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Der folgende Morgen graute kaum, als in der großen Stube des Dasselhofes eine ruhelose Gestalt auf und ab ging, halblaut vor sich hin sprach, an den Nägeln kaute und zur Abwechslung dann und wann einmal horchte, ob sich hinter der Kammertür keine Schritte hören ließen.
Es war Blasi, der Erbnachfolger.
Nach einer schlaflosen Nacht, von Aufregung und Sorge getrieben, hatte er sich der Erste vom Lager erhoben, um seinen Eltern, sowie sie sichtbar würden, anzuzeigen, einmal, dass er nicht abgeneigt sei, bezüglich der betrüblichen Verwundung des Geizhalses nun Elternrat entgegen zu nehmen. Denn so viel war jetzt unverkennbar, dass Blasis Hochmut die Nacht über sehr kleinlaut geworden, ja in die gastrische Fieberform der Verzagtheit umgeschlagen habe.
»Wo ist der Vater? Schläft er noch?« rief Blasi seiner Mutter entgegen, die heute auch etwas früher als sonst zum Vorschein kam.
»Der Vater schläft nicht mehr, er ist gar nicht zu Hause gewesen die Nacht«, erwiderte die Mutter mit einem Nachklang von Kränkung, die ihr Blasis Betragen gestern zugefügt.
»Nicht zu Hause gewesen die Nacht? Wo ist er gewesen? Wo ist er noch?« fuhr Blasi auf, von einer Ahnung ergriffen.
»Er ist noch gestern nach dem Bezirksamt, wo er heute dem Gotthard Haus und Hof verschreiben lässt«, sagte die Mutter kurz.
Blasi blieb mitten im Marsch wie vom Blitz getroffen stehen.
»Haus und Hof verschreiben lässt?« stotterte er mit halber Stimme.
»Ja, Haus und Hof, mit Schiff und Geschirr«, erwiderte die Mutter, ruhig an ihre Arbeit gehend.
Diese Unterredung hatte auch Victor, der jüngere Bruder gehört, der mit der Mutter zugleich in der Stube erschienen war.
Beide Helden begannen jetzt eine Szene, die geeignet war, selbst den Humor der tief gekränkten und sorgenvollen Mutter herauszufordern.
Hatten sie den Abend zuvor ihre Wanderungen durch die Stube einzeln angetreten und ihre Ansichten mit einer gewissen Methode regelrecht entwickelt, so kreuzten und verflochten sich jetzt ihre Eilmärsche und Reden auf eine wahrhaft Schwindel erregende, sinnverwirrende Weise. Denn ging z. B. Blasi zornglühend von der Stubenecke rechts nach der Stubenecke links, so trabte Victor, schwungvoll Takt haltend, von der Ecke links nach der Ecke rechts; und hatte sich Blasi als Opfer seines Tadels in erster Reihe den Vater und erst in zweiter Reihe den Bruder Gotthard ausersehen, so vergriff sich Victors Zorn zuerst an der unverschämten Kühnheit des jüngsten Bruders und stieg so höher und höher zur sündigen Verwegenheit des Vaters hinauf. Dabei hatten sie nur zwei allgemeine Punkte, wo sie in ihrem Marsch und in ihrer Wortfülle aus einander trafen – die Mitte der großen Stube, welche Gelegenheit gab, sooft sie's versahen, mit ganzer Breitfläche gegen einander zu rennen, ferner den obersten Satz ihrer Behauptungen, den beide gleich stark verfochten, dass nämlich der Vater kein Recht und keinen Vorwand habe, sie zu Gunsten des jüngsten Bruders, eines so untauglichen, furchtsamen, unbärtigen Jungen zu umgehen!
