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Siebentes Kapitel

Wie das Schloß Pyrmont träumte.

Im weißen, magischen Mondlicht lag diese ganze Nacht hindurch das Schloß von Pyrmont und beschaute träumerisch seine märchenhafte Gestalt in den breiten, stillen, glänzenden Wasserflächen, welche es umgaben. Gleich einem echten Zauberschloß lag es in der holden Nacht da mit seinen alten Türmen und Türmchen, seinen grauen, moosigen Mauern, seinen Spitzbogenfenstern und Rundbogenfenstern.

Tiefer Schlaf hielt das Schloß umfangen – Menschen und Tiere bis auf wenige. In der Küche unter dem Herde zirpte ein Heimchen fort und fort seine eintönige Weise, um den Taubenschlag strich lautlos ein schlankes Wieselchen, Katzen schlüpften über die Dächer – es wachte Fausta La Tedesca!

Der Wärtel, welcher »auf dem Turm die Wacht beschlief«, lehnte auf seinem Lugaus an der Brüstung und nickte mit dem Kopfe. Ihm träumte: vom Iberg herab reite mit großem, stattlichem Heergefolge ein Mann mit langem, grauem Bart, ein Mann im wallenden Purpurmantel, eine güldene Krone auf dem Haupte tragend, ein mächtiges Schlachtschwert in der Rechten, gegen das Schloß Pyrmont heran; – alles Volk auf dem heiligen Anger aber neige sich und rufe: Heil, Heil, Heil dem Kaiser Carolo Magno! und er – der Wärtel – stoße in das gewundene Horn und blase den Willkommen dem alten Kaiser zur Ehre und Freude, und viel Gold regne es aus der Hand Karls!

Auf seinem Lager regte sich der Kellermeister. Ihm träumte: er stehe am heiligen Born im heftigen Durst und müsse Gesichter schneiden über den allzu gesunden Trank, von welchem so viel Lob gesungen wurde; – plötzlich aber ändere sich die Sache und die Quelle fange an, einen Strahl emporzusenden, funkelnd wie Gold, himmelhoch, eitel Milch Unserer Lieben Frauen, und alles Volk jauchze dem Wunder zu, und alles Volk trinke, bis Himmel und Erde sich drehten, und er – der Kellermeister des Herrn von Spiegelberg – werde von nun an Kellermeister am heiligen Born zu Pyrmont und zwar mit Freuden!

Es träumten im Schloß Pyrmont Jagdhunde, Reisige, Knechte, Mägde, Küchenjungen, Stalljungen; – es träumte der Schloßkaplan Bellin samt seinem Küster Boldewein.

Der Kobold im morschen Gebälk des ältesten Mauerturmes träumte auch. Sein Traum war unruhig und schwer, wie die Träume der Kobolde immer sind, wenn den ihrer Obhut anvertrauten Häusern Gefahr droht. Dem Kobold des Hauses Spiegelberg träumte, daß das gute, alte Schloß Pyrmont nicht lange mehr stehen werde. Einen bösen, bösen Traum träumte der Kobold, einen Traum von Maurern und Zimmerleuten, einen Traum von Wandeinschlagen, Balkeneinreißen, Grundaufwühlen, einen Traum von Staub, Schutt, regellosen wüsten Steinhaufen – einen bösen, bösen Koboldstraum.

Es träumte aber der Frau Kurfürstin Hedwig von Brandenburg, geborener Prinzessin aus königlichem Stamme in Polen, sie habe gegen die Kleiderordnung, welche ihr Gemahl, Herr Joachim, erlassen hatte, schwer gesündigt und sitze nun auf dem Cöllnschen Fischmarkt in einem großen hölzernen Käfig, und alles Volk von Berlin – la cour et la ville, die jungen Herren von der kurfürstlichen Leibguardia, die Gemahlinnen und Töchter der Geheimen Räte, die Damen vom Kurfürstlichen Hoftheater, der Oberbürgermeister samt dem Rat und Tausende des Namens Schulze und Müller – dränge sich um diesen abscheulichen Käfig und rufe: Vivat, es lebe unsere allergnädigste Kurfürstin! –

Es träumte aber der Ursel von Spiegelberg von einer leeren Speisekammer und einer großen Hungersnot, von einem leeren Keller voll ausgelaufener Weinfässer und von einem großen Durste und Wehklagen im Schloß Pyrmont.

