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Eine ganz andere Wirkung machte das freudige Lärmschießen des Dorfes um diese Stunde auf einen Trupp Reiter, der am jenseitigen Abhange des Bergwaldes die Straße hinaufzog.
Den Anführer des Reitertrupps hatte gleich anfangs das nur in einzelne Schüssen hörbare Gewehrfeuer in wunderlicher Weise aufmerksam gemacht, und da es immer von Neuem begann und sich mehrte, ließ er halten und horchte, als wäre es ihm nicht wenig wichtig zu erkennen, was er auf dem falle machen solle.
Nach einer Weile sagte er: »Vorwärts!« und ritt in Gedanken weiter; das Schießen dauerte fort.
Bald darauf kam einer der Reiter, der nach einem Dorfe am Fuße des Berges vorausgeschickt worden war, zurück, einen hochgewachsenen, hageren, breitschultrigen Schmied mit sich führend, der in der Hand Brechwerkzeuge, einen Bund Schlüssel und Dietrich trug.
Der beiden ansichtig, spornte der Offizier des Reitertrupps sein Pferd ihnen eine Strecke entgegen, ließ den hochragenden, rußigen und engbrüstig keuchenden Schmied neben sich her schreiten, indem er ihm in kurzen befehlenden Sätzen sagte, dass er zu folgen und ohne Widerrede zu tun habe, was man ihm heißen werde.
Der Schmied mochte wohl erkennen, dass ihm weder Brecheisen noch Dietriche durch eine Hintertür aus der Gewalt dieser Eisenbärte helfen mögen, er war also still, sah finster genug vor sich nieder und folgte, weil er musste.
Nun winkte der Offizier, und der Reiterbote führte den Schmied zu dem Trupp Kürassiere zurück, der schweigend und ernst die Bergstra0e mäßigen Schrittes weiter hinaufzog. Man erreichte den Höhepunkt der Straße, von wo sich dieselbe nach und nach wieder talwärts gegen Nordwesten hin senkt. Hier ließ der Offizier seine Reiter links von der Straße auf eine Waldwiese seitwärts schwenken, absitzen und lagern.
Indem nun diese einen Morgenimbiss und einen Schluck Branntwein zu sich nahmen, auch dem Schmied davon reichten, der aber in düster-borstiger Weise die Ehre ablehnte, ritt der Offizier auf der Waldwiese etwas weiter vor, zog ein kleines Fernrohr aus der Rocktasche uns suchte durch dasselbe den Punkt der Talgegend auszuforschen, woher das Schießen hörbar wurde; er fand ihn bald, indem ihn leichte Pulverwolken, die von Zeit zu Zeit zwischen den Häusern in die Lüfte stiegen, ohne Schwierigkeit erraten ließen.
Lange und nachdenklich verweilte das Auge des Offiziers auf dem Dorf Voralm, auch das Schloss der Gutsbesitzers Jeneveldt, wohl und anmutig auf einer Höhe über dem Dorfe gelegen, zog die Aufmerksamkeit desselben auf sich – als eine blitzschnelle Erscheinung ihn aus seinen Gedanken weckte; ein Flug Tauben, der von dem Lärmen des Dorfes aufgeschreckt durch die Lüfte kreuzte, schoss in diesem Augenblick durch die Sehlinie seines Fernrohres, so dass sein Auge zuckte.
Er besann sich, steckte das Fernrohr ein, wendete sein Pferd, kam zu den Reitern zurück und hieß sie wieder aufsitzen und gegen Tal im Schatten des Waldes vorwärts reiten.
Das Schießen im Dorfe hörte auf.
Die gescheuchten Tauben, welche noch eine Weile auf und nieder und in schnellen Wechselwendungen hin und wieder zogen, schienen endlich wieder Vertrauen in die Ruhe und Ordnung des Dorfes zu fassen, teilten sich in kleinere Flüge und schwangen sich hierhin und dorthin ihren besonderen Wohnungen zu.
