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Wer kann es wenden?

Eine Phantasie in fünf Bruchstücken

Das erste Bruchstück.

O welche Nacht! Dunkel und doch sternenvoll – unsäglich köstlich in ihrer duftenden, murmelnden, rauschenden Frische, nach dem heißen sengenden Tage. Es gleitet der schwarze Fluß in die Nacht hinein, dem Norden zu, wo auf dem Horizont ein fahles Leuchten liegt, einer Feuersbrunst gleich, und doch nicht eine Feuersbrunst; sondern nur der glühende Athem einer großen Stadt.

Das Schilf säuselt am Ufer; von Zeit zu Zeit schnellt ein Fisch über die Wasserfläche empor, oder eine unterwaschene Erdscholle rutscht und schlägt klatschend herab. Ist das wirklich Wasser, was da vorbeigleitet; oder ist es giftige schwarze Lava, die irgendwo im Süden aus der Erde quoll?

Taucht die Hand hinein. Es ist kühl, es tröpfelt, es blitzt auch ein wenig – man weiß nicht recht in welchem Licht – es ist Wasser!

Nun denkt Euch, wir lösten einen Kahn ab von jener alten Weide, und setzten uns, und zogen die Ruder ein, richteten die Augen auf jenen Schein im Norden, und ließen uns hinabtreiben ihm entgegen, – anfangs langsam, dann schneller und immer schneller, der Zaubermuschel gleich, in welcher das Märchen seine Kinder den Strom des Lebens hinabführt.

Hinter uns liegt schon der hohle, dickköpfige Weidenbaum mit seinem zerzausten Haarwuchs, hinter uns liegt die Ecke des Kiefernwaldes. Schneller! schneller!

Ein schlafendes Dorf – ein einsamer Wandrer mit einer Laterne auf einem Feldwege – eine Windmühle mit ruhenden Flügeln – wieder ein Gehöft, diesmal zur linken Seite – ein bellender Hund – eine schlagende Glocke – eine Fabrik mit hohem Schornstein! Vorüber! vorüber!

Noch einmal weit in's Land hinein leise nickende Kornfelder, duftende Wiesen voll schlummernder Schmetterlinge und Vögel und aufspringender Blüthenknospen – o noch einmal einen frischen Athemzug! – Vorüber! vorüber!

Abermals eine Biegung – näher und heller und heißer der Athem des Ungeheures Stadt – der zusammengedrängten Hunderttausende.

Unter einer Eisenbahnbrücke durch, über welche und unsere Köpfe fort eben das rasselnde keuchende Ungethüm mit den feurigen Augen saust. – Vorüber! vorüber!

Nun allmäliges Aneinanderrücken der Menschen-Wohnungen – Fabriken, deren Herdfeuer nie ganz erlischt – phantastische Maschinen und Gerüste schwärzer gegen den schwarzen Nachthimmel sich abmalend – Schutthaufen, Trümmerhaufen, wie von einer zerstörten Stadt, und doch nur Zeichen einer lebendigst sich dehnenden! Jetzt lange, unbeholfene Kähne: Holzkähne, Kohlenkähne, Apfelkähne; – Schornstein an Schornstein – weite bethürmte Gefängnisse, Casernen, Bahnhöfe – Reihen niedriger Häuser, welche allmälig immer höher und gewaltiger werden – Häusermassen – Gaslichter in langen glänzenden Reihen die Flußufer entlang – Brücken, Paläste, Kirchen – – Hinein, hinein aus der stillen, friedlichen, wonnigen Sommernacht, hinein in diese große, große Stadt, – hinein in diese Geschichte!

— — — — —

Röschen Wolke war todt, und Heinrich Knispel wachte an ihrem Sarge, die alte Marianne saß, mit der Schürze vor dem Gesicht, am Herde, dessen Feuer erloschen war; der Lieutenant war gegangen, die schwarzbemäntelten Träger zu bestellen, und Felix van Hellen war fort in die weite Welt, – Niemand wußte, wo er war.

Nun will ich Euch erzählen von Röschen und Heinrich und den Andern! Von Heinrich Knispel aber will Euch zuerst erzählen, –

Das erste Licht, welches auf ihn und seine Geschichte fiel, war ein sehr trübes und drang durch ein halberblindetes Kellerfenster in einer der engsten, dunkelsten, menschenwimmelndsten Gassen der Stadt, wo dem schreienden, dickköpfigen Geschöpf – Heinrich Friedrich Karl Knispel – die erste Lagerstatt in einem alten, dienstunfähigen Marktkorb zugerichtet war.

Von den Todten und den Leuten, welche man nicht kennt., soll man, einem alten Wort zufolge, Nichts als Gutes sprechen: von den Ersteren aus Rücksicht, von den Letzteren aus Vorsicht. Da Knispel's Vater zu den Letzteren, und höchst wahrscheinlich auch zu den Ersteren gehört, so will ich wenigstens einen Mittelweg einschlagen und gar nicht von ihm reden und schreiben, zumal da eine dunkle Seite der Weltgeschichte gewiß nicht dadurch weiter erhellt werden würde.

»Die Mutter ist immer bekannt!« sagt das Corpus juris; ich kann Gutes von ihr sagen und außerdem hinzufügen, daß sie bis zu ihrem Todte eine geborene Knispel blieb, es zu einem hohen Alter brachte, und sich in ihren letzten zwanzig Lebensjahren durch einen nahrhaften Handel mit den primitivsten Bedürfnissen der menschlichen Existenz: Brot, Butter, Milch, Käse und Schwefelfaden, erhielt.

Wie viel kommt doch in diesem Erdenleben auf die Wiege an, in welcher man einst gelegen hat! Heinrich Knispel erfuhr das.

Es war gar kein übles Lager für den »Balg«, wie ihn seine Mutter gewöhnlich titulirte; – warm, weich, geräumig, ganz zum Gliederstrecken und -recken gemacht, und ganz vortrefflich geeignet, von früh an mit der größten Bequemlichkeit, einen reichen Schatz von Erfahrungen aller Art zu sammeln.

Schien die Sonne, und war's nicht grade harter Winter, so wurde besagter Marktkorb am Henkel gefaßt und mit seinem Bewohner die Treppe hinauf an's Licht des Tages getragen, dicht an die Hauswand niedergesetzt und der öffentlichen Ehrlichkeit anvertraut. Welch' ein Platz, um Beobachtungen über alle socialen Verhältnisse anzustellen! Aber auch, was für ein gefährlicher Platz!

Ein Gewitter bricht herein. Es donnert und blitzt. Der Regen rauscht in Strömen nieder. Alle Dachrinnen plätschern, alle Rinnsteine quellen über!

»Himmel, der Junge ist vergessen! Jesus, wo ist der Junge? Geschwind der Junge herein!«

Ist er fortgespült? Ist er bereits in einen der unheimlichen Abzugscanäle hinabgeschwemmt? Haben ihn die Ratten schon?

Nein, – er ist gerettet. Polizeimann Maulmann schleppt ihn eben, halbertränkt, in den Keller hinab; Polizeimann Maulmann hält der Madame Knispel eine gewaltige Rede; Polizeimann Maulmann zieht gewaltig den Kürzeren in der darauf folgenden Disputation. –

Wie viele Hunde beriechen den Korb des jungen Weltbürgers, um darauf ihr Mißfallen, ihre Verachtung auf unzweideutigste Weise kundzugeben? Wie viel Straßenjungen kitzeln den armen Kleinen mit Strohhalmen unter die Nase, oder treiben ihren Spaß auf andere Weise mit ihm?! Wie viel schlechte und gute Witze werden von den Vorübergehenden über Korb und Kind gemacht?!

Ist es nicht Thatsache, daß die Mutter Knispel zu ihrem Graus entdeckte, daß ein speculatives altes Weib denselben Korb und dasselbe Kind zu einer Appellation an die Barmherzigkeit und das Mitleid eines hohen Adels und verehrungswürdigsten Publicums machte; indem es, allen Polizeiordnungen entgegen, daneben niederkauerte und mit einem Blick auf die kleine offene Hand des Kindes, die eigene schwarze, knöcherne Pfote ebenfalls offen hinstreckte?!

Ja, soll nicht sogar einmal der teuflische Anschlag gemacht worden sein, den Korb sammt dem Vogel zu stehlen und letzteren zu den furchtbarsten, geheimnißvollsten Zwecken zu verwenden?! – –

Die Mama Knispel war jedoch eine resolute Frau, die, wenn irgend eine Gefahr am Straßenhorizont aufstieg, und sie nicht grade allzusehr im Dunkeln beschäftigt war, mit lautem Kriegsgeschrei aus der Kellerthür aufstieg, den Korb ergriff und mit ihm blitzschnell wieder verschwand. Und eine gute Mutter war sie auch, ließ ihren Sprößling wahrhaftig nicht verhungern, sondern zog ihn, zwischen Püffen und Knüffen und andern Liebkosungen, die jedes andere Kind vernichtet hätten, zu dem dicksten Bengel heran, welcher jemals, seit Erschaffung der Welt, in einem Marktkorbe lag.

Der Junge gedieh nach Möglichkeit, gab schon frühzeitig Zeichen eines etwas irrlichtartigen Geistes kund, bis es ihm eines Morgens, im schönsten Sonnenschein, von welchem je ein Dichter ein großes Ereigniß hat beleuchten lassen, gelang, durch eine gut berechnete Bewegung seinen Korb umzuwerfen und sich mit Kissen, Decken und Milchnäpfen fast bis in die Mitte des Sauregurkengäßchens zu rollen. Durch ein ungeheuerliches Geheul machte er diese That der Welt bekannt und blieb, mit Händen und Füßen strampelnd, liegen; bis seine Mutter herausstürzte, ihn aufhob, den Korb mit einem Fußtritte vor sich her hinabschleuderte in den Keller, und ihm, mit ihrem jungen Knispel auf der Schulter, lachend und brummend nachfolgte.

Hiermit endete der erste Lebensabschnitt Heinrich's; denn nach solcher Emancipation war der Korb eine Unmöglichkeit und sah zu solchem Zweck das Tageslicht nicht wieder. Eine kurze Zeit noch fristete er durch Mehlschmuggel und Hintergehung der hochlöblichen Mahl- und Schlachtsteuereinnahmen ein kümmerliches Dasein, bis er zuletzt, lebenssatt, in den Flammen einen schönen Tod starb, ohne sich jedoch wie ein Phönix darin zu verjüngen. Holzasche ward aus ihm, wie aus dem Menschen Pottasche wird, nach des alten Professors Blumenbach berühmten Kathederausspruch.

Die nächste Lebensperiode Heinrich Knispel's war ein dämmerhaftes Gemisch von Treppheraufkriechen und Treppherunterrollen, ein intensives Streben, durch eigene Kraft hinauf in die frische Luft und die Freiheit des Sauregurkengäßchens zu gelangen: Auch das brachte er fertig!

Eines Tages war er auf der höchsten Stufe der Treppe angekommen und polterte – nicht wieder herunter, sondern kroch mit freudeglänzenden Augen an den nächsten Rinnstein, wo er sogleich seinem Zeitvertreib harmlos sich hingab, bis das Vergnügen in eine Tracht Prügel und somit in ein unerquickliches Ende auslief. Einen großen Gedanken brachte aber der Junge von diesem, seinem ersten selbständigen Ausfluge in seine mütterliche Behausung mit herunter, den Gedanken, daß Keller und Gasse, Sclaverei und Freiheit etwas von einander sehr Verschiedenes seien, und daß der Mensch eigentlich für das letztere, für Gasse und Freiheit bestimmt sei und nicht für Keller und Sclaverei.

Heinrich Knispel hatte seinen Beruf erkannt!

Es war ein schöner, ein edler Beruf, – welchem man sich, wie Millionen und aber Millionen von Beispielen beweisen, bis zur äußersten Grenze menschlichen Willens und Wollens hingeben kann, – ein Beruf, dem sich alle Mitglieder unseres erdgebornen Geschlechts, die Weisesten und Klügsten vielleicht am häufigsten, widmen, – es war der Beruf – dumme Streiche zu machen! ...

