Wilhelm Raabe
Der Hungerpastor
Wilhelm Raabe

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Wenn es regnete, als wir den zweiten Teil unseres Buches schlossen, so regnet es nicht weniger, indem wir den dritten Teil desselben anfangen. Wer etwas einem Regenschirm nur irgend Ähnliches sein nannte, spannte es auf und schritt darunter her, ohne sich zu schämen. Alle Hunde ließen die Ohren hängen und zogen die Schwänze zwischen die Hinterbeine, alle ausgehängten Mietzettel an den Fenstern drehten und wendeten sich im Winde und zeigten bald ihre Vorderseite, bald ihre Rückseite. Man zählte den sechsten Oktober, und es war neun Uhr morgens; an der Ecke der Grinsegasse erschien das ungesegnete Individuum, das bei solchem Wetter eine Wohnung suchte, Herr Johannes Unwirrsch, Kandidat der Theologie aus Neustadt und der Kröppelstraße.

Den Kragen des Überrockes in die Höhe geklappt, den Hut in die Stirn gedrückt, den aufgespannten Regenschirm nach dem Nacken zu gesenkt, die Nase suchend, forschend hoch in der Luft, wurde er herangeblasen, und alle Dachrinnen der Grinsegasse begrüßten ihn lustig plätschernd. Es war durchaus nicht angenehm, bei solchem Wetter vor die Tür gesetzt worden zu sein und eine andere Tür suchen zu müssen; der Gedanke daran erregt Gefühle, die eine kleine Abschweifung sehr verzeihlich erscheinen lassen.

Unser Herr! Die Betonung dieser beiden Worte unterliegt den verschiedenartigsten Abschattungen. Anders sprechen sie die Leute einer gewissen Partei aus, anders die Frommen, anders die Bedienten, anders die bedrängten Familien größerer Städte, die auf der Grenze zwischen Kaum genug und Fast zu wenig ihre pekuniären Umstände dadurch zu verbessern sich bemühen, daß sie einen heimatlosen Junggesellen anlocken, einfangen und ihm ein möbliertes oder unmöbliertes Zimmer ihrer Wohnung veraftermieten. »Unser Herr« ist jener Zugvogel, der, ohne ein eigenes Nest zu besitzen, kommt und unterkriecht, wo und wie es ihm seine Mittel erlauben, und der verschwindet, wie er gekommen ist, nur wenige und schlechte Spuren hinter sich lassend. Die bedrängte Familie wird diesem oft sehr unsoliden Vogel gegenüber eigentlich nur durch die Frau des kleinen Beamten und Handwerkers oder die Frau an und für sich, die »redliche Witwe«, kurz und gut, die »Madam« repräsentiert. Sie ist es, der die Folgerungen der Spekulation zufallen; sie ist es, die Unsern Herrn lobt, über ihn schimpft und ihn mit Klagen beim Bezirkspolizeileutnant bedroht. Sie ist es, die dafür sorgt, daß Unser Herr im Winter grad am Erfrieren vorbeirutscht; sie ist es, die seine Vorräte beaufsichtigt und sich mit demselben Recht seine Haushälterin nennt, mit welchem jene deutschen Kaiser aus dem Hause Habsburg, die Lothringen, Elsaß und so weiter und so weiter verjubilieren, sich »allezeit Mehrer des Reichs« nannten. Sie ist es endlich, die auf Verlangen an jedem Morgen jenes unergründbare Gebräu bereitet, welches Unser Herr unter dem Namen »Kaffee« am liebsten aus dem Fenster gösse.

