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Fast die ganze Nacht hindurch mußte Hans Unwirrsch auf alle die Turmuhren horchen, deren Glockenklänge bis zu seinem Kopfkissen drangen. Stimmen von jeder Art vernahm er, wie er wachend lag. Zwölffach rief ihm die große Stadt jede verrauschte Viertelstunde ins Ohr. Aus der Nähe wie aus der Weite kamen die Klänge; – erst die dumpfe, ganz nahe Glocke, dann die feine, die in der Ferne bimmelte und viele Ähnlichkeit mit der Passagierglocke eines Bahnhofes hatte. Auf das feine, ferne Stimmchen das sonore Dröhnen von dem Nikolausturm und so fort, so fort, eine Uhr und Glocke der anderen dicht auf dem Nacken folgend.
Es war ein eigen Ding, zu liegen in dem fremden Haus, der fremden Stadt, der fremden Welt, die nächtlichen Stunden zählend und das vergangene Leben im Geiste zu wiederholen, um die wirren, tollen Erlebnisse der Gegenwart nur irgendwie damit verknüpfen zu können.
Wie stellte sich dieser Doktor Theophile Stein zu dem Moses aus der Kröppelstraße, dem Moses des Gymnasiums und der Universität? Hans Unwirrsch gab es auf, darüber sich abzuquälen. So unerklärlich diese plötzlich aus dem Boden gestiegene Erscheinung sein mochte, ihre Umrisse waren doch zu bestimmt und scharf, als daß es möglich gewesen wäre, ihr Dasein in der Wirklichkeit zu bezweifeln.
Man kann an viele Leute denken, während man die Stunden zählt in der Nacht. An Lebende und Tote kann man denken, und vorzüglich an die letzteren, denn die Nacht ist die Zeit der Geister.
An seine Toten dachte Hans – an die Mutter, ihren alten schwarzen Sparkasten, ihre guten, treuen Augen und den Morgen, an welchem er, von seiner Predigt heimkehrend, diese Augen geschlossen fand. An den Vater dachte Hans, an die glänzende Glaskugel, an sein schönes Liederbuch. Nun stieg allmählich die ganze eng eingeschränkte Kindheit aus dem Dunkel empor, und einmal richtete sich der ruhelose Träumer schnell von seinem Lager empor, weil er glaubte, die Stimmen der Base Schlotterbeck und des Oheims Grünebaum draußen auf der Treppe zu hören. Es war freilich eine eng begrenzte Welt, die den Kandidaten in dieser Nacht umgab, als aber der Morgen graute, hatte sie ihn fähig gemacht, der weitern Welt, die sich jetzt vor ihm öffnete, fest entgegenzutreten. An diesem Morgen brauchte der Leutnant Götz »seinen Präzeptor« nicht aus den Federn aufzujagen: vollständig gerüstet fand er ihn und bereit – wie derselbe Leutnant sich ausdrückte, »einen breiten Buckel zu machen für alles, was man ihm auflegen mochte«.
Dreimal ging der Leutnant Götz um den Kandidaten der Gottesgelahrtheit Unwirrsch herum und betrachtete ihn mit Wohlgefallen.
»Wie auf der Bühne«, sagte er, als er zum drittenmal seinen Kreis vollendet hatte. »Was ist die Theologie ohne schwarze Hosen? Was ist ein Präzeptor ohne Frack? Donner und Hagel! – famos! Etwas aus der Mode, aber sehr anständig! Freundchen, wenn diese beiden schönen schwarzen Schwänze dem Bruder Theodor nicht gefallen, so – so kann's nur an dem blauen Taschentuch liegen, das vielleicht etwas zu naseweis für die feine Schwägerin zwischen ihnen – ich meine, den Frackschößen – hervorguckt.«
Schnell schob Hans das Taschentuch so tief als möglich in den Abgrund der Tasche, der Leutnant aber rief:
»Lassen Sie hängen! Lassen Sie dreist hängen! Deshalb habe ich's wahrhaftig nicht bemerkt! Was geht Sie der Theodor und die Kleophea an? Wenn nur –«
Der Alte brach ab; Hans Unwirrsch erfuhr jetzt nicht, was sich an dieses »wenn nur« schließen sollte. Um fünfzehn Minuten nach elf Uhr war er mit dem Leutnant auf dem Wege zum Hause des Geheimen Rats Götz.
