Wilhelm Raabe
Meister Autor oder Die Geschichten vom versunkenen Garten
Wilhelm Raabe

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Elftes Kapitel.

Der Schnellzug hielt im freien Felde, ungefähr eine halbe Stunde von der Station, und während fünf Minuten unterhielten sich die Reisenden in sämtlichen Wagen, in der Erwartung, daß es sogleich weiter gehen werde, ruhig über die möglichen Gründe des plötzlichen Anhaltens. Nach einer weiteren Minute bogen sich die ungeduldigeren Passagiere aus den Fenstern, um sich nach diesen Gründen umzusehen, und einen kürzesten Moment später bot die lange Wagenreihe mit den daraus hervorguckenden Köpfen den Anblick einer Straßenseite, wenn drunten in der Gasse etwas ganz Außergewöhnliches vorgegangen ist oder vorgeht. Wenn nun aber auch kein Kanarienvogel der zärtlichen Pflege seiner altjüngferlichen Herrin entschlüpft war, so war nichtsdestoweniger etwas wenn auch nicht Außergewöhnliches, so doch gewiß ziemlich Aufregendes passiert, zumal für diejenigen, welche dergleichen noch nicht auf ihren Reisen erlebt hatten.

»Personen- und Güterzug entgleist . . . Bahn unfahrbar! . . . Heizer und Lokomotivführer tot, viele Passagiere verwundet!« ging es plötzlich von Mund zu Munde durch alle Klassen des Zuges, und die bereits am Rande der Böschung in Gruppen stehenden Schaffner ließen sich nunmehr allgemach herbei, die Nachricht zu bestätigen und fingen auf Befehl des Zugführers an, die Wagentüren zu öffnen.

Allgemeines Herausklettern – Durcheinander von Frage und Antwort – hie und da Mitleid und Entsetzen in den Mienen; aber meistens doch nur, je nach dem Charakter oder der Eile der persönlichen Reisenot heftiges Gestikulieren, leises Murren und lautes Schimpfen! Wer es schon mitgemacht hat, weiß es, wie die Welt in solcher Lage sich gibt; wer noch nicht im freien Felde vor die Alternative gestellt wurde, in dem Coupé zu übernachten, oder nach eigenem Können und Vermögen seinen Weg über das Hindernis da vorn auf dem Geleise zu suchen, der mag sich selber den Puls fühlen. –

Was mich anbetraf, so hatte ich wenig zu versäumen, und nachdem mir die Gewißheit geworden war, daß für eine längere Zeit an ein Freiwerden der Bahn und ein Weiterfahren des Zuges nicht zu denken sei, ergab ich mich gleichmütig in die Situation, sah mich um und suchte mich in der Gegend zurecht zu finden.

Wir hielten in der Ebene, wie gesagt, eine halbe Lokomotivviertelstunde von der nächsten Station entfernt, hatten also einen ziemlich beträchtlichen Weg, und zwar auf sehr schlechtem und gar noch dazu durch ein heftiges Gewitter am frühen Morgen aufgeweichtem und grundlos gemachtem Pfade zu dem Orte hin. Aber es war ein herrlicher, klarer, sonniger und doch durch eben jenes Morgengewitter erfrischter Sommernachmittag, und es gab schlimmere Klemmen als die meinige im menschlichen Leben: ich wenigstens hatte schlimmere und zwar ziemlich heiter überwunden, wenn auch dann und wann nur aus dem einfachen Grunde, weil ich mußte.

Ich hatte mich bald in der Gegend zurechtgefunden. In der Ferne, gegen Nordost zog sich wieder einmal der Elmwald hin; in der hügeligen Ebene zwischen dem Walde und der Eisenbahn, ungefähr eine Viertelwegstunde von der letztern lag ein Dorf in Gebüsch, Wiesen und Kornfeldern, und der Weg, den wir sämtlich zu treten hatten, wenn wir das Hindernis vor uns umgehen wollten, führte durch dieses Dorf. Zu Haufen und einzeln, teilweise schwer genug mit ihrem Gepäck belastet, schritten die Insassen des Bahnzuges den roten Dächern zu; ich aber, mit ein wenig besserm Humor für das Ertragen der Verdrießlichkeit ausgerüstet, ließ den Schwarm voranziehen. Eine Zigarre anzündend, klomm ich ihm den Hohlweg hinauf langsam bis auf die Höhe nach, erstieg dann die Böschung und saß am Rande eines unübersehbaren Weizenfeldes unter einem schattigen Fliederbusche nieder, und zwar in ziemlich eigentümlicher Stimmung.