Unser Herr hat seinen Mietzettel ins Auge gefaßt, die Lage der Dinge und den Inhalt seines Geldbeutels erwogen; er ist zu einem Entschluß gekommen und tritt in das Haus. Über die Köpfe unzähliger Kinder weg steigt er vorsichtig zu dem Stockwerk empor, in welchem er seine künftige Heimat zu finden hofft, und gelangt auf einen nicht sehr hellen Vorplatz mit vielen Türen, an denen die Visitenkarten der verschiedenartigsten Existenzen kleben. Aufs Geratewohl zieht der Heimatlose einen Glockenstrang und wartet vergeblich einige Minuten auf Antwort. Er zieht eine andere Glocke neben einer andern Tür und erhält auf seine Frage, ob hier eine Wohnung zu vermieten sei, von einem Rüpel eine grobe verneinende Antwort. Unser Herr mag die dritte Glocke ziehen, und nach einigem Zögern entschließt er sich dazu. Diesmal taucht eine Weiberhaube in der Dämmerung auf; die Frage wird wiederholt, und die Antwort lautet bejahend. Unser Herr seufzt aus tiefster Brust und folgt der Dame, die ihn bittet einzutreten. Er tritt aus der Dämmerung in das Tageslicht, und seine Persönlichkeit wird blitzschnell vom Kopf bis zu den Füßen einer ungemein scharfen Kritik unterworfen; er ist berechtigt, im geheimen die Frage aufzuwerfen, weshalb man eigentlich nicht das schöne Geschlecht mit der Staatspolizei beauftrage. – Fällt die Kritik befriedigend aus, so wird Unser Herr in die zu vermietenden Gemächer geführt. Man erlaubt ihm, sich einige Minuten umzusehen, und man beantwortet seine Fragen nach dem Mietzins mit einem gewissen unbeschreiblichen Lächeln, das sich wie Goldschaum um eine unverschämt bittere Pille legt. Auf die Frage: Kann ich gleich einziehen? folgt ein bejahender Knicks und auf den Seufzer: Ich werde diese Wohnung nehmen! ein zweiter Knicks und eine phantasielose Schilderung aller möglichen Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten, die Unseren Herrn, der »das kennt«, sehr kalt läßt. Aber Unser Herr ist nun wirklich Unser Herr geworden und hat das Recht, sich die Möbel und die Bilder an den Wänden genauer anzusehen. Die Möbel lassen sehr viel von dem, was man von ihnen verlangen kann, zu wünschen übrig; die Bilder bestehen in einigen grellkolorierten Lithographien weiblicher Gestalten in schlechten Goldrahmen. Sehr luftig gekleidet sind diese Schönheiten, sie streicheln entweder Schoßhündchen oder zerpflücken Blumen oder beschäftigen sich mit Melancholie und starren über ein sehr blaues Meer. Klothilde – Die Sehnsucht – Er liebt mich – Luzia oder etwas dem Ähnliches steht unter ihnen zu lesen, und wenn Unser Herr nur den winzigsten Funken guten Geschmacks in sich trägt, sagt er:

»Aber Madam, ich möchte bitten, diese Kunstwerke von den Wänden zu entfernen.«

Die Madam ärgert sich zum erstenmal über Unsern jetzigen Herrn. »Unserem vorigen Herrn gefielen die Bilder sehr gut«, sagt sie etwas schnippisch; »aber die Jungfer soll sie fortnehmen, ganz, wie's beliebt.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden«, sagt Unser jetziger Herr und fügt hinzu: »Da hält soeben eine leere Droschke; ich werde jetzt meine Sachen holen; in einer halben Stunde bin ich zurück. Ach so – welche Hausnummer?«

»Zweiundzwanzig!« sagt die Madam. »Sie werden bei Ihrer Rückkehr alles in der besten Ordnung finden. Bitte, stoßen Sie sich nicht; die Tür ist etwas niedrig.«

Unser Herr, der sich bereits gestoßen hat, zieht den Hut wieder von der Nase in die Höhe, stürzt die Treppe hinunter, wirft sich in die angeschriene Droschke und rasselt davon. Madam sieht ihm aus dem Fenster nach, bis das Fuhrwerk um die Ecke verschwindet, und tritt dann zurück in die Mitte des Zimmers. Mit einem Wiegen des Kopfes, das für Unsern Herrn nicht viel Gutes bedeutet, berechnet sie, welcher Vorteil aus ihm zu ziehen sei, und grübelt nach über seine schwachen Seiten. Klothilde mit dem Schoßhund lächelt dumm herab von der Wand, die Sehnsucht glotzt verwundert-schnupfig auf den blauen Klecks des Meeres, Gretchen zerpflückt ihre Sternblumen: Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich. »Unser Herr liebt meine Bilder nicht«, schreit die Madam, »bah! Karl, Karl, komm herein, wir haben wieder einen Herrn!«

