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Sechstes Kapitel

In einer sehr belebten Straße der Hauptstadt, dort im fünfstockhohen, gelbangestrichenen Hause mit dem halbgeschlossenen, schweren Torflügel (ein grimmiger Leuenkopf apportiert einen schweren messingenen Ring im Munde) dort also, vier Treppen hoch, wohnte um jene Zeit eine vielberühmte Lenkerin von Mädchenschicksalen unter dem Namen einer Dienstzubringerin, ihres Familienzeichens Antonia Barbara Eulalia Zeltl.

In ihrem großen Vormerkbuche standen in erster Linie die verlassenen und also wieder zu besetzenden Dienststellen der Hauptstadt, in zweiter Linie die angekommenen und vorgemerkten Rekrutinnen, welche in die verlassenen Posten einzumarschieren Lust und Übung genug hatten.

Antonia Barbara Eulalia Zeltl, von den Mädchen der Kürze halber gewöhnlich nur Mutter Eulalia genannt, war eine Frau von etlichen und vierzig Jahren, gutbürgerlichen Umfangs und Aussehens, ihres hohen Berufes mit Würde und Behagen sich bewusst und in Bezug auf Schärfe des Blicks und Geschäftsumsicht wahrhaft ohne Gleichen.

Es war durchaus unmöglich, dass für die Dauer der Eulalia Zeltl'schen Regierungsperiode im ganzen Bereich der Hauptstadt eine konkurrierende Brotschwester auch nur kümmerliche Geltung errang, da in ihren Händen wie in den erhabenen Händen einer Monarchie alle Fäden der lenkenden Gewalt zusammen liefen und ihr stets wachsamer und schlagfertiger Geist nach allen Richtungen bis zu den äußersten Punkten der Vorstädte gerüstete Kuriere und vertraute Legationen unterhielt.

So blieben alle neu aufstrebenden Mitbewerbungen fruchtlos, und heimlich wuchernde Nebengeschäfte wurden erdrückt oder in ganz unschädliche Grenzen zurückgedrängt.

Die nach Diensten und Verdienst suchenden Scharen von Mädchen, überwältigt von dem großen Ruf Mutter Eulalias und gelockt durch den Gedanken, dass dieselbe in Verbindung stehe mit hohen und höchsten Herrschaften, mit Frauen aller Ämter und Geschäfte, ließen auch gern und freiwillig alle Nebenwege bei Seite und gingen die goldene, breite Heerstraße zur allwissenden Lenkerin ihrer Geschicke, und so kam es, dass kein Tag verging, ohne hoffende Herzen in großer Anzahl vor dem Throne der königlichen Mutter Antonia Barbara Eulalia Zeltl zu versammeln.

Man – d. h. Mutter Eulalia hatte aber auch gesorgt, dass eine Audienz bei ihr den gehörigen Eindruck machen musste.

Wie wir angedeutet, wohnte sie zwar im vierten Stockwerk, also etwas hoch in der Schneeregion für aristokratischen Niederlassungen, aber es schien nur darum zu geschehen, um die »Antichambre« von der Vorhalle aus vier Treppen abwärts bis in den Hofraum zu erweitern, was denn in der Tat auch manchmal dringendes Bedürfnis war.

Die eigentlichen Audienzen begannen und dauerten von sieben bis zwölf Uhr vormittags und von zwei bis fünf Uhr nach Tische.

Zwischen sechs und sieben Uhr morgens füllte sich nun, keineswegs geräuschlos, die Vorhalle der Mutter Eulalia mit allerlei Jugend und Schönheit an, und es fehlte selten an einem unruhigen Anhange, der wie der Zopf eines Cholerikers wenigstens die erste Treppe hinabhing und lebhaft hin und wider zuckte.

Um drei Viertel auf sieben Uhr wurde ein Türflügel halb geöffnet, der von der Vorhalle aus den verwegenen oder schüchternen Blicken der Mädchen das allerliebste Innere eines Bureaukabinetchens zeigte und von da wieder durch eine ganz offene Flügeltüre in ein großes, reich möbliertes Wohnzimmer sehen ließ, wo denn Ihre mütterliche Majestät Antonia Barbara Eulalia Zeltl, im hochlehnigen und rotsamtenen Armstuhl ruhend, das »Blättchen« las und all' die pittoresken Gesuche, Geschäftsanzeigen, Ausverkäufe, wegen unverhoffter Abreise äußerst billig zu verkaufenden Möbel, Häuser und rentablen Geschäfte, ernsthaft durchstudierte.