Aber dieses Treiben und Klagen, so wertvoll es als Privaterleichterung sein mochte, konnte doch an dem unerbittlichen Lauf der Dinge nichts mehr ändern; denn während die Wände der väterlichen Stube von den Schritten und Worten der Widerstrebenden hallten, brachte eine Amtsfeder in der Kanzleistube des Bezirksamtes leise rauschend die Übertragung des Gutshofes zu Papier und wurde in aller Form Rechtens mit Amtskraft versehen …
»Jetzt eine Morgentrunk, lieber Gotthard, und dann mutig nach Hause!« sagte der Dasselherr, etwas angegriffen aus dem Amtsgebäude tretend und einige Schweißtropfen entfernend, die ihm seine Tapferkeit und der Gedanke an die Heimkehr auf die Stirne getrieben.
Gotthard war einer kurzen Rast und Stärkung seines Vaters nicht entgegen, ja er besorgte außerdem, während dieser sich erquickte, auch ein Wägelchen, um den alten Mann nicht auch den Heimweg zu Fuße machen zu lassen.
»Ich seh', ich bin in den Händen eines guten Sohnes«, sagte der Dasselherr gerührt, das bereitstehende Wägelchen später besteigend: »Es geht doch nichts über ein liebe, wohlgeratenes Kind!«
Vielleicht hätte er in diesem weichen Tone noch eine Weile fortgefahren, wäre nicht in dem Augenblicke, als er mit seinem Sohne zum Städtchen hinausfuhr, der verwundete Eichrodt mit verbundenem Kopfe hereingefahren, um vor Amt seine Klage wegen Verwundung und seinen Antrag auf öffentlichen Verkauf des Dasselhofes vorzubringen.
Der alte Dasselherr erriet die ganze verhängnisvolle Schwere der Gefahr und ließ die eben noch so schönen Hoffnungen beinahe ganz wieder zu Boden fallen; selbst Gotthard schien eine ernste Sorge nicht von sich weisen zu können. Die Heimfahrt ging denn auch ziemlich stille von Statten, der Vater wollte seinen wachsenden Kleinmut dem Sohne nicht verraten, welcher ohnehin zu seinem Rettungswerke ungebrochenen Mut bedurfte, Gotthard aber hatte mehr als einen Grund, seinem Vater die Mittel und Wege noch vorzuenthalten, welche ihm notwendig dünkten, um die ausnehmend schwere Aufgabe seines Lebens durchzuführen.
Fester, rasches, rücksichtsloses Durchgreifen im Elternhause, selbst auf die Gefahr hin, als erbarmungslos verschrien zu werden, war die erste Pflicht des Sohnes, und er war entschlossen, sie im ganzen Sinne zu erfüllen …
In einiger Entfernung von Mängelheim ließ Gotthard das Gefährt halten und umkehren, er selbst mit seinem Vater stieg ab und ging dem Dorf zu.
Beim Schlehdornhügel blieb er stehen und sagte nachdenklich zu seinem Vater:
»Es wäre mir lieb, ich könnte hier ein wenig allein sein; geht voraus und sagt den Brüdern, was geschehen ist, alsbald will ich selber kommen und mein Amt ausüben.«
Der alte Dasselherr erschrak, dass er allein den Hof betreten und dem ersten Anprall seiner Söhne ausgesetzt sein sollte; doch hatte er nicht den Mut, sich dem Ansinnen Gotthards zu widersetzen, seufzte nur einmal leise und sagte dann:
»Wie Du willst, mein Sohn, ich gehe, komm' bald nach!«
Er sammelte so viel Fassung als möglich, um den keineswegs zu unterschätzenden Auftritt mit den Söhnen, gestützt durch Weib und Tochter, erträglich zu bestehen, und begab sich, wenn auch unbeschwingten Schrittes nach dem Dasselhofe. Gotthard aber setzte sich auf einen großen Stein am Hügel, warf einen Blick auf Dorf und Vaterhaus, ließ dann das Haupt nach der Brust, die rechte Hand etwas schlaff auf ein Knie sinken und verfiel in tiefe Gedanken.
