechtigt bist.«

»… Freund, ich sagte dir schon, wie glücklich du bist, dass keine Privatstellung dir erlaubt, den betrübenden Rauheiten der menschlichen Dinge so fern als möglich bleiben zu können. Wie schade um die unnötig herab gestimmte Meinung über das menschliche Herz, wie doppelt schade wäre es um den reinen Vollklang dieser Sätze, welche im Munde der Bessern fortleben sollen, während nur Fachmänner den Missklang derselben im Konflikt mit dem Leben zu hören bekommen. Freund, nicht in allen Fällen ist Güte, Humanität in den Folgen auch wirkliche Güte, wirkliche Humanität, wenn es das auch im Augenblicke der Anwendung war. Täusche du dich immer – ich darf mich nicht täuschen. Du hast es mit den heiteren Flächen des Lebens zu tun, ich mit den Untiefen desselben; du wendest dich hinweg, wo dir eine Stelle des Lebens nicht gefällt, ich muss daran haften. Du hast bloß den naiven Auftrag der Natur zu erfüllen, beim Anblicke eines Übels eine Träne zu weinen – ich bin angewiesen, dem Übel nachzugehen und im Auftrage meines Amtes die Wunden am Körper der menschlichen Gesellschaft wieder zu heilen.«

»Steiner ... Steiner ... Lass mich nicht weiter auf Bedenken stoßen über die wunderlichen Veränderungen in deinem ganzen Wesen. Bei Gott, ich kann nicht dafür, wenn ich schlechter von dir denke, als ich noch gültige Gründe fand; aber vermeide sorgfältig, was mich noch mehr betrüben könnte ... Steiner, der Fall mit diesem Friedländer hat Aufsehen gemacht, die Geschichte ist weit herum, nie sind schlagendere Beweise gegen einen Delinquenten geführt und schlagender von diesem widerlegt worden. Bis zu den höchsten Büros hinauf hat man sich für den merkwürdigen Fall interessiert – und siehe, wenn nun doch der merkwürdige Fall von einem feinen, jungen Kopfe nicht ganz aufgegeben würde, wenn man der Sache von einer neuen Seite pfiffig beizukommen suchte, wenn es nun dennoch möglich wäre – diesen Friedländer zum Mörder zu machen, gehört dieser feine, junge Kopf nicht bald einem gemachen Manne an?«

»… Wie du die Dinge nimmst ...«

»Auch kann irgendein Präsident übrigens eine Tochter haben ...«

»Ha, wer sagte dir ...«

»Nur erst die eklatante Tat – um den Rat und Bräutigam wird man nicht verlegen bleiben!«

»Beim Himmel ...«

»Nur zu, das ist der rechte Zeuge, den du rufst. Noch tausend Mal verdrießlicher als ich sieht er dir zu, wie du herkommst, einer ganzen Gegend den besten Mann gewaltsam wieder zu rauben – bloßer Beförderung halber; wie sich dein Argwohn in das Herz dieses Friedländers verbeißt gleich einem hungrigen Wolfe in die Lenden eines Edelhirsches, um auf dem Wege Richtens selbst zum Mörder zu werden, da nun einmal dieser Friedländer durchaus kein Mörder sein will. Bei Gott, wenn du Mut hast, einen musterhaften Vater aus den Armen einer braven Mutter und liebenswürdiger Kinder zu reißen, um selbst so eher Gatte und Vater zu werden; wenn du deiner Zukunft Frieden und Segen auf diese Weise zu suchen dich getraust – dann will ich nicht weiter trachten, dir entgegenzutreten, denn ich sehe dich schon zu schlimm in dir selber erstarrt, als dass außer Gewalt auch Worte bei dir fruchten könnten.«

»Ich aber sehe dich bereits zu schlimm von mir denken, als dass ich bloße Worte an deiner Meinung versuchen sollte. Die Tat wird dich bekehren müssen. Nur so viel wisse, dass gleich nach des Friedländers Freilassung neue Beweise gegen ihn eingelaufen sind und dass man nur sehen wollte, wie er sich bei seiner Heimkehr öffentlich geben würde ... Freund, es täusche dich ja nicht das ländliche Kleid dieses Mannes, dahinter steckt eine sehr gebildete Seele, und das Äußere ist nicht der naive Ausdruck des Innern; denn der ganze Mann ist höhern Standes von Hause aus ... Die ganze Untersuchung dieses Mannes hat unwiderleglich dargetan, dass der Vater jenes unheilvollen Kindes der Mörder ist, der Friedländer aber ist der lang gesuchte Vater. Nur war bisher nicht auszumitteln, wohin der Knabe durch seine Mutter gebracht worden sei. Jetzt aber, wie du selbst gesehen hast, ist man dahinter gekommen, jenes Unglückskind lebe hier bei einer nahen Verwandten, der Nachbarin des Friedländers, heiße Paul und sei zum Verwundern aller Leute des Friedländers Liebling ... Erlasse mir für den Augenblick ein Ausführlicheres und komm hinweg, man darf mich hier nicht sehen. Nur eines denke dir jetzt lebhaft genug: In welcher Lage ist der Mann jetzt, dem eben eröffnet wurde, dass sein Sohn seine Tochter liebe? Aus dieser Schlinge ist für ihn kein Entfliehen mehr ... Komm, fort, und erfülle mir nur die eine Bitte, störe später mein Verfahren nicht durch gewaltsames, unzeitiges Einmischen.«

»Es wird von deinem Verfahren abhängen, wie ich mich betragen werde. Verlass dich drauf, du sollst mir den Mann nicht etwa um Mitternacht im halben Schlafe überrumpeln und aus seinen schlaftrunkenen Antworten einen Rechtsbrei machen, der, mit sophistischem Arsenik versetzt, dem Manne wirklich das Leben kosten könnte ... Meine harmlose Stimmung ist dahin, dies lang ersehnte Wiedersehen ist mir schmerzlich verkümmert, schon will es mich gereuen, dass ich meine schöne Einsamkeit verließ, um hier einem Freunde auf Menschenjagden zu begegnen, wo er eines glücklichen Schusses willen vielleicht auf ewig seinen Seelenfrieden verpufft.«

»Hätte ich's ahnen können, wie sehr du im Stande bist, des Freundes Handeln zu missdeuten – diese Schmerzen wären dir alle zu ersparen gewesen ... doch hinweg, ich höre kommen!«

Beide gingen in das Wirtshaus zurück.

Eine Stunde später hatte der Friedländer mit der Nachbarin Aplon eine lange, erschütternde Unterredung; die Aplon verließ des Friedländers Haus mit verweinten Augen und heftig schluchzend.

