Wilhelm Raabe
Der Hungerpastor
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel

Die Alten meinten, es sei für ein großes Glück zu achten, wenn die Götter einen in einer berühmten Stadt geboren werden ließen. Da aber dieses Glück sehr berühmten Männern nicht zuteil geworden ist, indem Bethlehem, Eisleben, Stratford, Kamenz, Marbach und so weiter vordem nicht grade glänzende Punkte in der Menschen Gedenken waren, so wird für Hans Unwirrsch wenig darauf ankommen, wenn er in einem Städtchen namens Neustadt das Licht der Welt erblickte. Es gibt nicht wenige gleichbenannte Städte und Städtchen; aber sie haben sich nicht um die Ehre, unsern Helden zu ihren Bürgern zu zählen, gezankt. Johannes Jakob Nikolaus Unwirrsch machte seinen Geburtsort nicht berühmter in der Welt.

Zehntausend Einwohner hatte das Nest im Jahre 1819; heute hat es hundertundfünfzig mehr. Es lag und liegt in einem weiten Tal, umgeben von Hügeln und Bergen, von denen herab Wälder sich bis in die Stadtmarkung ziehen. Trotz seines Namens ist es nicht neu mehr; mühsam hat es seine Existenz durch wilde Jahrhunderte gerettet und genießt jetzt eines ruhigen, schläfrigen Greisenalters. Die Hoffnung, noch einmal zu etwas Rechtem zu kommen, hat's allmählich aufgegeben und fühlt sich darum nicht unbehaglicher. In dem kleinen Staate, welchem es angehört, ist es immer ein Faktor, und die Regierung nimmt Rücksicht auf es. Der Klang seiner Kirchenglocken machte einen angenehmen Eindruck auf den Wanderer, der auf der nächstgelegenen Höhe aus dem Walde trat; und wenn sich grade die Sonne in den Fenstern der beiden Kirchen und der Häuser spiegelte, so dachte derselbe Wanderer selten daran, daß nicht alles Gold ist, was glänzt, und daß Glockenklang, fruchtbare Felder, grüne Wiesen und eine hübsche kleine Stadt im Tal noch lange nicht genug sind, um ein Idyll herzustellen. Amyntas, Palämon, Daphnis, Doris und Chloe konnten sich das Leben drunten im Tal oft recht unangenehm machen. Da das Lämmerweiden und -scheren ein wenig aus der Mode gekommen ist, so fiel man sich einander gegenseitig in die Wolle, und es mangelte nicht an Scherereien aller Art. Aber man freite und ließ sich freien und kam, alles in allem genommen, doch ziemlich gemächlich durch das Leben; – daß die Lebensbedürfnisse nicht unerschwinglich teuer waren, trug wohl sein Teil dazu bei. Der Teufel hole den ganzen Geßner, wenn Obst und Most mißraten und Milch und Honig rar sind in Arkadien!

Doch wir werden wohl noch Gelegenheit finden, über dies alles hie und da einige Worte zu verlieren, und wenn nicht, so schadet es nichts. Für jetzt müssen wir uns zu dem jungen Arkadier Hans Unwirrsch zurückwenden und sehen, auf welche Weise er sich im Leben zurechtfindet.

Eine recht ungebildete Frau war die Witwe des Schusters. Lesen und schreiben konnte sie kaum notdürftig, ihre philosophische Bildung war gänzlich vernachlässigt, sie weinte leicht und gern. In der Dunkelheit geboren, blieb sie in der Dunkelheit, säugte ihr Kind, stellte es auf die Füße, lehrte ihm das Gehen, stellte es für das ganze Leben auf die Füße und lehrte ihm für das ganze Leben das Gehen. Das ist ein großer Ruhm, und die gebildetste Mutter kann nicht mehr für ihr Kind tun.

