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Viertes Kapitel

Der Tag ging ohne weitere Abenteuer vorüber.

Indessen schien es, dass auch schon dies einzige Abenteuer im Stande war, die Wanderer denselben und den folgenden Tag zu beschäftigen.

Wenigstens ließ es die Fähringer-Toni an den seltsamsten Bemerkungen gegen ihre Vertrautesten nicht fehlen; auch jene unter den Mädchen, welche bisher allen Bestrebungen der Eifersucht und des Zwistes ferne geblieben waren, versanken in wehmütige Betrachtungen über das reiche Geschenk der Schönheit, die nur zu erscheinen braucht, um alle Augen auf sich zu ziehen, allen Herzen wohl zu tun; vor ihrem Zauberwinke öffnen sich die Schranken des Glückes wie geflügelt.

»Warum bin ich nicht geworden wie dieses Minnele?« schloss so manches der Mädchen im Stillen die Betrachtung.

Erdlein, das Blaumeisle, hatte bald nach dem Abenteuer einen günstigen Augenblick ersehen, um sich an Minneles Seite zu nesteln und ihr zu gestehen, was der Fremde im Wagen gesagt und gefragt hatte.

»Der fremde Herr«, sagte er aufrichtig, »hat mich gefragt, wo wir in der Stadt Quartier nehmen werden, und ich hab's ihm in aller Eil' gestanden; hab' ich Unrecht getan, so müssen wir anderswo unterkommen, der Herr mag suchen, wo er will.«

Minnele war scheinbar ruhiger geworden; ein Schatten von Traurigkeit lag auf ihren Mienen.

Sie sagte eine Weile nichts, dann schüttelte sie leise den Kopf und erwiderte nur:

»Ihr und die andern könnet hin, ich will mir schon meine Schlafstelle suchen.«

Was nun Erdlein weiter redete, das überhörte sie ganz und gar.

Der Gedanke an ihr Schicksal in der Fremde war es, der von jetzt an neben dem Schmerz ihres Abschiedes beinahe ausschließend ihr Herz beschäftigte.

Hatte sie nicht eben, kaum eine Meile von der Heimat, wieder erleben müssen, dass ihre Schönheit ein Magnet für Versuchungen sei?

Welche Erfahrungen standen ihr bevor, und auf welche Mittel der Abwehr sollte sie denken?

Sie verließ sich auf ihr Herz; kam es ja eben erst gestählt durch Weh und Liebe auf den großen Schauplatz der Gefahren.

Um ihren ernsten Gedanken nicht allzu anhaltend nachzuhangen, hatte Minnele im Lauf des Tages wiederholt sich zu den übrigen Mädchen gesellt und bald bloß hörend, bald auch mitredend am Gespräch teilgenommen.

Sie wurde immer herb und sichtbarlich verlegen aufgenommen; auch schien, sooft sie kam, der Faden des Gespräches, den hauptsächlich die Fähringer-Toni spann und leitete, zufällig zu reißen; denn es wurde plötzlich stille, und wie durch Geisterhand verwirrt, schien niemand recht zu wissen, was zu sagen sei.

Im Ganzen merkte Minnele auch bald, dass etwas gegen sie im Werke sei; die Zeichen und Winke, welche dies verrieten, konnten nicht als seine Verständigungen gelten.

Minnele nahm die Entdeckung dieser kränkenden Begegnung schweigsam hin.

»Ein Leides mehr, das mir begegnet«, dachte sie wehmütig; »Mutter und Heimat und ihn habe ich schon verlieren müssen, was hab' ich ihnen getan, dass ich die auch so verlieren muss?«

Sie beschloss, da man sie gerne außerhalb ihrer Gesellschaft sah, sich freiwillig zu verbannen und für die Dauer der Reise ferne zu halten.

Diesen Entschluss führte sie ohne Aufsehen strenge durch und wusste immer eine sanftmütige Ausrede, wenn dann und wann die spöttelnde Frage war, warum sich Minnele so rar mit ihrer Nähe mache.

Justus Erdlein hatte der Spannung auch bald auf den Grund gesehen; er wusste nur nicht sogleich, wie der Unheil steuern.

Jede Parteinahme für Minnele hätte den heimlichen Krieg zur offenen Feldschlacht vergrößert und Minneles Lage auch nur um eine Verlegenheit zu verschlimmern, hätte ihn schlimmer gedünkt als zehn verlorene Schlachten.

Also schwieg er und gedachte Minnele für jede Kränkung, die sie jetzt erlebte, in der Stadt zu entschädigen.

Auch unter den Mädchen neigte sich hier und dort ein Herz auf Seite Minneles; man hätte gern alle Parteilichkeit verbannt gesehen, allein die Fähringer-Toni übte von Stunde zu Stunde strafferen Einfluss aus.

Wohlgeschnäbelt, wie sie war, hatte sie bald dem Justus Erdlein das Wort entrissen, wusste durch Witz und Laune zu unterhalten und als Erfahrene ein Ansehen zu behaupten, denn sie war schon einmal in der Stadt gewesen; ein anderer Umstand kam ihr noch mehr zustatten.