Der erste dumme Streich, welchen Heinrich Knispel machte, war der, daß er seiner Mutter zu entlaufen strebte, ein Versuch, welcher von den übelsten Folgen für ihn war; denn Leonore Knispel verstand in den meisten Dingen dieses Lebens keinen Spaß, und solches pietätloses Gebahren, wie das ihres Söhnleins, ging ihr mit Recht über allen Spaß. Im siebenten Jahre seines Erdendaseins war es, wo Heinrich die vollgiltigsten Beweise davon erhielt und sich zu Gemüthe zog.

In der Armenschule seines Bezirks lernte der Bursche nothdürftig Lesen und Schreiben und überdies von seinen Mitschülern mancherlei andere Dinge, welche nicht auf dem Lehrplane standen. Was ging es Knispel's Mitschülern an, daß es ein Ministerium des Cultus gab, welchem sie in's Handwerk pfuschten.

Während dieser schönen Zeit war Heinich Knispel ein so schmierig-zerrissenes Exemplar der Gattung Straßenjunge, als es sich eine elegante junge Dame, von Meisterhand gezeichnet, auf ein Blatt ihres Albums wünschen konnte. Aber der Kern dieses Murillo in natura war gut; Knispel mordete nicht, brach nicht die Ehe und bestahl nur ein ganz klein wenig seiner Mutter Obstvorräthe. Er bekam Prügel genug und Essen genug, und konnte so viel frische Luft schnappen, als ihm die Sauregurkengasse und ihre Um gebung zukommen ließ. – Heinrich Knispel war Einer der Glücklichen dieser Welt, zumal da er nicht darüber nachdachte, sondern lieber in den Rinnsteinen wühlte, Mühlen und Dämme baute und die Nachbarn und Nachbarinnen ärgerte.

Mit vollendetem vierzehnten Lebensjahre trat der jugendliche Taugenichts in die große von Bruder- und Schwesterliebe überfließende Gemeinschaft der Christen und trug bei dieser feierlichen Gelegenheit einen auf dem Trödelmarkt gekauften Frack, welcher ihm freilich bedeutend zu weit, dafür aber auch, was die Schwänze anbetraf, bedeutend zu lang war. Sein Haupt zierte ein hoher Hut, welchen er recht gut mit einem zweiten jungen Katechumen hätte theilen können. Er fühlte sich auch sehr unbehaglich in diesen Symbolen erlangter Männlichkeit und Selbständigkeit, und verkaufte sie sofort am folgenden Tage um ein Billiges.

Das schlug aber der mütterlichen Liebe beinahe den Boden aus; wenigstens war die nächste Folge davon, daß Heinrich mit seiner Erzeugerin ein sehr ernsthaftes Gespräch hatte, von welchem wiederum die Folge war, daß der verlorene Sohn sein väterliches Erbe, das in Garnichts bestand, und seine mütterliche Aussteuer, welche aus drei neuen Hemden, drei Paar Strümpfen, einem Kamm und verschiedenen andern unnöthigen Kleinigkeiten zusammengesetzt war, in ein buntes Taschentuch mit dem Bildniß des alten Fritz packte; ein Papier mit zwei Käsen und einem Häring, eine alte Brieftasche mit seinem Geburtsschein, Taufschein, Impfschein und Confirmationsschein in die Rocktaschen schob, – so ausgerüstet die Kellertreppe hinaufstieg, um sein Glück allein in der Welt zu versuchen und sobald als möglich am Galgen zu enden, wie seine Mama, mit dem Zipfel ihrer blauen Cattunschürze am rechten Augenwinkel, ihn fest versicherte.

Das für Frack und Hut gelöste Geld hatte der gute Sohn freilich nicht herausgegeben, wohl aber zerdrückte auch er zwei Thränen der Wehmuth in den Augen. Er wies jedoch später diesen Ausdruck tief menschlichen Gefühles als eine Fabel und bodenlose Verleumdung von sich ab und behauptete stets, diese Thränen seien nicht in Folge geistiger, sondern körperlicher Aufregung entstanden, denn die Mutter habe bei ihrer Abschiedsumarmung einen solchen Ruck an seinen Nackenhaaren gethan, daß er den Mann wohl sehen möchte, welchem an seiner – Knispel's Stelle nicht zu Muthe gewesen wäre, als röche er an die schärfste Zwiebel.

Wir sind nicht befugt, das zu glauben! Heinrich Knispel war ein Humorist, welcher seine eigenen Seelenschönheiten so viel als möglich versteckte, und sie in seltenen Momenten höchstens nur ahnen ließ. –

»Gut,« sagte er, »da sind wir! Da ist das Hühnchen ausgekrochen.«

Noch einen letzten Blick warf er hinab in das dunkle Gewölbe, wo er den Traum der Kinderjahre geträumt hatte.

»Das war stark! ... na, möge es der Alten gut gehen, – sie war freilich schlimm genug und zog keine Glaceehandschuhe an, wenn sie Einem was zu – sagen hatte; aber – – ach was – – 'n Abend, Mutter! Lebe Sie wohl, und halte Sie Ihr Versprechen von wegen der Victualien jeden Sonnabend, auf daß es Ihr wohlgehe, und Sie lange lebe auf Erden.«

»Adje, Heinrich! – Mach's gut; brauchst nur vorzugucken; verhungern sollst Du nicht, wenn Du auch ein Erzschlingel und Taugenichts bist.«

Bis der Sohn in einem kleinen Trabe hinter der nächsten Straßenecke verschwunden war, blickte ihm das mütterliche Auge nach. Dann tauchte die riesige, buntbebänderte Haube der wackern Frau nieder, um in dieser Geschichte nicht wieder zum Vorschein zu kommen. – – – –

Unmöglich ist es uns, Herrn Heinrich Knispel von jetzt an auf allen seinen Irrfahrten zu begleiten. Sie laufen allzusehr im Zickzack und würden uns vielleicht auch auf manches allzu schlüpfrige Terrain führen, auf welchem unsere Feder ausgleiten und den leider Gottes an ihr befestigten Schreiber Dieses mit sich hinabreißen könnte in den schauderhaften Abgrund öffentlicher Mißliebigkeit.

Hüten wir uns daher wohl, Jakob, und lassen wir den Burschen erst in einem Zeitpunkt wieder erscheinen, wo er der Staatsmoral und der Moral des »sichern Bürgers«, sowie auch der Irritabilität der holden Bürgerin gegenüber auf unserm Versenkungsapparat emporschnellen kann, wenn nicht rein, so doch wenigstens gesäubert und gewaschen von mancherlei Dingen, welche ein Leben, wie das seinige, nothwendiger Weise ihm anhängen mußte. –

Ja, Röschen Wolke ist todt und Felix war in der weiten Welt, und Heinrich Knispel wachte allein an Röschen's Sarge.

Nun will ich Euch erzählen von Röschen Wolke!

Im Zaubergarten glänzen die bunten Lampen; es drängt sich das Volk vor der hellerleuchteten Eingangsthür und durch die Gartengänge. Rauschende Musik, Lachen und Jubel ertönt aus dem Sommertheater: es wird eine neue Localposse gegeben, und der Schauspieler Emil Wolke ist ein großer Liebling des Publicums, welches den Zaubergarten besucht.

Von Zeit zu Zeit hört man über all' den harmonischen und unharmonischen Lärm ein lauteres Wort der Darsteller – die Baßstimme des edeln Vaters oder den kreischenden Discant der ersten Liebhaberin, worauf dann gewöhnlich ein unendliches Getöse, Hurrahgeschrei und Gebrüll erfolgt: »Bravo! heraus! Da Capo! bravo! bravo!«

Der Jasmin und der spanische Holunder stehen in Blüthe und bilden duftige Lauben und Verstecke. Liebespaare und Anderes wandelt hier und kann sich hier verbergen, Schaaren junger Leute drängen sich daran vorüber; – Gelächter aller Art – o wie lacht die Welt doch so verschieden! – erschallt überall. Kinder jagen einander im Spiel, der Springbrunnen spielt lustig mit der Messingkugel, welche in seinem Strahl auf und nieder tanzt; es wird aus Bolzenbüchsen nach dem Herzen der Regimentstochter oder nach dem Apfel auf dem Haupte von Tell junior geschossen.

Hinter dem bretternen Theater, tief im Schatten eines dichten Fliedergebüsches, in welches nur ein unbestimmtes Leuchten der Gasflammen und buntfarbigen italienischen Laternen fällt, sitzt eine Frau, an welche sich ein Kind – ein kleines Mädchen von zwölf Jahren schmiegt. Ein junger Bursche, wohl sechzehnjährig, im gelben Sommeranzug lehnt daneben.

Wenn ein vollerer Lichtstrahl auf diese stille Gruppe inmitten des Getöses fiele, so könntet Ihr sehen, wie bleich das abgehärmte Gesicht der Frau war, wie müde das Auge, wie unheimlich es zuckte über die feinen Züge. O, schwiege doch nur einen Augenblick die Trompete, der Brummbaß und die Hoboe, so könntet Ihr vernehmen, wie schwer und mühsam der Athem der Frau war, so könntet Ihr Seufzer hören und unterdrücktes Schluchzen.

Aber Glockenspiel, Trompete und Brummbaß lassen sich nicht irren! – Horch, die Stimme hinter der dünnen Bretterwand, welche die geschminkte, ölgetränkte Welt der possenhaften Ausgelassenheit von der Welt der Wirklichkeit trennt! Warum zuckt die bleiche Frau zusammen? –

Wie das Publicum wiehert und brüllt:

»Wolke! Wolke! Wolke heraus!«

Händeklatschen und wahnsinniges Fußgestampf:

»Bravo! bravo! bravo, Wolke!«

Das schlaftrunkene Kind erhebt sein müdes Köpfchen: »Sie rufen den Papa!« Die Mutter zieht es fester an sich und spricht ihm leise zu und drückt es wieder an sich; unruhig rückt der junge Bursche auf seinem Platze hin und her.

Immer lauter wird die Stimme auf der Bühne; immer stärker duften die Fliederbüsche rund umher. Ach, nicht sie sind es, welche die Frau betäuben, Kopf und Herz ihr schwindeln machen: die Stimme ist es! die Stimme auf der Bühne!

Das Geschrei und Gelächter der Menge war Schuld daran!

O Geduld, Hermine Wolke! Nur noch eine kurze Zeit Geduld, und die Posse ist aus – aus, aus. Es neigt sich zu Ende, Hermine! Drücke Dein Kind nicht so fest an Dich – die Wasser steigen, und vergebens klammerst Du Dich an dieses junge Leben, welches Du in die Welt geboren hast. Los die Hände, arme Hermine, arme Mutter! Noch eine Woge Dir über das Haupt, noch ein Schmerzerzittern, und Alles ist vorüber – vorüber! ... Alles ist gut und das Trauerspiel des Lebens, welches die Stimme da auf der Bühne für eine Posse ausgeben möchte, ist zu Ende! – – –

Und rascher und heiserer wird die Stimme auf der Bühne:

»Bravo, bravo; Wolke heraus, heraus!«

Emil Wolke, noch einmal trittst Du vor an die Lampen, die Arme auf die Brust gekreuzt, dreimal Dich verbeugend; – der Vorhang fällt. Weißt Du gewiß, Emil Wolke, daß es eine Posse war, was Du da spieltest, Emil Wolke?

»Es ist aus,« sagt der erbsengelbe Jüngling zu der kranken Frau, welche sich erhebt. »Bleiben Sie ruhig sitzen; ich will gehen, ihn zu holen.«

Die Frau versucht zu lächeln und nickt. Eilfertig springt Heinrich Knispel davon, den Schauspieler zu ertappen, ehe er zu einem der Schenkstände gelangt, von wo er nicht so leicht zu entführen sein würde. Er erwischt ihn auch richtig und ergreift ihn am Schooß seines weißen Sommerrockes.