Karl, der Gemahl, erscheint scheu und schäbig auf der Türschwelle, begleitet von einem ganzen Haufen Kinder; und ein verwirrtes Getöse und der wiederholte Ruf: wir haben wieder einen Herrn, wir haben wieder einen Herrn! erfüllt den Raum. Dann geht die bedrängte Familie in krampfhafter Aufregung ans Werk, die vermietete Wohnung in einen bewohnbaren Zustand zu versetzen. Man hängt den Hausschlüssel hinter die Tür und stellt eine gefüllte Wasserflasche nebst einem Glas auf einen Seitentisch. Die exilierten Damen steigen herab von den Wänden, und an ihrer Stelle erscheinen auf der verblaßten Tapete vier dunklere Flecken, die dem Schönheitssinn Unseres Herrn auch nicht zum besten gefallen werden.

»Unser Herr! Unser Herr!« flüstert plötzlich der Gemahl. »Unser Herr! Unser Herr!« schrillen alle Kinder. Eine Droschke hält wieder vor der Haustür, und der Kutscher sitzt nicht auf dem Bock, sondern auf einem Lederkoffer, der seinen legitimen Platz einnimmt. Wie mit einem Zauberschlag ist die Familie aus dem Zimmer Unseres Herrn verschwunden, und nur die Madam hat darin standgehalten, wie es ihre Pflicht und ihr Recht ist. Ein aufgegriffener Bummler schleppt die Habseligkeiten Unseres Herrn, welcher den Kutscher bezahlt, die Treppe hinauf. Er setzt den bereits erwähnten Koffer mit einem Knacks auf den Boden ab und ächzt und stöhnt und schnauft gräßlich. Unser Herr erscheint ebenfalls, einen Reisesack in der einen Hand, eine Hutschachtel in der andern, ein Bündel Pfeifen, Spazierstöcke, Schirme, Rapiere unter dem Arm tragend; – Unser Herr ist da! Unser Herr ist eingezogen; – Unser Herr ist gegangen; es lebe Unser Herr! Le roi est mort, vive le roi! – NB., wenn die hochlöbliche Polizei seine Papiere in Ordnung gefunden und ihm eine Aufenthaltskarte gegeben hat. Es lebe Unser Herr, der Kandidat Hans Unwirrsch aus Neustadt! Er fand in der Grinsegasse das, was er suchte, eine Dachstube zu einem merkwürdig billigen Preise, und zog auf der Stelle ein, ohne von seinem Rechte, bis zum Schluß des Jahres im Hause der Geheimen Rätin Götz zu bleiben, Gebrauch zu machen. Darüber werden wir mehr sagen müssen, wenn wir ihn glücklich unter Dach gebracht haben.

