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Erstes Kapitel

Ostern war vorüber.

Im Kalender stand: die Witterung bleibt heiter und trocken, und die Wärme nimmt bei Ost- und Nordostwinden zu.

Es war also Hoffnung, dass die Frühlingsarbeiten überall im Gange sein und ohne Unterbrechung dauern würden.

Das war die Zeit, wo alljährlich die ärmere Jugend des Dorfes sich zur Wanderung nach der Hauptstadt schürzte, um die Dauer dreier Jahreszeiten zum Erwerben zu benutzen für den Winter des Jahres und des Lebens überhaupt.

Dort unter den vier Linden, nicht weit von der Kapelle, stand daher am 27. April eine Schar junger Mädchen wanderfertig mit Bündelchen auf den Rücken und nur eine Gefährtin für die Reise noch erwartend.

Doch ließ die Letztere lange auf sich warten.

Dies brachte Unruhe unter die Mädchen, sie steckten die Köpfe zusammen, flüsterten Verdrießliches und Besorgnis durcheinander – bis man Schritte hörte, eine klagende Mutterstimme vernahm und gleich darauf die Erwartete aus dem kleinen Hause in der Nähe kommen sah.

Der Anblick der Nahenden machte augenblicklich alles unmutige Geflüster verstummen; – die holde Sonne kam, so mussten wohl die Schatten des Ärgernisses fliehen.

Schön-Minnele, ein Mädchen von siebzehn Jahren, schlank und wunderbar von Antlitz, näherte sich den Mädchen; ein schneeweißes Bündelchen in der Linken und von der weinenden Mutter begleitet, ging sie scheinbar ruhig den vier Linden zu; aber ihr großes, blaues Auge sah starr vor Weh, und die Lippen bebten verschlossen, als sollte Geheimnis sein und bleiben, was in ihrem Herzen riss und wogte.

Am Gemeindebrunnen, einige Schritte von den Linden, hielt Minnele noch einmal stille, um die Mutter zum Zurückgehen zu ermahnen; sie tat es mit leiser bebender Stimme und ließ auf dem Angesicht der Mutter Blicke ruhen, die von Wehmut, Liebe und Begütigung überflossen.

Die Mutter sah wohl ein, es müsse geschieden sein, entließ daher die Hand des Töchterleins, die schmerzvergessen zwischen ihren Fingern ruhte, drehte sich hinweg und bedeckte ihre Augen, worauf sie sprachlos, oft sich stützend am Geländer des Brunnens, an den Staketen des Blumengärtleins, zurückging nach der Stube ihres Hauses, um sich ganz dem Schmerz zu überlassen.

An der Ecke der Mühle stand indessen Justus Erdlein, das Blaumeisle genannt, und wartete auf die Mädchen; er pflegte seit Jahren um Ostern nach der Hauptstadt aufzubrechen, um durch Rührigkeit ein Sümmchen zu erobern und mit der ersten Flocke Schnee der Heimat wieder zuzueilen.

Weil er die Hauptstadt kannte wie sein Heimatdorf und weil er bejahrt und sonst von gutem Rufe war, so pflegte man ihm die Führung der Mädchen nach der Hauptstadt anzuvertrauen, wo er wie ein väterlicher Freund nicht müde wurde, beizustehen, bis die Letzte von den Mädchen Dach und Arbeit hatte.

Und so stand er denn auch heute wieder bei der Mühle, wo er die Wanderinnen in Empfang zu nehmen pflegte, lehnte nachdenklich über seinem Knotenstocke, der ihm treulich oft schon über Stock und Stein geholfen, und – zeigte sich im selben blauen Rocke, welcher ihm den Namen »Blaumeisle« zugezogen.

Die Mädchen kamen jetzt den Fußweg näher und gingen, da es rechts und links vom Regen nass geworden, paarweise hintereinander; nur Schön-Minnele ließ man, teils aus Ehrfurcht vor der Schönheit derselben, teils aus Gründen, die man kaum durch Mienen anzudeuten wagte, voraus und allein des Weges gehen.

Als die Mädchen den Steg des Altbaches überschritten und dem Führer bis auf »Wortweite« nahe gekommen waren, erhob derselbe sein hageres, faltenreiches Angesicht, überflog die Wanderinnen schnell mit freundlich-ernstem Auge, grüßte sie gesamt und Minnele besonders, trat einen Schritt entgegen und streckte die Hand aus, um der Letzteren das Bündel abzunehmen und zu tragen.

Schön-Minnele, noch vom Abschied wehvergessen, zuckte nur wie unwillkürlich mit der Hand und ließ es nicht geschehen; so nahm denn Erdlein seinen Hut ab, sagte: »In Gottes unseres Herren Namen, lasst uns gehen und glücklich wiederkehren«, schritt voran und sprach ein Stoßgebetlein halblaut vor sich hin.

Schön-Minnele schien leise betend ihre Lippen gleichfalls zu bewegen, auch von den anderen Mädchen seufzte manches seine Andacht vor sich hin; aber einigen wollte die Blässe des Neides nicht mehr von den Wangen, seitdem der altehrwürdige Führer Minnele besonders begrüßt und ihr die Last des Bündels abzunehmen suchte.

Man erreicht das letzte Haus im Dorf, den neu gebauten großen Hof des Jakob Granach; der Fußweg führte zwischen Wohnhaus und Scheuer nach der Straße, und es war wohl anzunehmen, dass den Wanderern am letzten Haus noch manches Abschiedswörtlein zugerufen werde. Aber es blieb still wie leblos überall; die Haustüre war verschlossen, die Türe des Stalles zugelehnt, als lebte man im hohen Sommer, wo Mensch und Tier im Freien weilen; selbst die spielenden Kinder und das futtersuchende Geflügel hatten diesen sonst belebten Schauplatz aufgegeben, um sich anderwärts Vergnügen oder Nahrung aufzusuchen.

Erdlein und die Mädchen gingen ihres Weges, ohne aufzublicken, ohne diese wunderliche Stille zu beachten, auch Schön-Minnele ging gesenkten Auges still vorüber – aber indem ihr Auge sank, schien ihr Wesen überhaupt nur Aug' und Ohr zu werden, um zu prüfen, was in diesem Augenblick im Hause vorging.

Es blieb stille.

Als wäre ein rosiger Schimmer flüchtig über Minneles Gesicht gezogen, so errötete und erblasste sie flüchtig, die Lippen zuckten noch einmal – und vorüber war die härteste Versuchung, die je ein Menschenherz bestand.

Als man hinter dem Garten auf die Straße trat, schien Minnele ihr »Gebetlein einer Wanderin« mit aufzuckendem Atem zu vollenden, wie ein krankes Kind nach langem Weinen noch einmal seufzend auf das Kissen sinkt, um endlich ruhig zu entschlummern.

Ahnte wohl jemand diesen Schmerzenskampf in Minneles Gemüte? Wusste noch jemand darum?


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