Da war eben noch der wirreste Lärm, das Rasseln der Räder, das Geschwätz der Mitreisenden, das Ächzen der Maschine, kurz der Dampf, Qualm und die Musik der ganzen kostbaren Erfindung um mich gewesen und jetzt – die tiefste Stille – bis auf die Lerchen über mir im Blau und die Grille neben mir im Thymianbusch. Und, weithin zu überblicken, lag die Ebene im Sonnenduft, und im Süden das Gebirge im weißlichen Glanze. In Schlangenlinien zog sich der Bahnkörper durch die Fläche und um die Hügel, hier verschwindend, dort von neuem auftauchend, bis sich die Windungen im Dunste der Ferne verloren. Die Sonne glitzerte auf den Schienen; und dort, zwei- bis dreihundert Schritte von meinem grünen Busche entfernt, zwanzig Fuß tiefer als er, lag wie ein verendendes Ungeheuer der schwarze lange Wagenzug mit dem nur noch leise auskeuchenden Kopfe des Drachens, der Lokomotive. Nur die Beamten – die Lokomotivführer, Heizer und Schaffner waren noch um die Wagen beschäftigt, und in den ersten Klassen hatten einige verdrießliche Herrschaften von beiden Geschlechtern verzweiflungsmatt ihre Plätze festgehalten.

»Wie schön doch die Welt geblieben ist!« sagte ich erstaunt. »Gütiger Himmel, und das liegt noch immer dicht neben uns, und lächelt uns mitleidig nach, während wir da vorüberrasen, befangen im Wahn in dem wüsten Gelärm durch eigenes Mitlärmen, Mitkeuchen und Mitgreifen das zu gewinnen, woran wir längst vorbeigewirbelt wurden. Welch eine Fratze schneidet uns unser eigenes Leben, wenn wir es einmal in der rechten Beleuchtung anschauen! Meine Herrschaften, da wäre die Gelegenheit, für die, die da lachten, zum Weinen, und für die, die da weinten, zu einem Lachen zu kommen! O verflucht, lieber von Schmidt!«

Ich hätte in dieser märchenhaften Stimmung fast die Zigarre als eine frivolitas frivolitatum in den Hohlweg hinunter und der Eisenbahn zugeworfen, tat es aber natürlich doch lieber nicht, sondern blinzelte behaglich mit einem befreienden Atemzug in das Bessere, ohne das Gute zu verwerfen, bis das Märchen noch freundlicher seine Hand mir in die helle sonnenvolle Stunde hinein und entgegen streckte, und mir die Gelegenheit bot, die beste Bekanntschaft, die ich in der Gegend hatte, zu erneuern.

Der goldene Weizen dicht hinter mir sang leise im leichten Winde. Die letzten Passagiere hatten sich längst aus meinem Gesichts- und Gehörkreise verloren, als das Gebell eines Hundes und der Schall von Fußtritten im Korn mich bewog, mich langsam und widerwillig nach der Störung hin umzudrehen. Ein enger Pfad durchschnitt querüber die gelben Wellen der Halme und Ähren und mündete, ungefähr sechs Schritte von meinem Ruheplatze, in den Hohl- und Dorfweg hernieder leitend. Auf diesem kaum fußbreiten Pfade durch das hohe Korn bewegte sich ein breitkrämpiger grüner Filzhut mir entgegen – kam ein Mann, ein alter weißköpfiger Mann, mit bereiftem Kinn, lang, schlotterig und gebückt, die kurze Pfeife im Munde, und dicht vor den Füßen begleitet oder besser geleitet von einem, dem Anschein nach, nicht mehr jungen Dachshunde, und trat, als ich grade die Hand über die Augen legte, um die malerische Erscheinung genauer zu betrachten, an den Rand des Hohlweges mit der Absicht, in ihn hinunterzusteigen.

So viele Leute ich während der letzten Jahre aus dem Gedächtnis verloren hatte, den Meister Autor Kunemund hatte ich nicht daraus verloren und – hier war der Meister Autor!

Unverkennbar war er es! ein wenig greisenhafter und körperlich gebrochener, auch wohl noch ein wenig blinder, aber doch der ganze Meister Kunemund!

Mit einem Rufe der freudigsten Überraschung sprang ich in die Höhe und rief den guten Namen, und jetzt legte auch der Alte die Hand über die Augen, und so standen wir und sahen uns an. –

Er erkannte mich natürlicherweise nicht sofort und wollte eben nach einem kurzen höflichen Gruße weiter gehen, der Eisenbahn zu, als ich ihm den Weg vertrat und ihm die Hand bot.