Nur wenn da und dort in einem Winkel des Blättchens ein solides, mit guten Zeugnissen versehenes Mädchen sich hohen und höchsten Herrschaften selber anempfahl, verdüsterte sich Mutter Eulalias Blick, und sie notierte sich den frechen Flüchtling, um ihn gelegentlich den Arm ihrer Gerechtigkeit fühlen zu lassen.

Schlag sieben Uhr wurde das Blättchen bei Seite gelegt, der letzte Schluck Kaffee aus der Tasse getrunken, aufgestanden und nach einem langen Seitenblicke in den Spiegel ernsten Matronenschrittes nach dem Bureaukabinet gegangen.

Mutter Eulalia vereinigte in ihrem Wesen Stolz, Ernst, ja selbst Härte, aber es fehlte ihr auch nicht an wahrer Güte und wahrhaft mütterlicher Milde, wenn ihr in guter Stunde ein rechter Anlass dazu wurde.

Als heute den 1. Mai Mutter Eulalia in das Bureaukabinetchen trat und die beiden Türflügel des großen Wohnzimmers langsam hinter sich zuzog, da flogen vor ihr, wie gewöhnlich, die Tore der Hoffnung in hundert Mädchenherzen weit und auf einmal auf.

Es entstand ein Gemurmel und ein Gewoge in der Halle, dass es schien, es solle ein scharfes Wettrennen nach dem Glücke beginnen.

Antonia Barbara Eulalia Zeltl, solche Auftritte im Kreise ihres Regierungs-Appartements gar wohl gewohnt, nahm das dumpfe Drängen der Versammelten schweigsam hin und ließ sich auf den Stuhl am Schreibtisch nieder, wo sie stets als Schicksalslenkerin zu sitzen pflegte.

Das Gedränge der Versammlung wurde heftiger, und die ganze Kraft des Nachschubs schien sich auf zwei Vorderwellen zu werfen, wodurch diese bis ins Kabinetchen geschlendert wurden. Zwar flossen sie gleich wieder ins Becken der Vorhalle verlegen zurück, allein sie ließen doch im Kabinetchen der Mutter Eulalia eine Perle zurück – wenn auch eine falsche Perle – und diese Perle war niemand anders als die uns wohlbekannte Fähringer-Toni.

Sie hatte sich als wohlerfahrene Führerin der Landsmänninnen diesen Morgen bei Zeiten vor Mutter Eulalias Türe eingefunden und an der Spitze ihres Anhangs diesen Posten bis zur Stunde wohl behauptet.

Der Zufall, welcher sie nun mit einem Male glücklich bis an das Kabinetchen der Schicksalskönigin vorangestoßen, kam ihr gar nicht ungelegen, und halb verwirrt, halb zuversichtlich erwartete sie den Wink, der sie zum Schreibtisch rufen sollte.

Mutter Eulalia hatte indessen behäbig die Tinte umgerührt, die Feder geprüft, ihr Schicksalsbuch aufgeschlagen; jetzt rückte sie nur noch eine Weile am Armband, drehte sich ernsten Blickes nach der Türe und wollte winken.

Sie unterließ es aber, da ihr die Fähringer-Toni bereits zu nahe gekommen war.

Indem sie nun fragte: »Wer bist du? Was willst du?« fiel ihr Blick durch die Türe nach der Vorhalle und lief über die gedrängten Köpfe der Mädchen anfangs unbestimmt und nur die Zahl der Mädchen im Allgemeinen prüfend dahin; sonderbarer Weise wurde ihr Blick auf einmal unbeweglich und haftete verwundert auf einer fernen Stelle in der Halle. Es dauerte nicht lange, so drehten sich alle Köpfe auch zurück, und aller Augen suchten nach der Stelle, welche die Mutter Eulalia so gar besonders zu fesseln schien.

Die Stelle und der Gegenstand waren bald und leicht gefunden.