Auch dem stärksten Gemüte, mag es kühne Pläne noch so genau entworfen und die Gefahren ihrer Ausführung noch so fest ins Auge gefasst haben, stehen Augenblicke bevor, wo es kurz vor dem ersten Schritte noch einmal in sich schwankt und angesichts der Wagnisse zusammenschauert; der stärkere Geist, so scheint es, muss dem schwächeren Fleische dieses Zugeständnis machen, um es dann umso ergebungsvoller in den Kampf zu führen. Aber das ist eben der Unterschied zwischen überraschten und vorbereiteten Gemütern, dass solche Schwankungen bei Letzteren kurz und ungefährlich sind, während sie bei Ersteren gar leicht dauernd sein und verwirrend wirken können.
Das zeigte sich bei Gotthard jetzt. Auch er saß noch einmal hin und fühlte, dass er menschlich schaure, wanke; aber kurz war dieser Zustand und des letzten Zauderns ledig erhob er sich, um geradeaus zur Tat zu schreiten.
Als er in den Hof des väterlichen Hauses trat, hörte er sogleich den Lärm und Streit, der zwischen Eltern und Brüdern entbrannt war.
Weder überrascht noch erregt durch diesen Umstand, ging er ruhig, ja scheinbar teilnahmslos dem Schauplatz des Streites zu, trat ebenso in die Stube, wo ihn der Vater sowie die Brüder sogleich zum Gegenstande ihrer Aufmerksamkeit machten, indem ihn jener zu Hilfe rief, diese ihn mit Hohn, Verachtung und Vorwürfen überschütteten; aber es schien auch jetzt noch, als ob sich Gotthard mit allem anderen, nur nicht mit dem beschäftige, was Vater und Brüder so erhitzte. Schweigsam und ruhig ging er durch die Stube nach der Kammer, um sich seines Rockes und Hutes zu entledigen, worauf er wieder in die Stube trat und, da der Vater aufgestanden war, an dessen Statt sich – in den großen Lehnstuhl setzte.
Er saß ein wenig unsicher, vorgebeugt da wie ein Landmann, der in einer Herrschaftswohnung sich zum Sitzen genötigt sieht; es lag etwas Schlaffes über dem bleichen Gesichte, die Lider hingen lass über den Augen, und der Wille schien der schweren Stunde nicht gewachsen; doch war das alles nur zum Scheine so.
Da der Vater, vertrauend auf die Energie des Sohnes, schwieg und nur die beiden Brüder noch zu lärmen und zu höhnen fortfuhren, sagte Gotthard nach einer Pause, ohne aufzublicken nur:
»Seid Ihr fertig?«
Diese stille, ruhige Art des jüngsten Bruders schien indessen nur zu dienen, die Lärmer noch verwegener zu machen und die giftigsten Waffen des Vorwurfs und der Verachtung hervorzulocken.
»Du im Dasselhofe regieren, Du uns retten und aus dem Recht verdrängen?« rief Victor frech, »das trau' ich eher einem Ringelspatzen, einem Maikäfer, einer Käsemilbe zu als Dir!«
»Du uns unter Deine Flügel nehmen – Du Zaunkönig, Du Distelfink, Du Nestelgacker mit der Schale auf dem Kopf?« rief Blasi laut auflachend.
Jetzt hoben dich Gotthards schlaffe Augenlider, und ein Blick fuhr aus dem tiefblauen Auge – verderbendrohend und tödlich wie ein Blitz.
Das war schon Etwas; der lange, nervöse Victor merkte was von unberechenbarem Hinterhalte, trat ein wenig außer Schusslinie und gab, was er äußern wollte, nur noch verstümmelt in Gemurmel preis; zufällig hatte Balsi den Blitz des Bruderauges nicht gesehen und ritt mit frischer Zungentapferkeit noch tiefer ins Gefecht – als plötzlich ein Donnerschlag die Luft zu erschüttern schien und tiefe Totenstille in der Stube folgte.
Gotthard hatte mit Donnerstimme Ruhe geboten und saß wie durch Zauber verwandelt im Stuhle da.
Blasser als zuvor, jede Fiber des Gesichtes gespannt, die Stirnadern angeschwollen und mit unheimlich glühenden Augen auf Blasis Mienen haftend, bannte er jede weitere Beleidigung, erdrückte im Keim den Widerstand und entwaffnete jeden neuen Zuzug von Übermut und Frechheit … Victor, wie durch eine Explosion an ein Fenster geworfen, atmete und schwenkte nur noch die Arme wie ein agierender Held, während Blasi betroffen innehielt – und durch ruhige Haltung und erzwungenes Lächeln zu verbergen suchte, welchen Abfall des Mutes sein Herz erleide.