Den Ratschlag des alten Kriegers, sich vor dem Ausmarsch durch einen Kognak zu stärken, hatte Hans fest abgelehnt, und der Leutnant hatte gesagt:
»Alles in allem genommen, mögen Sie recht haben; mein Herr Bruder hat eine ziemliche Nase und möchte durch dieselbe einen ungerechtfertigten Argwohn in sich hineinziehen. Vorwärts!«
Schief hatte Hans den kandidatlichen Frack über dem klopfenden Herzen zugeknöpft. Aus dem Fenster des Grünen Baums hatte der Oberst von Bullau spaßhaft ironisch mit einem weißen Taschentuch gewinkt; lächelnd, aber ohne Ironie sah die Sonne vom Himmel auf den Präzeptor herab. Das Wetter ließ heute weniger zu wünschen übrig als die Stimmung des Leutnants. Auf dem ganzen Wege sprach oder brummte der vielmehr mit sich selbst; die Mütze hatte er tief in die Stirn gezogen, die Hände schien er in den Taschen seines Oberrocks geballt zu haben. Wie er kurz angebunden war, war durchaus nicht zum Entzücken, und recht ordentlich fuhr der Präzeptor zusammen, als der übellaunige Führer plötzlich schnarrte: »Verflucht, da sind wir ja schon!«
Sie hatten erst die lebensvolle, lärmvolle Geschäftsstadt hinter sich gelassen, hatten dann ein stilleres Viertel, vornehmeres Viertel durchwandert und gelangten jetzt durch einen Teil des Parkes zu der letzten Häuserreihe eines noch vornehmeren Viertels, welche sich den Park entlangzog und von ihm durch Fahr- und Reitwege getrennt war. Durch kleine, aber selbst in dieser frühen Jahreszeit zierlichgehaltene Gärten gelangte man zu den Häusern dieser Straße; und vor einem eleganten eisernen Gartentor stand jetzt der Leutnant still und deutete grimmig auf das elegante Gebäude jenseits des runden Rasenfleckens und des leeren Springbrunnenbeckens.
Grimmig zog der Leutnant die Glocke des Gartentores, Sesam tat sich auf, um den Rasen und das Brunnenbecken schritten die beiden Herren. Drei Treppenstufen – eine reich geschnitzte Tür, die sich ebenfalls von selbst zu öffnen schien – ein dämmeriger, vornehmer Flur – bunte Glasscheiben – die Töne eines Forte-pianos – ein kreischender Papagei irgendwo in einem Zimmer – ein Bedienter in Grün und Gold, welchem Hans Unwirrsch in der Verwirrung auf den Fuß trat und der es verachtete, von den gestammelten Entschuldigungen Notiz zu nehmen – eine geöffnete Tür – ein Fräulein in Violett – ein melodisch vergnügter, überraschter Ausruf und ein helles Gelächter des Fräuleins – drei Viertel auf zwölf!
»Der Onkel! Der schreckliche Onkel! Der Onkel Petz! O welch ein Glück! Onkelchen Grimbart, vor allen Dingen einen Kuß, mon vieux!«
Das Fräulein in Violett hing so plötzlich am Halse des bärbeißigen Alten, daß er den Kuß dulden mußte und ihn, wie es schien, etwas weniger mißgestimmt erwiderte. Dann machte er sich aber schnell aus den schönen Armen los, schob das Fräulein in Violett zurück und wandte sich an seinen schwarzen Hans:
»Dies ist meine Nichte Kleophea, meine Nichte mit dem frommen Namen und dem bösen Herzen. Hüten Sie sich vor ihr, Herr Kandidate.«
Der Herr Kandidat trat der jungen, schönen Dame nicht auf den Fuß, in achtungsvollster Ferne verbeugte er sich vor ihr, und sie erwiderte seinen Gruß durchaus nicht unfreundlich. Das wechselnde, holdselige Licht ihrer Augen machte einen großen Eindruck auf Hans trotz der Warnung seines treuen Eckarts.