Es war in dieser Unterredung beschlossen worden, dass Paul dieselbe Nacht noch das Dorf verlasse und in die Fremde reise.

7

Folgte eine stille Herbstnacht, die Lüfte unnatürlich lau, tief niederhangend ein schweres, bewegungsloses, düsteres Gewölke, als wollte es das arme Menschenherz im Schlaf belauschen; es war eine Nacht, wo dem Himmel Geheimnisse entfallen und, durch die Wolken dringend, den bangen Erdengrund erreichen – Geheimnisse, die ihre menschliche Schwere so lange zur Heimat niederzieht, als hier noch schuldige Herzen schlagen. In unbewachten Augenblicken, oder wenn die Erde sich nicht Rat mehr weiß, lässt sie still betrübt der Himmel fallen, dann tritt vor solchen Wundern der erschütterte Menschengeist zurück und lässt die höheren Mächte allein walten. ... Was der Mensch in solchen Nächten, wenn der Schlaf ihn flieht, sich selber oder den lauernden Lüften anvertraut, ist zu beachten. Der Unschuld kamen schon Engel zu Hilfe in solchen Nächten, Verbrechen wurden enthüllt, lüsterne Wege führten in trostlose Irre – doch wer sah nicht schon solche Nächte und hörte nicht schon von solchen Wundern sagen?

Wir selber haben einen solchen Fall.

In jener traurigen Herbstnacht öffnete sich die Türe eines Hauses in Küssüben langsam, und ein rüstiger, aber bleicher Mann trat auf die Schwelle. Er war halb entkleidet, das Hemd an der Brust offen, das Haupt entblößt, über dem Arme hing ihm ein Mantel; an der Türpfoste blieb er lehnen, als dränge ihm beim Öffnen der Türe die erschütternde Allmacht der stillen Mitternacht zu heilig, überwältigend entgegen, als müsste beim ersten Schritt ins Freie sein beschwertes Herz auf einmal offen daliegen vor den Augen des Himmels und all seiner Scharen.

Draußen plauderte schläfrig und geheimnisvoll das Bächlein vorüber, dieses noch im Schlafe geschwätzige Kindlein der Erde; im nahen Stalle blies der träumende Rappe dann und wann heftig durch die Nüstern, und der Ochse wetzte im Schlafe sein Horn an der Wand – darüber wurden die Schwalben des Stalles wach und flüsterten halb im Schlummer, bis sie wieder sanft entschliefen. Die Katze auf dem Dache stand horchend, indem sie die rechte ihrer Vorderpfoten leise hob, weil sie einen Knecht unter sich so eigentümlich schnarchen hörte, sprang aber plötzlich entsetzt davon, als sich die Magd im Schlaf umdrehte und laut auflachte.

Der bewegte Hausvater, welcher unten auf der Schwelle stand, merkte das alles nicht. Sein ernster Blick war unbeweglich gegen die gespenstischen, ruhigen, grauen Wolkenmassen gerichtet; dort erging sich seine schwermütige Seele und verfuhr düster gestaltend mit den seltsamen Umrissen derselben. Ein rasend Weib mit einem Kinde auf dem Schoß malte ihm vor allem lebhaft sein geschäftiges Auge, des Weibes Arme und Haare flogen ungestaltig gegen Himmel; daneben erschlug eine gewaltige Keule einen arglos schlummernden Mann. Weiter oben stürzte eine riesige Jünglingsgestalt häuptlings auf das rasende Weib herab, beide Arme entsetzt im Sturze über die Augen kreuzend; noch höher entfloh ein banger Engel gegen Himmel mit den Armen im Fluge aufwärts strebend, die trauernden Augen niederwärts auf die Gruppe richtend. Weithin gegen Osten öffneten die Wolken eine weite lichtgraue Rundöffnung – der Mond, welcher dahinter stand, schien jetzt nach dieser all seine Strahlenmacht zu drängen, und es war dem schwermütigen Manne, als laufe dort des Himmels gewaltige Posaunenmündung aus, um zu Schreck und Entsetzen den ganzen Erdball aus dem Traume zu blasen. Ganz oben schwollen zwei blasende Engelsbacken.

Sein düsteres Auge von diesen Erscheinungen endlich niedersenkend, trat der erschütterte Hausvater jetzt ins Freie.

Es war der Friedländer.

Nach einer langen Pause sprach er aus, was ihm das Innerste bewegte.

»O Pein auf Pein – Entsetzen! Jahrelang habe ich mein unglückseliges Kind umsonst gesucht, damit ich es nun finde in Liebe brennend für meine Tochter! O Entsetzen, o ihr neuen und immer neuen Gestaltungen der Gefahr! ... Ich könnt mich töten, könnte ein Ende machen all diesen Ängsten und Nöten, diesen Nächten ohne Schlaf, diesen Traumgesichten, wenn die erschöpfte Natur auf kurze Augenblicke in Schlummer sinkt, diesem Argwohn, als sei ich keine Stunde vor Verfolgung sicher – ein unwirscher Stoß reichte hin ... doch tue ich's nicht. Wenn ich dieses Aug', diese Stirne, dieses Herz vernichte, so vernichte ich Schuldige und Zeugen auf einmal und werfe die Waffen hinweg, welche ich brauche, um mich zur Versöhnung durchzuschlagen. Dem Armen kann ich meine Hand noch reichen mit hilfreichen Gaben, dem Verirrten kann ich die rechten Wege zeigen, ich kann damit Schurken züchtigen und die Unschuld schirmen. Hau ich sie mir vom Leibe, so mache ich ihr das Gute unmöglich, nachdem ich ihre erste die Missetat erlaubt ... Es wäre doppelt gegen mein Heil ... O nimmermehr, so sehr dies Herz auch überflutet, werde ich mich selbst entwaffnen – obwohl der Tod vielleicht viel süßer wäre ... Dies Kleid der Seele müde auszuziehen ... hinzuschlummern ... aus vielleicht mit Pein und Lohn ...

Doch ich will leben, will lieber im Feuerschmerz der eigenen Seele mich härten, will auch in der Sühne das Gewisse und Sichtbare über das Ungewisse setzen – und solange das geschieht, nach Tat und Willen zu den Besten der Lebendigen mich zählen! ... Horch! Stille ist's noch in Aplons Häuschen drüben, nur ein matter Lichtschein dämmert durch den Fenstervorhang, und zwei traurige Schatten gleiten darauf langsam hin und wieder ... Ich will nicht hier sein, wenn er Abschied nimmt; ich will indes hinweg, hinweg, ins Freie ...«

Er entfernte sich nach diesen Worten und ging die Straße nach dem Buchenwäldchen.