Er war es auch, der nach einer Pause den Rest seiner Gedanken und Stimmmittel wieder sammelte und das Wort ergriff, um – wenn nicht gegen das nun einmal eingesetzte Regiment des jüngsten Bruders zu toben, doch wenigstens gewisse Ansprüche hervorzusuchen und sein – Kindesanteil, gewisse Herauszahlungen zu verlangen.
Darin lag ein unverkennbares Zeichen, dass Gotthards Wille und Kraft Respekt errungen, mit einem Streiche den Kampf vom Kardinalpunkt der Oberherrschaft nach unschädlichen Nebenfragen abgelenkt haben; von hier aus konnte denn auch ruhiger gestritten, fortan mit leichteren Mitteln verhandelt werden.
Die übermäßige Spannung in Mienen und Haltung mildernd, ging Gotthard auf die Forderungen Blasis und des anderen Bruders mit Ernst und Würde ein, sagte zu, was er durfte, lehnte ab, was er musste und schloss, nachdem er den Wert des Gutes und die Schuldenmasse in ganzer Höhe erwähnt, mit folgendem Ergebnis:
»Viertausend Gulden ungefähr ist der Elternhof noch mehr wert, als die Schulden samt und sonders betragen. Wollt Ihr Euern Pflichtteil ohne Aufschub haben, so zwingt Ihr mich, da mir keine Seele borgt, den Hof zu verkaufen und die Eltern so wie Euch auf diese Weise zu bedenken. Wie Ihr aber wisst, ist der Erlös aus Zwangsverkäufen selten gut, die Spekulation wie das Unglück der Armen helfen redlich zusammen, den Preis zu drücken, unter Erwartung zu halten. Wenn es gut geht, retten wir aus dem Notverkauf dreitausend Gulden; diese dreitausend auf der Hand, was glaubt Ihr wohl, dass ich den Eltern bestimmen soll, damit sie notdürftig leben? Kann ich ihnen weniger als Zweidrittel bieten? Wirklich weniger? Ihr selbst sagt nein. Bleiben also tausend bare Gulden übrig. Nun merket wohl: nicht bloß für Dich, Victor, und Dich, Blasi, sondern auch für die Schwester und für mich sind diese tausend Gulden – zweihundertfünfzig Gulden also für ein jedes! Zweihundertfünfzig Gulden – ich bemerk' es noch einmal: wenn der Notverkauf sich günstig stellt. Gesetzt indessen, er stelle sich nicht günstig, er stehe gleich den meisten Notverkäufen unter der Erwartung?«
Er stand auf.
»Wir können«, fuhr er fort, »auch nur zweitausend, auch nur tausend, schlimmsten Falles gar nichts lösen! Berechnet Euern Pflichtteil so!«
Seine Stimme wurde wieder streng, seine Miene hart:
»Seid Ihr Söhne?« rief er, »seid Ihr Geschwister? Gelten Euch die Eltern was, das Los der armen Schwester?«
Nach einer Pause, während welcher er mit blitzendem Auge bald auf Blasi, bald auf Victor schaute, fuhr er fort:
»Mein Wille ist: der Hof wird nicht verkauft! Er muss erhalten und gerettet werden! Vorläufig gibt er Dach und Fach, gibt, dass wir nicht verhungern, nach und nach wird er uns mehr gewähren. Drum …«, seine Stimme wurde milder – »seid gebeten, Brüder, erleichtert mir mein Amt, bleibt bei mit, ersetzt mir teure Arbeitskraft und schafft und duldet mit mir! Mit meinem Glücke wächst das Eure auch; zahlen wir Schulden ab, so gewinnt Ihr desto mehr am Pflichtteil; nehmt nicht bloß Euern Nutzen, nehmt auch die Ehre der Eltern und des Hofes wahr – oder entschließt Euch kurz und gut und – geht! Verlasst mich! Euer Pflichtteil sollt Ihr später haben!«
Victor, der mit seinen Armbewegungen fortgefahren war, sagte jetzt mit zuckenden Mienen:
»Ich will Dir nicht auf dem Halse bleiben. Viel Glück zur neuen Herrlichkeit! Ich geh' in die Welt, um mein Pflichtteil will ich später schreiben!«
»Und ich«, sagte Blasi mit heraustretender Brust, »ich schenke Dir den Bettel ganz, für heute und für immer! Ich bin Manns genug, mich auswärts besser fortzubringen. Leb' wohl, auch ich geh' lieber in die weite Welt!«
Beide entfernten sich mit stolzen Schritten, der eine nach der Kammer, der andere nach der Vorflur, die Türen flogen donnernd hinter ihnen zu.