Eine sehr taube, redliche Witib war's, die das Gelaß, dessen Luxus und Glanz mit den Mitteln des Kandidaten übereinstimmte, zu vermieten hatte; und nicht gefahrlos war der Weg zu ihr. Ein einziges Fenster erhellte den Verschlag, aber die Aussicht über die Dächer war vortrefflich. An den Wänden beleidigten keine lithographischen Versündigungen am schönen Geschlecht das Auge und das Herz; die Wände waren nackt und kahl. Das Mobiliar konnte freilich nur auf einen zynischen Philosophen einen angenehmen Eindruck machen; auf Hans Unwirrsch wirkten jedoch der Stolz, mit welchen die taube Alte darauf blickte, und die Reinlichkeit wohltuend. Er seufzte nur ganz gelinde, als er den Mietvertrag, der ihn zum zeitweiligen Herrn von Bett, Tisch und Stuhl machte, abschloß und dadurch Besitz ergriff, daß er einen Efeuzweig mit drei oder vier grünen Blättern, den er bis jetzt in der Hand getragen hatte, auf den Tisch niederlegte. Auch er holte sodann seine Habseligkeiten in der bereits angegebenen Weise und richtete sich ein. Wenn das Gefühl, sein eigener Herr zu sein, nicht ganz ohne eine Beimischung von Wehmut war, so war es doch recht erquicklich. Schon der Gedanke, daß der grüngoldene Jean in diese Tür sein freches Gesicht und seinen Backenbart nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis schieben dürfe, war etwas wert. Als die Einrichtung vollendet war, jedes Ding seinen Platz hatte und der Kandidat sich auf seinen Stuhl vor seinem Tische niederließ, überkam ihn ein Behagen, das er seit seiner Studentenzeit nicht mehr gekannt hatte. Der Zugwind, der durch das schlecht verwahrte Fenster zischte, war Hauch der Freiheit; alle Bequemlichkeiten und Opulenz von Bocksdorf, Kohlenau und dem Hause des Geheimen Rates Götz konnten ersetzt werden durch das stoische, frohe Frösteln, das er hervorbrachte. Wie sich die Verhältnisse im Hause des Geheimen Rats weiterentwickelt hatten, können wir jetzt erzählen, da der Kandidat, wenn nicht warm, so doch trocken sitzt und der Regen machtlos über seinem Kopfe auf dem Dache trommelt.

Die Glocke, die so gellend durch das Haus schallte, als der Vater Kleopheas in sein Zimmer wankte, verkündigte der Hausgenossenschaft sehr bestimmt die Stimmung, in welcher sich die Mutter befand. Krämpfe und Ohnmächten waren die erste Folge des Briefes Kleopheas gewesen; während der Fahrt nach der Stadt hatte die gnädige Frau im apathisch brütenden Stumpfsinn in ihrer Wagenecke gelegen; nach der Heimkehr brach die Leidenschaft des Weibes in wilder Furienhaftigkeit hervor. Die Geheime Rätin wütete, und es war gefährlich, in ihre Nähe zu kommen, was fast alle Glieder des Hausstandes nacheinander erfuhren. Selbst der Gedanke an die »Welt« war zuerst nicht imstande, ihr die wünschenswerte Selbstbeherrschung wiederzugeben, obgleich der Schmerz und Zorn der Dame sich im Grunde nur um diese »Welt« drehten. Nicht das Geschick, in welches sich die Tochter gestürzt hatte, sondern der éclat, den das abscheuliche Begebnis machen mußte und ohne Zweifel bereits machte, trieb die Mutter fast in den Wahnsinn. Sie suchte nach jemand, an welchem sie ihren Grimm auslassen konnte, und sie fand zwei für einen.

Da war das Fränzchen, welches anhören mußte, was man ihm sagte, und da war der Hauslehrer, der Kandidat Unwirrsch, welchem man sogar ins Gesicht schreien konnte, daß durch seine Schuld der schändliche Verräter, der Doktor Stein, der Jude, in das Haus gekommen sei. Die Geheime Rätin war fähig, dem armen Hans die ganze Schuld an dem gräßlichen Skandal aufzuladen, und vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet, war dieses ein großes Glück für sie. Hans Unwirrsch wehrte sich diesmal nach Kräften, bis er einsah, daß es unmöglich sei, diesem Weibe gegenüber, und noch dazu im jetzigen Moment, einen Rechtsstandpunkt behaupten zu wollen. Er ließ das Unwetter über sich ergehen in dem Gedanken, wie das Fränzchen so unendlich viel schlimmer dran sei als er. Seine Angst um das Fränzchen überwog alles andere.