Bald darauf kamen Apollonia und Paul aus dem Nachbarhäuschen. Beide waren sehr bewegt.

»Seine Frachten gehen übermorgen den nämlichen Weg«, sagte Aplon, »da schick' ich dir deine Sachen nach, mein lieber Paul. Jetzt sei nur nicht gar zu betrübt und trag' es, weil es nicht anders ist; nicht lange, so kannst du auch wiederkommen, es ist nur jetzt vor der Hand, der Friedländer will nur sein Leid früher vergessen.«

»Ich glaub' auch«, erwiderte Paul, »es ist und bleibt alles im Guten, ich geh' ja willig. Sagt es dem Friedländer ja recht ins Ohr, wie ich mich gefasst hab', weil er's so gewollt hat; sonst, sagt ihm, wär' ich auch um keine Grafschaft keinen Halm breit gewichen und hätt' mich eher das Firmament in tausend mal tausend Stücke zerwettern müssen. Mein Herz bleibt hier, mein ganzes Glück. Sagt meiner Lottl auch recht behutsam, dass ich fort bin und warum, und lasst sie alle Stund' einmal zu Euch hinüberspringen und redet mitsammen eine kurze Minut'. Lebt wohl, lebt wohl, und richtet mir aus, liebe Pflegemutter, was ich Euch aufgetragen hab'.«

Aplon gab ihm jetzt noch ein Amulett mit einem Heiligenbildchen und sagte: »Da, nimm dies Amulett zu dir und häng' dir's um, wo du zum ersten Mal über Nacht bleibst, das beschützt und bewahrt dich auf deiner ganzen Reis'; – so geh' jetzt und beschütz' dich Maria und alle Engel, du willst mich nicht weiter mit dir gehen lassen, so leb' wohl, leb' wohl ... und schreib' ...« Sie ging weinend in das Häuschen zurück.

»Leb wohl«, rief ihr Paul nach, »grüßt alle ... Lebt wohl ...«

Jetzt näherten sich mehrere Burschen singend und gingen vorüber, ohne Paul zu bemerken.

Paul fühlte sich einen Augenblick versucht, die Burschen anzurufen und von ihnen Abschied zu nehmen; aber er besann sich gleich wieder, dass ja seine Wanderung so stille als möglich geschehen solle. Er sagte daher nur leise vor sich hin: »Lebt wohl, lebt wohl; ich will euch keinen anrufen und euch sagen, dass ich gehe ... O könnt' ich bei euch bleiben! ...«

Er stand eine Weile in Gedanken stille und fuhr dann fort: »Geh' ich wirklich und sag' meiner Lottl kein Wort davon? Hab' ich versprochen, dass ich sie gar nicht mehr sehe, ihr gar nichts mehr sagen will? ... Nein, nein ... Ich habe nur versprochen, dass ich ihr nichts von meiner Abreis' sagen will ... Ich kann nicht fort, ich muss noch mit ihr reden, ich weiß nicht, was ich ihr sag' – aber alles, alles will ich ihr sagen, nur von meiner Abreise nichts!« ...

Er kletterte auf den Apfelbaum und sprang auf den hölzernen Balkon hinüber, dann klopfte er an ein Fenster und sprach leise: »Lottl, Lottl, hörst du mich? ... Der Paul ist's, der klopft ... Horch auf, ich hab' mit dir zu reden!«

Lottl öffnete das Fenster und sagte: »Jesus, Jesus, mein Gott, wie bin ich in den Tod erschrocken! ... Bist du es wirklich, Paul? Brennt es wo, dass du so gehetzt tust?«

»Still, still!« erwiderte Paul, und sie sprachen nun leise weiter.

In die Stube Schuster Prumlers trat um diese Stunde der Nacht der Rauchfangkehrer, um das versprochene Nachtquartier in Empfang zu nehmen. Er musste etwas zu viel getrunken haben und wankte daher nicht wenig.

Nachdem er einige Augenblicke ratlos in der dunklen Stube dagestanden hatte, sagte er: »Schau, schau, hier wo herum soll mir ein gutes Bett zubereitet sein, ich wollt', ich könnt' es finden; aber ich seh' und hör' nichts ... Es ist freilich spät geworden ...« Er rief nach einer Weile: »Prumler, Prumler! Wo hast mir denn aufbetten lassen? ...«

Aber niemand antwortete ihm. Er forschte daher mit ausgestreckten Händen in der Stube rund herum, fand aber nirgend, was er suchte. Endlich stellte er sich einen dreifüßigen Stuhl zurecht, der ihm bei der Entdeckungsreise durch die Stube in die Hände gekommen war, und setzte sich, in ein lustiges Gelächter ausbrechend, darauf. »Prumler«, sagte er lachend, »Prumler, du süßer Schustermeister, gib nur acht, pass nur auf, du pechiges Ledermännlein, was ich dir antun will! Was? Nicht einmal Stroh für deinen Gast? ...« Er focht mit dem Besen in der Luft, als säße er auf der Krone eines Schlotes und sang:

»Von Hexen und Zaubereien frei
Dieses Haus hier ewig sei ...«

Er nickte ein, erwachte aber nach einer Weile wieder und sagte: »Ah so; ich muss mich ja niederlegen ... Gut, gut, in den Ofen auf die Asche, die ist warm, die ist weich ... O, Prumler, Prumler, ich leg' mich so noch einmal zu deinem Weib ...« Er suchte den großen Ofen, kroch hinein und war gleich darauf mäuschenstille – er schlief ein.

Kaum eine Viertelstunde später kam Prumler mit seinem Weibe nach Hause; er ziemlich betrunken, sie heftig scheltend über die Liederlichkeit des Mannes, der aus Verdruss über seine verletzte Autorität am vorigen Abend Küssüben ganz verlassen hatte und im nahegelegenen Langenried »gottsmörderisch« zechte. Aber sein Weib hatte ihn ausfindig gemacht und brachte ihn nun nach Hause.