Den Eltern war es jetzt, als fiele eine große Last von ihren Herzen, und ein grenzenloses Vertrauen zu Gotthard erfasste sie; der Vater näherte sich ihm und war erfinderisch in dankbaren, rührenden, überspannten Lobesworten, während die Mutter mit feuchten Augen wortlos näher trat und ihn nur dankbar ansah.
Gotthard aber schien nicht sonderlich erbaut von dieser Anerkennung. Mit einem Ernste, der knapp an Schwermut streifte, sagte er nach einer Pause:
»Geht jetzt, Vater und Mutter, sammelt und stärkt Euer Herz, wenn noch bessere Tage möglich sind, so will ich sie Euch schaffen, doch der Segen kommt von oben!«
Die Eltern gingen getröstet fort, und draußen beschlossen sie, ein wenig um die Felder zu gehen und nach schweren Kümmernissen wieder einmal heiter auf und um zu blicken; ihr Sohn Gotthard aber rief Beaten, die allein zurückgeblieben war und düster sinnend, noch auf derselben Stelle stehend, sagte er.
»Schwester, meine Schwester!«
»Was willst Du, Bruder?« fragte sie.
»Komm her zu mir!«
Beate trat ihm näher.
Gotthard sah sie mit wehmütigem Ernste an und sagte dann:
»Es werden schwere Tage kommen, Schwester, hast Du Dich geprüft – und willst Du standhaft bei mir bleiben?«
»Du weißt es, Bruder, dass ich's will«, erwiderte die Schwester.
»Halte Dein Versprechen«, sagte Gotthard.
Er legte der Schwester die rechte Hand auf den Scheitel, bog ihr den Kopf ein wenig zurück und sah sie mit einem ernsten, durchdringenden Blicke an. »Ich glaube Dir«, sagte er kurz und sah sich in der Stube um, ob niemand horche, und als er keine Zeugen gewahrte, teilte er der Schwester einige Maßregeln mit, die er ohne Verzug zum Heil des Ganzen ergreifen müsse. Sie mussten überraschend und verzweifelt lauten, da sie die Schwester tief erblassend machen. Doch war sie tapfer genug, sich bald so weit zu fassen, dass sie mit erträglichem Tone bemerken konnte:
»Ich sagte Dir, ich halte mein Versprechen.«
Zwei Tränen rollten über ihre Wangen, als sie sich entfernte; Gotthard aber blieb zurück und ließ Leute kommen, um den ersten Befehl als Herr des Hofes zu erteilen …
Eine Stunde später kehrte der Dasselherr mit seinem Weibe von dem Gang um Feld und Wiese wieder heim und sah den Steig des Hasenberges herauf einen Wanderburschen kommen, der, einen Bündel überm Rücken und einen Stock in der Hand, brummend vor sich niederblickte; er erkannte in dem Burschen Victor, seinen zweitgeborenen Sohn und blieb ergriffen stehen.
»Victor«, sagte er näher tretend und kleinlaut, »seh' ich recht, Du gehst, Du willst uns wirklich verlassen?«
Victor blickte empor und blieb auf der anderen Seite des Weges stehen.