Der zahlreichste Flug, fast nur aus weißen Tauben bestehend, zog in östlicher Richtung über den Hintergrund einer dunklen Wolke weg und umkreiste säuselnden Flügelschlags erst noch einige Male hoch und höher die Gebäude des Erbacher Hofes, bis er sich flatternd auf die Dachkante des Nebenbaues niederließ, noch einmal aufrauschte und endlich mit gehobenen, spähenden Köpfen sitzen blieb.
Es war auch kein Grund mehr vorhanden, um Angst und Sorgen länger währen zu lassen.
In Erbachers Hause war es stille geworden, die Knechte und Mägde gingen ruhigen Taktes ihren Beschäftigungen nach, die Schwalben zogen durch die offenen Stalltüren wieder harmlos aus und ein, und der Haushahn führte Weiber- und Kinderschar, die er während der Kanonade glücklich durch die Engpässe einer Holzschichte in eine sichere Ecke geleitet hatte, mit stolzem Siegerschritte wieder auf den freien Raum des Hofes hervor.
Auch rauschte es nun aus den Wipfeln der vier Riesenlinden des Dorfes wie eine dunkle Wolke daher: eine Sperlingsschar, in Gefahren feig und im sicheren Frieden äußerst schnabeltapfer, hatte sich während des Lärmschießens furchtsam schweigend unter das höchste Blätterdach des Ortes geflüchtet und warf sich nun auf einmal wieder, frech prahlend, hungrig und lärmselig auf den sicheren Schauplatz nieder; alle verhaltenen Parlaments- und Kriegsanreden prasselten jetzt aus hundert Sperlingskehlen hervor, die Lüfte suchten vergebens den prahlerischen Unsinn zu stenographieren, ein Wort stürzte über das andere und löschte es aus …
Aus dem Hause trat in diesem Augenblicke der junge Erbacher, ein hölzernes Schüsselchen in der Hand, aus welchem er eine Fülle goldener Körner für das Geflügel in den Hofraum streute; dann stellte er das Schüsselchen bei Seite, nahm aus seiner Tasche ein paar feiern weißer Handschuhe, von welchen er nur den einen über die Hand zog und schritt zum Hofe hinaus. Mutter und Vater Erbacher standen in der großen Stube hinter einem Fenster und blickten verstohlen durch dasselbe der schönen, kräftigen und ruhig zum Hofe hinaus schreitenden Gestalt ihres Sohnes nach; sie hatten bald die Freude, ihn in der angenehmsten Gesellschaft zu sehen.
Otte Jeneveldt, der Sohn des Gutsbesitzers war es, der sich eben an ihn anschloss.
Er war ihm, bereits in vollendetem Bräutigamsanzuge, eine Strecke bis an den Fuß des Schlossberges entgegen gegangen, hatte ihn im Schatten einer großen Linde erwartet und trat nun froh erschüttert hervor, um den Freund zu grüßen, zu umarmen und ihm für die Aufmerksamkeit der feierlichen Gewehrsalven zu danken, zu denen Friedrich sicherlich, wie er wohl erraten, die erste Anregung müsste gegeben.
Friedrich er zählte heiter den einfachen Hergang der Sache und beglückwünschte dann den Freund mit warmen Worten als glücklichen Bräutigam.
Arm in Arm und bald vertieft in ernstes Gespräch, wanderten beide dem Schlosse zu.
Die Sonne hatte gesiegt; der Morgen war nun vollkommen hell und erquickend geworden.
Von Sankt Emmeran herüber tönte die Kirchenglocke, und als hätte ein allgemeines heiliges Messopfer der Natur begonnen, so stimmten auf ihren luftigen Emporien die Sängerchöre der Vögel ihr: ›Ehre sei dem Vater in der Höhe‹ an, und gleich den Glöcklein beugender und neigender Ministranten ließen die Halsschellen der am fernen Waldeswiesenhange weilenden Herde ihre bunten, leisen Klänge hören.