In einem niederen, dunkeln Zimmer, in das wenig frische Luft und noch weniger Sonne drang, erwachte Hans zum Bewußtsein, und dies war in einer Hinsicht gut; er fürchtete sich später nicht allzusehr vor den Höhlen, in welchen die bei weitem größere Hälfte der an den Segnungen der Zivilisation teilnehmenden Menschheit ihr Dasein hinbringen muß. Sein ganzes Leben hindurch nahm er Licht und Luft für das, was sie sind, Luxusartikel, die das Geschick gibt und verweigert und welche es lieber zu verweigern als zu geben scheint.

Die nach der Gasse gelegene Stube, welche zugleich des Meisters Anton Werkstatt gewesen war, wurde unverändert in ihrem vorigen Zustande erhalten. Mit ängstlicher Sorgfalt wachte die Witwe darüber, daß nichts von ihres Seligen Arbeitsgerät verrückt wurde. Der Oheim Grünebaum hatte zwar das ganze überflüssige Handwerkszeug für einen namhaften Preis an sich kaufen wollen; aber die Frau Christine konnte sich nicht entschließen, irgendein Stück davon herzugeben. In allen ihren Feierstunden saß sie auf ihrem gewohnten Platz neben dem niedrigen Schustertisch, und am Abend konnte sie, wie wir wissen, nur beim Licht der Glaskugel stricken, nähen oder das große Gesangbuch durchbuchstabieren.

Die arme Frau mußte sich jetzt sehr quälen, um sich und ihr Kind ehrlich durchzubringen; in der kleinen Schlafkammer, deren Fenster nach dem Hofe hinaussahen, lag sie manche Nacht wachend in großen Sorgen, während Hans Unwirrsch in seines Vaters großer Bettstatt von den großen Butterbroten und den Semmeln glücklicherer Nachbarskinder träumte. Der weise Meister Grünebaum tat an seinen Verwandten, was er konnte; aber das Handwerk hatte für ihn nicht den Segen, den man nach jedem Kinderfreund davon erwarten möchte; er hielt allzugern allzulange Reden im Roten Bock, und seine Kunden vertrauten ihm lieber ein Paar kranke Stiefel zum Kurieren an, als daß sie ein neues Paar bei ihm bestellten. Er hielt selber mit Mühe den Kopf überm Wasser; – mit seinem Rat aber hielt er nicht zurück, sondern gab ihn willig und in großen Quantitäten; und leider müssen wir das nicht ungewöhnliche Faktum berichten, daß die Quantität meistenteils durchaus nicht im richtigen Verhältnis zur Qualität stand. Die Base Schlotterbeck, obwohl lange nicht so weise wie der Meister Grünebaum, war praktischer, und auf ihren Rat wurde die Frau Christine eine Wäscherin, welche des Morgens zwischen zwei und drei Uhr aufstand und am Abend um acht todmüde und zerschlagen nach Hause kam, um den ersten, den physischen Hunger ihres Kindes stillen und seine Träume in die Wirklichkeit setzen zu können.

Hans Unwirrsch behielt aus dieser Zeit seines Lebens dunkle, unbestimmte, wunderliche Erinnerungen und hat davon seinen nächsten Freunden Bericht gegeben. Von frühester Jugend an hatte er einen leisen Schlaf, und so erwachte er auch öfters von dem Lichtschein des Schwefelhölzchens, mit welchem seine Mutter in dunkler, kalter Winternacht ihre Lampe anzündete, um sich zu ihrem frühen Wege zu rüsten. Warm lag er in seinen Kissen und rührte sich nicht, bis die Mutter sich über ihn beugte, um nachzusehen, ob sie den kleinen Schläfer auch nicht durch das Klappern der Pantoffeln erweckt habe. Dann schlug er seine Arme um ihren Hals und lachte, bekam einen Kuß und die Ermahnung, schnell wieder einzuschlafen, da es noch lange nicht Tag sei. Dieser Ermahnung folgte er entweder sogleich oder erst später. Im zweiten Fall beobachtete er durch halbgeschlossene Augenlider die brennende Lampe, die Mutter und die Schatten an der Wand.