»Was ich sag', das tu' ich auch«, erwiderte er: »Soll ich der Schäferhund meines Bruders werden?«
»Victor!« rief die Mutter schmerzlich, »ohne Abschied wärst Du fort von uns?«
»Wofür Abschied nehmen?« fragte Victor wegsehend und höhnisch lächelnd: »Aus Dank vielleicht für die prinzenhafte Ausstattung, die ich mitbekommen? B'hüt Euch Gott meinetwegen, hören sollt Ihr noch von mir!«
Er ging weiter, blickte nicht mehr um und suchte seien Heldenkraft recht augenfällig zu beweisen, indem er sich ein Lied vorpfiff; als er aber weit genug war, um nicht mehr gesehen zu werden, warf er sich laut heulend zu Boden, biss ins Gras, wälzte sich qualvoll hin und her und würde in diesem Müttersöhnchen-Schmerz noch lange fortgefahren haben, wären nicht Fußtritte hörbar geworden, die ihn wieder zu sich brachten. Er stand schleunigst auf, strich mit beiden Ärmeln über die Augen, versuchte wieder lustig zu pfeifen und wich weitergehend einem Dorfbewohner aus, der des Weges kam. Seine Eltern aber gingen langsam und tief betrübt nach Hause, und die Mutter wiederholte oft:
»Was haben wir für Kinder!«
Als sie daheim in den Hofraum traten, hörten sie leider eine neue Trauerbotschaft. Balsi war inzwischen wegen der Gewalttat an Eichrodt von Gendarmen abgeholt und als Gefangener fortgeführt worden. Stumm und gebeugt traten die bestürzten Eltern in die große Stube, wo sie Gotthard anzutreffen und durch Zuspruch Trost und Kraft zu finden hofften; leider harrte ihrer hier auch weder Trost noch Freude.
Gotthard trafen sie nicht in der Stube, auch die Tochter Beate nicht, dagegen sahen sie mit dumpfem Erstaunen in der Stube herum, wo sie statt ihrer bequemen städtischen Möbel ganz gewöhnliche Bauerneinrichtung fanden, bestehend in Stühlen, Tischen, Bänken aus gewöhnlichem Holz, und selbst diese nicht etwa neu, sondern zusammen gelesen und geborgt, wie sie eben zufällig zu haben waren.
»Unser Sohn will klein anfangen«, sagte der Dasselherr nach einem Augenblick der Erstarrung: »Komm, er hat unsere Sachen hinüber in den Nebenbau bringen lassen, wo wir schon von heute an wohnen sollen.«
Beiden Eltern wurde schwach in den Beinen, sie hatten nötig, sich gegenseitig zu stützen; Arm in Arm und wortlos gingen sie dem Nebenbaue zu.
Wie sie an die Schwelle der kleinen Haustüre kamen, trat soeben Beate heraus und wich verlegen und scheu zur Seite.
»Ach, dass Du da bist, liebes Kind«, sagte ihr Vater: »Ist unsere Wohnung in Ordnung, sind die Sachen alle da?«
»Wie's der Bruder anbefohlen hat, ist alles eingerichtet«, sagte Beate bleich, indem sie einen Tragkorb ergriff und weiter ging.
»Unser Sohn ist kurz resolviert, so wird er's zu was bringen«, sagte der Dasselherr und wollte über die Schwelle treten; aber es lag ihm in den Knien, so dass er zweimal ansetzen musste, um ins Haus zu kommen.
Leider traf er in der Stube, die er sich hübsch und wohlig eingerichtet dacht, einen Anblick, der ihm fast noch näher ging als alles eben Erlebte! Auch hier waren anstatt seiner üppigen, gepolsterten Möbel nur wenige hölzerne Geräte und Sitze aufgestellt, und nur die offene Kammertür ließ ein früheres Prachtstück, das große Himmelbett, mit den gewohnten Vorhängen sehen.