»So«, rief sie beim Hereintreten, »da sind wir, und jetzt wirst dich hersetzten und arbeiten die ganze Nacht, bis die Sonne wieder auf- und untergeht, das sag' ich dir; was da allerlei Arbeit zusammengekommen ist, das wirst in einem Trum fertig machen, und jetzt gleich ist der Anfang. Du gottloser ‚Ich häng-mich-so-noch-auf!' Weil dir in Küssüben kein Mensch mehr glauben will, laufst jetzt weiter aus, nach Langenried gar hinüber und zechst wie ein Alter? Das wird ein End' nehmen, ich sag' dir's, ich will dir schon Zaum und Zügel anlegen ... Hilft nichts, setz' dich, und dass ich morgen was Rechtschaffenes fertig seh' ...«

»Ja, ja, liebe, gute, herzige Maus du«, sagte Prumler trotz des Räuschchens sehr aufgeräumt. »Ja, du sollst was Rechtschaffenes fertig sehen, verlass dich nur und gib mir einen Kuss, das ist mir lieber. Aber einen schwarzen Kaffee wirst mir noch früher machen, du heilige Urschel übereinand, ich weiß schon, oben auf dem Boden, wo das Dach aufliegt im Eck unter den Schindeln, gibt's Kaffee und Zucker die Menge, gelt, du machst Feuer und schüttest mir noch so was Süßbraunes zusammen? Ich kann sonst nicht aufbleiben, ich bitte dich, das siehst ja ein, du schmerzenreiche Prumlerin? ...«

»Aha! Jetzt ist die Katz' heraus, die mir immer Zucker gestohlen und verschleppt hat!«

»Merkst denn nichts, dass ich diese Katz' nur selber gewesen bin?«

»Ja, ja, und das sollt' ich dir ganz anders abtragen!«

»Bestich mich mit einem guten Kaffee, so lass ich ein andermal das Zuckerstehlen, und wir sind gut Freund, liebe Alte.«

»Schon recht, schon recht; heut meinetwegen und nimmer wieder. Da sitz her, ich geh' Feuer machen.«

Prumler machte sich wirklich zurecht, und sein Weib machte Feuer im Ofen.

Dann ging der Streit von Neuem an. »Und mit deinem Lügen und Aufschneiden und mit deinem Alleswissen wirst auch ein End' machen«, sagte die Prumlerin, als sie Kaffee rieb. »Das ist keine Art und kein Maß mehr, du bringst die Leut' übereinander, schadest deinem Geschäft, und zuletzt wird niemand mehr mit dir zu tun haben wollen; verlass dich, das gewöhn' ich dir auch noch ab, ich will dir meinen Mann zeigen.«

Prumler sang:

»Heut noch und morgen noch
Und übers Jahr ...«

»Ja, sing nur, das soll dir alles noch sauer genug werden, jetzt bin ich einmal verpicht und müsst' sonst ohnedies fürchten, der Teufel holet dich und mich noch über so ein sündhaftes Leben und Treiben!« ...

»Heiß, heiß, heiß, heiß, heiß!« schrie jetzt eine heisere Stimme; »Hölle heiß, Hölle heiß!« Eine Ofenwand wurde eingedrückt und eine kohlschwarze Gestalt kollerte neben Prumler und seinem Weibe auf die Ofenbank heraus.

»Heiß, heiß, heiß, heiß, heiß! Da ist er schon!« schrie auch Prumler und jagte entsetzt in der Stube herum; die schwarze Gestalt taumelte ihm nach.

Die Prumlerin warf, was sie in den Händen hatte, auf den Boden und entsprang in die Kammer mit dem Rufe: »Hilfe, Hilfe! Da ist er schon, Erbarmen! Erbarmen!«

Der Rauchfangkehrer und Prumler jagten sich noch eine Weile in der Stube, dann fand der Letztere die Türe und eilte durch dieselbe davon.

Der Rauchfangkehrer folgte ihm, und weil er inzwischen zu sich gekommen war, sagte er: »Prumler, Prumler, ich bin's, lauft Ihr vor mir davon?«

Aber Prumler lief nur noch stärker und sagte: »Ich weiß, ich weiß alles! ... Jetzt kennt der Höllische auch noch meinen Namen!«

Indessen war der Friedländer von seiner nächtlichen Wanderung zurückgekehrt. Seine Erschütterung und Schwermut zeigten sich nun milder als zuvor. Wieder an der Haustürpfoste lehnend und in die wunderbare Nacht hinausblickend, ließ er seinen mildern Gedanken also freien Lauf:

»… O stille, traurige Mitternacht, wann wirst du mich ruhen lassen und meinen Sinnen friedlichere Träume geben? Ist's möglich, dass der Niegefallene, wenn er auch lässig ist im Guten, seine ungestörte Ruhe und seine süßen Träume haben soll, während der nur ein Mal zu Fall Gekommene auf ewig ruhelosen Nächten verfallen soll, wenn er auch mit schweißvoller Hast der Tugend nachgeht, Stund' für Stunde und tausend Mal das Gute jenes überbietet? ... Betrübend ist's, doch ist es so ... Drum will ich nicht ruhen, nachzudenken, wie viel dieses Leben gut zu machen Gelegenheit bietet, und bis du deine Lider ruhig schließen kannst, mein trauernd Auge, sehe immerhin Gespenster und Schreckgesichte in den Wolken, wohin du gerne deine Hoffnungsblicke richtest ...«

Ein Flüstern auf dem Balkon seines Hauses störte ihn jetzt und machte ihn aufblicken.

»Wie? Noch jemand wach außer mir? ... Der Paul, hoff' ich, ist fort ... Die Burschen sind von ihren nächtlichen Wanderungen heim ... Wer regt sich hier? Es waren menschliche Stimmen ...«

Nach einer Weile hörte er die Lottl ganz vernehmlich sagen:

»Mein Gott, mein Gott, vielleicht bedeutet's Schlimmeres, als du sagst ... Du bist so gehetzt gekommen und willst so traurig geh'n; du bist auch niemals so blass gewesen, Paul ... Ich red' nicht mehr mit dir, wenn ich später erfahr', dass du mir nicht alles gesagt hast – merk' dir's – ich lass dich klopfen an mein Fenster, wenn du nachts wiederkommst; ich geh Sonntags an dir ohne Blick vorüber, ich sag' dir beim Tanz ab, ich ... wenn du zu uns herüberkommst, geh' ich durch die Kammertür' fort ... und wenn du einmal fortreisen sollst – merk dir's – will ich in die Hand klatschen ... du böser, verstockter, liebster Paul!«

»Ich wollt', ich wär' nicht hergekommen. Jetzt merkst du, dass ich traurig bin und machst mich erst recht betrübt ... So klatsch' in die Händ' ... Ich geh' ... Gut' Nacht, gut' Nacht ...«

»O Maria! Wie sagst du das?«

»Als müsst' ich morgen schon ins Weite reisen ... Gut' Nacht ...«

»So gehst du schon heim?«

»Ich küss' dich noch einmal ... Du aber denk', das letzt' Mal ist es für heut', kann sein für morgen ... übermorgen ... für ein Jahr ... kann sein für immer!«