Merkwürdigerweise stammten diese frühen Erinnerungen fast alle aus der Zeit des Winters. Um die Flamme der Lampe war ein Dunstkreis, der Atem fuhr in einer Wolke gegen das Licht; die gefrorenen Fensterscheiben flimmerten, es war bitter kalt, und in das Behagen des sichern, warmen Bettes mischte sich für den kleinen Beobachter das Grauen der bitteren Kälte, vor welchem er sein Näschen unter die Decke ziehen mußte.

Begreifen konnte er nicht, weshalb die Mutter so früh aufstehe, während es so dunkel und kalt war und während so tolle schwarze Schatten an der Wand vorübergingen, nickten, sich aufrichteten und sich beugten. Noch unbestimmtere Begriffe hatte er von den Orten, wohin die Mutter ging; je nach seinen Gemütsstimmungen stellte er sich diese Orte mehr oder weniger angenehm vor und vermischte damit allerlei Einzelheiten der Märchen und allerlei Bruchstücke aus den Gesprächen der erwachsenen Leute, denen er gelauscht hatte und die sich jetzt in diesen unklaren Augenblicken zwischen Schlaf und Wachen bunt und immer bunter färbten und mischten.

Endlich war die Mutter mit ihrem Ankleiden fertig, und noch einmal beugte sie sich über das Lager des Kindes. Abermals erhielt es einen Kuß, allerlei gute Ermahnungen und lockende Versprechungen, damit es stilliege, nicht heule, schnell wieder einschlafe. Die Versicherung, daß der Morgen und die Base Schlotterbeck bald kommen würden, wurde hinzugefügt; die Lampe wurde ausgeblasen, die Kammer versank in die tiefste Dunkelheit, die Tür knarrte, die Schritte der Mutter entfernten sich; – schnell war der Schlaf wieder da, und wenn Hans zum zweitenmal erwachte, saß die Base gewöhnlich vor seinem Bett, und in der Stube nebenan prasselte das Feuer im Ofen.

Die Base Schlotterbeck war, obgleich sie nicht älter war als die Frau Christine Unwirrsch, immer die Base Schlotterbeck gewesen. Niemand in der Kröppelstraße kannte sie unter einer anderen Bezeichnung, und bekannt war sie in der Kröppelstraße wie der Alte Fritz, der Kaiser »Nahpohlion« und der alte Blücher, wenngleich sie sonst mit diesen drei berühmten Helden weiter keine Ähnlichkeiten hatte, als daß sie schnupfte wie der preußische König und eine gebogene Nase hatte wie der »korsische Wüterich«. Eine Ähnlichkeit mit dem Marschall Vorwärts wäre schwer herauszufinden gewesen.

Die Base war früher ebenfalls Wäscherin gewesen, aber sie war nun längst ausrangiert und ernährte sich kümmerlich durch Spinnen, Strumpfstricken und ähnliche Arbeiten. Der Magistrat hatte ihr ein kärgliches Armengeld gewährt, und der Meister Anton, dessen sehr entfernte Verwandte sie war, hatte ihr das Stübchen, welches sie in seinem Hause bewohnte, aus Mildtätigkeit für ein billiges eingeräumt. Eigentlich verdiente sie, ein eigenes Kapitel in diesem Buche auszufüllen, denn sie hatte eine Gabe, welcher sich nicht jedermann rühmen kann: die Gestorbenen waren für sie nicht abgeschieden von der Erde, sie sah sie durch die Gassen schreiten, sie begegneten ihr auf den Märkten, wie man Lebendige sieht und unvermutet an einer Ecke auf sie stößt. Damit war für sie nicht der geringste Hauch von Unheimlichkeit verbunden; sie sprach davon wie von etwas ganz Natürlichem, Gewöhnlichem, und es gab durchaus keinen Unterschied für sie zwischen dem Bürgermeister Eckerlein, der im Jahre 1769 gestorben war und ihr in Beutelperücke und rotem Samtrock an der Löwenapotheke begegnete, und dem Enkel des Mannes, welcher im Jahre 1820 die Löwenapotheke besaß und welcher eben aus dem Fenster sah, ohne von seinem Herrn Großvater Notiz nehmen zu können.