Laute Äußerungen entriss dieser Anblick den entsetzten Eltern nicht, dazu war ihnen die Zunge zu gelähmt und das Herz zu schwer, aber an der Totenblässe ihres Angesichts, am Brechen des letzten Glanzes in dem Auge war der unsägliche Gram, der sie erfasste, wohl zu ermessen. Noch vor einer halben Stunde, während sie im Freien gingen, war es ihr erquickliches Bemühen gewesen, sich die kleine, idyllische Wohnung, die sorglose, wenn auch bescheidene Existenz, die ihnen bevorstand, auszumalen, umgeben von dem Luxus früherer Tage sollten sie, wenn nicht im Überfluss, so doch genügend zu leben haben, mit dem Wiederaufblühen ihres Hofes dachten sie auch die Genüsse wieder zu bekommen, welche sie von Hause aus gewohnt waren, wobei sie noch außerdem der Sorgen ledig blieben, welche ihnen früher manche Freude, manchen Genuss verdorben hatten. Welche Enttäuschung nun an die Schwelle dieser schön geträumten Zukunft! Sogar die nächsten Mittel der Bequemlichkeit, sogar das bisschen Luxus der Umgebung sollte ihnen vorenthalten bleiben, nicht einmal die Täuschung, dass sie noch in besserer Lage lebten, wurde ihnen gelassen!
Und zu welchem Zwecke, mit welchem Rechte vermaß sich denn der kühne Sohn, dem man alles übergeben, das Vertrauen, die Ansprüche der Eltern so ganz zu missachten?
Außer der Sorge, dass sich der junge Herrscher auch erlauben könnte, Kost und Kleidung ihm zu schmälern, war es namentlich der Hinblick auf den Mangel an Behagen, was den Dasselherrn aus seiner Erstarrung weckte und ihn zum Widerstande gegen seinen Sohn aufregte; während also sein Weib auf einen alten Stuhl hinsaß und nichts vermochte als zu schluchzen, verließ er plötzlich, behände wie in außerordentlichen Fällen, die kleine Stube, um seinen jüngsten Sohn zu suchen.
Er wollte Rechenschaft fordern, seine Möbel wieder haben, er wollte überhaupt erfahren, wie weit sein Sohn es auch in anderen Dingen treiben werde; – er wollte … nun, er war mit einer langen Reihe von Fragen und Forderungen, die er stellen wollte, bei Weitem nicht zu Ende, als er in vollem Laufe stehen blieb und über einen neuen Anblick seine Fassung, ja den Faden seiner Gedanken ganz verlor. Denn aus dem Hauptgebäude trat soeben Gotthard, der neue Herr des Dasselhofes – und zwar als schlichter Bauer gekleidet – wirklich und wahrhaftig in voller, landesüblicher Bauerntracht!
Und wie es schien, war es diese Tracht gerade nicht, die Gotthard drückte und betrübte; im Gegenteil sah er, so ernst er sonst auch war, zufrieden, ruhig drein, es schien sich alles wie von selbst so zu verstehen.
»Was ist Euch, Vater?« sagte er zu diesem, da er ihn wie vom Donner gerührt aufstarren sah. Der Vater erwiderte nichts, und Gotthard fuhr nach einer Pause fort:
»Ihr seht wohl, Vater, wir müssen klein anfangen. Wer über einen Graben setzen will, muss einen Vorsprung suche, muss einige Schritte zurück, auf festem Boden Ansatz nehmen. Erst als schlichter Bauer habe ich sicheren Grund unter mir, und Arbeit und Genügsamkeit werden wieder vorwärts führen. Heißt's nicht in der Bibel: Wer sich erniedrigt, wird erhöht? Seid drum getrost – ich steige vom Dasselherrn zum Dasselbauer herunter – so Gott will, führt der Weg so wieder zum Dasselherrn hinauf! In Summa, Vater, um es kurz zu sagen: als Herr Ökonom oder Gutsbesitzer ständ' ich in der hellen Luft, und um nicht von dem Schicksale gestürzt zu werden wie die hoffärtigen Engel, stieg ich bei Zeiten frei und willig auf den mütterlichen Boden des ehrenwerten Bauernstandes herab!«
Der Vater sprach noch immer nicht, da setzte Gotthard lächelnd hinzu:
»Mit leichtem Herzen werf ich all' die städtischen Angewöhnungen ab, lieb wäre mir's, Ihr tätet desgleichen und tätet es fröhlich. Was ergreift Euch so?«
Der Gefragte schwieg noch immer.