»Wollen Sie mir den Herrn nicht gleichfalls vorstellen, Onkel Rudolf?« fragte Kleophea lächelnd. »Meinen Namen und meinen Charakter haben Sie nach Gebühr kundgemacht; Sie wissen, daß in meinem bösen Herzen Sie das lichteste und behaglichste Winkelchen innehaben. Nun seien Sie billig und –«
»Herr Johannes Unwirrsch aus Neustadt, Kandidatus der Gottesgelahrtheit – ein junger Mensch, wohlgeschickt, verzogene Rangen von beiden Geschlechtern zur Räson zu bringen – ein Jüngling, der meine ganze Billigung besitzt.«
»Das ist sehr übel für Sie, Herr Kandidat«, sagte das Fräulein. »Was mein Herr Onkel billigt, das wird in diesem Hause – Jean, ich bitte Sie um alles in der Welt, starren Sie uns nicht so geistreich an, gehen Sie doch; vielleicht existiert irgendwo doch noch eine nützliche Beschäftigung für Sie! –, wird in diesem Hause sehr oft, ungemein oft nicht in seinem vollen Wert erkannt. Aber Sie gefallen mir, und ich will Sie unter meinen allerleichtsinnigsten Schutz nehmen, Herr Kandidat Umquirl.«
»Unwirrsch! Candidatus theologiae Unwirrsch!« schnarrte der Leutnant.
»Bitte um Verzeihung! Also Sie, Herr Kandidat, sind der duldsame Herr, den wir für unseren lieblichen, engelhaften Aimé so lange vergeblich gesucht haben? O wie interessant, Herr Rumwisch!«
»Unwirrsch!! Zum Henker!« rief der Leutnant. »Ist dein Vater zu Hause, Mädchen?«
Kleophea nickte. »Marsch!« kommandierte der Alte; Jeans hasenhaft aufgesperrte Augen und imponierender Backenbart erschienen, als Kleophea, Hans und der Leutnant die Treppe hinaufstiegen, von neuem auf dem Flur, und ihr entrüsteter Besitzer wartete mit Ungeduld auf den Wagen der gnädigen Frau, welcher die Nachricht, daß der Hauslehrer in der Begleitung des Herrn Leutnants Götz angelangt sei, jedenfalls sehr interessant sein mußte.
An der Seite des Kandidaten stieg Kleophea die Treppe hinauf. Der Oheim stieg ihnen brummend nach.
Zwölf Stufen! Mit der dreizehnten wandte sich die Treppe nach rechts, und als Hans oben auf dem Korridor sich nach dem Leutnant umsah, war dieser verschwunden. Der Kandidat stand mit Kleophea allein, und das Fräulein amüsierte sich sehr über den verblüfften Herrn Hauslehrer.
»Ja, wo ist er? Wo mag er geblieben sein?« lachte sie. »Kennen Sie ihn von dieser Seite noch nicht? Er hat Sie hierher abgeliefert und ist verschwunden wie ein alter, schnauzbärtiger Zauberer. Der Zauberwagen ist zu einer leeren Nußschale geworden, die Rosse haben sich als Mäuse verkrochen; geben Sie nur das Umsichblicken auf, Herr Unwirrsch. Der Alte wird höchstwahrscheinlich meine Kusine Franziska aufgesucht haben. Sie sind jetzt auf sich und mich allein angewiesen; – hier ist das Zimmer meines Papas, ich werde mir ein Vergnügen daraus machen, Sie vorzustellen. Ohne Schmeichelei, Sie gefallen mir recht gut, und ich hoffe, daß wir beide in diesem Hause uns das Leben nicht allzusehr verbittern werden.«
Da sie ihn bei den letzten Worten ansah, so war Hans außerstande, sich vor ihr zu hüten, wie ihm der Leutnant so eindringlich anempfohlen hatte. Diese braunen Augen besaßen eine Zaubermacht ersten Ranges, und wenn Circe in nur irgend ähnlicher Weise geblickt hatte, so war es kein Wunder, wenn Gryllus lieber ein Schwein in ihrem Dienst als ein Koch im Dienst des Odysseus sein wollte.