Denn dort, ganz im Rücken der Versammlung, auf einem Säulenpiedestale der Treppe, stand einsam, stille und bescheiden ein junges Mädchen von solcher Schönheit, dass es niemand ohne Überraschung, Freude und Rührung erblicken konnte. Das Mädchen war in Gedanken, sah vor sich nieder und ruhig verzichtend auf das Glück, die erste oder zehnte im Kabinetchen der Mutter Eulalia zu sein, hatte es auch nicht den fernsten Gedanken an die Möglichkeit, vor Verlauf einiger Stunden bemerkt zu werden.

Das Mädchen war Schön-Minnele.

Jetzt erhob sich Mutter Eulalia von ihrem Sitze, trat verwunderten Angesichts bis an die Türe der Vorhalle, sagte zu den Mädchen draußen: »Macht Platz für jenes Kind dort an der Säule«, und winkte Schön-Minnele zu sich herbei.

Es entstand sogleich einen schmale Bahn zwischen den Mädchen; aber Schön-Minnele merkte nicht sogleich, dass sie das Ziel so vieler Augen sei, ja dass sie die Neugierde und Bewunderung der königlichen Mutter Eulalia auf sich gezogen habe.

Erst durch ihre nächste Umgebung an Händen und Schultern berührt, erhob sie ihre klaren, blauen Augen und wurde nicht wenig verwirrt über alles, was sie sah und hörte.

Blass und zu Tod erschrocken, stieg sie jetzt vom Piedestale und ging unsicheren Fußes, ihr schneeweißes Bündelchen in der Hand, die schmale Bahn entlang zur Mutter Eulalia ins Kabinetchen.

Diese schien die Majestät ihrs Amtes über Minneles Betrachtung ganz zu vergessen, trat ihr zwei Schritte entgegen, nahm sie freundlich an der Hand und führte sie mit den Worten an den Schreibtisch:

»Ei, mein Kind, du sollst mir nicht so lange vor der Türe warten!«

Dann ließ sie sich am Schreibtisch nieder, legte ihre linke Hand aufs große Buch, und mit der rechten Minneles Hand mit Wärme haltend, fuhr sie fort:

»Wie heißest du? Woher kommst du? Wem wünschest du zu dienen, liebes Kind?«

Minnele nannte etwas stockend, sonst aber ziemlich gefasst, ihren Namen, ihre Heimat und fügte hinzu, dass ihr jede Arbeit recht sei, die sie haben könne.

Mutter Eulalia blieb eine Weile schweigend und in Minneles Betrachtung versunken, dann sagte sie mit stiller Rührung:

»Weißt du auch, dass mir mein einziges Töchterlein gestorben ist, welches dir ähnlich gesehen hat? O, wäre mir das noch am Leben!«

Sie blickte einige Augenblicke bei Seite, dann fuhr sie, rasch wieder zu ihren Geschäften übergehend, fort zu fragen, was Minnele für Arbeite verrichten könne, was sie bisher gearbeitet, gelernt und getan habe.

Minnele gab aufrichtig an, dass sie zum ersten Male in die Hauptstadt kommen und leider zu den meisten Arbeiten mehr guten Willen als Geschick mitbringe, darum wolle sie auch gerne annehmen, was sich Annehmbares biete.

Mutter Eulalia schlug ihr großes Schicksalsbuch auf und suchte mit großem Eifer nach zu vergebenden Stellen; nicht zufrieden mit einer derselben, notierte sie drei besonders günstige auf ein Papier, richtete sich dann empor, übergab sie Minnele und sagte warm und freundlich:

»So, mein Kind; behält man dich in einem dieser Häuser, so bist du wohl gehalten und geborgen. Geh' denn hin, versuch' dein Glück und sag', dass ich dich sende!«

Minnele reichte ihr, befangen und dankbar lächelnd, ihre rechte Hand, sprach auch ein leises Wort des Dankes und ging, nicht ohne verwirrt und gerührt zu sein, an der wütenden Fähringer-Toni vorüber und draußen durch die erstaunte Schar der Mädchen. Schon über einige Stufen der Treppe hinunter gekommen, hörte sie noch die Stimme der nachrufenden Mutter Eulalia sagen:

»Minnele Büchler, du wirst dich wohl noch einmal bei mir sehen lassen?«

Minnele antwortete schnell bejahend zurück und eilte dann, sie wusste selber nicht warum, schnell die Treppe hinunter und frohen Herzens davon.