»Wie? Ihr gütigen Engel! ... Am End' sagst du ernsthaft so ... Nun gut dann, o recht gut! Du nimmst mir jed' Wörtlein gleich übel. Und ich sei gar zu boshaft, und ich hätte dich beleidigt, und ich hätt' ohnedies kein Herz für dich; drum habest du lieber geschwiegen, als mir alles gesagt ... O Paul, Paul, du bist mir schön verändert! ... Gut, so geh', dein Gute Nacht hast abgegeben, so geh' jetzt, wenn du kannst, wenn du Abschied nimmst für länger, für ein Jahr oder immer. Hab' ich Macht, und kann ich dich halten? ... Nein ... Was kümmert's dich, wenn ich wein'? ... Gut' Nacht, gut' Nacht ... Ich schließ das Fenster zu, aber merk', dass du mich gekränkt hast, weil du geschwiegen hast, und dass du trotzig gehst, weil ich gekränkt bin ... O, ich erduld's und will nicht weinen. So, gut' Nacht, ich schließ' das Fenster zu ...« Das Fenster schloss auch hörbar nach diesen Worten.

Paul trat hinweg und lehnte sich verzweiflungsvoll an einen Pfeiler des Balkons.

»Mein Gott«, sagte er nach einer Pause, »mein Gott, warum bin ich hergekommen, jetzt hab' ich mein Leid erst recht vergrößert.«

Der Friedländer hatte mit größter Erschütterung zugehört und sagte für sich: »Er ist noch da, der Unglückselige, ich ließ ihm doch das Wort abfordern, dass er ohne Abschied gehen wolle; so reiht sich fort und fort eine Sorge und Erschütterung an die andere ...«

Dann rief er mit düsterer, gedämpfter Stimme:

»Paul, Paul, du noch hier?«

Paul erschrak heftig über diese Stimme und raffte sich auf.

»O Gott«, rief er ... »Ich komme, ich will ja fort ... Aber erst noch ein Wort mit ihr!«

Er eilte an Lottls Fenster und klopfte lebhaft.

»Lottl, Lottl«, sagte er, »hörst du mich? Ich bin's wieder, der Paul ... O sei nicht ernsthaft bös, sei wieder gut ... Lottl, du weißt nicht, was du tust, wenn du nicht gleich ans Fenster kommst und mit mir sprichst ... Hörst du mein allerletztes ‚Gute Nacht'? ... Sag' mir nur das!«

»Paul ... Paul ...«, rief der Friedländer unten wieder mit schwermutsvoller Stimme; aber Paul fuhr lebhafter am Fenster oben fort:

»Nun, so geh' ich ohne Abschied fort, Lottl, und seh' dich nimmermehr! So, gute Nacht ... Hörst du mich? Gut' Nacht ... Du stoß'st mir ein Messer in das Herz, Gott behüt' dich dafür ... Ich geh' jetzt lieber bis ans End' der Welt, als dass ich dich wiederseh' ... Ich geh, ich geh ...«

Er horchte noch einen Augenblick am Fenster und kam dann über den Baum herab.

Der Friedländer ging ihm erschüttert entgegen und sagte mit einer Stimme, die Schmerz, Vorwurf und Kummer deutlich genug ausdrückte: »Du noch hier? ... So erfüllst du ein Versprechen? Ich habe dir zugetraut, dass du tun wirst, was ich wünsche und worauf du deine Hand gegeben ... jetzt aber seh' ich, du versprichst nur, was du nicht tun willst ... Geh, geh, wie traut man dir ... Du bist des Friedländers Freund nicht mehr ...«

Paul fiel ihm an den Hals und sagte: »Friedländer, Friedländer, ich bin gestraft genug! ...«

»Lange schon sollst du fort sein, und ich finde dich am Fenster meiner Tochter ...«

»O, dass ich fort wär', es wäre besser!«

»So versäum' doch jetzt keinen Augenblick mehr, mach' fort ohne Aufenthalt, sogleich ... Solang ich dich hier weiß, foltert mich dein Leid bis zu Tode – komm, ich will sehen, dass du gehst, ich geh' bis ans Ende des Dorfes mit, ich muss mit meinen eigenen Augen ...«

»O, bleibt nur da, Friedländer, ich komm nimmer wieder, legt Euch geruhig schlafen. Ach, das Best' ist ja, ich geh so weit, dass mich niemand mehr sieht und hört ... Ich will mich selbst nicht wieder so strafen.«

»Was ist zur Rede gekommen zwischen dir und meiner Tochter?«

»Ich weiß es selbst nicht mehr ... Ich hab' sie auf die Stirn' geküsst, wie sie den Kopf durch das Fenster gesteckt hat, ich hab' vor lauter Tumult im Blut keine Ordnung gehalten in meinem Wort, und ich weiß nur, mir ist immer Hören und Seh'n vergangen, wenn ich sagen wollt': ‚Lottl, du vergisst mich nie, und wir werden beisammen bleiben, wenn wir auch nimmer beisammen sind ...' Kann sein, ich hab' auch gesagt, was ich nicht hab' sollen; kann auch sein, die Lottl hat es verstanden ... Ich muss blass sein wie der Tod; sie hat mein Gesicht schimmern gesehen, wie stark es auch Nacht ist, und weil ich zuletzt gradheraus gesagt hab', was mir ist, sind wir bös' geschieden.«

»Horch!«

Die Lottl öffnete oben das Fenster wieder und sprach heraus: »Paul ... Paul ... Bist du hier? Sieh, ich kann nicht länger bös tun, komm, lass uns wieder freundlich reden ... Paul, o, gib mir eine Antwort, wenn es dich freut, dass ich wieder gut bin ... Hörst? O, komm, komm, ich will schon abbitten, ich will dir morgen zu lieb tun, was du verlangst, nur nimm mir nicht so übel, dass ich vorhin eine Weil' so bös getan hab' – gelt, du verzeihst? Gelt, du kommst zurück und gibst mir die Hand drauf und machst Frieden?«

Der Friedländer aber drängte den Paul hinweg, mit leiser Stimme sagend: »Fort, fort, Paul, schweig' und tu', als ob du lange davon wärst ... Komm, komm, ich begleite dich eine Strecke hinweg!«

Paul bedeckte schmerzhaft mit beiden Händen sein Gesicht und sagte, dem Friedländer ohne Sträuben folgend: »Ja, ich will fort, Friedländer, ich will Euch folgen, aber gedenkt es meiner Lieb', wenn ich einstens wiederkehren darf – o, mein Herz, mein Herz ... Lebt wohl ...«

Beide entfernten sich, und Lottl kam flüchtig angekleidet auf den Balkon heraus und sprach herunter:

»Paul ... Bist noch unten? ... Bist wirklich bös und willst mir mein Trotzen nicht verzeihen ... Da hör' ich Schritte, jetzt gehst du unten fort – ja, ja! Magst noch so leise und sacht' auftreten, ich hör' es doch ... Gibst also kein Zeichen und keine Antwort? ... Nun gut, o, recht gut, so will ich mir's künftig merken. Ich weiß schon, was ich dir auch wieder zu Trotz tu', wirst dir noch die Haar' ausraufen, verlass dich drauf ... Gut' Nacht ... Was? Ich versteh' dich nicht ... Oder hast gar nichts gesagt? ... Gut' Nacht ...«

Sie horchte eine Weile und sagte dann mit weicher, bittender Stimme:

»Paul!«

Aber keine Antwort erfolgte.