»Holla, Herr Wolke?«

»Sieh da, der Musikant. Meine Frau auch da, Knispel?«

Heinrich deutet über die Schulter: »Sie sitzt mit dem Kind und wartet auf Sie, Principal.«

»Gleich, gleich – komme gleich.«

»O Herr Wolke, wenn Sie doch jetzt mitkommen wollten?! Röschen –«

»Jawohl, jawohl; ich komme im Augenblick.« Und er warf dabei seitwärts verlangende Blicke.

»Ach, Principal, Röschen wartet –«

»Geh' zum Teufel, ich komme gleich!« schreit Wolke mit dem Fuß aufstampfend. »Hat man denn keine Minute Ruhe?«

Fort ist er von Knispel's Seite; dieser ballt die Faust in der Tasche und nimmt die Mütze ab, als ob es ihm zu heiß werde. Dann seufzt er tief und zieht die Achseln in die Höhe:

»Hab's mir wohl gedacht – arme Frau!«

Wehmüthig, scheu schleicht er zurück und denkt nach über eine kleine Nothlüge, welche ihm aber auf dem kurzen Wege durchaus nicht einfällt; wie sehr er sich auch den Kopf reibt.

Stumm sitzt er nieder an Hermine's Seite, wühlt verlegen in seinen Taschen und macht zuletzt seinem Kummer dadurch ein wenig Luft, daß er ein Joujou hervorzieht und dasselbe in einem Mondstrahl auf- und abschnurren läßt. Die Frau fragt nicht, sondern senkt nur das Haupt resignirt ein wenig tiefer.

»Nun will ich hingehen!« sagt Röschen, und ehe die Mutter die Hand ausstrecken kann, das Kind zurückzuhalten, ist es leichtfüßig davongeeilt.

»Heinrich,« sagt die kranke Frau kaum hörbar, »Heinrich, versprich mir Etwas.«

»Alles, Alles, Frau Hermine!«

»Bleibe ihm zur Seite – meines Kindes wegen – wenn ich todt bin.«

»O Frau ... Frau –«

»Willst Du das mir versprechen, mein guter Junge? Willst Du Dich meines Kindes annehmen, wie Du kannst?«

»Ich will,« schluchzt Heinrich Knispel. »Ich will Alles, was Sie wollen – o Gott! sprechen Sie doch nicht so!«

Hermine Wolke greift nach seiner Hand und drückt sie mit ihrer fieberhaft heißen: »Dank, Dank, Heinrich! Sei treu und gut, so kannst Du Dir das Himmelreich verdienen an dem, was Du für mich und mein Kind thust, wenn ich nicht mehr bin. ... Da kommt er!«

Und er kam, geführt von seiner Tochter. O wie schwankend war sein Gang, wie verglast sein Auge!

Er wagte es, sich auf den Arm zu stützen, welchen ihm sein Weib bot. Sie, die Sterbende, führte ihn den langen Weg, der ärmlichen Wohnung zu, und Heinrich Knispel ging langsam mit dem Röschen, Hand in Hand hinter den beiden Gatten her; er, welcher in Emil das größte Genie, in Hermine das Ideal êáô' ?îï÷Þí verehrte. –

 

Das andere Bruchstück.

Wenn der große Strom eingegangen ist in die große Stadt, bleibt er nicht lange so rein und schön, wie wir ihn draußen kennen zwischen Berg und Wald, Wiese und Ackerfeld. Was der Mensch ergreift zu seinem Gebrauch und Nutzen, dem drückt er nur allzu leicht den Stempel der Häßlichkeit, der Entweihung auf.

Da zweigt sich ein unheimlicher Seitencanal ab vom Hauptarm und verliert sich in eine dunkle Gasse, gebildet von himmelhohen Gebäuden, engen Höfen, Pfählen, Füllplätzen, Färbergestellen. Ein faules elektrisches Leuchten spielt hie und da auf der breiartigen Fluth, ein Duft von Moder, Verwesung und Tod erfüllt die Luft; und doch liegt die Sommernacht so wonnig, unschuldig und schön über der Welt, und die Sterne glimmern und flimmern über den phantastischen Schornsteinen und dem zerbröckelnden Mauerwerke, wie sie draußen auf die stillen Wälder und Wiesen herablächelten.

In dem höchsten Stockwerk eines der Gebäude, welche an den Canal stoßen, leuchtete schwach ein Licht durch zwei Fenster, welche durch keinen Vorhang verhüllt waren. Das Lämpchen, welches den schwachen Schein gab, stand inmitten eines öden, leeren Gemaches auf einem wackelnden Tisch, an welchem zwei Männer saßen.

Wüst und leer war das Zimmer!

Die Wände, einst mit weißem Kalk übertüncht, hatten längst ihre natürliche Lehmfarbe wiedergewonnen. Der Gips des Fußbodens war geborsten, das Aussehen der wenigen Gerätschaften kündete lange, lange Dienste an bei den verschiedensten Besitzern. Ein zerborstener Spiegel und eine colorirte Lithograhie, Seidelmann als Mephistopheles darstellend, bildeten den ganzen Schmuck der Ausstattung. Ein schlechtes Bett stand in einem Winkel, und eine verschlossene Thür führte in eine kleine Kammer.

Wenden wir uns jetzt zu den beiden Männern, vor denen auf dem Tische die qualmende Lampe neben einer halbgeleerten Flasche stand!

Da ist zuerst der Hagere, welcher das Kinn auf die abgemagerte Hand stützt und stier in die Flammen des Lichtes blickt. Er ist mit einem abgeschabten, schlotternden Rock bekleidet, schlotternden Beinkleidern und schlechten Stiefeln, welche ihm ebenfalls zu weit zu sein scheinen. Alles schlottert an dem Manne; der Körper in den Kleidern und der Geist in dem Körper!

Die zweite Gestalt ist ganz das Gegentheil der ersten. Alles ist an ihr ein wohlthuendes Ausgefülltsein; selbst die kleinen zwinkernden Augen scheinen kaum Platz in ihren Höhlen zu haben. Die Backen müssen, nach menschlicher Berechnung, unbedingt nach der nächsten Mahlzeit platzen; die Aermel an den Ellbogen des erbsengelben Rockes sind bereits geplatzt; die Knöpfe der Weste sind aus ihren Knopflöchern gesprungen. Dem Manne war jedenfalls sehr warm zu Muthe.

»Wo Wolke friert, schwitzt Knispel!« stand ohne Zweifel in dem großen Hauptbuche, welches in doppelter Buchhaltung über den alten Erdball und Alles, was daran hängt, von Anbeginn an, gehalten wird.

»Bin ich kein Künstler, Knispel?« rief der Schauspieler Emil Wolke, den Arm ausstreckend. »Rede, sprich, antworte, Mensch! Bin ich kein Künstler, kein großer, mächtiger Künstler?«

»Das sind Sie, Principal. Ein großer Mann sind Sie, aber schreien Sie nicht so, Sie wecken das Röschen.«

»Ja, ich bin ein Künstler, Wenn Hamlet todt auf der Bühne liegt, schreite ich unter dem Gefolge des Fortinbras blechklirrend hervor und stütze mich im Hintergrunde, über den gefallenen Hoheiten, malerisch auf den Schild. Ich bin unter dem Volk, welches eindringt in das Haus des Musikanten Miller, oder welches sich um die Leiche Valentin's des Soldaten sammelt. Bei jedem bestimmten und unbestimmten Geschrei, Jubel oder sonstigem Geräusch bin ich betheiligt. Ich putze die Krone und klopfe die Motten aus dem Hermelinmantel; ich hole aus der Requisitenkammer, Nummer 630, den Schädel Jorick's des Spaßmachers. Ich bin ein Künstler, ein großer Künstler!«

»Ganz meine Meinung, Herr Wolke.«

»Wie der Held schreit und strampelt und weitbeinig über die Bretter schreitet! Horch, jetzt greint die holde Ophelia! Wie die geschminkten Hofdamen, welche nun auftreten sollen, grinsen und Zweideutigkeiten und Haushaltsgeschichten zum Besten geben! Wie häßlich sie sind! Nun wendet der Regisseur den Rücken: Durchlaucht will eine neu engagirte Grazie in der Nähe sehen – wer wehrt es mir, jetzt den Pappschädel zwischen den Füßen zu rollen – ha, ha, ha, – und einen Blick, zwischen den Beinen Hamlet's durch, auf Die da draußen vor den Lampen zu werfen? ... Und ich bin doch ein Künstler! Ihr Männlein und Weiblein, ahnet ihr nicht, daß ich hier sitze und mir die Stirn wund schlage mit der geballten Faust? Heraus, heraus Dämon! Heraus Wurm, welcher Du im Hirn nagst und bohrst bis die armselige Fiber Lebenstrieb durchgefressen ist, und ein Theaterschuß aus der Theaterpistole der Geschichte ein Ende macht.«

»Principal – Herr Wolke! Herrje, werden Sie nicht verrückt!« rief ängstlich Knispel, aber der Andere hörte und sah nicht mehr, und seine Stimme wurde nur noch lauter und kreischender.

»Hollah, da wechselt die Scene – eine Posse! Posse! Wie der Narr schwitzt! Ist Dir die bunte Schellenkappe eine so schwere Last? Recht, nimm sie ab und wirf sie mir zu! Lege Dein ernsthaft bornirtes Alltagsgesicht wieder in die gewohnten Falten, Du Thor, welcher Du glaubst, den Narren spielen zu können. Hier, hier, hier sitzt der wahre Narr, der echte Narr, der Urnarr! – Hier, Ihr bunten Weiberchen und Männerchen vor den Lampen! Hier, hier, Du hohler Phrasenmacher, welcher Du ein Dichter sein willst – auf Deine Gesundheit, Schatz! auf Dein Wohl, alter Trommelhans –«

»Principal, erlauben Sie mir –«

»Ruhig da, – es ist nicht wahr, wenn er von Vaterlandsliebe spricht! Wer glaubt daran? Etwa ich?«

»Herr Wolke, erlauben Sie –«

»Ehre, sagt der Graukopf? Glaub' ihm nicht, Heinrich Knispel, er hat nur das große Wort, wie wir Alle.«

»Aber, Herr Wolke –«

»Liebe? ... was meint das junge Weib damit? O ja, meine Mutter hat mich geboren und gesäugt, sie war eine brave Frau; und mein kleines Mädchen liebt mich auch, und sie – sie – die Todte – Himmel und Hölle, hier, Herr, Ihre Narrenkappe, nehmen Sie – sein Sie ihrer würdig! O Hermine, Hermine! arme, arme Hermine! ... Er nennt mich einen Esel und geht – o Gott, wer doch ein Esel wäre, ein Esel mit einer fixen Idee, einer fixen Distelidee! Welche Wonne, ein Esel zu sein, wie Du, Knispel, und der Intendant, und der erste Liebhaber und –«

Dem Trunkenen strömten die hellen Thränen über die Wangen; Knispel aber nahm ihm die Flasche fort und sagte begütigend:

»Ja, ich bin ein Esel, Principal. Das ist mir von frühester Jugend an verkündigt; mein Vater, welchen ich gar nicht kannte, hat es gewiß gesagt, und von meiner Mutter und dem Armenschullehrer weiß ich es gewiß. Sie haben Recht, wie immer, Principal; aber nun lassen Sie auch das Schreien. Ihr weckt das Röschen und das dürft Ihr nicht, das leide ich nicht.«

Ach, das Röschen wachte schon lange und lauschte den wirren Worten des Vaters, und dachte an die todte Mutter, und drückte fest die Hand auf den Mund, um nicht in ein lautes Weinen auszubrechen. Ganz still lag es, das feine Gesichtchen fest in die Kissen gedrückt; begraben in der Fluth der herabrollenden dunkeln Locken.