Selbst den Bekannten und Bekanntinnen der Base Schlotterbeck erregte die »Gabe« derselben zuletzt kein Grauen mehr. Die Ungläubigen hörten auf, darüber zu lächeln, und die Gläubigen – deren es eine gute Zahl gab – segneten sich nicht mehr und schlugen nicht mehr die Hände über dem Kopfe zusammen. Auf den Charakter des guten Weibleins selber hatte die hohe Vergünstigung keinen verschlechternden Einfluß. Die Base überhob sich nicht in ihrer seltsamen Sehergabe, sie nahm diese wie eine unverdiente Gnade Gottes und blieb demütiger als viele andere Leute, die lange nicht so viel sahen wie die ältliche Jungfer in der Kröppelstraße.

Was das Äußere anbetrifft, so war die Base Schlotterbeck mittlerer Größe, doch ging sie sehr gebückt und mit weit vorgeneigtem Kopfe. Die Kleider hingen an ihr wie etwas, das nicht recht an seinem Platz war, und ihre Nase war, wie schon gesagt, sehr scharf und sehr gebogen. Sie hätte einen unangenehmen Eindruck gemacht, diese Nase, wenn die Augen nicht gewesen wären. Die Augen machten alles wieder gut, was die Nase sündigte; es waren merkwürdige Augen und sahen ja auch merkwürdige Dinge. Klar und leuchtend blieben sie bis in das höchste Alter – blaue, junge Augen in einem alten, alten, vertrockneten Gesichte! Hans Unwirrsch hat sie nie vergessen, obgleich er später in noch viel schönere Augen sah.

Den Wissenschaften war die Base Schlotterbeck in naiver Weise ergeben. Sie hatte einen ungeheuren Respekt vor der Gelahrtheit, und vorzüglich vor der Gottesgelahrtheit; der kleine Hans verdankte ihr die erste Einführung zu allen Wissenschaften, deren er sich in kommender Zeit mehr oder weniger bemächtigte. Den Gebrüdern Grimm hätte sie Märchen erzählen können, und wenn die böse Königin der gehaßten Stieftochter die goldene Nadel in den Scheitel stieß, so fühlte Hans Unwirrsch die Spitze bis in das Zwerchfell hinunter.

Unzertrennliche Genossen waren Hans und die Base während der ersten Lebensjahre des Knaben. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend vertrat die Geisterseherin Mutterstelle bei dem Kinde; ohne ihren Rat und ihren Beistand geschah nichts, was auf es Bezug hatte; manchen Hunger stillte sie, doch manchen Hunger lernte Johannes Unwirrsch auch durch sie kennen. Der Oheim Grünebaum brummte oft genug bei seinen Besuchen, aus solchem Weiberverkehr könne nichts Gutes kommen, der Teufel nehme die Graden und die Ungraden; Schrullen, Phantasien und Gespensterimaginationen könnten einem Menschen nichts helfen und machten ihn nur zu einem Konfuzius und Konfusionsrat: »Dummes Zeug! Und dabei bleibe ich!«

Die Base zuckte zur Antwort auf solche Anfälle nur die Achseln, und Hans kroch dichter an sie heran. Brummend, wie er gekommen war, zog der Oheim ab; – er hielt sich für einen ungemein praktischen und klaren Kopf und blies Verachtung durch die Nase, ohne zu bedenken, daß das beste Pfeifenrohr verschlammen kann.