Dagegen umfing die kleine Walburg ein viel hübscherer Traum. Von einem schönen Schloß weit hinten im Lande träumte ihr, einem Schloß, allwo ein junger, stattlicher, liebenswürdiger Ritter hauste, genannt Herr Georg von Gleichen, ein Urururenkel jenes weltberühmten Grafen, welcher aus dem Morgenlande die wunderschöne sarazenische Königstochter Melechsala seiner gutmütigen Gattin Ottilie als Reisegeschenk mitbrachte, um – ihr eine Freude zu machen. Der Walburg träumte, der junge Ritter tanze mit ihr auf grünem, sonnigem Wiesenplan den Reihen beim Klange der Pfeifen und Schalmeien und blicke zärtlich und flüstere süße Worte, und der Walburg träumte, sie sei dem Ritter Georg sehr gut und habe nichts dagegen, Gräfin von Gleichen zu werden, doch dürfe der Graf niemalen nach dem Morgenlande ziehen. Und von einer dreischläfernen Bettstelle wollte sie auch nichts wissen – selbst im Traume nicht.

Herr Philipp von Spiegelberg träumte nach langem Hin- und Herwälzen auch – einen unsagbar ängstlichen Traum, einen jener Träume, aus welchen man in Schweiß gebadet, stumpfsinnig, fiebernd erwacht ohne die geringste Erinnerung an das, was während der nächtlichen Stunden sein wildes Spiel mit einem getrieben hat –

Es gab im ganzen Schloß Pyrmont um die dritte Morgenstunde nur ein Menschenwesen, welches nicht schlief, aber dessenungeachtet träumte; welches wach, klaräugig wach war und welches Bilder aneinanderreihete, Geschehenes, wirklich Geschehenes – schrecklicher, phantastischer, als der tollste Traum schaffen konnte.

Fausta La Tedesca wachte und grübelte über Vergangenem und Kommendem!

Es war ein kleines, rundes Gemach in einem der aus den Eckmauern des Schlosses vorspringenden Türmchen, welches man auf Geheiß des Grafen dem jungen Weibe angewiesen hatte, kein Gefängnis, sondern ein hübsches Zimmerchen einer mittelalterlichen Burg. Durch zwei enge Spitzbogenfenster sah man weit in das Land und die Berge hinein. Die Ausstattung des Gemaches war freilich sehr einfach; sie bestand nur aus einem niedrigen Lager, einem Tisch und zwei Stühlen von rotbemaltem Tannenholz.

Das Tal – die Halden, Felder, Wälder und Wiesen erglänzten im Mondlicht, und rotglühenden Meteoren glichen die Feuer des Volkes, welche überall weit und breit glimmten, zusammengedrängt auf dem heiligen Anger, zerstreuter und vereinzelter gegen die Berge hin.

Wohl war endlich die wüste Orgie verstummt, aber nie ganz erlosch das Summen der Menge. Die Hunde bellten und antworteten einander aus der Nähe und Ferne, leise klangen die Glocken des Liborius-Klosters von Lügde herüber; in Holzhausen, Oestorf und Löwenhausen krähten die Hähne.

Es war wohl eine Nacht, um an einem dieser engen Fenster im südöstlichen Ecktürmchen des Schlosses Pyrmont zu stehen und hinauszuschauen – tief und immer tiefer in die Mondscheinnacht hinein.

Und am Fenster stand auch Fausta La Tedesca, die der Arzt Simone Spada verflucht hatte, in den Strahlen, welche der hinter die Berge sinkende Mond in das Gemach sandte.

Die Fremde hatte die Arme über dem Busen zusammengelegt, und in schwarzen Fluten rollte ihr das gelöste Haar über die Schultern. Sie lehnte in der Fensternische in einer Stellung, wie sie niemals ein Künstler ausdrucksvoller einer Bildsäule des Verderbens hätte geben können. Weiß wie Marmor leuchteten Gesicht, Arme und Busen im weißen Mondlicht: eine marmorkalte Ruhe herrschte in den feinen, regelmäßigen Zügen des schönen Gesichts. Nur das dunkle Auge lebte und leuchtete: Triumph!

Eine Viertelstunde hatte sie geschlafen, dann hatte sie sich von ihrem Lager erhoben und war an das Fenster getreten und hatte die Nacht durchwacht und überlegt. In diesem Augenblick lächelte sie, und der Graf zu Pyrmont drückte die geballte Hand fest auf die Brust und stöhnte im Schlaf: ein Vampyr umflatterte ihn, er fühlte den häßlichen Flügelschlag desselben, er wollte ihn von sich abwehren, aber die Hände waren ihm gefesselt. Enger und enger zog das Nachtgespenst seine Kreise um den Träumenden! –

Und Fausta La Tedesca träumte.

Eine schöne Nacht war's, um zu träumen – auch mit offenen Augen!

Der Mondnebel wogt, hebt und senkt sich – das ist das Meer des Lebens, welches so viele Geheimnisse in seiner Tiefe birgt.

Der Mondnebel wogt, hebt und senkt sich – das ist das Meer, das wirkliche Meer! Es heben sich Türme und Kuppeln aus dem Meer, es klingen ferne, feierliche Glocken über die Wogen, große schwarze Schiffe schlagen gleich riesenhaften Ungeheuern die Flut mit hundert Ruderfüßen. Vom Hauptmast weht die Flagge mit dem geflügelten Löwen, die Flagge von Venedig.