Ueber den Schauspieler Wolke aber schien mit dem Einspruche Heinrich's und der mehr und mehr vorrückenden Nacht eine andere Stimmung zu kommen. Sprechen mußte er, das war ihm jetzt Lebensbedingung, aber die fast irrsinnige Aufgeregtheit machte der tiefsten Wehmuth und Zerknirschung Platz, und mit leiserer Stimme fuhr er fort, indem er mit der irrenden Hand durch die langen, spärlichen Haare griff, und einen scheuen Blick hinter sich und über die Oede der Wohnung warf:

»O es ist ein erbärmliches Leben, Heinrich Knispel! Es ist der Jammer und die Angst, der Rum, was mich faseln macht; – achte nicht darauf, Heinz! Weißt Du nicht, daß ich sie getödtet habe? Weißt Du nicht, daß ich ihr Mörder bin? Weißt Du nicht, daß ich sterben muß an den Gedanken an ihre Schönheit, Güte und Herrlichkeit?«

Heinrich Knispel hatte den Kopf schwer auf beide Hände fallen lassen; ein Seufzer entrang sich ihm, welcher aus tiefster Seele kam. –

»Und was soll aus dem Kinde werden?!«

»Sie sollten zu Bette gehen, Meister,« sagte Heinrich, ohne aufzuschauen. »Im Sonnenschein sieht sich Alles besser an: ich hoffe, wir machen noch eine Prinzessin aus ihr, eine Prinzessin, die in Gold und Seide geht. Legt Euch zu Bett, Principal, es ist sehr spät oder vielmehr früh, auch ich muß heimgehen.«

»Armes Kind, armes kleines Röschen,« murmelte dumpf der Schauspieler. »O Hermine, was soll aus unserm Kinde werden, wenn Du da droben nicht Dich ihrer annimmst?«

Das schwere Haupt des Redenden sank allmälig herab auf die Brust, die Augen schlossen sich, er schlief so ein, und seine gänzliche Hilf- und Haltlosigkeit trat dadurch noch greller und abschreckender hervor.

Knispel starrte ihn, in seine eigenen Gedanken versunken, wohl eine Viertelstunde lang an, bis eine Glocke in der Ferne schlug, und er, einem feisten, erschreckten Murmelthier gleich, auffuhr.

Er legte dem Schauspieler die Hand auf die Schulter: »Meister! Herr Wolke, wachen Sie auf!« Ein grunzendes Gestöhn antwortete ihm.

»Principal, so hören Sie doch.«

»Geh zum Teufel, Hund!« schrie der Erwachte aufspringend. Er wußte weder, wo er sich befand, noch was er that. An beiden Schultern hatte er den entsetzten Knispel gepackt und schüttelte ihn mit einer Kraft, welche man seinen schwächlichen Armen nicht zugetraut haben sollte.

»Wer gibt Dir das Recht, mich zu wecken, wenn ich schlafen will? Sprich, Du feixendes Schmierkäsegesicht, willst Du aus dem Fenster, oder willst Du lieber die Treppe hinunter? Die Kehle schnüre ich Dir zu, Du Dickkopf!«

Der Paroxismus schüttelte den kranken Mann hin und her, und Knispel hatte genug zu thun, sich ihm zu entziehen, als plötzlich eine ängstliche Stimme das Gemach durchzitterte. Angreifer und Angegriffener drehten sich blitzschnell, und die Hände des Schauspielers ließen den Rockkragen Knispel's. In der offenen Kammerthür stand bleich, erschreckt, zitternd – Röschen Wolke im leichten Nachtgewand, und streckte die gefalteten Hände bittend aus:

»Papa! o lieber Papa!«

Der Schauspieler griff an die Stirn und zitterte fast noch mehr, als sein Kind.

»O lieber Papa, thue ihm Nichts zu Leide! Bitte, bitte!«

Mit welchen unbeschreiblichen Glotzaugen Heinrich Knispel die liebliche, zarte weiße Gestalt anstarrte! Wie der Schauspieler in den fernsten Winkel des Gemaches zurückwich.

»O Röschen,« – seufzte Knispel. »Erkälte Dich nicht, Röschen; es war nur Spaß.«

»Ja, es war nur ein Spaß,« murmelte Wolke. »Geh' zu Bett Kind, – es thut mir Leid, daß wir Dich aufgeschreckt haben. Ich studirte nur eine neue Rolle an dem Jungen da.«

Das junge Mädchen schritt leise zu dem Vater hin: »Bitte, Papa, sei nicht böse, daß ich gekommen bin – ich habe wohl nur geträumt.«

»Ja, ja, Herz! Geh nur wieder in Dein Nestchen! der Heinz kann sich auch nach Haus packen, und ich will auch schlafen.«

Wie das Kind gekommen war, so verschwand es auch wieder, gleich einer holden, süßen Erscheinung und Knispel trat wieder zu dem Schauspieler und sagte:

»Morgen früh komme ich zurück. Seien Sie ohne Sorgen, Principal, das Geld finden wir schon. Nun geben Sie mir den Hausschlüssel, damit Sie mich nicht die steilen Treppen hinunter zu begleiten brauchen; es ist genug, wenn Einer von uns Beiden den Hals bricht. Ich finde meinen Weg gut genug im Dunkeln.«

»Gute Nacht, Heinrich,« sagte mit müder Stimme Emil Wolke. Noch einmal blickte ihn Knispel verstohlen an, dann ließ er ihn, wie es schien zweifelnd und mit geheimem Widerstreben.

»Schließt doch das Fenster, Meister!« flüsterte er noch in der Thür. »Die Nachtluft und die Dünste des Grabens drunten taugen nichts. Schlaft wohl, Meister.«

Jetzt hatte sich endlich die Thür hinter ihm geschlossen und man hörte, wie er vorsichtig draußen auf dem dunkeln Vorplatz nach dem Treppengeländer tappte. Es dauerte eine geraume Zeit, ehe die Hausthür erklang, und Heinrich Knispel wohlbehalten in der Gasse angelangt war.

Der Schauspieler aber lehnte noch immer am Fenster. Der Nachtwind erfrischte ihn nicht; die funkelnden Sterne waren für ihn nicht da. Ihm war Alles finstere Finsternis; und schwül, schwül war die Luft, welche er athmen mußte.

Und es kam über ihn, daß er die Kunst geliebt und den goldnen Kranz der Ehre verloren habe; daß er sein Weib geliebt und es unsäglich elend gemacht habe, daß er sein Kind liebe und – – o, es kam über ihn in dieser bösen Stunde, wo Herz und Hirn betäubt waren, daß er ein jämmerlicher Schwächling, ein blutloser herzloser Feigling sei. Der Schweiß perlte ihm in großen Tropfen auf der Stirn; die Hand, mit welcher er sie trocknen wollte, zitterte mehr denn je! Wieder suchte er die Flasche, in der dumpfen Ahnung, daß für ihn nur in dem Nichtwissen von sich und der Welt Ruhe zu finden sei; – wieder wankte er zurück zu dem offenen Fenster. O wie schwül, schwül, wie gewitterschwül die Nacht! ... Er wußte nicht mehr, was er that, wo er sich befand; er war nur eine sich regende, aber geistlose Masse, welcher selbst der Instinkt des Thieres fehlte. Kein Fünkchen freien Willens mehr zwischen ihm und dem Richter – dem großen Richter! –

Was schreckte Röschen Wolke in ihrem dumpfen Halbschlaf zusammen? Warum richtete sie sich auf im unerklärlichen Schauder und Entsetzen?

»Papa, Papa! Lieber Papa!«

Nichts antwortete dem leisen Ruf des Kindes. Es horchte – kein Laut – Dunkelheit und tiefste Stille umher – nur in weiter Ferne bellte ein Hund, rollte ein Wagen. Die große Stadt schlief, und der Vater schlief – schlief! –

Der Kopf des jungen Mädchens sank wieder zurück auf das ärmliche Kissen: »Er wird zu Bett gegangen sein – fort ihr bösen, häßlichen, schrecklichen Träume!«

Von Neuem schlummerte Röschen ein, und in dem andern Gemache erlosch die Lampe, und der kalte Lufthauch des nahenden Morgens zog scharf durch das offne Fenster. In diesem Fenster aber, auf der Brüstung war Blut, – Blut von einer verwundeten Hand, und der eine Flügel hing zerbrochen und aus den Angeln gerissen herab. Zersplitterte Glasscherben bedeckten den Boden.

Ein Körper schlug nieder – es ist wohl eine halbe Stunde her – in den schmutzigen, schwarzen Canal, tief unter dem Fenster. Ein kurzer Todeskampf – der Schauspieler Emil Wolke war ein Spiel der moderhaften Fluth, welche seinen Leib langsam fortschob, in den breitern Flußarm hinein. Langsam, langsam trug ihn dieser weiter, unter dunkeln Brückenbogen hin, an den Häuserwänden hin, vorüber an den schwarzen Torf- und Holzkähnen. Jetzt vorbei an den Mauern des Königsschlosses, jetzt im tiefern Schatten einer Kirche weiter – langsam, langsam, aber unaufhaltsam, wie die ebenso trübe Fluth des Lebens den Lebendigen trug – weiter, weiter, jenem Pfeilerbau entgegen, welcher vor dem Austritt des Flusses aus der Stadt alles Das auffangen soll, womit die Stadt das reine Element besudelt und geschändet hat.

Erwache, Röschen Wolke! Es geht ein rother Schimmer über die Dächer. Goldner und goldner färben sich die ziehenden Wolken – der Morgen kommt, erwache, Röschen Wolke! Schon glüht Alles im Strahl der jungen Sonne! – Der Morgen golden und roth und lebenbringend ist gekommen! Was bringt er Dir, Röschen Wolke?

 

Das dritte Bruchstück.

Hell schien die Sonne in das Gemach, welches wir in der dunkeln Nacht betraten. Hoch stand sie am Himmel, und stundenlang schon kämpfte die große Stadt um ihr täglich Brot, als Röschen Wolke noch immer im tiefen Schlaf lag. Ein verirrter Strahl der Sonne spielte um das nackte, rosige Füßchen, welches unter der Decke vorlugte.

Jetzt kam ein leises Pochen an die Thür, wurde aber lauter, als Niemand hörte und antwortete.

»Herr Wolke!«

Erwachend richtete sich Röschen auf.

»Papa, Heinrich ist da!«

Auch jetzt regte sich Nichts in dem Zimmer, und schnell sprang das junge Mädchen von dem Lager, kleidete sich eilig an, sprang in das Wohngemach und blickte erstaunt umher. Das Bett ihres Vaters war leer und unberührt. Verwundert rief das Kind durch die Thür:

»Guten Morgen, Heinrich! Wo mag der Papa sein? Er ist nicht hier.«

»Guten Morgen, Röschen!« schallte es zurück. »Ist er schon ausgegangen?«

»Ich weiß nicht, Heinrich. Ich bin eben erst aufgewacht durch Dein Klopfen und Rufen.«

»Eben erst aufgewacht, Röschen? Langschläferin! ... Aber ... aber Röschen, die Thür ist ja von innen verschlossen, der Papa kann nicht ausgegangen sein.«

Einen erschreckten Blick warf Röschen Wolke zurück, dann drehte sie schnell den Schlüssel und Knispel stürzte herein – sein Blick haftete auf dem zerbrochenen Fenster, und das Auge Röschen's folgte ihm. Beide stießen zu gleicher Zeit einen Schrei des Entsetzens aus.

»Was ist das? was ist das?«

Knispel's strohfarbene kurzgeschorene Haare strebten steilrecht in die Höhe, als er die Blutspuren in der Fensterbank und auf dem Fußboden erblickte; die Augen quollen ihm mehr als je aus dem Kopfe. Als er sich aus dem Fenster beugte, geschah das mit dem Gefühle, als werde er da unten etwas Schreckliches, namenlos Furchtbares entdecken; aber er erblickte nichts. Ruhig schlich die grüngelbe Fluth in der Tiefe dahin, Reflexe des Sonnenlichtes spielten auf ihr, und nur eine todte Katze drehte sich grade unter dem Fenster langsam im Kreise. Röschen Wolke sah und hörte nicht mehr. Sie hatte ein dumpfes Bewußtsein, daß plötzlich viele Menschen, Männer und Weiber, um sie her waren – aber weshalb sie da waren und die Hände zusammenschlugen und durch einander sprachen, wußte sie nicht.