»Doch nicht die schlichte Wohnung und manches, was Ihr jetzt entbehren müsst?« Gotthards Haltung wurde dabei straff, und streng fuhr er fort:
»Wie Ihr wisst, habe ich Haus und Hof mit Schiff und Geschirre ohne Vorbehalte übernommen und nur im Allgemeinen mich verpflichtet, Euch zu erhalten und Dach und Fach zu gewähren. Was ich kann, das tu' ich jetzt, was weiter kommen wird, das kann ich noch nicht sagen; darein findet Euch! Bessere Zeiten, größere Freuden; darauf hofft! Was Eure Möbel anbelangt, so hilft der Erlös dafür, die nächste Sorge, meine ersten Steuern mir bestreiten.«
Die letzten Worte wurden vielleicht deshalb allzu herb gesprochen, weil in diesem Augenblicke ein Frauenzimmer in den Hofraum trat, welches oft genug dem jungen Dasselherrn ein Dorn im Auge gewesen. Es war eine Händlerin mit Näschereien, Kaffee und Zucker, überhaupt mit Luxuswaren, welche leider oft genug den Wohlstand eines Bauernhauses untergraben. Früher musste Gotthard jede Woche diese Krämerin aus- und eingehen sahen, ohne hindern zu könne, dass sie die Eltern um Geld oder Geldeswert beschwatzte; jetzt war's ein rascher Akt des neuen Herrschers, dass er einen Stock ergriff und kurzer Hand die Spekulantin aus dem Hofe trieb.
Dieser kräftige Akt, verbunden mit den Worten, die er an die fliehende Krämerin richtete, schienen einen tiefen Eindruck auf den alten Mann zu machen und ihn zum Rückzug zu bewegen; denn als sich Gotthard, milder geworden, wieder nach ihm umsah, ging er eben langsam, lautlos und gesenkten Kopfes seiner armen Wohnung zu …
Es wurde Abend, wurde Nacht; im Dorfe ward es stille und mitternächtige Ruhe lag auch auf dem Dasselhofe. Am Fenster der großen Stube stand Gotthard und sah schweigend nach dem Nebenbau hinüber, wo ein mattes Licht die wenigen Scheiben erhellte. Dort waren also die alten Eltern noch wach und saßen kümmernd in den Ecken und fanden keinen Schlaf. Ein trüber Anblick, ein trauriger Gedanke, wohl geeignet, auch an Gotthards Herzensfestigkeit zu rütteln und sein strenges Haupt zu beugen.
So stand er eine Weile da, beschwert und sinnend, als er Schritte hörte, welche, aus der Kammer kommend, hinter ihm wegschleichen und zur Türe gelangen wollten. Gotthard erwachte aus seinen Gedanken, erkannte die Schritte und das Ziel, wohin sie strebten, und ohne umzublicken, sagte er:
»Schwester!«
Die betreffende Stimme Beatens erwiderte:
»Ich bin es, Bruder!«
»Schwester«, sagte Gotthard weiter, ohne seine Stellung zu verändern, »die schweren Stunden sind gekommen – Hast Du nicht gesagt, Du wolltest standhaft bleiben?«
Leise schluchzend, erwiderte die Schwester:
»Du weißt es, Bruder, dass ich's will.«
»Dann halte Dein Versprechen.«
Beate, die auf dem Wege zu den Eltern war, um sie zu trösten, blieb eine Weile zaudernd stehen, überlegte, was der Bruder für Grund haben möge, sie zurückzuhalten, bezwang sodann ihr Herz und folgte Gotthards Wunsche, indem sie wieder nach der Kammer ging.
Eh' die Türe hinter ihr ins Schloss fiel, hörte sie die Worte Gotthards noch:
»Die drüben brauchen Stärke – und kurzes Unglück wird sie stärken!«