Jetzt weinte sie laut und kehrte in ihr Schlafstübchen zurück.

8

Vor Friedländers Hause erschienen fast im nämlichen Augenblicke Steiner, Jeneveldt und zwei Häscher. Zu diesen Letzteren sagte Steiner: »Bleibt noch eine Weile bei Seite, bis ich Euch rufe«, dann zum Freunde Jeneveldt gewendet, fuhr er in einem früher unterbrochenen Gespräche fort:

»Nun, lieber Freund – dass ich dir weiter erzähle. Eduard von Friedländer war also seines Vaters Name, er besaß ein sehr ansehnliches Gut im Thüringischen und war geachtet und geliebt weit und breit. Da Johannes sein einziges Kind war, so wurde alle Sorgfalt und Erziehung auf ihn verwendet, er studierte auch brav und nahm sogar plötzlich den Anlauf geistlich zu werden. Das musste bei seinem Vermögen dem Vater nun freilich nichts weniger als angenehm sein, er eilte über Hals und Kopf nach Leipzig, um den Sohn, bevor dieser seinen Entschluss wirklich ins Werk gesetzt hätte, schleunigst zu sich abzuholen, gab ihm Geld, was er nur brauchen konnte, damit er sich auf Reisen zerstreue. Der Sohn Johannes ließ sich das nicht übel gefallen, durchstreifte erst das Thüringische zu Fuß, um dann die Welt außerhalb des heimischen Bodens weiter zu besehen, aber gerade auf dieser Fußwanderung durch das Thüringische geschah es, das Johannes eines Abends bei einem freundlichen Landmanne einsprach, dessen Tochter ihm so gefiel, dass er eine ganze Woche unter allerlei Vorwänden blieb und ein gar inniges Liebesverhältnis zu Stande brachte. Hierauf reiste er ab, und seine Pilgerfahrt durch Deutschland nach Frankreich und England begann. Nach Verlauf eines Jahres eilte er zurück und wollte seine Unvergessliche wiedersehen, fand sie aber verheiratet. Teils, weil das Mädchen bald genug an den Versprechungen ihres abenteuernden Geliebten hatte Zweifel aufkommen lassen, noch mehr, weil sie von einem Zustande überrascht wurde, den sie hinter einer schnellen Ehe verbergen wollte, gab sie in der Angst ihres Herzens die Hand einem Nachbarsohne so eilig. Der junge Friedländer war in Verzweiflung, seine Geliebte so unerwartet verloren zu sehen, und diese verfiel bei seinem Wiedersehen in jene Krankheit, welche sie dem Tode nahe brachte, und sie bewog, jenes verhängnisvolle Geständnis, dass der erstgeborene Knabe Paul nicht wirklich sein Sohn sei, ihrem Manne zu tun. Inzwischen war Johannes bei seinem Vater gewesen, hatte diesen sterbend gefunden und wurde einige Tage darauf Universalerbe eines bedeutenden Vermögens. Die vielen Erschütterungen trieben ihn bald abermals auf kurzen Reisen hin und her, bis er an jenem verhängnisvollen Abende, an dem der Mord geschah, seine verlorene Geliebte noch einmal zu sehen kam und – wie du bereits weißt – den Mord beging. Dem Mörder war ein Briefchen aus der Tasche gefallen, das man bei dem Leichname fand, es war von der Hand der Geliebten, worin sie ihm die Ursachen ihrer schnellen Heirat auseinandersetzte, ihm ewiges Andenken schwur, um seine Verzeihung bat, ihn um Gotteswillen beschwor, die Gegend zu verlassen, denn sie habe ihrem Manne in der Krankheit ihre Schuld bekannt, freilich ohne den Vater ihres ersten Kindes zu nennen. Es stand zwar kein Name in diesem Briefchen, aber das Briefchen selbst hatte der Wirt Tags vor dem Morde in der Hand des Friedländer gesehen ... Die übrigen richterlichen Beweise kennst du ... Nun? Du bist so stille?«

Jeneveldt hatte sich inzwischen auf die unterste Sprosse der Leitertreppe vor Friedländers Hause niedergelassen und sagte jetzt, den Kopf in die Hand stützend:

»Weiter – was ist nun weiter geschehen? ...«

»Du bist zerstreut«, erwiderte Steiner. »Du hast mir wohl gar nicht zugehört?«

»Ein Zehntel Ohr mag ich dir wohl leihen, mit dem Übrigen behorche ich meine eigenen Gedanken ... O, verschone mich lieber ganz mit deinen Erklärungen und Beweisen – lass mich – tu, was du vor dem Himmel verantworten kannst.«

Ein Geräusch unterbrach diese Unterredung; der Friedländer kehrte zurück.

Steiner ging auf ihn zu und sagte: »Seid Ihr es, Friedländer?«

Friedländer bejahte.

»So müsst ihr mir folgen und das sogleich«, fuhr Steiner fort. »Habt ihr sonst etwas an Eure Familie zu besorgen, so wird man Euch gern gewähren lassen; vor der Hand nehmt keinen Anstand, mir zu folgen.«

Lange stand Friedländer bewegungslos stille und gab auch kein Zeichen, was in diesem Augenblicke in ihm vorgehen mochte.

Dann sagte er: »Gut. Wohin soll's mit mir? Könnt Ihr Euch ausweisen, dass Ihr Vollmacht habt, mich gefangen zu nehmen?«

Steiner machte das Letztere einleuchtend genug und fügte hinzu: »Vor der Hand werdet Ihr mir in das Wirtshaus folgen, wir werden dort das Nähere bereden.«

»Wenn ich von dort meine nötigen Aufträge an meine Familie senden darf, will ich auch nicht zaudern, Ihnen dahin zu folgen«, erwiderte der Friedländer.

Man ging; Friedländer zwischen den zwei Häschern.