»Dir muss wundersam zu Mute sein«, bemerkte Friedrich Erbacher seinem Freunde einmal. – »Ist es nicht, als wäre heute Sonntag aller Sonntage, als feiere die Natur mit Dir und Deinethalben ein Fest voll süß-geheimer Wunder, ja als lege die ganze Welt ihre täglichen Geschäfte aus der Hand, um Dir in Deinem Glücke zuzusehen?«
Otto ließ seine Hand am Arme des Freundes niedergleiten, fasste dessen Finger mit bebender Lebendigkeit und erwiderte nach eine Weile:
»Du hast es gesagt. Nichts könnte meinen Zustand treffender bezeichnen. O Friedrich! Ich habe keine Worte, um noch vieles, was in mir vorgeht, auszudrücken. Eine Vorstellung, welche mir, seitdem ich Mathilde sah und liebe, wundersam lebendig geworden, bewegt mich heute mehr als je. Mich dünkt, es liege ein schon gelebtes, glückliches Leben in traumhafter Ferne hinter mir, das mir frühe verloren gegangen, weil sich der schönste und beste Teil meines Wesens, ich weiß nicht aus welchem Grunde, von mir getrennt; an diesem verlorenen Teil meines Wesens und an jene traumhaft-verschollene Glückseligkeit schien manchmal mir in besonders wundersamer Stimmung meine Seele ahnend gemahnt zu werden, bis ich Mathilde sah, bewunderte, liebte: seitdem ist alles klar, der verklungene Teil meines Wesens ist gefunden, er tönt mir nah und näher; Mathilde wird mir heute sagen, ihr Herz sei mein, ihre Hand werde die Meine werden – was könnte da noch fehlen, die volle Harmonie meines Wesens wieder herzustellen und jene traumhaft ferne Glückseligkeit mit meiner Gegenwart und Zukunft zu verschmelzen? O Freund! Seinen Paradiesesmorgen hat ein jedes Herz, er geht verloren wie ein Traum, bis es die Liebe endlich wieder ist, die das Leben selbst zum Paradiese macht.«
Friedrich war in diesem Augenblick nicht ganz bei seinem Freunde; halb hörte er, was er hörte, halb waren, denn seine Gefühle und Gedanken bei einer Erinnerung, welche ihm des Freundes Worte wach gerufen.
Otto Jeneveldt fuhr fort:
»Als ich heute Morgen erwachte und sich alles um mich her so feierlich zeigte und bewegte, meine Mutter festlichen Schrittes durch das Haus ging, mit frohbewegter Stimme Befehle gab, Anordnungen traf und dazwischen von Zeit zu Zeit an meine Türe schlich, ob ich schlafe oder schon erwacht sei; als ich hörte, wie selbst mein sonst so militärisch polternder Vater sein Hauskommando mäßigte und von Zeit zu Zeit mit einem Tone unterdrückter Rührung sagte: Stille! Stille! Bedenkt, mein Otto schläft ja noch! – Freund, ich hielt es bald nicht mehr in Ruhe aus; mit dem Ruf des Morgenglöckleins sprang ich wie ein Kind vom Lager, ich war wie neu geboren, wie ein Seliger, der unter Menschen wandelt … O Friedrich! Du hast noch nie geliebt, aber Du wirst noch lieben; liebe erst und Du wirst begreifen lernen, was einen in solchen Augenblicke zum Schwärmen macht und Dinge erfinden und glauben lässt, zu welchen der Mensch in Ruhe nur verwundert sagen kann: ich höre, aber ich fass' es nicht!«
Friedrich ging stille neben seinem Freunde her und blickte zu Boden; wie in sich selbst verloren, sagte er kaum hörbar:
»Ist's möglich, dass jene Dinge mir noch einmal so lebendig vor die Seele treten können …?«
Otto Jeneveldt bemerkte dieses träumerische Sinnen seines Freundes nicht, er war mit seinen eigenen Regungen zu sehr beschäftigt; indessen besann sich Friedrich Erbacher auch in Kurzem wieder und suchte seine Heiterkeit und Ruhe von Neuem zu gewinnen.