Jetzt waren auch Männer in Uniformen dazwischen, die Rumflasche wurde von dem Tische genommen, und Dinte, Feder und Papier darauf zurecht gelegt. Ein Herr, mit einem bunten Kragen auf dem Rocke, setzte sich und schrieb, fragte wieder und schrieb wieder. Andere Leute kamen und zeigten Zettel und verlangten Geld; und die Sonne stieg während dem immer höher am blauen Himmel.

Der schreibende Herr nahm jedesmal, wenn er das Röschen ansah, kopfschüttelnd eine Prise. Jetzt schien er fertig zu sein; denn er nahm seine goldne Brille ab und putzte sie sorgfältig mit seinem schönen, gelben, seidenen Taschentuche.

»Was soll aus dem jungen Mädchen werden, bis das Sachverhältniß klar ist?« fragte er.

Da sprach Heinrich Knispel leise zu ihm, und der Herr sah anfangs sauer drein, nickte aber zuletzt.

»Liebes, liebes Röschen, jetzt geh' mit mir, bitte!« sagte Heinrich zu dem Kinde Hermine's.

Er nahm leise und zart ihre kalte, leblose Hand und zitterte dabei gleich einem Espenlaub. Er führte sie aus dem unheimlichen Gemache, welches die Fremden überschwemmt hatten.

»Er ist gefunden – angeschwemmt am Unterbaum,« sagte Jemand auf dem dunkeln Vorplatze.

Schwindelnd, sinn- und herzverwirrt standen die Beiden jetzt in der sonnenhellen, lebendigen, geräuschvollen Gasse. – –

Heinrich Knispel sah jünger aus, als er war. Heinrich Knispel hatte schon viel erfahren im Leben, und seine kleine, glänzende, nichtssagende Nase in allerlei Dinge gesteckt, deren Kenntniß manchem Minister des Innern zu wünschen wäre. Obgleich er niemals über die Grenzmark seiner Vaterstadt herausgekommen war, so wußte er doch innerhalb dieses Kreises gut genug Bescheid.

Wohl hatte er schon öfters an jener gewaltigen Schleuse, welche den Fluß zwingt, das Verschluckte wieder herauszugeben, dem Auffischen jener häßlichen Zeugnisse unserer socialen Zustände beigewohnt. Den Selbstmörder und den Gemordeten, das verlorene Weib und das neugeborene Kind hatte er unter den Stangen und Haken der Schleusenwärter auf- und niederschaukeln gesehen, hatte auch wohl die an's Land gezogene Leiche bis zu jenem niedrigen Nebengebäude der Anatomie begleitet, wo sie aufbewahrt wurde, bis irgend eine Menschenseele nach ihr fragte, oder bis sie, verlassen von der Welt, dem ewigen Proceß verfiel, welchen die Natur geht auf ihren geheimnißvollen Wegen in der Erzeugung des Lebendigen. Knispel wußte, wo sich das befand, was gestern Abend noch der Schauspieler Emil Wolke war, deshalb schrie er:

»O Gott, ist das ein Traum oder nicht?«

Deshalb hielt er an dem nächsten Brunnen den Kopf unter den hervorsprudelnden kalten Strahl, zum Gelächter aller Derjenigen, welche nicht wußten, daß Heinrich Knispel kein Gegenstand des Lachens und Spottes sei.

»O Principal, Principal! O Teufel, Teufel – ein so großer Künstler! O Himmel, i i ich wollte, Röschen, wir Beide schliefen ein und wachten erst wieder auf, wenn ein Jahr vorüber ist, oh, oh, oh Röschen, liebes Röschen!«

Da stand inmitten der eigentlichen Stadt ein großes, alterschwarzes Haus, welches vor ungefähr zweihundert Jahren der Generallieutenant van Hellen erbaut hatte, in einer Zeit, wo der Handel und Verkehr noch nicht diesen Theil der Stadt erobert hatten, wo es überhaupt hier noch keinen Handel und Verkehr, sondern nur Soldaten, finstere orthodoxe Theologen, gedrückte ängstliche Kleinbürger und einen strengen, wunderlichen König gab. An beiden Seiten des Thorweges dieses Hauses trugen zwei mohrenhafte, weibliche Personificationen des Mißmuthes mit verbissener Wuth den schwerfälligen Balcon, welcher sich vor den Mittelfenstern des ersten Stockwerks hinzog. Der untere Theil des Gebäudes war zu Läden eingerichtet. Durch diesen hohen Thorweg und die gewölbte Flur gelangte man auf einen großen Hofraum, in dessen Mitte der Brunnen sich befand, welcher durch sein Gekreisch so oft den Professor Homilius in seinen tiefsinnigen Speculationen störte, bis er sich an jenem ewig denkwürdigen Tage auf den Weg machte, das Lachen zu erlernen. Viele Treppen und Thüren führen auf diesen Hof, auf welchen hinaus auch die Fenster des Redactionsbureau des Chamäleons schauen; und wenn in dem Vorderhause mancherlei Geschöpfe sich eingenistet haben, so ist in den Hintergebäuden ihrer Zahl Legion. Nicht Jedermann kann es erschwingen, so viel Miethe zu zahlen, als er wohl möchte!

Auf der Flur dieses Hauses langten Heinrich und Röschen in demselben Augenblick an, als ein elegantes Cabriolet, welches ein junger hübscher Mann sehr geschickt lenkte, ebenfalls in den Thorweg einfuhr und die beiden Kinder zwang, sich dicht an die Wand zu drücken.

Hugo van Hellen hieß der Lenker des stattlichen, stampfenden, schnaubenden Pferdes. Einen flüchtigen Blick warf er auf das junge, bleiche Mädchen und den wunderlichen Begleiter, dann warf er den Zügel dem kleinen Bedienten zu und sprang die breite Treppe hinauf.

»Nun gib mir Deine Hand – ach, sie ist so kalt – Du weißt, Röschen, nun müssen wir hoch hinauf,« sagte Knispel, und so schritt er quer über den Hof als der Beschützer des schönsten Mädchens der großen, großen Stadt.

Wahrlich ging es hoch hinauf, im rechten Flügel der Hofgebäude, durch ein ohrenbetäubendes Gewirr von Tönen und Klängen der verschiedenartigsten Beschäftigungen – hoch, höher bis zur höchsten Höhe. Mühe kostete es auch dem Heinrich, ehe er das Schlüsselloch seiner Thür fand; aber war es auf dem Gange dunkel, so war es desto heller in dem seltsamen Aufenthaltsort, den er sich zurecht gemacht hatte, und wohin er das Röschen führte.

Fast geblendet wurde das Auge durch den Glanz des Tages, welcher ungehindert durch das schlechte Dachfenster fiel, das mit dem Fußboden einen beinahe spitzen Winkel bildete. Was eine Künstlernatur nur aufbieten konnte, war aufgeboten, das Gemach zu schmücken und zu verschönern. Die weiße Kalkwand war mit unendlichen Sternen, Rosetten und Nachahmungen von Thier- und Menschengestalten, ausgeschnitten in buntem Glanzpapier von allen Farben, überklebt, daß das Auge von dem Wirrwarr fast schwindlig wurde. An der Thür waren einige Drahtsaiten künstlich über zwei Brettchen gespannt, und an Pferdehaaren hingen darauf drei bis vier Stückchen eines thönernen Pfeifenrohrs herab, welche beim Oeffnen oder Zuschlagen der Thür ein anmuthiges Geklimper hervorbrachten – höchlichst ergötzlich dem Anfertiger und Erfinder dieses genialen Musikinstruments. In dem spitzen Winkel neben dem Bett stand ein Koffer, in welchen wir lieber nicht hineinsehen wollen; seine äußere Erscheinung war brillant, denn Heinrich hatte ihn selbst bemalt. Dieser Koffer diente zugleich als Sessel, wenn die beiden Stühle und das Bett besetzt waren. Ueber dem Bett hielt sich auf einem kleinen Brette ein einzelner Theil eines Theaterlexicons auf, ein Exemplar des Don Carlos und ein sehr zerlesenes Buch: Knallerbsen, oder: Du sollst und mußt lachen! – Anekdoten von Schulze und Müller, Louis Napoleon, Manteuffel, Saphir, Rossini, Napoleon dem Großen und Friedrich dem Großen. Außerdem befand sich noch auf diesem Brett eine Manuscriptrolle, die blutdürstigen Worte enthaltend, welche der große Mime Maulbrecht in den Räubern grimmig hervorzustoßen hatte. Heinrich Knispel war berufen, diese Worte dem Publicum zum Besten zu geben, als den großen Mimen kurz vor dem Auftreten das Delirium tremens packte, – Heinrich Knispel trennt sich bis an den Tod nicht von seiner Rolle! Ein Exemplar der Polizeiordnung gab es auch in dieser originellen Bibliothek, und Knispel hat als ein gewiegtes Mitglied und »ausgetragenes Kind« der menschlichen Gesellschaft seinen Daumen auf mehreren Blättern des inhaltvollen Schriftstückes abgedruckt. Worauf fällt der Mensch nicht, wenn ihm der Vollmond auf das Kopfkissen scheint, und er nicht einschlafen kann? –

Ein kleiner Ofen, dessen dunkle Höhle jetzt als Speisekammer diente, und welcher eine Spirituslampe sammt einigem Blechgeschirr trug, stand neben der Thür. Kleistertöpfe, Farbentöpfe, Papptafeln, bunte Papierschnitzeln und ähnliche Gegenstände bedeckten den Tisch. Auf dem dreibeinigen Schemel lag die Geige, welche Heinrich in so manchem Vorstadt-Tanzsaale strich. Vier Vogelbauer hingen an den Wänden, und ihre kleinen Insassen begrüßten das Röschen und ihren eintretenden Lehrmeister mit einem lustigen Auszwitschern dessen, was sie von dem Letztern gelernt hatten.

»Da wären wir!« sagte der Herrscher dieser wunderlichen Welt und setzte das kleine ärmliche Bündel, welches Röschen's Habseligkeiten enthielt, nieder, und schob dem jungen Mädchen den besten Stuhl hin, den er aufweisen konnte. Die Geige legte er vom Schemel auf das Bett, fiel selbst auf den Schemel nieder, nahm seinen strohgelben Haarwulst zwischen beide Fäuste und so – brachen beide Kinder in ein lautes Weinen aus. – So saßen sie den ganzen Tag! – nicht im eigentlichen Nachdenken über das, was geschehen war, sondern im dumpfen, schmerzvollen, wirren Brüten, einen Zustand des Halbtraumes, wie ihn ein urplötzliches Unglück über den Menschen bringt.

Und das Abendroth verglomm, und die Sterne kamen hervor; da kam über den Knispel ein absonderliches Gesicht. Die todte Hermine schwebte wie ein weißer Schatten im Mondlicht heran, hob die Hand, als mahne sie ihn an ein Versprochenes, und energisch nickte Heinrich und schluckte krampfhaft seine Thränen hinunter; gleich dem Schatten eines Nachtwandlers schritt Emil Wolke, der Schauspieler, über die Dächer und glitt dunkel der todten Hermine nach.

»Nun schau einmal auf, Röschen!« sagte Heinrich Knispel leise. »Es wird Nacht, nun will ich gehen, und Du sollst einschlafen. Was hier zu finden ist, damit kannst Du machen, was Du willst! Du mußt Dich heute begnügen – morgen wollen wir für Alles sorgen.«

»O Heinrich, Heinrich!«

»Na, na, ach weine nicht so, liebes Röschen – hier sind die Vögel, die werden Dich morgen früh wecken; eine weiße Maus werde ich Dir auch mitbringen, und wenn Du eine Schildkröte haben willst, so groß wie Deine Hand, so brauchst Du es nur zu sagen –«

»O Heinrich –«

»Hier ist der Glockenzug,« sagte Knispel und holte aus dem Winkel eine Blechröhre mit einem Mundstück. »Ein Sprachrohr! Schau 'mal meinem Finger nach, dort, siehst Du jenen Giebel im Mondschein, vor welchem das Dach hinläuft? Paß auf, da wohnt Fritz Motte, welcher die Clarinette bläst, da werde ich diese Nacht bleiben, Paß auf! Mo o otte! Mo o otte!«

Eine Gestalt erschien auf den Ruf in dem erwähnten Fenster, stand im nächsten Augenblick weitbeinig auf dem Dach, und schwang eine schwarzrothgoldene Fahne im Mondschein.