Ein Lärm, der sich schon vor einiger Zeit hatte hören lassen, verstärkte sich jetzt bedeutend und kam in der Richtung vom Wirtshause näher. Eine Schar Menschen war es, die den Schuster Prumler und seinen schwarzen Verfolger, den Rauchfangkehrer, von einer langen Flucht zurückbrachten. Man hatte Laternen bei sich, und es konnte nicht anders geschehen, als dass man auf den gefangenen Friedländer stieß. Das Staunen und Entsetzen aller war nicht zu beschreiben, als man den vergötterten Friedländer abermals in den Händen des Gerichts erblickte. Allein der Friedländer zeigte eine wunderbare Ruhe und sagte nur: »Seid so gut und weckt meine Familie nicht, bis morgen früh kann sich vieles ändern.«

Im Wirtshause angekommen, verlangte der Friedländer nur eine besondere Vergunst – dass er nämlich sein Tochter Lottl mit Paul, dem Pflegesohn der Nachbarin Aplon, verloben dürfe, bevor man ihn etwa wieder nach der Stadt bringe und, wer weiß wie lange, gefangen halte.

Steiner erblasste; doch zwang er sich bald einige Fassung ab und sagte: »Dieser Wunsch kann Euch erfüllet werden, Friedländer. Indessen bis es Tag wird, müssen wir schon beisammen bleiben.«

Nach diesen Worten ging Steiner eine Weile auf und nieder und trat dann mit Jeneveldt in das Nebenzimmer, wohl mit Recht besorgend, Jeneveldt würde seinen Freudenruf, der ihm schon sichtbar auf den Lippen schwebe, keinen Augenblick länger zurückhalten; denn einen herzlichen Jubel hatte ihm des Friedländers Äußerung in der Seele erregt.

Kaum im Nebenzimmer angekommen, rief Jeneveldt lebhaft aus:

»Nun, was sagst du, hochweiser Richter? Hast du den Vater jenes Burschen entdeckt und mit ihm den geheimnisvollen Mörder? Glaubst du, dass ein Vater seine eigenen Kinder mit dieser Ruhe und Harmlosigkeit ehelich zusammengeben würde? Was sind nun alle deine Beweise gegen diesen einzigen Gegenbeweis? Du bist total geschlagen! Ich bin ganz Entzücken! Lass deine zwei Krippenreiter drinnen abmarschieren und gib den Mann frei, an dem du dein ganzes Leben nicht gut machen kannst, was du ihm angetan hast!«

Steiner bot den Freund, nur Geduld zu haben und ja um Gottes willen ihm noch nicht alles zu verderben. Dann kehrte er allein zu Friedländer zurück und sagte: »Friedländer, es ist doch besser, Ihr geht noch vor Tagesanbruch nach Hause und besorgt Eure Wünsche. Mit Tagesanbruch erwarte ich Euch zurück auf Euer Versprechen hin, dass Ihr Euch einer abermaligen Untersuchung nicht durch Flucht entziehen wollet.« Friedländer sagte das zu und entfernte sich; den Häschern befahl Steine, nachzugehen und jeden möglichen Versuch einer Flucht zu verhindern.

Mit wankenden Schritten ging Friedländer seinem Hause zu und sank endlich vor demselben auf sein Angesicht nieder.

»O himmlische Barmherzigkeit«, rief er, »o furchtbares, furchtbares Los einer schuldigen Seele! ... So wird es fortgehen, die ewige Rache immer mit brennenden Ruten hinter mir her; will ich auf Augenblicke in ein kühlendes Bad der Erlösung springen – ein Ufer des Lebens muss ich doch ersteigen, wo der richterliche Argwohn wieder auf der Lauer liege, die Minuten werden immer kürzer, die mir frei aufzuatmen erlauben; es wird mir ergehen wie jenem Unglückseligen, dessen Gefängniszimmer sich immer und immer verengte; die furchtbare Erwartung, wie das noch enden soll, wird zehntausend Mal fürchterlicher sein als der Tod, als das Bewusstsein der Schuld, vielleicht als die ewige Strafe eines Mordes, den ich nicht mit Vorbedacht begangen habe ...«

Nach einer Weile fuhr er fort:

»Was? Ich soll etwa dieser Spiegelfechterei glauben, dass ich jetzt unbewacht und frei bin, weil man die Häscher wegschickt, weil mir bei Nacht und Nebel mein wütender Verfolger so viel Freiheit gestattet? Nein! Ich bin bewacht, jeder Schritt, jedes Wort, jede Miene wird aufgegriffen, heimlich zerlegt und geprüft und zu meinem Untergange bereit gehalten. Man will wissen, ob ich der Furchtbare wirklich bin, der seinen Sohn und seine Tochter wirklich ehelich zusammenzugeben im Stande ist seiner Rettung halber ... Man wird ... Horch, was ist das? ...«

Er hörte in seinem Hause ein wunderbares, sanftes, erschütterndes Weinen.

Alle Nerven erbebten ihm bei diesen Tönen; sie klangen so fremdartig, bald ferne, bald nahe.

Der Volksglaube sagt, wenn man ein solches Weinen nachts in einem Hause höre, dann bedeute es ein schweres, schweres Unglück, welches über dieses Haus bald hereinbrechen würde.

Mochte nun der Friedländer sonst derlei Aberglauben keine Bedeutung lassen, so war doch seine Stimmung in diesem Augenblicke ganz geeignet, anzunehmen, dass diese Töne von dem berühmte »Klagmütterlein« kommen und dass sie sein und seiner Familie nächstes Schicksal vorausverkünden und beweinen. Seine Seele wogte stürmisch auf, seine Sinne verwirrten sich, seine Hand war mit einem raschen Griffe an dem Seitenmesser – und es wäre um sein Leben geschehen gewesen, wäre nicht in diesem Augenblicke auf dem Balkon die geheimnisvoll Weinende erschienen. Lottl war's, die eben schluchzend heraustrat und sich auf den Querbalken des Balkons lehnte.