Aber die Tür öffnete sich. Durch einen eleganten Salon führte Kleophea den Kandidaten in ein anderes Gemach voll Bücher- und Aktenschränke. Drei Verbeugungen machte Hans Unwirrsch gegen einen umfangreichen, mit grünem Tuch überzogenen Tisch, der auch mit Büchern und Akten bedeckt war. Ein Herr saß hinter dem Tische und erhob sich bei dem Gruß aus seinem Sessel, wuchs lang, lang, immer länger – dünn, schwarz, schattenhaft – empor und stand zuletzt lang, dünn und schwarz, zugeknöpft bis an die weiße Halsbinde, hinter seinen Akten da, gleich einem Pfahl mit der Warnungstafel: An diesem Ort darf nicht gelacht werden.
Kleophea lachte aber doch.
»Der Herr Kandidat Unwirrsch, Papa«, sagte sie; wieder verbeugte sich Hans, und der Geheime Rat Götz räusperte sich, schien es sehr zu bedauern, aufgestanden zu sein, blieb jedoch, da er einmal stand, stehen und fuhr mit dem rechten Arm schnell nach dem Rücken, was in jedem andern als dem Kandidaten die Vermutung erregt haben würde, jetzt drücke er auf eine Feder oder drehe eine Schraube oder ziehe an einem Faden.
Was er aber auch an den beiden Knöpfen am Hinterteil seines Frackes vornehmen mochte, die Folge davon war eine schlechte Nachahmung einer der sechs theologischen Verbeugungen.
»Der Herr Kandidat Unwirrsch«, wiederholte Kleophea ihre Vorstellung, während der Papa in einem wirklichen geheimen Rate zu überlegen schien, in welcher Weise er den Präzeptor empfangen solle. Jetzt entschloß er sich und sagte:
»Ich sehe den Herrn, habe ihn auch bereits seit zehn Minuten erwartet, heiße denselben aber auch jetzt noch willkommen. Ist mei – ne Frau, deine Mutter zu Haus, liebe Kleophea?«
»Nein, Papa.«
»Sehr leid! Herr Kandidat, ich hoffe, daß ein längeres, näheres Zusammenleben uns auch näher zusammenführen wird. Kleophea, wann wird mei – ne Frau, deine Mutter zu Haus kommen?«
»Ich kann es nicht sagen, Papa. Du weißt, daß sich selten darüber etwas Genaues bestimmen läßt.«
Es schnurrte jetzt in dem Geheimen Rat, und er räusperte sich bedenklich: Hans Unwirrsch hielt es für gelegen, seinen festen Willen kundzugeben, sich so nützlich als möglich zu machen und seinem schweren, aber auch segensreichen Werke mit allen Kräften obzuliegen. Er sprach dem Rate seinen besten Dank aus für das Vertrauen, welches er in einen unbekannten Mann gesetzt habe, und gelobte freiwillig, es in keiner Weise zu täuschen.
Der Geheime Rat hatte wieder hinten an seinem Mechanismus gedrückt und war langsam in seinen Sessel, hinter seine Aktenhaufen hinabgesunken. Zweifelhaft konnte es sein, ob er über die Worte seines neuen Hauslehrers tief nachdenke oder ob er dieselben gar nicht gehört habe; aber wahrhaft magisch war's, wie er wieder in die Höhe fuhr, als plötzlich der grün-goldne Lakai im Zimmer stand und anzeigte, daß die gnädige Frau soeben nach Haus gekommen sei und auf der Stelle den neuen Lehrer sehen und sprechen wolle.