Indem sie der ersten Adresse auf dem Zettelchen nachging, sah sie schon im Geiste, was sie ihrer Mutter Freudiges heimschreiben werde: wie sie am ersten Tage gleich ein gutes Haus gefunden und sie sie Gott von ganzem Herzen danke und vom ersten Lohn der Mutter gleich so viel als möglich schicken wolle.

In dem Bureaustübchen der Mutter Eulalia aber ging es von jetzt an seinen gewöhnlichen Geschäftsgang weiter.

Nach Minnele wurde die Fähringer-Toni vorgerufen und ausgefragt.

Diese wusste freilich ganz anders Rede und Antwort zu geben; ihr früherer Aufenthalt in der Stadt, ihre Erfahrungen im Dienste, ihre Geläufigkeit, nach der Schrift sich auszudrücken, das alles kam ihr nun gar wohl zu statten.

Hätte sie, wie große Parlamentsredner, verstanden, im rechten Augenblicke aufzuhören, so wäre ihr das Vertrauen der Mutter Eulalia wahrscheinlich nicht entgangen, allein da fing es an zu hapern.

Bemerkungen wie diese, dass sie nicht wie manche Landpomeranzen in die Hauptstadt komme, keinen Handgriff hin und keinen her verstehe, auch nicht einmal zwei baumgerade Worte zu reden wisse, solche Überfluss- und Ausfallsreden machten die Mutter Eulalia bald aufmerksam und zweifelhaft zu Tonis redlichem Charakter; sie schwieg daher, in der Absicht, dass die wortreiche Selbstlobrednerin noch mehrere Charakterblößen sehen lasse, und das geschah denn bald; aber nicht genug, sich selbst so sehr herausgestrichen und dann ihre Freundinnen empfohlen zu haben, verstieg sie sich immer hitziger auch zu Ausfällen – gegen Schön-Minneles ehrbares Wesen!

Mutter Eulalia tat, als merke sie die Stiche nicht, winkte mit der Hand zum Zeichen, dass es genug sei, schrieb eine Adresse auf ein Blatt und dachte:

»Ich will dir einen Dienst geben, wo man dich die rechte Lebensweise lehren wird.«

Toni Fähringer legte ihr Geldstück auf den Tisch und ging; von Triumph in allen Mienen strahlend, schritt sie durch die Vorhalle und die Treppe hinunter davon.

Auf der Straße stehend, las sie die Adresse ihres Zettels und ging dann weiter durchs Gewühl der Menschen.

Auch sie dacht schon an einen ersten Brief, den sie nach Hause schreiben wolle; darin sollte nicht nur ihres großen Glückes bei der neuen Herrschaft Erwähnung geschehen, es sollte jedenfalls auch angegeben sein, wie viel höher ihr Lohn stehe als der Lohn der übrigen Landsmänninnen – und Schön-Minnele betreffend, sollte berichtet werden, sie scheine trotz ihrer unverschämten Zudringlichkeit allüberall eben kein rechtes Glück zu machen; denn der Himmel kenne seine Leute wohl, und ob man die Augen niederschlage und vor den Leuten kaum sieben zählen könne, so sei es doch gar seltsam, dass man, kaum die Heimat im Rücken, schon mit fremden Herren im Reisewagen anbinde, mir nichts dir nichts Goldstücke von denselben nehme, mitten auf der Wanderung allein zurückbleibe, in der Hauptstadt allein unter fremden Menschen Nachtquartier nehme und so weiter.

Justus Erdlein, das Blaumeisle, anbelangend – nun so könne sie nur sagen, dass er alt und wunderlich geworden, dass seine Zeit vorüber und seine Aufsicht kein Stück Katzengold mehr wert sei.

Also in Gedanken das Konzept des Briefes entwerfend, ging die Fähringer weiter und kam in der Liebfrauenstraße vor das Haus, wo nach der Bezeichnung im zweiten Stock die Herrschaft wohnte, bei der sie Dienste nehmen sollte. ...


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