Hans Unwirrsch war ein frühreifes Kind und lernte das Sprechen fast eher als das Gehen; das Lesen lernte er spielend. Die Base Schlotterbeck verstand die letztere schwere Kunst sehr gut und stolperte nur über allzu lange und allzu ausländische Worte. Sie las gern laut und mit einem näselnden Pathos, welches den größten Eindruck auf das Kind machte. Ihre Bibliothek bestand in der Hauptsache aus Bibel, Gesangbuch und einer langen Reihe von Volkskalendern, welche sich seit dem Jahre siebenzehnhundertneunzig in ununterbrochener Reihenfolge aneinanderschlossen und deren jeder eine rührende oder komische oder schauerliche Historie nebst einem Schatz guter Haus- und Geheimmittel und einer feinen Auswahl lustiger Anekdoten enthielt. Für eine reizbare Kinderphantasie lag eine unendlich reiche Welt in diesen alten Heften verborgen, und Geister aller Art stiegen daraus empor, lächelten und lachten, grinsten, drohten und führten die junge Seele durch die wechselndsten Schauer und Wonnen. Wenn der Regen an die Scheiben schlug, wenn die Sonne in die Stube schien, wenn das Gewitter mit schwarzen Wolkenarmen über die Dächer griff und seine roten Blitze über die Stadt schleuderte, wenn der Donner rollte und der Hagel auf dem Straßenpflaster prasselte und hüpfte, so geriet alles das auf irgendeine Weise mit Gestalten und Szenen aus jenen Kalendern in Verbindung, und die Helden und Heldinnen der Historien schritten durch gutes und schlechtes Wetter vollständig klar, deutlich und bestimmt vorüber an dem kleinen, träumerischen Hans, der seinen Kopf in den Schoß der alten Geisterseherin gelegt hatte. Die Geschichte »Vom braven Kasperl und dem schönen Annerl« gab einen Klang, welcher durch das ganze Leben forttönte; aber einen noch größeren Eindruck machte auf den Knaben das »Buch der Bücher«, die Bibel. Die einfache Großartigkeit der ersten Kapitel der Genesis muß die Kinder wie die Erwachsenen, die geistig Armen wie die Millionäre des Geistes überwältigen. Unendlich glaubwürdig sind diese Historien vom Anfang der Dinge, und glaubwürdig bleiben sie, trotzdem jeden Tag klarer bewiesen wird, daß die Welt nicht in sieben Tagen erschaffen wurde. Mit schauerlichem Behagen vertiefte sich Hans zu den Füßen der Base in den dunklen Abgrund des Chaos: Und die Erde war wüste und leer; – bis das Licht sich schied von der Finsternis und das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste. Wenn Sonne, Mond und Sterne ihren Tanz begannen, Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre gaben, dann atmete er wieder auf; und wenn die Erde Gras und Kraut und Fruchtbäume aufgehen ließ, wenn das Wasser, die Luft und die Erde sich erregten mit webenden und lebendigen Tieren, dann klatschte er in die kleinen Hände und fühlte sich auf sicherem Boden. Ganz deutlich und von unumstößlicher Wahrheit war ihm die Art, wie Gott dem Adam den Odem einblies, während dagegen der erste kritische Zweifel in dem Kindeskopf entstand, als das Weib aus der Rippe des Mannes erschaffen wurde; denn »das tat doch weh!«

Auf die einfachen Geschichten vom Paradies, Kain und Abel, von der Sündflut folgten aber die Geschlechtsregister mit den langen, schwierigen Namen. Diese Namen waren wahre Dornbüsche für Vorleserin und Zuhörer; es waren Fallgruben, in welche sie Hals über Kopf hineinstürzten, es waren Steine, über welche sie stolperten und auf die Nase fielen. Immer wanden sie sich los, rafften sie sich auf und arbeiteten sie sich weiter mit ehrfürchtiger Feierlichkeit: »Aber die Kinder von Gomer sind diese: Askenas, Riphath und Thogarma. Die Kinder von Javan sind diese: Elisa, Tharsis, Chittim und Dodanim.«