Sie war unter den Armen die Reichste.

Manches der Mädchen konnte auf der letzten Strecke Weges, während der letzten Stunde verdienstlosen Zuwartens in der Stadt in die Lage kommen, ein Stück Brot, einen Groschen Geld von der reicheren Armen zu erbitten, und so fiel man willig oder nicht der Fähringer-Toni zu, namentlich seitdem das Geldstück des Fremden heimlich als »Sündengeld« gebrandmarkt worden, blieb kein anderer Ausweg übrig; Minnele war und den Armen die Ärmste.

Leider werden die Menschen mit ihren Einteilungen in Reiche und Arme niemals fertig.

Die Millionäre unter sich haben ein Oben und Unten, die Wohlhabenden sehen ihr Oben und Unten, und auch die Ärmsten zählen wieder als Reiche und Arme. Und was das Schlimmste dabei ist: der allerärmste Reiche missbraucht nicht selten die Macht seiner äußeren Mittel ebenso zu unedlen Zwecken als er Reichste unter den Reichen. ...

Die erste Tagereise, das erste Nachtquartier und die Hälfte der zweiten Tagereise waren endlich überstanden; nach einigen Stunden Wanderung sollte das letzte Nachtquartier bezogen werden.

Man konnte unter dem Anhang der Fähringer-Toni eine lebhaftere Bewegung wahrnehmen als sonst, ein Zeichen, dass ein geheimes Vorhaben endlich reif geworden.

Justus Erdlein horchte und trabte ängstlich zwischen Minnele und den übrigen Mädchen umher, er hätte allzu gerne ein Schlagwort abgelauscht, um seine holde Schutzbefohlene, Schön-Minnele, vor den Gefährtinnen rechtzeitig zu warnen, allein er horchte und trabte vergebens.

Minnele hingegen wich gerade um der Geheimtuerei willen noch um einige Schritte weiter von den Mädchen; ihr Wunsch war: der siegreichen Feindschaft ja keine betrübte Miene zu zeigen, ja kein Hindernis in den Weg zu legen; überhaupt lieber in Gottes Namen zu tragen, was kam, als zu stören, was kommen sollte.

Endlich erreichte man das Nachtquartier.

Die Fähringer-Toni setzte sich mit ihrem Anhang dicht um einen kleinen Ecktisch in der Wirtsstube, führte aufs Lebhafteste das Wort und bewachte mit ihren scharfen, schwarzen Augen die Genossinnen, auf dass sich ja kein Zeichen des Mitleids zu Minnele dort im Winkel hinüber flüchte.

Dafür speiste die Fähringe-Toni ihre »lieben Raben« auch anstandsmäßig. Sie ließ für alle einen großen Topf Suppe bereiten und schob einer jeden Kameradin noch besonders ein Stück ihres besseren Gebäckes hin.

Erdlein, schon durch die leidigen Erfahrungen des Tages empfindlich berührt, schien durch diese herzlose Ausschließlichkeit der Mädchen ganz um die Fassung zu kommen.

Er stolperte nach der Wirtsküche und befahl den besten Braten herzurichten, der im Hause sei; dann trabte er wieder nach der Stube, und hier auf und nieder und vor Minnele hin und sagte:

»Unsers wird auch gleich kommen, ist schon angefriemt, o sei nur ruhig, Minnele!«

Ohne Minneles Antwort abzuwarten, ohne einen Blick auf Minneles ruhig nachdenkliches Gesicht zu werfen, ging er wieder hinweg und durch die Stube hin und her, als wüsste er nichts von Wandermüdigkeit und Sehnsucht nach Ruhe.

Er hielt bei dieser Stubenwanderung zugleich eine wehmütige Freudenernte.

Der Wirt, die Wirtin, ihre Kinder, alle Gäste an den Tischen steckten vor heller Verwunderung die Köpfe zusammen uns sahen nach dem schönen Mädchen, das einsam und stille in der Stubenecke saß, als habe es kein Recht auf ein Plätzchen unter Dach, ja nicht einmal ein Recht auf Luft und Leben.

»So was ist nicht ersehen noch«, hörte Justus Erdlein sagen: »Ich muss mich pur verschauen – Die nimmt mir Aug' und Ohr mit fort, und das Beste vom Herzen auch! Da sieht man augenscheinlich, die Engel sind noch nicht ausgestorben!«

Wie das dem Erdlein wohlig durch die Seele drang!

Er ließ sich gerne als den glücklichen Hirten und Behüter dieses goldigen, goldigen Schäfleins betrachten. Als ihn gar einer der Wirtshausgäste, seines Zeichens ein wohlhabender Pächter, am Ärmel zog und ihn leise fragte: »Seid ihr etwa der Vater von dem wunderschönen Kind?« da konnte er nicht umhin, den Neugierigen eine Weile im Glauben zu lassen; er hob den Kopf, als wäre draußen vor dem Fenster etwas Ungewöhnliches zu sehen, verzögerte so die Antwort und sagte dann nach einer Weile erst:

»Wie? Mein eigen Kind? ... Das eben nicht. Aber verwandt – wie Bruderskind verwandt – etwas dergleichen – ja.«

Von Minneles Schönheit unwiderstehlich angezogen, konnte die Wirtin nicht umhin, mit einem Knäblein auf dem Arme hinzutreten und die Verlassene freundlich anzusprechen.