Friedländers neue Gefangennahme war nicht verschwiegen geblieben. Wenn auch alle Männer, denen Friedländer selbst Stillschweigen auferlegt hatte, bestens reinen Mund gehalten hätten – der Schuster Prumler war es nicht im Stande. Kaum einem Teufel der Strafe entronnen, lief er dem Teufel Plauderhaftigkeit abermals in die Arme und weckte das halbe Dorf mit »Zeter und Mordjo«. »Der Friedländer ist wieder gefangen!« scholl es bald von allen Seiten. So sehr diese Nachricht jedes Herz erschütterte, so brachte sie doch auf ein Herz eine ganz besondere, unbeschreibliche Wirkung hervor, und zwar auf das Herz Zogelmanns aus Scharlotten. Dieser war am vorigen Abende bei Friedländers Heimkehr zugegen gewesen, hatte sich unter der Menschenmenge versteckt gehalten und alles gesehen und gehört; hierauf ist er nach Scharlotten geeilt, ohne aber vor heftiger Aufregung dort lange zu verweilen. Die halbe Nacht durchkreuzte er nach allen Richtungen wie ein Flüchtiger die Gegend und kam dem Dorfe Küssüben in dem Augenblicke näher, als sich das betrübende Gerücht von Friedländers neuer Gefangenschaft verbreitete. Bei dieser Nachricht schwindelten alle seine Sinne, und mit den Zügen völliger Verwilderung stürmte er nach dem Wirtshause und gab sich als den gesuchten Mörder an.

Zogelmann sagte aus, in jener Nacht, in welcher der schwergeprüfte Friedländer den Mord begangen haben sollte, sei allerdings zwischen diesem und dem Ermordeten ein heftiger Streit und ein gefährliches Handgefecht im Freien und ohne Zeugen vorgefallen, der Friedländer sei Sieger geblieben und habe seinen verwundeten Gegner auf dem Platze zurückgelassen, ohne zu wissen, sei er tot oder nur schwer beschädigt. Bald darauf aber sei Zogelmann vorübergekommen und habe ächzen und um Hilfe rufen gehört, habe gefragt, was es gebe, und aus der schwachen Antwort nur so viel erkannt, dass sein größter Feind, den er schon von seiner Knabenzeit her auf das wütendste gehasst und verfolgt habe, vor ihm da liege und nun ganz in seine Hände gegeben sei. Dem ersten tollen Wutanfalle gehorchend, habe er sich nicht lange bedacht und seinen hilfeflehenden Feind vollends getötet. Nach dieser furchtbaren Tat sei er entflohen und habe bisher jeden Schein dieser entsetzlichen Schuld auf das beste fern von sich zu halten gewusst. Als ein unruhiger, schuldiger Mensch sei er ebenfalls aus Thüringen gegangen, habe seitdem hier den Mitmenschen auf jede Art sehr arg mitgespielt, in seinen abscheulichen Taten habe er Betäubung auf Betäubung gesucht, und zwar mit vielem Glücke, bis ihn des Friedländers Musterleben und endliche Leidensgeschichte aus aller Fassung gebracht und mit seinen eigenen Waffen geschlagen habe. Es sei ihm nicht länger mehr zu leben möglich, fügte er hinzu, man möge ihm nur des Friedländers Versöhnung verschaffen und dann mit ihm machen, was man wolle. Zuletzt erklärte er noch einen sehr wichtigen Umstand. Unter den Streichen, die er gegen seinen erschlagenen Feind schon früher geführt zu haben eingestand, war auch der, dass er bei der ersten Niederkunft seines Weibes die Wehmutter bestochen hatte, um sie zu einer Verwechslung zweier neugeborener Kinder zu vermögen, und dass also Paul nicht ein verwandtes Kind aus Thüringen sei. – Friedländer wurde sogleich nach diesem Verhöre zurückgerufen. Man traf ihn noch vor seinem Hause und in einem Zustande, der nichts weniger als Selbstvernichtung besorgen ließ. Die wunderähnliche Eröffnung, welche ihn nicht nur von aller Anklage, sondern auch wirklich von aller Schuld lossprach, wirkte anfangs nur betäubend auf ihn und wollte kaum Eingang finden in sein ungläubiges Herz. Dann aber verschlug es ihm alle frohe und betrübte Sprache, und er sank nur schwerfallend auf einen Stuhl zurück und weinte wie ein Kind ...

Erst die nächstwichtige Nachricht, dass Paul nicht sein Sohn sei, erinnerte ihn recht lebhaft, wie sehr sein ganzes Haus an seiner Freude teilzunehmen Ursache habe; er sprang auf und erbat sich, nach Hause eilen zu dürfen, er wolle bald wiederkommen.

Er eilte fort, und sein Weib öffnete eben mit lautem Jammer die Haustüre, als er davor ankam; sie wollte nach dem Wirtshause eilen, wo ihr Friedländer aufs Neue gefangen sein sollte, denn die Lottl hatte die Schreckenskunde vom Balkon aus gehört und der Mutter gesagt.

»Still, still, mein liebes, gutes Weibchen«, sagte er und lag ihr mit einer krampfhaften Umarmung an dem Halse.

»Man hat dich wieder gefangen, wieder gerichtet?« schrie die Friedländerin nach einer Pause laut auf.

»Nichts, nichts, mein süßes Weibchen«, erwiderte der Friedländer. »Alles ist schon wieder vorbei und aus. Du siehst, ich bin frei und halte dich in den Armen. Jetzt wird uns in Ewigkeit nichts mehr trennen, kein Gericht auf Erden und im Himmel!«

Jetzt kam die jammernde Lottl dazu und Michel, der Oberknecht, die Nachbarin Aplon und nach und nach eine lärmende Schar Menschen von allen Seiten des Dorfes. Entsetzen und Jubel mengten sich bald lebhaft durcheinander, als man schnell hinter der Trauerpost die Nachricht von der Befreiung und Rettung Friedländers vernahm.

Am folgenden Tage hatte man auch den fortwandernden Paul wieder zurückgebracht, und er konnte wohl von seinen Erlebnissen später nicht sagen, dass er vom Regen in die Traufe gekommen sei, denn auf jene Unglücksnacht folgte bald die Hochzeit mit Lottl, und Lottl war für die ganze Lebenszeit eine liebe, milde, wohltätige Sonne seines Lebens; es muss also heißen: Vom Regen in Sonnenschein. ...

*

Hier brechen wir ab und sehen uns wohl später wieder einmal nach unseren liebgewordenen Leutchen um. Es wäre hier eigentlich noch viel zu sagen und zu erzählen, aber noch mehr zu denken. Das geht aus den lebhaften, langen Gesprächen hervor, welche Steiner und Jeneveldt bis zu ihrer Abreise unterhielten.

Zogelmann ging seinem unvermeidlichen Schicksale entgegen; der Friedländer ließ dessen zerstreute Familie aufsuchen und sorgte für sie; auch seinen eigentlichen Unglückssohn fand der Friedländer in Thüringen wieder, und Pauls Eltern waren hoch erfreut, an diesem glücklichen Jungen ihren eigentlichen Sohn zu finden.

Wenn es das Schicksal am Ende nur gut macht, so vergibt und vergisst man alles wieder von Herzen und ruft mit Freuden: »Gelobt sei Der und Der!«


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