»Gehen Sie, Jean, und sagen Sie mei – ner Frau, ich würde ihr den Herrn Kandidaten sogleich vorstellen. Liebe Kleophea, willst du nicht auch vorangehen zu deiner Mutter?«
Jean verbeugte sich und ging; Kleophea zuckte die Achseln, lächelte achselzuckend und ging ebenfalls. Als sie beide fort waren, geschah ein Wunder – der Geheime Rat faßte den Kandidaten am Knopf, zog ihn dicht zu sich heran und flüsterte ihm zu:
»Es ist mein Wunsch, daß Sie in diesem Hause bleiben, Sie gefallen mir, soweit sich Ihre Personalakte bis jetzt übersehen ließ, sehr gut. Ich wünsche, daß Sie auch meiner Frau gefallen mögen. Tun Sie das Ihrige dazu, und nun kommen Sie.«
Durch den schon erwähnten Salon führte der Geheime Rat jetzt den Kandidaten zu dem gegenüberliegenden Zimmer, an dessen Türe noch einmal eine merkliche Veränderung über den Mann kam. Die Federn in seinem Innern schienen plötzlich ihre Spannkraft zu verlieren, das Räder- und Zugwerk versagte seinen Dienst, die ganze Gestalt schien kleiner zu werden – der Herr Geheime Rat klopfte an die Tür seiner Gemahlin und schien Lust zu haben, vorher durch das Schlüsselloch zu sehen oder doch an demselben zu horchen. Einen Augenblick später stand Hans Unwirrsch vor der – Herrin des Hauses.
Eine stattliche Dame in Schwarz mit Adlernase und Doppelkinn – ernst wie eine sternenlose Nacht, auf einem dunkelfarbigen Diwan, hinter einem dunkelfarbig behängten Tische! Feierlicher Eindruck des ganzen Gemaches! Jeder Stuhl und Sessel ein Altar der Würde. Ernst, keusch, feierlich und würdig Wände, Plafond und Teppiche, Bilder und Vorhänge – alles in stattlicher Ordnung und Gesetztheit bis auf den siebenjährigen, kaffeegesichtigen, geschwollenen kleinen Schlingel, der beim Anblick des Präzeptors ein entsetzliches, widerliches, wütendes Geheul erhob und mit einer Kinderpeitsche Angriffe auf die Beine des Kandidaten Unwirrsch machte!
»O Aimé, welch ein Betragen!« sagte die Dame in Schwarz. »Komm zu mir, mein Liebling, rege dich nicht so schrecklich auf. Kleophea, willst du nicht dem Kinde das Peitschchen fortnehmen?«
Kleophea zuckte wiederum die Achseln:
»Ich danke, Mama. Aimé und ich –«
Die gnädige Frau, mit der Hand winkend, rief:
»Schweig nur; ich weiß schon, was jetzt kommen wird. Sieh, mein Püppchen, was ich dir für deine Peitsche gebe!«
Einer Bonbontüte konnte das liebliche Kind nicht widerstehen, es gab sein Marterinstrument in die Hände der Mutter, die dadurch alles erhielt, was ihr noch zur letzten Vollendung ihrer imponierenden Erscheinung fehlte.
Mit der Peitsche in der Hand widmete sich jetzt die Geheime Rätin gänzlich dem neuen Hauslehrer. Sie unterwarf ihn einem strengen Examen und erbat sich die allergenaueste Auskunft über die »Führung« seines Lebens. Moral und Dogma des jungen Mannes, dem ein so kostbares Juwel anvertraut werden sollte, waren ihr sehr wichtig, und nicht ganz ging's bei einigen Einzelfragen ohne Stirnrunzeln ab. Im ganzen jedoch fiel das Examen zugunsten des Examinanden aus, und der Schluß war sogar recht befriedigend.