»Siehst Du, da ist er, Röschen! Du bist nun wie eine Königin und hast zwei Hofmarschälle, welche dem Teufel die Nase grün färben, wenn Du es verlangst. Klingle nur, wenn Du mich brauchst. Jetzt aber muß ich nach dem Kolosseum und Tänze kratzen. O Gott, Gott! O Röschen, Röschen; ich wollte–«

Und seine Geige aufgreifend, stürzte Heinrich Knispel davon, die Treppe hinunter auf die Gasse, und Röschen Wolke blieb mit ihrem schmerzenden Herz und Kopf allein zurück.

Durch Mondlicht und Schatten der Nacht und viel Getümmel der Straßen galoppirte Heinrich, die Geige unter dem Arm, und rechnete im Laufen an den Fingern:

»Kolosseum macht acht – Elisium macht sechzehn – Walhalla macht einen Ganzen – Cigarren nur geraucht, wenn sie geschenkt sind – Donnerhalloh – Vogelabrichten – Botenlaufen – jetzt wird's mir erst klar, daß ich schon lange ein reicher Kerl sein könnte! – O Röschen, Röschen – macht vier – macht acht – o Principal, so ein großer Künstler – macht sechzehn – bon, 's wird eine nette Sparbüchse, Frau Hermine! Vierspännig soll sie fahren, Frau Hermine!«

So trabte der Heinrich über den Naschmarkt und schwang die Mütze zum Monde empor:

»Voran Heinrich, Henri, zeig', daß Du ein ganzer Kerl bist; hungere und durste und sammele Schätze auf Erden, hurrah!«

Herr Hugo van Hellen aber, auf dem Divan liegend, die Hände unter dem Kopfe, die Beine der Decke entgegengestreckt, zerkaute in diesem Augenblick eine Havannahcigarre über den Gedanken an einen sehr übel angewandten Tag.

»Zum Teufel, wer mochte das niedliche Frauenzimmer sein, welches der drollige Kauz heute Morgen mit sich schleppte? Ah bah – ah – oh –«

Das Blut schoß ihm, seiner verrückten Lage wegen, dabei immer mehr in den Kopf, und er fuhr erst nach einer Stunde mit einem ärgerlichen Ausruf empor, als er sich noch im tiefen Dunkel wiederfand, und nach der Glocke auf dem Tische suchen mußte, um nach Licht zu schellen.

Der Herr von Jüdenberg, welcher dann kam, um ihn in seinem Wagen irgend wohin mit sich fortzuführen, geht mich nicht das Geringste an!

 

Das vierte Bruchstück.

Wer kann es wenden?

Die halbe Nacht bin ich an dem linken Ufer des großen Flusses auf- und abgegangen und habe darüber nachgedacht: wer es wohl wenden könne?

Wer kann es wenden? Wer kann es wenden?

Der weiße Genius des Todes lehnt sich über den Gräbern, um welche diese Geschichte sich aufrankt, traurig auf seine umgestürzte Fackel.

Es ist lange vorbei, und Nichts mehr daran zu ändern!

Ist nicht das menschliche Leben wie die Anordnung der Tausend und Eine Nacht, wo eine Geschichte immer die andere einschließt, und wo der Henker, der Tod mit dem Richtschwert hinter dem Vorhang lauscht und den Wink des Gebieters erwartet?

Grinse nur, laß nur die blanke Klinge funkeln; wir reiben doch die Wunderlampe und den Zauberring, und die dienstbaren Geister erscheinen: Luftschlösser und Zaubergarten bauen sich auf und schwinden wieder.

Wer konnte es wenden?

Schau, dort steigt der Mond empor! Ach, wie er in seliger Frechheit und vollwangiger Gleichmüthigkeit herablächelt auf das arme Geschlecht der Menschen!

Wer konnte es wenden?

Die halbe Nacht schritt ich durch die Weidengebüsche und sah die Fluth dunkel zur Seite fortschießen, dem Weltmeere zu, und heim kam ich mit den Worten des griechischen Tragikers auf den Lippen:

 

Wir sollten bei der Feier des Gelag's
Das Haus bejammern, wo ein Kind das Licht
Der Welt erblickte; denn wie mannigfaltig sind
Des Lebens Uebel! Doch wer durch den Tod
Die schweren Mühen nun geendet hat,
Dem sollten Freunde freudig segnend folgen.

 

Im Kolosseum erstickten die Musikanten auf ihrer Tribüne fast im Dunst und Qualm, die Kronleuchter erloschen fast; aber drunten im weiten Saal wirbelte und drehte es sich fort und fort, sinnverwirrend, sinnbetäubend.

Nur noch mechanisch strich Heinrich Knispel, mit fast erlahmter Hand, seine Geige, und Mancher der Kameraden blies mit geschlossenen Augen in sein Instrument. Kreischende, wilde Stimmen übertäubten das Gegrunze des großen Basses, und selbst die Pauke übertönte nur zeitweise dumpf den Lärm.

Immerzu, immerzu! Krankheit, Arbeit, Noth, Schande – wer denkt daran? Wer kümmert sich um das drohende »Morgen?« Immerzu, immerzu, bis das Auge nicht mehr sieht, das Ohr nicht mehr hört, bis in übermäßiger Erschöpfung alle Glieder versagen.

Noch ein Aufflammen der wilden Lust; dann urplötzliches Zusammensinken. Die Gasflammen erlöschen, bis auf wenige hier und da zerstreute Lichter. Zerstreute Lichter, daß die Schwindelnden den Weg nicht verlieren, daß die Polizei sehen und aufmerken kann.

Vorbei!

Stöhnend, fluchend, gähnend packten die Musikanten in ihrer Höhe ihre Instrumente zusammen und stiegen auf dunkeln Hintertreppen hinab in dunkle, übelduftende Höfe und gelangten durch schmutzige Hinterthüren in die dunkeln, schmutzigen Gassen, wo der Schnee zerfahren und zertreten war.

Es war bitterkalt; matt leuchteten die weißen Dächer durch die Nacht, es drohte noch mehr Schnee. Knispel war der Letzte, welcher, die Geige unter dem Arm, auf die Straße hinausgelangte.

»Drei Uhr!« seufzte er. »Ach, meinetwegen hätte es bis an das Ende der Welt fortgehen können. O Gott, es ist mir Alles einerlei.«

Am nächsten Brunnen setzte er den Schwengel mechanisch in Bewegung und hielt seiner Gewohnheit nach den Mund an die Röhre, den im Laufe der Nacht verschluckten Tabaksqualm und Staub so gut als möglich hinunterspülend, ehe er seinen Weg fortsetzte.

Jahre waren vergangen, seit er das verwaiste heimathlose Röschen in seiner wunderbaren Dachkammer untergebracht. Jetzt wohnte es schon lange nicht mehr darin.

Als der Knispel vor seiner Thür ankam, regte sich schon manches Zeichen des Lebens wieder in den Hintergebäuden des großen Hauses. Eine Mädchenstimme war wach, und ein Hammer erwachte so eben und klopfte lustig herum an einer Wiege, die heute auf jeden Fall fertig werden mußte.

Der Morgen war da, aber das Vorderhaus hatte noch einige Stunden der Ruhe vor dem Hinterhause voraus. Das war sein Privilegium. Es erwachte erst, als Knispel seit geraumer Zeit schnarchte und die Zappelpolka im Traume weiterspielte. Allmälig schüttelte nun es auch den Schlummer ab, die Läden öffneten sich, Besen und Federwedel waren lustig im Gange; Diener und Mägde rannten und klapperten treppauf, treppab, oder begrüßten sich auf den Vorplätzen. Aus den Zimmern Hugo's van Hellen klang ein silbernes Glöckchen; aber auch Hugo van Hellen wohnte nicht mehr in diesen Zimmern, nicht mehr in diesem Hause, welches ihm nicht mehr gehörte. Er war ja in der weiten Welt, Niemand wußte wo, und das silberne Glöckchen stand auf dem Nachttischchen der reichen Banquierswittwe, welche hier eingezogen war, nachdem die Gemächer lange genug leer gestanden und in den Zeitungen ausgeboten waren.

In dichten, undurchdringlichen Nebel eingehüllt erschien der neue Tag, der Schnee in den Gassen verschlang jeden Laut, und alles Leben der großen Stadt glich nur einem unbestimmten Schattenspiel.

Gestern Abend war eine große Gesellschaft bei der reichen Wittwe versammelt gewesen. Man hatte gegessen und getrunken, Fräulein Clotilde hatte gesungen, und ein berühmter Virtuose hatte sie auf dem Flügel begleitet; zuletzt – gegen Mitternacht – hatte man philosophirt und Geistergeschichten erzählt, von Hugo van Hellen gesprochen. Das letztere Thema ließ man jedoch als ein zu unheimliches bald genug fallen, zumal der Herr von Jüdenberg, welcher am meisten davon hätte wissen können, hartnäckig schwieg. Die Gesellschaft trennte sich in der Stimmung, in welcher sich eine Gesellschaft, die so viel Musik gemacht, Unsinn geschwatzt und Geld verloren und gewonnen hatte, zu trennen pflegt. Noch war das Fortepiano geöffnet, noch standen die Sessel um die Spieltische, noch lagen zerstreute Spielkarten auf dem Fußboden umher, und grau schaute der Morgen durch die niedergelassenen Fenstervorhänge in die Gemächer, die einst Hugo van Hellen bewohnt hatte, wie er in das schiefe Dachfenster Heinrichs Knispel's lugte.

Der Musikant hatte sich angekleidet auf sein Lager geworfen und lag noch immer im unruhigen Traume, ängstlich bewegten sich seine Hände, abgerissene Worte und Sätze kamen aus seinem Munde:

»O Röschen, Du solltest es nicht thun – o bitte, bitte, liebes Röschen! – – Frau Hermine, Frau Hermine, o Gott, Gott – zürne nicht, Röschen, ich will auch – das Wasser, das Wasser – hier, hier – Jesus – er ist todt – Röschen ist todt, Röschen Wolke – O Frau Hermine, O Röschen Wolke!«

Der Schläfer richtete sich mit einem Angstruf in die Höhe. Die Thür seiner Stube hatte sich geöffnet, in der grauen kalten Morgendämmerung stand eine Gestalt regungslos vor ihm, und er starrte sie an, mit weit offenen Augen und gesträubten Haaren.

Manche hatten den Schatten gesehen, welcher durch das Haus Van Hellen glitt, über den Hof; den Schatten, der jetzt vor dem Bette Heinrich Knispel's stand. Niemand hatte ihn anzureden, aufzuhalten versucht. Sie hatten sich Alle vor ihm gefürchtet und waren scheu zur Seite gewichen, als er in den großen Thorweg aus dem Nebel hervortrat, über den Hof schlich und langsam, langsam die Treppe hinaufstieg, im Hinterhaus.

Noch immer bimmelte an Heinrich Knispel's Thür das Glockenspiel, wie vor Jahren; aber es klang diesmal häßlich, ironisch, fast wie bitterer Hohn; nicht wie gewöhnlich nur naiv, abgeschmackt und dumm.

Und die Schattengestalt sank jetzt langsam in sich zusammen und kniete nun auf dem Boden, und Heinrich stand auf den Füßen und schrie:

»Röschen Wolke?! Du? Du? o Röschen Wolke, Röschen, bist Du es? Wo kommst Du her?«

»Weiß nicht, Heinrich – mir ist so kalt, und geträumt habe ich so lange, lange.«

Wie ein Besessener fuhr Heinrich Knispel umher, steckte, was ihm von brennbaren Gegenständen in die Hände kam, mochte es sein, was es wollte – in seinen Kanonenofen.