Zerschlagen an allen Gliedern, verwirrt in allen Sinnen, mit dem Gefühl, plattgedrückt, auseinandergerissen und zu einem Knäuel gewickelt zu sein, verließ Hans das Gemach der gnädigen Frau und stieg in sein Zimmer hinauf, um in der Abenddämmerung seinen Koffer zu packen. Am andern Morgen schon mußte er das Haus verlassen, und bis zum andern Morgen sah er außer dem Bedienten niemanden mehr von der Hausgenossenschaft, auch das Fränzchen nicht. Er schlief wenig in der Nacht und war früh wach und angekleidet. Um acht Uhr erschien Jean mit der Meldung, daß der Geheime Rat ihn zu sprechen wünsche, und ohne Verzug stieg er zu der Studierstube desselben hinab.

Er klopfte an und trat ein, obgleich ihn niemand dazu einlud, und als er eingetreten war, stand er einige Augenblicke verdutzt an der Tür, weil er glaubte, es befinde sich auch niemand im Zimmer.

Da stand der gefräßige Riesenpapierkorb, in den schon so viel nutzlos beschriebenes Papier hinabgeworfen worden war, in welchem aber das klägliche Dokument Theodor Götz contra mundum noch nicht steckte, obgleich es vielleicht so besser für dasselbe gewesen wäre. Da standen die vielen rechtsgelehrten Bücher in langen, dürren Reihen in Schränken und Fächern. Da stand der grünbeschlagene Riesenschreibtisch mit seinen berghohen Aktenhaufen, und hinter diesen Aktenhaufen sah Hans, als er sich auf den Zehen erhob, den Geheimen Rat sitzen im schwarzen Frack, mit weißer Halsbinde, wie gewöhnlich. Und die Arme des Mannes lagen auf dem Tisch, und der Kopf lag auf den Armen; es war ein Kopf mit recht dünn gesäten grauen Haaren, ein trübseliges Haupt, welches der Kandidat Unwirrsch tief bedauern mußte.

Hans trat einige Schritte näher; der Geheime Rat erhob das Gesicht, doch der Ausdruck desselben war so überwacht, so kummergeschlagen nichtssagend, daß Hans nicht glauben konnte, von seiner Gegenwart im Zimmer sei bereits Kenntnis genommen worden.

Er trat noch einen Schritt heran und sagte:

»Herr Geheimer Rat, ich bin's; – ich bin gekommen, Abschied von Ihnen zu nehmen und Ihnen – Ihnen – zu – zu –«

Er wußte eigentlich nicht, was er sagen sollte, und es war ihm nicht unangenehm, als ihm das Weiterreden erspart wurde. Der Geheime Rat erwachte aus seiner Erstarrung und erhob sich aus seinem Sessel, wie ein von unten auf Geräderter, der eine Stunde auf dem Rade gelegen hat, sich erheben würde. Mit einer Gebärde der Hilflosigkeit, die Hans niemals vergaß, sank er auch sogleich wieder zurück und seufzte:

»Ja, Sie gehen fort, ich weiß es. Sie haben auch recht. Was wollen Sie in diesem Hause? Es läßt sich nicht gut darin atmen. O Herr Unwirrsch!«

Er legte die Hand auf die Augen; Hans stand jetzt dicht neben ihm und sah, daß er einen Brief geschrieben und denselben vor sich liegen hatte. Das Licht, an welchem er ihn zusiegelte, brannte noch. Wieder schien er in das vorige Brüten zu versinken, und es folgten einige peinliche Augenblicke, in denen dem Exhauslehrer nichts einfiel, was er hätte sagen oder tun können. Diese Augenblicke waren jedoch nicht von langer Dauer; der Vater Kleopheas faßte plötzlich ganz überraschend die Hand des Kandidaten und sagte mit einer Innigkeit, welche ihm der Chef seines Kollegiums gewiß nicht zugetraut hätte und welche von seiner Gemahlin ebenso gewiß ihm nicht zugetraut worden wäre:

»Unwirrsch, Herr Unwirrsch, es tut mir sehr leid, daß Sie gehen – gehen müssen. Ich – wir haben Ihnen dieses Haus nicht zu einer behaglichen Stätte gemacht. Wir haben ja selber kein behagliches Dasein darin geführt. Ich danke Ihnen für die treuen Dienste, die Sie meinem Sohne haben leisten wollen; ich danke Ihnen dafür, daß Sie nicht früher fortgegangen sind; ich danke Ihnen für die Art, in der Sie gestern unser Haus vertreten haben – meine Nichte Franziska hat mir alles referiert, und ich danke Ihnen von Herzen dafür. Meine Nichte Franziska wird es ebenfalls sehr bedauern, daß Sie uns verlassen, und mein Bruder Rudolf auch. Herr Unwirrsch, Sie können keinen Begriff davon haben, wie schwer das rasche, inkorrekte Vorgehen meiner Tochter auf meiner Seele wiegt. Aber sie ist von frühester Jugend an eigenwilligen Sinnes gewesen, und unsere Zucht hat zur bitteren Frucht gebracht, was im Temperament ausgesäet lag: ich habe nicht das Recht, meinem armen Kinde zornige Vorwürfe auf den Weg nachzusenden, wir müssen nun die Noxa tragen, wie wir können. Sie ist nach Paris gegangen, Herr Unwirrsch; sie notifizierte es uns gestern; ich habe in vergangener Nacht und heute am Morgen wieder an sie geschrieben, um ihr meinen Segen zu ihrer Heirat zu geben. Ich konnte nicht anders handeln, Gott schütze sie! Wenn der Mann, der sie uns entführt hat, seine mir, beiläufig gesagt, völlig rätselhaften Intentionen klarer dargelegt haben wird, wird sich das Weitere finden; aber wie ich die Sache ansehe, wird er sodann mit meiner Frau verhandeln müssen, da unser Vermögen von ihr stammt. Mein Einfluß ist in dieser Beziehung ziemlich irrelevant, und ich vermag ipso facto nicht das geringste zu tun. Ach Herr Unwirrsch, ich bin ein kranker, schwacher Mann und habe meine Welt aus den Bücherreihen dieser vier Wände machen müssen. Wozu soll ich Ihnen das zu verbergen suchen, was Sie wahrscheinlicherweise schon längst erkannt haben? Sie werden da draußen nicht über den schwächlichen Narren spotten, sondern Sie werden den Mann bedauern, der so vielen Kummer in seinem Leben hat niederschlucken müssen. Leben Sie wohl, lieber Unwirrsch, meine besten Wünsche begleiten Sie. Und wenn Sie eine glücklichere Stätte und weisere, stärkere Leute gefunden haben, so gedenken Sie – nein so vergessen Sie, was Sie hier erfahren haben, vergessen Sie vor allem mich einsamen, verlassenen Mann.«

»Oh nicht einsam – nicht verlassen!« rief eine weiche, innige Stimme, und an der Seite des tiefbewegten Kandidaten vorüber glitt Franziska Götz zu dem gebeugten Oheim und umfaßte ihn weinend mit beiden Armen.

»Nicht einsam und verlassen, mein lieber, lieber Onkel. Sage das nicht, es soll nicht so sein. Denke daran, wie nötig wir einander haben; wir wollen fest, so recht fest zusammenhalten, also sprich nicht von Einsamkeit und Verlassenheit.«

Der Oheim legte ebenfalls den Arm um das Fränzchen.

»Bist du es, armes Kind?« sagte er. »Ja, du bist gut und geduldig; aber dein Anblick muß mir ja der bitterste Vorwurf sein; – wie unbehaglich und traurig haben wir auch dein junges Leben gemacht! Und du bist ganz hilflos und kannst diesen Ort mit keinem andern vertauschen.«

»Ich will es auch nicht! Ich möchte es auch nicht, um keinen Preis in der Welt!« rief Fränzchen. »Bei dir ist jetzt meine Stelle, Onkel, und wenn du mich nicht von dir stoßest und mich bösherzig in das Gouvernantentum hinausjagst, so – so wirst du mich wohl bei dir behalten müssen.«

Sie lächelte bei den letzten Worten durch ihre Tränen, und der Oheim küßte die kleine Hand, die er zwischen seinen dürren, kalten Schreibefingern hielt. Es war wunderlich anzusehen.