»Ich freue mich, hoffen zu können, daß Ihr Wirken in diesem Hause ein gesegnetes sein werde«, sagte die gnädige Frau. »Sie werden finden, Herr Kandidat, daß der Herr Sie unter ein streng christliches Dach geführt hat. Sie werden finden, daß der Samen des Heils in dem Herzen dieses kleinen, sensitiven Engels bereits ausgestreut ist. Unter meiner speziellen mütterlichen Aufsicht werden Sie zur Entfaltung aller schönen Blüten in diesem jungen Herzen nach Kräften beitragen, und der Herr wird Ihr Werk uns zum Segen gereichen lassen. Demütigen und einfältigen Herzens werden Sie unter uns wirken und sich durch kein weltliches Lächeln und Spötteln (hier traf ein Blick und ein imaginierter Peitschenhieb die schöne Kleophea) beirren lassen. Aimé, mein süßes Blümchen, du darfst jetzt dem Herrn Kandidaten die Hand geben.«
Das süße Blümchen mußte die Aufforderung jedenfalls falsch verstanden haben. Statt dem Herrn Kandidaten die Hand zu geben, zeigte es ihm etwas anderes und brach von neuem in jenes vorhin erwähnte, Mark und Bein durchdringende Geschrei aus; und als der Hauslehrer es wagte, sich ihm zu nähern, stieß es mit den Füßen nach seinen Schienbeinen, so daß er schmerzlich bewegt zurückwich und nur aus der Ferne die Hoffnung aussprach, daß Aimé und er bald vertrauter miteinander werden würden.
»Ich hoffe es auch«, sagte die gnädige Frau. »Ich hoffe, daß Sie alles aufbieten werden, sich die Liebe und Zuneigung meines Knaben zu erwerben. Durch ein kindlich einfältiges und demütiges Wesen läßt sich leicht die Liebe eines Kindes erlangen. O welch einen Schatz lege ich in Ihre Hände, Herr Unwirrsch! O meine liebliche Sensitive, mein Aimé!«
Der Geheime Rat hatte während der ganzen Verhandlung nicht ein einziges Wort gesprochen. Er stand da und hielt, wenigstens äußerlich, alles, was ward, für gut. Was er im Innern seines Busens bewegte, ward in keiner Weise kund; der gute Mann hatte gelernt, in Gegenwart seiner Gemahlin stille in dem Herrn zu sein.
Kleophea war ganz verschwunden. Was sie hinter dem Fenstervorhang, hinter dem sie sich versteckt hatte, trieb, blieb ebensosehr ein Geheimnis wie die Gefühle des Papas. Die Gefühle des Herrn Hauslehrers waren nicht die angenehmsten. Mit Unbehagen sah er in die Zukunft und gestand sich seufzend, daß auch Kohlenau seine Reize gehabt habe. Er fühlte sich von einer Luft umgeben, die den Schweiß beförderte, ihn aber auch zurückhielt. Mit nicht allzu heißem Dank dachte er an den Leutnant Rudolf Götz, der ihm die Ehre und das Vergnügen verschafft hatte, in diesem Hause Erzieher zu sein. Das rätselhafte Verschwinden des Mannes im wichtigsten Augenblick und auf der Treppe konnte auch nicht zu seinen Gunsten gedeutet werden; Hans Unwirrsch fing an, den Leutnant Rudolf Götz für einen arglistigen Charakter zu halten; der getreue Eckart verwandelte sich in einen heimtückischen Irrwisch, der mitten im Sumpf erlosch. Hans Unwirrsch sank unter den Blicken der Geheimen Rätin Aurelia, geborener von Lichtenhahn, langsam, aber sicher in die Tiefe, und weder hinter dem Fenstervorhang noch hinter dem Rücken des Geheimen Rats kam eine helfende Hand hervor.
Von einer andern Seite streckte sich die hilfebringende Hand aus.
»Wo ist Franziska«? fragte die gnädige Frau. Kleophea hinter dem Vorhang wußte es nicht; der Geheime Rat wußte es ebenfalls nicht.
»Bitte, Herr Unwirrsch, wollen Sie die Güte haben, die Glocke zu ziehen?« sagte die gnädige Frau, und Hans Unwirrsch suchte mit den Blicken den Zug. In dem Augenblick aber, wo er ihn gefunden hatte, öffnete sich bereits die Tür, die aus dem Salon in das Gemach der gnädigen Frau führte, und eine kleine, unscheinbare Gestalt im grauen, unscheinbaren Kleide glitt mit gesenkten Augen in das Gemach; – Hans Unwirrsch klingelte nicht. An Franziska Götz hatte er während der letzten halben Stunde nicht gedacht.