Sie fragte sie um Heimat, Eltern, Ziel und Zweck der Reise, und Minnele gab einfache, klare, verständige Antworten.

»Sie ist noch schöner, wenn sie redet«, sagte die Wirtin leise über ihre Schultern zurück, da sie den Atem von jemandem in ihren Nacken spürte.

»Ja, lass sie bei uns bleiben, wir nehmen sie an Kindesstatt an«, erwiderte die Stimme des Wirtes.

»Bist du's?« sagte die Wirtin lachend und halblaut: »Ja, ja, wir hätten dann ein schönes Kind und einen großen Narren mehr im Haus!«

Hinter dem Wirt und der Wirtin hatten sich bald auch einige Gäste genähert, und alles schien nur Ohr und Auge für Minneles Erscheinung und ihre Stimme zu sein.

Diese holde Allmacht Minneles regte nun den Neid und Zorn ihrer Gegnerinnen von Neuem auf.

Die Fähringer-Toni spielte alle Farben, und ihre Freundinnen vergaßen sich bis zu recht auffällig spöttischem Gelächter.

Als nun gar die Wirtin sich nach Minneles Hunger erkundigte und sie einlud, mit ins Nebenstübchen zu treten, wo eben ein Nachtessen aufgetragen wurde, da war Minnele unrettbar in Acht und Bann getan und ihre Nähe außer Gesetz erklärt; Minnele aber, durch die wiederholten Bitten der Wirtin und ihrer Kinder bestürmt, folgte endlich willig zu dem Abendtisch; sie fühlte wirklich Hunger und entging wo den Anzüglichkeiten der sauberen Landsmänninnen.

In Folge dessen sollte Justus Erdlein, das Blaumeisle, den Verschworenen gegenüber in eine unliebsame Lage kommen.

Denn Minnele war mit der Wirtin kaum ins Nebenzimmer verschwunden, so erschien er zwischen der Küchentüre, mit den Augen seinen »Engel« suchend, in selbsteignen Händen ein Ungeheuer von Kalbsbraten haltend.

Ein Homerisches Gelächter empfing ihn; denn eine solche Hohnableitung ihres Zornes war den verschworenen Mädchen nur erwünscht.

Der betroffene Justus tat unter solchen Umständen dem Triumpf seiner Mienen Einhalt, blieb eine Weile zögernd auf der Türschwelle stehen und suchte den Grund des lärmenden Gelächters auszufinden.

Da musste auch noch geschehen, dass er aus Verwirrung einen Teil der Bratenblühe über seine Knie schüttete; das Gelächter brach mit vereinten Kräften aufs Neue los, und eine Stimme rief:

»Was Zeisle nicht will, frisst dem Meisle sein G'still!«

In diesem Augenblicke entdeckte der arme Justus Minnele in der Nebenstube essend am Tisch der Wirtsleute, im Nu ermaß er die ganze Tragweite seiner Lage, schwenkte rechts, verschwand wieder in der Küche und kam nicht früher wieder zum Vorschein, als bis es in der Stube etwas ruhiger geworden und der verhängnisvolle Braten von ihm eigenhändig bis auf die letzte Faser überwunden war; – das bewusste Goldstück erlitt allda die erste silberne Verwandlung.

Nach einer halben Stunde waren die Abendspeisungen allseitig vorüber; die Wirtshausgäste verschwanden, und Minnele kam mit der Wirtin aus der Nebenstube wieder zum Vorschein.

Letztere trug ein weißes Kopfkissen und sagte im Hereintreten:

»Du darfst mir nicht auf dem bloßen Stroh daliegen!«

Es wurden nun der Reihe nach Stühle umgelegt, und man bereitete für die Mädchen ein langes, gemeinsames Strohlager in der großen Stube; Justus Erdlein wurde hinaus in den Stall geführt, um in der Nähe der Knechte sein müdes Haupt zu Ruhe zu legen.

Die Nacht verging sehr ruhig, denn es stürzten sich alle Sinne der wandernden Gesellschaft erschöpft in die ersehnten Arme der Ruhe und des Schlafes; – aber am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, sollte sich zeigen, mit welchen bösen Gedanken sich die verschworenen Mädchen schlafen gelegt hatten.

Denn als Minnele um drei Uhr morgens erwachte, sah sie sich allein auf dem großen Strohlager liegen, alle Übrigen waren eine Stunde früher geräuschlos aufgestanden und davongegangen; – sie hatten auch den Justus Erdlein geweckt und mitgenommen unter dem Vorgeben, Minnele sei bereits vorausgegangen, höchst wahrscheinlich ungehalten über manchen Scherz des vergangenen Tages. ...


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