Man sprach nun noch davon, daß der Brief an Kleophea sogleich abgehen solle, sobald sie ihre Adresse angegeben haben würde, und dann sprach man von den Plänen des Kandidaten Unwirrsch. Der Geheime Rat zahlte dem Kandidaten das unermeßliche Salarium für das letzte Semester aus, und es war Hans sehr angenehm, daß dies in der Gegenwart Fränzchens geschah; denn sie konnte daraus ersehen, daß der ausgewiesene Hauslehrer trotz seiner Ausweisung fürs erste noch nicht den kläglichen Tod des Verhungerns in Aussicht habe. Hans Unwirrsch erklärte, daß es nicht seine Absicht sei, sich sogleich nach einer neuen Stellung als Präzeptor umzusehen, sondern daß er den Winter über als ein freier Mann in dieser Stadt leben und – ein Buch schreiben wolle.

Mit Erröten sagte er das letztere, und er sagte es eigentlich auch nur für das Fränzchen, das denn auch lieblich überrascht auf- und den Kandidaten ansah.

»Ich habe so vieles erlebt«, fuhr Hans fort, »aber es sieht bunt in mir aus, und es wird die höchste Zeit, daß ich mich zusammennehme und mich besinne. So will ich denn bis zum Frühling eine Stube mieten und stillsitzen und zusehen, was daraus werden mag. Was ich schreiben möchte, wüßte ich wohl schon, aber wie es herauskommt, weiß nur der Himmel.«

Fränzchen nickte lächelnd und drückte die Hand auf das Herz, um sie dann mit feuchten Augen dem alten, einfältigen Hans zu reichen. Auch der Geheime Rat Götz reichte ihm die Hand, indem er sich zum zweitenmal aus seinem Sessel erhob, und wünschte ihm zu seinem Vorhaben in praesenti casu und in allen späteren Angelegenheiten das beste Glück. Das Haus verließ Hans Unwirrsch recht gern; aber diese beiden Menschen verließ er mit gar schwerem Herzen. Das Dienstpersonal hätte ihn gern durch seine auf dem Hausflur aufgestellten Reihen Spießruten laufen lassen; leider ließ er sich aber angrinsen, ohne die gewünschte ärgerliche Notiz davon zu nehmen.

Er schritt über den knirschenden Kiesweg an dem Rasenrundstück und dem wasserleeren Springbrunnen vorüber, den er so oft von seinem Fenster aus mit der glänzenden Messingkugel hatte spielen sehen. Er dachte daran, wie oft er den Wasserstrahl mit der Lebenslust und Kraft der Jugend und die blanke Kugel mit der schillernden Hoffnung der Jugend verglichen habe, und dann – dann spannte er jenseits des zierlichen eisernen Gartentors seinen Regenschirm auf und sah unter demselben hervor auf das Haus zurück. Er gedachte jenes Morgens, an welchem der Bettelleutnant Rudolf Götz ihn in diese Tür geschoben hatte, und er gedachte daran, wie er den Mann so oft dafür verwünscht hatte. Jetzt verwünschte er ihn nicht mehr; – mit heißer Dankbarkeit gedachte er des Leutnants Rudolf. Er pflückte noch einen kleinen Efeuzweig, der sich durch das eiserne Gitter wand; dann ging er weiter, sein eigener Herr zwar, aber nicht mehr der Herr seines Herzens. Er ging, suchte und fand die Wohnung in der Grinsegasse, legte den Efeuzweig auf den Tisch, an welchem er sein »Buch« schreiben wollte, zum guten, glücklichen und gesegneten Zeichen. Was daraus werden würde, konnte in der Tat nur der Himmel wissen, das war aber auch genug.


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