»Da bist du ja, Franziska«, rief die Geheime Rätin. »Meine Nichte, Fräulein Götz – Herr Unwirrsch!« fügte sie kurz hinzu und sah dabei womöglich noch stattlicher, aber auch noch viel gletscherhafter aus. »Laß dem Herrn Kandidaten sein Zimmer anweisen, Kind; wir haben ihn unter unsere Hausgenossen aufgenommen.«
Franziska Götz verneigte sich stumm, und als sie unhörbar an Hans vorüberglitt, hob sie die Augen zu ihm empor, um sie blitzschnell wieder zu senken.
»Folgen Sie dem Fräulein, Herr Kandidat«, sagte die gnädige Frau, die Peitsche weglegend. Hans machte ihr abermals eine Verbeugung, von welcher diesmal keine Notiz genommen wurde; er verbeugte sich vor dem Geheimen Rat, der wenigstens ein klein wenig auf seinen Mechanismus drückte, und da der Fenstervorhang sich jetzt leise bewegte, so machte Hans auch dem eine Verbeugung; dann folgte er dem Fränzchen des Leutnants Rudolf und erlaubte sich, auf dem Korridor tief, aber doch vorsichtig aufzuatmen.
Da stand auch wieder der majestätische Bediente, dessen Backenbart immer mehr anzuschwellen schien, je länger man ihn betrachtete. Über seine Achselschnüre sah er mit legitimer Verachtung auf den »neuen Hauslehrer« und gab nur zweifelhafte Geneigtheit kund, den ungentilen Hungerleider zurechtzuweisen.
Fräulein Franziska Götz sah aber auch zweifelhaft auf den Mann in Grün und Gold, wandte sich dann an Hans und sagte leise:
»Wenn Sie die Güte haben wollen, mir zu folgen, so werde ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen.«
Sanft war ihre Stimme, zärtlich und mild, »ein köstlich Ding an Fraun«, wie der alte König Lear sagte, und auf den Hacken drehte sich Jean bei ihrem Klang und schritt davon, mit ungebogenen Knien, sehr auswärts und sehr überzeugt, daß er seine Stellung zu wahren wisse.
»O mein Fräulein, wie seltsam führt uns das Schicksal wieder zusammen, und wie sehr habe ich demselben dafür zu danken!« rief Hans; das Fräulein aber legte den Finger auf den Mund und flüsterte:
»Ich habe meinen Onkel Rudolf gesehen – habe ihn gesprochen – – – er hat mir von Ihnen erzählt. O mein armer, treuer, lieber Onkel Rudolf!«
Sie schwieg, aber Hans Unwirrsch sah eine Träne an ihren Wimpern; er wagte es nicht mehr, sie anzureden, sondern folgte ihr stumm in das zweite Stockwerk des Hauses. Im Innersten seiner Seele sagte er: »Gottlob!« Er mußte wohl Ursache dazu haben.
»Hier ist Ihr Gemach«, sagte Franziska, eine Tür aufschließend. »Mögen Sie frohe und glückliche Stunden darin verleben! Es ist mein herzlichster Wunsch und auch der meines Onkels Rudolf, welcher Sie sehr gern zu haben scheint.«
»Wie danke ich Ihnen, wie dem Herrn Leutnant! Und es ist alles so unverdient, was der Herr Leutnant an mir getan hat! Es ist so traumhaft, wie er mein Geschick in die Hand genommen und mich in dieses Haus geführt hat.«
»Er hat oft von Ihnen gesprochen seit jenem Abend, an welchem wir in jenem Wirtshaus zusammentrafen. Ich war damals sehr bekümmert, sehr unglücklich. O der gute Onkel Rudolf! Auch mein armes Leben hat er geführt. Ach wenn Sie ihn ganz, ganz kennten, Herr Kandidat!«
»Ich hoffe, ihn nach seinem vollen Wert kennen- und schätzenzulernen!« rief Hans. »Bei längerem Aufenthalt in diesem Hause –«
Wie erschrocken legte Franziska wieder den Finger auf den Mund.