»O Röschen, gleich soll das Feuer brennen! o liebes Röschen, nun bist Du wieder da – nun ist Alles wieder gut – wie sind Deine Hände so kalt – jetzt schließe ich die Thür zu und die ganze Welt ab, o weine nicht, weine nicht, Röschen – was kümmert uns die Welt da draußen?«

»Wenn es nur nicht so dunkel wäre, – ich habe die Sonne so lange, lange nicht gesehen, Heinrich, und meine Mutter auch nicht; – es ist ein großes Wunder, daß ich in der Nacht den Weg nicht verloren habe. –«

»O Röschen, die Sonne wird wiederkommen; horch, nun brummt das Feuer! Weißt Du, nun sollst Du Dich auf's Bett legen, und ich will einen Kaffee brauen, derweilen Du Dich wärmst. Du weißt, ich verstehe es.«

»Venedig ist eine schöne Stadt, aber man muß immer in schwarzen Kähnen fahren, die sehen aus wie die Särge; es ist da so viel Wasser, und im Wasser ist auch mein Vater umgekommen. Ich habe so viel weinen müssen in Venedig, Heinrich.«

»Ach Röschen, laß das Venedig! Wie Du noch ein ganz kleines Kind warst und ich ein kleiner Bursche, habe ich Dich oft mit zu Bette gebracht, das will ich nun wieder thun.«

Und zart und sanft hob der Musikant, wie eine Mutter ihr Kind, die Unglückliche vom Boden auf und legte sie auf sein Bett. Er zog ihr die nassen, zerfetzten Schuhe aus, er hüllte ihr seinen Rock um die eisigen Füße, und sie ließ Alles willenlos mit sich geschehen. Sie trank auch von Heinrich's vortrefflichem Kaffee und versank dann in einen tiefen, tiefen Schlaf, aus welchem sie erst gegen Abend erwachte. Den ganzen Tag, während sie schlief, saß der Musikant und hielt fest die Augen auf sie gerichtet. War sie es denn wirklich? Es war ihm so weh um's Herz und alle Augenblicke mußte er sich an der Nase zwicken und sich die Stirn reiben, um die Ueberzeugung nicht zu verlieren, daß er wirklich noch Heinrich Knispel, der Musikante sei und die Kranke, Bleiche da auf seinem Lager das kleine Röschen Wolke, welches ihm einst die Frau Hermine anvertraut hatte.

Wer konnte es wenden!

Gern hätte der Knispel sich vom Gegentheile überzeugt, aber er brachte es nicht zu Stande, wie er auch grübelte den ganzen langen, lieben Tag hindurch aus der grauen Morgennebeldämmerung bis in die nebelhafte Dämmerung des Abends, bis die hohen Spitzbogenfenster der katholischen Kirche sich zur Abendmesse erleuchteten und ihren Schein über die weißen Dächer warfen, bis Röschen Wolke erwachte, als die Orgeltöne und der Gesang leise herüberdringen.

Sie richtete sich auf und horchte. Dann faßte sie die Hand Heinrich's.

»Nun ist mein armer Kopf wieder klar,« sagte sie. »O Heinrich, ich habe gesündigt, schwer gesündigt und bin gestraft – unsäglich gestraft. Der gute Gott verzeiht, wenn er gestraft hat: Heinrich, Du mußt mir auch verzeihen! Sag' mir, daß Du mir verzeihst, sonst kann ich nicht sterben, und ich möchte so gern sterben. O Heinrich, gegen Dich habe ich am schwersten gesündigt; schwerer als gegen mich und Gott.«

»Nein, nein, Du hast Nichts gethan gegen mich; ich bin nur zu dumm gewesen, ein zu großer Esel und Pinsel und habe mich abfassen und auf dem Schub zurückbringen lassen, weil ich keinen Paß hatte und kein Geld und nur die Geige. Jeder Andere hätte ihnen ein Schnippchen geschlagen und wäre durchgekommen und hätte Dir folgen können bis an der Welt Ende und hättest nicht weinen dürfen da unten am Südpole, wo es so heiß ist, daß die Menschen ihre Häuser am liebsten in's Wasser bauen, weshalb da auch kein Mensch, wie ich, in einem Keller geboren werden kann. Gib Dir also gar keine Mühe weiter, Dich zu quälen. Heute schreiben wir den zwanzigsten Februar, da ist es nun bald vorbei mit dem Winter; ich habe Dich wieder, die andere Welt geht uns Nichts an und Du sollst einmal sehen, wenn es erst wieder Frühjahr ist und Sommer und Alles grün ist, so wird es Dir auch sein, als ob Du nur geträumt habest. Du kannst glauben, mir ist schon ganz so!«

Röschen Wolke antwortete nicht. Sie hatte das Gesicht weggewandt von dem Sprechenden und es in den Kissen vergraben. Heinrich Knispel vernahm nichts als ihr leises Schluchzen, welches nun auch ihn in ein bitterliches Weinen ausbrechen ließ. So überhörten Beide ganz und gar ein Klopfen an der Thür, welche sich nun öffnete und eine Gestalt einließ, welche in der Dunkelheit weiter nicht zu erkennen war, die aber mit einer ehrlichen, rauhen Stimme »guten Abend« sagte, weshalb der Musikant auch sogleich aufsprang, mit dem Aermel über die überströmenden Augen wischte und rief:

»Herr Lieutenant Ringelmann! Guten Abend, Herr Lieutenant.«

»Da bin ich!« sagte dieser Herr Lieutenant Ringelmann und prasentirte sich, als Knispel mühsam seine Lampe angezündet hatte, als ein alter, militärisch aussehender Herr, mit grauem Schnauzbarte, und gekleidet in einen dunkelblauen bis an das Kinn zugeknöpften Rock.

»Ich wollte sie mitnehmen!« sagte der Lieutenant, setzte sich auf den Stuhl, welchen Heinrich so eben verlassen hatte und brummte ein: »Oh, oh, oh!« als er das Röschen in seinem Elende erblickte.

»Wie? wo? was?« rief Knispel. »Wen mitnehmen? Ich –«

»Das Röschen – Röschen Wolke – Hallunke! – Na, na, nicht wüthend werden, Musikante, 's ist schon Alles recht – Hab' ich etwa Dich gemeint, he? – – Hält eine Droschke da unten vor der Thür, hier ist ein dicker Mantel von der Alten für das Röschen! – – Eingewickelt – Treppe hinunter – holterdipolter – 'nein in den Räderkasten, vorwärts alte Mähre – Bonifaciusvorstadt, Grüngässel Nummer Sechs – Alles in Ordnung, – abwarten und Thee trinken!«

Der Lieutenant Ringelmann hatte den kleinen Hugo van Hellen oft genug auf den Armen getragen. Er war der Freund und Waffengenosse seines Vaters, des Majors van Hellen, gewesen. Er konnte wahrhaftig Nichts dafür, daß der Bengel ein »Lump« und eine »Canaille« geworden war.

»Nicht weinen, kleines Röschen, kleines Fräulein Rosalie,« sagte er. »Donnerwetter, ich werde doch dafür sorgen, so viel an mir liegt, daß ein alter Kamerad, der lange genug im Grabe umgedreht gelegen hat, endlich einmal wieder auf dem Rücken zu liegen kommt? Na nu, fängt der Musikante auch noch an zu heulen und zu musiciren. Schwerenoth, hätte die Alte nicht den lahmen Fuß, wahrhaftig, ich wäre schön zu Hause geblieben und hätte sie geschickt, als der Laffe, der Jüdenberg, vor einer Stunde angefahren kam und bewies, daß doch noch nicht ganz Hopfen und Malz an ihm verloren sei und erzählte, die Rosalie sei wieder da; er habe sie gesehen gestern in der Nacht, und sie habe weder Haus noch Hof –«

»Holla,« schrie der Heinrich Knispel. »Hören Sie, Heu Lieutenant, etwas sind Sie doch schief gewickelt! Hier ist das Röschen Wolke und hier bin ich, Heinrich Knispel, meines Zeichens ein Bummler und Musikant, der auch Vögel abrichten kann und noch mancherlei, was bezahlt wird, und so lange ich noch da bin, ist auch noch Einer da, welcher, welcher, na ja, welcher – da – ist und«

»Schon Recht, mein Junge; aber Du bist ein Esel, und die Alte hatte ganz Recht, wenn sie meinte, das Röschen wäre am besten in der kleinen grünen Stube aufgehoben, vor welcher der Kirschbaum steht. Also – Muth gefaßt, Röschen – Bonifaciusvorstadt, Grüngässel Nummer Sechs – abgemacht! Keine Widerrede, Ihr verdammtes Volk, Ihr widerspenstigen, widerborstigen, widerhaarigen Creaturen!«

Der Alte redete sich allmälig in eine große Aufregung hinein, denn er sah schon ein, daß es ihm noch große Anstrengungen kosten würde, viel Beredsamkeit und süße Worte, viele tröstende, ermahnende, aufmunternde Vorstellungen. Endlich siegte er. Eine Droschke fuhr hervor aus dem großen Thorwege des großen Hauses, welches einst der Familie van Hellen gehört hatte, und darin saßen der Lieutenant Ringelmann mit dem Röschen und dem Knispel. Es war sehr warm geworden, und ohne daß es regnete, plätscherte und goß es in Strömen von den Dächern; man merkte es gar wohl, daß der Winter nicht lange mehr seine Herrschaft behaupten werde.

Gegen neun Uhr hielt der Wagen in der Bonifaciusvorstadt vor einem kleinen Hause, aus dessen niedrigen Fenstern der Lichtschein gar hübsch und einladend durch das kahle Gezweig des kleinen Gartens, welcher sich davor hinzog, leuchtete. –

 

Das letzte Bruchstück.

Es war eine schöne Nacht, eine Frühlingsnacht voll Mondschein und Blüthenduft. Auf der Straße erklang ein Lied, welches heimkehrende junge Fabrikarbeiter angestimmt hatten, und in weiter Ferne die abgerissenen Musikklänge eines öffentlichen Gartens dazwischen. Die Grillen zirpten im Grase, und Käfer und Nachtschmetterlinge summten und umflatterten geheimnißvoll Busch und Baum.

In der Bonifaciusvorstadt hatte das Mauerwerk noch nicht alles Grünende und Blühende verschlungen, wenn es auch auf dem besten Wege dazu war, da ja noch viel weiter hinaus schon die Gegend von einem Netz imaginärer Straßen, Plätze, Kirchen, Rath- und Krankenhäuser und Gefängnisse überspannt war. Arme Leute oder zurückgezogene Kleinbürger wohnten in der Bonifaciusvorstadt, Schenken, Kaffeehäuser, Vergnügungslokale für die untern Volksclassen gab es hier im Ueberfluß. Still, sehr still an den Wochentagen, den Tagen der Arbeit, war es hier laut und sehr lebendig an den Sonn- und Feiertagen.

Das Haus des Lieutenants Ringelmann unterschied sich in keiner Weise von seinen Nachbarn. Es war zwei Stockwerke hoch, die Fensterscheiben waren spiegelblank und glitzerten im Mondschein wie Silber, die Laden waren grün, ein kleiner Garten befand sich an der Vorderseite und ein größerer an der Hinterseite.

Die Hausthür stand offen, und ein blendendweißer Spitz hielt Wacht auf der Schwelle; ein großer schwarzer Kater ging eben leise und bedächtig die Treppe hinauf in das obere Stockwerk. Eine ältliche Frau stand mit untergeschlagenen Armen in der Küche vor dem Herde und blickte nachdenklich in das zusammensinkende Feuer. In dem Garten hinter dem Hause standen in dem weißen Mondschein, welcher auf dem reinlichen Kieswege lag, zwei Männer, eben so tief in Gedanken, wie die alte Haushälterin am Herde.