Doch die Tage verflossen nicht ganz allein unter Lesen und Geschichtenerzählen. Sobald Hans Unwirrsch seine Hände nicht mehr in halb unwillkürlichen Bewegungen hin und her warf oder in den Mund steckte, wurde er sogleich von der Mutter und der Base mit dem großen Prinzip der Arbeit bekannt gemacht. Die Base Schlotterbeck war ein kunstreiches Weib, welches sich dadurch einen kleinen Nebenverdienst verschaffte, daß es für eine große Spielwarenfabrik Puppen ankleidete, eine Beschäftigung, welche dem Interesse eines Kindes nahe genug lag und wobei Hans bald und gern hilfreiche Hand leistete. Herren und Damen, Bauern und Bäuerinnen, Schäfer und Schäferinnen und mancherlei andere lustige Männlein und Fräulein aus allen Ständen und Lebensaltern entstanden unter den Händen der Base, welche wacker mit Leim und Nadel, bunten Zeugstückchen, Gold- und Silberschaum hantierte und jedem sein Teil davon gab, je nach dem Preise. Es war eine philosophische Arbeit, bei welcher man mancherlei Gedanken haben konnte, und Hans Unwirrsch stellte sich gut dazu an, wenn ihm auch die Kinderfreude an diesem Spielzeug natürlich bald verlorenging. Wer in einem Laden voll Hampelmänner aufwächst, den kümmert der einzelne Hampelmann wenig, sei er auch noch so bunt und zappele er auch noch so sehr.

Nach Martini, welcher berühmte Tag leider nicht durch eine gebratene Gans gefeiert werden konnte, begann eine Fabrikation auf eigene Rechnung. Die Base konnte jetzt den größten Nutzen aus ihrem Talent für die plastische Kunst ziehen; sie baute Rosinenmänner auf Weihnachten und für bescheidenere Gemüter Pflaumenkerle. Der erste Bursche letzterer Art, welchen Hans ohne Beihilfe herstellte, machte ihm ein ebenso großes Vergnügen wie dem hoffnungsvollen Kunstjünger die Preisarbeit, die ihm ein Stipendium zur Reise nach Italien verschafft.

Der Beginn des Weihnachtsmarktes war für den kleinen Bildner ein großes Ereignis. Mancherlei Gefühle beschreibt der Epiker, indem er auseinandersetzt, daß er sie nicht beschreiben könne: die Gefühle Hansens bei dieser Gelegenheit waren von solcher Art, und mit Wonne trug er die Laterne voran, während die Base auf einem kleinen Handwagen ihre Bank, ihren Korb, ihr Feuerbecken und einen kleinen Tisch zu Markte zog.

Die Eröffnung des Geschäftes in dem vor dem schärfsten Wind geschützten Häuserwinkel war allein ein wundervolles Ereignis. Das Zusammenkauern unter dem großen, alten Regenschirm, das Anblasen der Glut in dem Kohlenbecken, das Aufstellen der Handelsartikel, der erste ruhige und doch erwartungsvolle Blick in das Getümmel des Marktes, alles hatte seine herzerschütternden Reize. Der erste Pflaumenkerl, der behandelt, verkauft und gekauft wurde, erweckte einen wahren Wonnesturm in der Brust von Schlotterbeck und Kompanie. Das Mittagessen, welches ein gutwilliges Kind aus der Kröppelstraße in einem irdenen Henkeltopf brachte, schmeckte ganz anders auf dem freien Markt als in der dunkeln Stube daheim; aber das Beste von allem war der Abend mit seinem Nebel, seinem Lichter- und Lampenglanz und seinem verdoppelten Lärmen, Drängen, Stoßen und Treiben.

Nicht immer konnte das Kind ruhig auf der Bank neben der Alten sitzen. Bezaubert – verzaubert trotz Kälte, trotz Regen und Schnee, unternahm es Streifzüge über den ganzen Markt und schob als Teilhaber der Firma Schlotterbeck und Kompanie sein Kinn jeder anderen Firma mit Bewußtsein und Kritik auf den Verkaufstisch.