»In diesem Hause dürfen Sie nicht so viel von dem Onkel Rudolf reden!« sagte sie. »Die Tante liebt ihn nicht. Es ist recht traurig.«
»Ah!« seufzte Hans Unwirrsch, und im nächsten Augenblicke hatte ihn des Leutnants Fränzchen allein in seinem neuen Aufenthaltsort gelassen; er konnte sich ihn genauer betrachten und aus dem Fenster sehen, nachdem er die vier Wände und die Gerätschaften gemustert hatte. Die blautapezierten Wände, die vier Stühle, der Tisch, der Kleiderstock, das kleine Sofa und der kleine Kanonenofen hatten nichts Außergewöhnliches an sich; der Blick aus dem Fenster dagegen war nicht so leichthin abgetan.
Jetzt sprang der Brunnen inmitten des Grasplatzes und spielte lustig im Sonnenschein mit einer glänzenden Messingkugel. Da war das zierliche Eisengitter, welches das geheimrätliche Besitztum von dem Spazierweg der großen Stadt schied. Es war etwas Wunderbares für Hans Unwirrsch, auf diesen Weg und sein Gewühl von Wagen, Reitern und Fußgängern hinabzublicken und vergeblich zu warten, daß der bunte Strom sich verlaufe. Und da war jenseits des Weges für Rosse, Wagen und Fußgänger der waldähnliche Park und die schnurgraden Alleen, in die man hineinsah wie in einen Guckkasten. Und wie mußte das alles sein, wenn erst die Bäume grün waren! Wahrlich, diese Hoffnung auf dieses Grün konnte allein schon einigen Trost im Grau der Gegenwart gewähren.
Der Hausknecht vom Grünen Baum brachte jetzt mit einem Gruß des Herrn Leutnants Götz die Reisetasche des Kandidaten und entriß denselben dadurch seinen Fensterbetrachtungen. An den Faktor zu Kohlenau mußte der zurückgelassenen Habseligkeiten wegen geschrieben werden; aus dem Taschenexemplar des griechischen Neuen Testamentes, das Hans auf den Tisch legte, fiel die Karte, auf welcher fein in Stahl gestochen zu lesen war:
Dr. Theophile Stein
Hedwigstr. 25, 2 Tr.
Hans Unwirrsch hatte keine Zeit mehr, zu träumen; er mußte überlegen, so gut ihm das bei dem Durcheinander der Gestalten und Verhältnisse in seinem Innern möglich war. Moses Freudenstein und Franziska Götz, Franziska und die gnädige Frau, die gnädige Frau und Kleophea, der Geheime Rat, Jean in Grün und Gold; – bellum omnium contra omnes, und Hans Unwirrsch, candidatus theologiae und Präzeptor mittendazwischen! Es war ein Zustand, in welchem der Mensch wohl berechtigt war, nach der Stirn zu greifen, wie jemand, der mit verbundenen Augen längere Zeit im Kreise gedreht wurde und der nach abgenommener Binde sich durchaus nicht fest auf den Füßen fühlt und noch weniger weiß, was er von seiner Umgebung denken soll.
Auch Hans Unwirrsch fühlte das unabweisbare Bedürfnis, einige Federn seines Wesens schärfer anzuspannen und einige Schrauben desselben anzuziehen. Er las ein Kapitel des Neuen Testamentes und darauf eine Seite in einer Taschenausgabe des Epiktet. Nachher konnte er mit größerer Fassung dem stattlichen Jean unter die Augen treten, als dieser ihn zum Diner herniederentbot und die Bemerkung fallen ließ, daß es anständig sei, mit weißen Handschuhen dabei zu erscheinen.
Zum erstenmal aß Hans Salz und Brot mit seiner neuen Lebensgenossenschaft. Wieder hatte er viele Fragen nach seiner Präexistenz zu beantworten, und es zeigte sich, daß in seiner Präexistenz viele der Dinge, welche auf die Tafel kamen, noch nicht vorgekommen waren. Die gnädige Frau blieb auch jetzt eine Geborene von Lichtenhahn, der Geheime Rat blieb, was er war; Kleophea lächelte und zuckte die Achseln, Aimé war sehr unaimable, und Fränzchen saß zuunterst am Tisch neben dem Kandidaten Hans Unwirrsch.