»Es wird morgen einen schönen Tag geben,« sagte endlich der Lieutenant Ringelmann. »Die weiße Rose hier sieht auch aus, als ob sie noch in dieser Nacht aufbrechen wollte.«

»Ja, es wird morgen einen schönen Tag geben,« sagte Heinrich Knispel der Musikant, und dann schwiegen Beide wieder.

Durch das Laubwerk des Kirschbaums, dessen Krone grade vor dem Fenster des grünen Stübchens im zweiten Stock sich ausbreitete, schien auch der Mond, und wie die Blätter und Blüthen leise erzitterten, so bewegte sich auch das zierliche Schattenspiel auf dem Fußboden des grünen Stübchens und auf der Bettdecke Röschen Wolke's, welche still, regungslos, mit weit offenen Augen und gefalteten Händen dalag auf ihrem Lager. Das Röschen hatte so viel Zeit zu sinnen, und jetzt legte es die magere, durchsichtige Hand an die Stirn und sann nach über ein altes Lied, welches einst die Mutter gesungen hatte. Endlich fand sie es und auch die trübe Melodie kam ihr wieder:

Es hat geschneit die ganze Nacht,
Bis an den grauen Morgen;
Es hielt 'ne traurige Todtenwacht
Mein Herz in Noth und Sorgen.

Sie bewegte die Lippen, aber es kam kein Laut darüber:

Es hielt mein armes Herze Wacht
Wohl über der todten Liebe;
Es hat geschneit die ganze Nacht,
Bis an den Morgen trübe.

Ja gestern war die Erd' so grau,
Die Welt war abgestorben;
Nun legte das Tuch die Leichenfrau,
Man merkt nicht, was verdorben!

Wie kam sie darauf in der wonnigen Frühlingsnacht? Ach, sie war krank, krank zum Sterben. Sie griff in das Schattenspiel der zitternden Blätter auf ihrer weißen Decke und lächelte, und dann kam ihr ein anderes Lied, eine andere Weise:

Die Nacht, die Nacht ist still und mild,
Nun kommt der Morgen bald!
Mein Herz, mein Herz ist krank und wild, –
So reit' ich durch den Wald.

Und neben mir und hinter mir,
Und vor mir drängt das Heer;
Aus Blut und Flammen kommen wir,
Es rasselt Schild und Speer.

Ja gestern in der blut'gen Schlacht,
Im hellen Sonnenschein;
Da hat mein Herze wohl gelacht,
Da mocht' gesund es sein!

Sie schloß die Augen, als sie die Lippen weiter bewegte:

Die Nacht, die Nacht ist still und lind,
Im Osten wird es licht.
Die Stirne küßt der Morgenwind,
Das Herz, das Herz zerbricht!

Als der Mond hinter die Bäume herabgesunken war, und Dunkelheit das Gemach angefüllt hatte, schlief das Röschen schon längst wieder und erwachte auch nicht, als die Haushälterin noch einmal vorsichtig den Kopf in die Thür steckte und nach dem Lager der armen Kranken hinhorchte.

Und drunten vor der Hausthür nahm der Musikant Abschied von dem Lieutenant, der dann auch zu Bett ging, wie die alte Marianne und der weiße Spitzhund. Nur der schwarze Kater trieb noch sein Wesen und saß zuletzt oben auf dem Giebel des Daches, putzte sich ruhig und selbstzufrieden den Schnauzbart und hielt nur von Zeit zu Zeit aufhorchend ein. Die braune Wanduhr in der Hausflur pickte fort und fort und schwang ihren Pendel hin und her; sonst war Alles stumm und still die ganze Nacht hindurch, und die ganze Nacht hindurch wurde es auch für keine Zeit ganz dunkel, sondern es blieb stets eine halbe Dämmerung, so daß der Heinrich recht gut seinen weiten Weg nach Hause finden konnte.

Er fand ihn aber schlecht und schwankte hin und her, gleich einem Betrunkenen und murmelte:

»Und ich habe sie lieb, lieb, lieb! und sie stirbt! O Frau Hermine! o Frau Hermine! ich wollte, ich wäre ein schlechter Mensch und hätte mich dem Trunke ergeben, wie der Principal, der kein schlechter Mensch war, sondern ein großer Künstler und sehr klug, und welcher sehr wohl wußte, was dem Menschen am besten ist! O Röschen Wolke, wenn Du stirbst, – und Du willst sterben – so – – o Röschen, liebes Röschen.«

Er begegnete gottlob auf seinem Wege wenigen Menschen, und die wenigen, welche ihm entgegen kamen, wichen ihm scheu aus. So erreichte er glücklich seine Wohnung, kroch aber nicht in sein Bett, sondern stieg in die Brüstung seines Fensters, wo er sich niedersetzte, die Knie bis an das Kinn in die Höhe zog, mit großer Geschicklichkeit so sich auf einem Körpertheile, welchen Goethe nennen darf, ich aber nicht, drehte, wodurch er die wieder losschnellenden Beine auf das Dach brachte. So blieb er sitzen, das Haupt auf die Knie gelegt, und verrenkte die Arme und Hände, bis zum ersten Grauen des Morgens, umschlichen und anmiautzt von den Katzen, umsurrt von den Fledermäusen, schlaflos, mit halb gebrochenem Herzen, lächerlich genug und erhaben in seinem Schmerze wie die Schönsten, Edelsten, Besten.–

Und es ward ein schöner Tag! Und es war noch dazu ein Sonntag! Es war Alles in der besten Ordnung am Himmel und auf der Erde.

Der erste, welcher in dem Häuschen in der Bonifaciusvorstadt erwachte, war der alte Dompfaff vor dem Fenster des Lieutenants. Er weckte den Stieglitz, und Beide setzten das Morgenconcert lustig zusammen fort, und hell und fröhlich zwitscherten und flöteten die freien Vögel draußen in der Luft, auf den Bäumen und in den thaunassen Gebüschen drein. Um fünf Uhr stand der Lieutenant bereits im Garten, die Morgenpfeife im Munde und begann seinen Morgengang durch die engen Gänge und sah nach, ob seine Blumen ausgeschlafen hatten. Auch Hund und Katze waren wieder da, ohne daß man wußte, woher sie gekommen waren; hartnäckig faßten sie Posto in der Küche zur Seite der Marianne, in der Küche, wo alles Geschirr blinkte und blitzte im Morgensonnenscheine. Keine geistige Macht auf Erden hätte sie bewogen, die alte Haushälterin und den Milchtopf aus den Augen zu lassen. Mit Mirabeau und der Constituante wären sie nur der Gewalt der Bajonette oder richtiger des Kehrbesens gewichen.

Um sechs Uhr, weniger zehn Minuten, schaute Knispel, auf den Zehen sich hebend, über das Stacket, und der Lieutenant ging, den Riegel wegzuschieben und ihn einzulassen. Nachdem sich der Soldat und der Musikant begrüßt hatten, und der Erstere nach einem fragenden Blicke Heinrich's nach dem Fenster des grünen Stübchens gesagt hatte: »O das Röschen schläft noch – sie schläft noch lange;« – beschäftigten sich Beide damit, einige übermüthige Rosenzweige, welche sich in der Nacht losgerissen hatten, wieder an ihre Stäbe festzubinden. Die Pfeife erlosch dem Lieutenant dabei, und er schritt gravitätisch in das Haus und in die Küche, sich eine glühende Kohle zu holen; und Heinrich Knispel stand unterdessen mit dem Rücken an den Kirschbaum gelehnt und starrte zu dem Fenster von Röschens Schlafkämmerchen hinauf. Die Bienen waren schon lange fleißig und flogen von Blüthe zu Blüthe; – in der Ferne läutete eine Glocke – nicht eine Kirchenglocke, denn die erwachten erst später; sondern eine Glocke auf einem Bahnhofe: ein langer Wagenzug mit vielen Hunderten von Menschen fuhr da eben ab in die weite Welt hinaus.

Nun deckte die Marianne ein weißes Tuch über den kleinen runden Tisch unter der Holunderlaube, brachte den Kaffee, welchem der Lieutenant mit Hund und Kater folgte, und Alle setzten sich zum Frühstück nieder.

»Um acht Uhr wird sie erwacht sein; dann bringe ich ihr eine Tasse Milch,« sagte die Alte.

»Und ich rufe ihr einen guten Morgen zu ihrem Fenster empor und spiele ihr ein funkelnagelneues Stück auf der Geige – langsam und traurig, wie sie es liebt,« sagte der Musikant.

»Und ihren Blumenstrauß bring' ich ihr,« sagte, der Lieutenant. Und jetzt läutete wirklich eine Kirchenglocke in der Ferne, und andere folgten ihr, – um acht Uhr stimmte Heinrich seine neue Weise an, und der alte Soldat und die Marianne schritten leise die Treppe hinauf und klopften leise an Röschen Wolke's Thür.

Es war wirklich ein schönes Stück, welches Knispel spielte, er wandte alle seine Kunst an, seine Sache so gut als möglich zu machen: er malte es sich ja während des Geigens aus, wie ihn das Röschen anlächeln und ihm die Hand geben würde, nachher, wenn sich das Fenster öffnete und er hinauf gerufen wurde. Das Fenster öffnete sich auch und die Marianne beugte sich heraus und winkte; aber der Heinrich stieß einen Schrei aus, als er das Gesicht der Alten erblickte und schleuderte seine Geige weit von sich. –

Röschen Wolke lächelte ihm wohl noch zu; aber es gab ihm nicht mehr die Hand; – Röschen Wolke war todt! todt! – noch nicht lange – vielleicht eine Stunde, vielleicht drei Stunden – wer wußte es?

Heinrich Knispel hatte sich über sie hingeworfen und schrie auf im wildesten Schmerze, die Marianne weinte, und der Lieutenant, der auf seinen Schlachtfeldern so viele Tausende von todten Männern gesehen, hatte solch ein armes, schönes, todtes Mädchen noch nicht gesehen, und er weinte auch.

Zerbrochen lag des Musikanten Geige unter der weißen Rose, welche wirklich in dieser Nacht aufgebrochen war; und der Spitzhund kam und beroch die Geige und wunderte sich, daß dieses Holz durch sein Getön ihn so hatte ärgern können.

Ja, Röschen Wolke war todt, und Heinrich Knispel weinte an ihrer lieblichen Leiche, und Hugo van Hellen war in der weiten Welt!

***

Ist das wirklich eine Geschichte? – Ich glaube nicht! Aber es ist so geschehen, und Niemand konnte es wenden. Ich gehe gern am Abend bis tief in die Nacht an den Ufern des großen Flusses, wenn die Fluth so dunkelschwarz und geheimnißvoll vorbeifließt, und nur hie und da es funkelt und blitzt für einen Augenblick, um sogleich wieder in noch tieferer Finsternis; zu erlöschen. Ich fürchte mich dabei fast, gleich einem thörichten Kinde, ich, der ich, wenn die Sonne scheint, so nüchtern und verständig sein kann. Der große Fluß aber und der enge Weg zwischen den Weidenbüschen haben es mir angethan. Es ist eigentlich ein verbotener Weg zwischen diesen Weiden; deshalb treffen mich auch so oft die thaufeuchten Zweige in's Gesicht; lebensmüdes und gaunerisches Gesindel streicht zumeist hindurch: die Einen, ihrem Leben ein Ende zu machen; die Andern, ein elendes Leben zu fristen.

O was schwatzt der schwarze Fluß in der schwarzen Nacht! Freilich nur bruchstückartig ist, was er erzählt; aber er erzählt gut. Wenn ich mich aus seinem Banne heraus gerettet habe in den Lichtkreis meiner kleinen Lampe und an einander reihe, wie ich es vermag, was ich hörte unter den Weiden, so schaue ich oft genug scheu über die Schulter, und die Schatten in den Winkeln erschrecken mich und mein eigener Schatten mir zur Seite an der Wand, der so höhnisch nickt. Dann schwöre ich es wohl ab, wieder hinauszugehen zu dem fließenden Wasser; aber – aber – wer kann es wenden? – Dem Zauber bin ich verfallen, und das, was Ihr leset auf diesen Blättern ist eine Folge von dem Zauber, einem bösen, bösen Zauber. –


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