Um acht Uhr kam die Mutter und holte den jüngern Kompagnon des Hauses Schlotterbeck nach Haus; aber nicht ohne Widerstreben, Heulen und Zappeln ging das ab, und nur die Versicherung, daß »morgen wieder ein Tag« sei, konnte den kleinen Großhändler bewegen, der Base das Geschäft bis elf Uhr allein zu überlassen.

Ein Faktum aus dieser Lebenszeit unseres Helden ist zu berichten. Für den Erlös eines selbstverfertigten Rosinenmannes kaufte er – einen andern von einem Handelshause, welches sich am entgegengesetzten Ende des Marktes etabliert hatte. Ein Zug, der von großer Bedeutung für die künftige Entwicklung des Knaben war. Hans Unwirrsch, welcher die schwarzen Kerle für andere verfertigte, wollte wissen, was für ein Spaß darin liege, solch einen Gesellen selbst zu kaufen. Er ging dem Vergnügen auf den Grund, und natürlich zog er keine Freude aus diesem allzufrühen Analysieren. Als die Pfennige von dem Verkäufer eingestrichen waren und der Käufer das Geschöpf in der Hand hielt, kam die Reue in vollem Maße über ihn. Heulend stand er in der Mitte der Gasse, und zuletzt schleuderte er den Einkauf weit von sich und lief, die bittersten Tränen herunterschluckend, so schnell als möglich davon. Weder die Base noch die Mutter erfuhren, was aus dem Groschen, wofür man den ganzen Markt hätte kaufen können, geworden war. –

Manche Freuden hat der Winter, doch führt er auch die größten Beschwerden mit sich. Mit sehr armen Leuten haben wir es zu tun, und arme Leute leben gewöhnlich erst mit dem Frühjahr und den Maikäfern wieder auf. Hunderttausende, Millionen könnten jene glücklichen Tiere beneiden, welche die kalten Tage bewußtlos und behaglich durchschlafen.

Nach der Heiligen Weihnacht, welche so gut als möglich gefeiert wurde, kam der Neujahrstag, und nach ihm zogen die Heiligen Drei Könige heran. Die Schatten vieler Gestorbenen begegneten um diese Zeit der Base Schlotterbeck in den Gassen oder traten mit ihr in die Kirche und umschritten den Altar. Nach Maria Lichtmeß behaupteten einige Leute, daß die Tage länger würden, aber man merkte noch nicht viel davon. Um Maria Verkündigung jedoch war die Sache nicht mehr zu leugnen; die Schneeglöckchen hatten sich hervorgewagt, der Schnee hielt sich nicht mehr in der Welt, die Knospen schwollen und sprangen auf, die Nase der Base Schlotterbeck verlor viel von ihrer Röte; wenn die Mutter in der Frühe jetzt aufstand, so schien die Lampe nicht mehr durch einen frostigen Nebelkreis. Hans Unwirrsch schrie nicht mehr zeter am Waschnapf, seine Füße brauchten nicht mehr mit Gewalt in die Schuhe gezwängt zu werden. Das Warmsitzen wurde nicht mehr von groben Holzbauern in die Stadt gefahren und um ein »Sündengeld« verkauft. Es kamen die Tage, wo die Sonne es umsonst gab und nicht einmal ein Schön-Dank dafür forderte. Der Palmsonntag war da, ehe man es sich versah, und das Osterfest knüpfte den Kranz, welchen das Fest der Freude, das grünende, blühende, jauchzende, jubilierende Pfingsten dem jungen Jahr auf die Stirn drückte. Die Base Schlotterbeck strickte ihre Strümpfe auf der Bank vor der Haustür, und Hans Unwirrsch beobachtete ernst und scheu den Trödler Freudenstein gegenüber, welcher seinen kleinen Moses, ein kränkliches, mageres, jämmerliches Stück Menschheit, wohl verpackt in Kissen und Decken, auf einem Rollstuhl in die Sonne schob.


 << zurück weiter >>