»Wir waren einmal gute Freunde, Herr Kunemund,« sagte ich. »Und ich hoffe, daß wir uns als solche heute wiederfinden.«

Nun nannte ich ihm meinen Namen, und er rückte mir rasch unter die Nase zu genauester Betrachtung, und dann ging ein breites Lächeln des Erkennens ihm über die verwitterten Züge; er schüttelte mir kräftiglich die Hand und rief:

»Herr, sieh, sieh, das freut mich, das freut mich aber wirklich! Sehen Sie, lieber Herr Bergrat, grade an Sie habe ich eben noch gedacht, und wie oft ich die letzten Zeiten hindurch an Sie gedacht habe und Sie gern einmal gesprochen hätte, das kann nur ich alleine wissen. Also aber vor allem andern, Ihnen geht es doch nach Wunsch in der Welt?«

Wem geht es eigentlich nach Wunsch in der Welt? Wem ging es irgend einmal zu irgendeiner Zeit danach? Ich zuckte die Achseln, doch da ich augenblicklich wenigstens mich über einen außergewöhnlich scharf zubeißenden Lebensverdruß nicht zu beklagen hatte, so rief ich: »Man soll um Gottes willen die Götter nicht eitel machen; ich werde mich sehr hüten, sie zu loben; aber sonst, jawohl, geht es mir ganz gut!« und damit gab ich ihm seine Frage zurück. Da zog auch der Alte die Schulter in die Höhe, und ich brauchte die Bestätigung durch sein Wort nicht abzuwarten; ich sah es schon selber, daß es ihm nicht gut ging, und daß der Staub und Dampf der Erde ihn doch noch ein wenig mehr als mich zugedeckt habe und überwölkt halte. Ich sah schon auf den zweiten Blick, daß der Meister Autor der Mann nicht mehr war, den wir einstens, an einem Sommertage im Walde getroffen hatten, das Kind hütend, und mit dem Kinde geheimnisvolle Wunder in der Einsamkeit erlebend – er war heute vielleicht noch etwas mehr!

»Nun, ich bin auch noch ganz zufrieden, lieber Herr,« sagte der Greis; allein das Wort kam zögernd heraus, und er brach ab und fragte: »Was ist denn dorten passiert auf der Bahn? Ich hörte im Felde von einem, daß ein Unglück geschehen sei, und kam, um nachzusehen. Sind Sie auch mit betroffen, Herr?«

Ich beruhigte ihn und gab ihm Nachricht und Auskunft über den Vorfall, soviel ich davon zu vergeben hatte.

»Ihre Hülfe ist da unten nicht vonnöten, Herr Kunemund. Ihr wißt freilich manchen Zauberspruch, Meister; aber ein Eisenbahngeleise macht Ihr doch noch nicht frei durch Euren guten Willen. Also wenn Sie es sonst nicht eilig haben, verehrter Freund, so gönnen Sie mir ein Viertelstündchen Ihre Gesellschaft. Sehen Sie, da habe ich unter dem Busch gesessen in nicht unfröhlichen Gedanken, und jetzt kommen Sie durch das Weizenfeld, der Mann, der mir vor allen Menschen notwendig war, die gute Stunde zu vollenden! Es geschehen doch noch Wunder, und das Wurzelwerk und Kraut hier unterm Busch ist auch nicht ohne Grund zu einem Sitz für uns beide zurechtgemacht. Setzen wir uns, und dann, Meister, Meister, wie geht es im Walde? was macht das Haus mit den Hirschgeweihen auf den Giebeln? was kocht die Alte? und was macht der Förster und Euer wunderschönes Pflegekind, die Gertrud Tofote, die ein so reiches Mädchen geworden war, als wir uns zuletzt sahen – wißt Ihr noch? Wahrhaftig, ich verwirre mich fast; nach so vielen guten Bekannten und Freunden habe ich mich bei Euch zu erkundigen!«

»Da wird es freilich besser sein, daß Sie mir einen Platz an Ihrer Seite geben, lieber Herr. Man fragt eben nicht nach vielen Leuten in der Welt, wenn es Freunde sind, ohne daß man eine ausführliche Antwort erwartet. Ich habe wohl Zeit zu allem; aber wissen Sie ganz gewiß, daß Sie dergleichen haben? Ich habe es oft gefunden, daß die Leute sich hierin irren, als worauf sie dann selber sich ärgern und man selber den Verdruß davon hat.«

 


 


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