»Venezia! Venezia!« jubelt die Mannschaft; mit dem Donner ihrer Geschütze grüßen die aus dem Archipelagus heimkehrenden siegreichen Galeeren die Herrscherin der Meere, und die Stadt antwortet dem Gruße:

»Es lebe die Republik! Es lebe San Marco!«

Langsam gleiten die schwarzen Kolosse einher; aber leicht schaukeln sich auf den Wellen der Adria die schwarzen Gondeln, die sich mehren, je höher die Türme und Kuppeln in der Ferne emporsteigen aus den Wassern.

Fackelnglanz, Lautenklang, Gesang, Gelächter und heller Jubel! Schau dort jenen geschmückten Kahn, im Schein bunter Lampen strahlend. Schöne Damen in reichen Gewändern ruhen auf türkischen Polstern und kosen mit den zu ihren Füßen gelagerten feinen Kavalieren. Blumenkränze umschlingen den Bord der Gondel, und Weinpokale und Fruchtschalen gehen in der fröhlichen Gesellschaft von Hand zu Hand. Sieh dort den hohen, ehrfurchtgebietenden Mann mit der breiten Stirn, dem grauen, wohlgepflegten Bart, dessen Adlerauge lächelnd und sinnend auf der lieblichen Gestalt eines jungen Mädchens ruht, welches eben die gelbe Kapuze, um sich vor dem kühlen Nachtwinde zu schützen, über den Locken zusammenzieht.

Tiziano Vecelli da Cadore wird jener hohe Mann mit der Künstlerstirn genannt; jenes junge Mädchen mit den dunklen Locken ist Fausta – Fausta La Tedesca – der Wunderstern, der vor kurzem emporstieg über der Meeresstadt – Fausta La Tedesca, die Kurtisane!

Der große Meister erhebt sich halb von seinem Sitze im Hinterteil des Schiffes und berührt leise die Schulter eines jungen Mannes, welcher in tiefe Gedanken versunken hinter ihm lehnt. Girolamo Savoldo fährt empor, sein Auge folgt der deutenden Hand, ein Blitz des Genius durchzuckt ihn – das Mädchen wendet sich – der junge Maler schließt die Augen, er hat genug gesehen: gewonnen ist das Bild der Schleierhebenden, welches die Jahrhunderte fesseln und mit süßem Entzücken fesseln soll, wenn diese lebendige Welt von Schönheit, Jugend, Witz und Geist, welche sich auf den Wogen des Adriatischen Meeres schaukelt, längst versunken ist.

An der Piazetta landet das Zauberschiff. Die Menge drängt sich um die Aussteigenden. Der alte Tizian bietet der schönen Fausta die Hand und führt sie über die Marmorplatten des Kais, die andern Herren und Damen der Gesellschaft folgen; aber das Volk hat nur Augen für seinen greisen Maler und für das junge Mädchen an der Seite desselben.

»La Maga! La Maga!« flüstert's ringsumher. »O la bella donna!«

»La bella, la falsa Maga!« rufen junge Patrizier, und ältliche Nobili und Senatoren küssen lächelnd die Fingerspitzen der ambraduftenden Handschuhe gegen die Schöne und winken und nicken und verbeugen sich, und auf und ab den Markusplatz wandelt der alte Meister, entzückt über das Beifallsgemurmel, welches um ihn her laut wird. – – –

Von hundert Lampen erglänzt der Palast Barbarigo am Großen Kanal, die schwarzen Gondeln drängen sich haufenweise vor den Stufen der Eingänge, und immer neue schießen blitzschnell heran und setzen ihre Ladungen geputzter Gäste unter den Portalen ab. Was die Königin der Meere an Adel, Reichtum, Schönheit und Talent aufzuweisen hat, durchwogt in Glanz und Pracht die festlich geschmückten Säle des großen Malers Tizian Vecelli. Fröhliche Musik erklingt von blumengeschmückter Tribüne, die weißen Statuen blicken still von den Wänden auf das Getümmel herab, die bunte Schar der Dienerschaft läuft geschäftig hin und her. Die Damen auf den Sammetpolstern die Wände entlang bewegen ihre Federfächer in den zarten Händen auf und ab, die Kavaliere beugen sich über die Lehnen der Sessel und flüstern den Damen leise zu oder lachen laut und hell mit ihnen. Mit einem Richter vom Rat der Zehn schreitet der Meister Tizian auf und ab und unterbricht seine Unterredung, um einem Fächerwinke Faustas Folge zu leisten. Ein neuer Gast wird gemeldet:

»Don Cesare Campolani!«

Die Damen und Ritter schauen auf; der Name geht von Mund zu Mund; der Hausherr tritt vor, den neuen Ankömmling zu begrüßen. Es ist ein junger Mann, welchem die schwarze, vornehme Tracht sehr gut steht; sicher und gewandt bewegt er sich in der glänzenden Versammlung. Er ist fremd, er ist kein Venezianer; aus einem angesehenen sizilianischen Adelsgeschlechte stammt er. Man erfährt, daß er zu Bologna studiert hat, und man flüstert sich zu, daß er in die Dienste der Republik von Sankt Markus treten will, nachdem er infolge des letzten Studentenaufruhrs aus der berühmten Universitätsstadt hat entweichen müssen. Bald weiß man, daß er sehr reich ist; alle Damen, zu denen er tritt, lächeln ihm auf das liebenswürdigste zu. Aber sein Auge irrt suchend umher und wird dann erst ruhig, als es inmitten einer heitern Gruppe die schöne Fausta gefunden hat.

Die schöne, lachende Fausta hat vergessen, daß Simone Spada aus Bologna sie liebte, und sie will vergessen, daß sie den armen Studenten verriet und daß sie eine Verlorene ist in all dem Glanz, in all der Herrlichkeit und Pracht, welche sie umgibt, in all dem Glanz, in all der Herrlichkeit und Pracht ihres Körpers und Geistes. Die schöne Fausta muß noch mehr zu vergessen suchen. Die schöne Fausta kennt den Ritter Campolani sehr gut; ihr Herz pocht, als er auf sie zukommt. – – –

Sind das nicht Bilder seltsamlicher Art, welche da aufsteigen in der deutschen Mondscheinnacht vor den Augen der gefangenen Fausta La Tedesca auf dem Schloß Pyrmont? Aber die dämmerige Nacht birgt noch andere in ihrem geheimnisvollen Schoße.

Da ist die alte, finstere, schmutzige Stadt Padua mit ihren winklichten Plätzen, ihren engen Gassen, ihren niedrigen Arkaden. Auf San Antonio schlägt es Mitternacht; es ist dunkel und stürmisch, Regenwolken treibt der Westwind über die Stadt. Aus den unheimlichen Säulengängen, welche die Gassen einfassen, von den Ecken aus erschallt das verrufene: Chi va lì? Chi va là? der lauernden Studenten, deren altes Recht ist, zu solchen Stunden diese Arkaden allein betreten zu dürfen. Aus der Ferne tönt der Hülferuf ruchlos überfallener Bürger; aus der Ferne tönt Schwertergeklirr, das Wehklagen von Verwundeten, Weiberstimmen dazwischen.

Jetzt leuchtet Fackelschein über die Piazza dei Signori, Studenten, blanke Degen und Windlichter in den Händen tragend, geleiten in aufgeregtester Stimmung eine Sänfte, aus welcher sich ein Frauenkopf vorbeugt. Ein Reiter ist der Sänfte zur Seite und biegt sich herab und spricht mit der Dame.

»Hoch Fausta! Hoch Cesare!« rufen die lärmenden Jünglinge, die Schwerter und Fackeln hochhebend.

Was ist das? Hinter einer Bildsäule des heiligen Antonius und seines Schweines vor stürzt ein Mann, den Dolch in der Rechten, gegen die Sänfte heran.

Die Studenten und der Reiter werfen sich dem Verwegenen in den Weg, ein kurzer Kampf – ein Fall – blutend bleibt der Angreifer auf dem Platze.

Die schöne Dame lächelt, wild jauchzen und jubeln die Studenten, das Roß des Reiters schreitet über den bewußtlosen Körper des Gefallenen stolzen Schrittes fort – und der Zug verschwindet in der Nacht.

Fausta La Tedesca heißt die Dame.

Cesare Campolani heißt der Ritter.

Der Verwundete ist ein junger Arzt, Simone Spada aus Bologna. Seit einiger Zeit lebt und studiert er mit einem alten Arzt aus Deutschland, Benedictus Meyenberger genannt, in Padua. Um der Fausta willen hat der alte deutsche Gelehrte seine Heimat verlassen; aber die Fausta flieht vor ihm. Die Fausta fürchtet sich vor dem kalten nordischen Schneelande, wo die Sonne nur während der Hälfte des Jahres scheint, die Fausta will nicht die hohen Alpen übersteigen mit dem Benedictus, die Fausta liebt die Sonne und die Freude, sie will nicht mit dem alten Deutschen gehen, sie haßt jetzt den Simone. Sie floh vor beiden aus Venedig, sie flieht vor ihnen jetzt auch aus Padua. – –

Es wogt, hebt und senkt sich der Mondnebel über dem grünen Waldtal von Pyrmont – dichter zieht er sich zusammen, und wieder schaut Fausta La Tedesca aus dem Bogenfenster ihres Turmgemaches das Meer.

Aber dieses Mal ist's nicht die blaue Adriatische See, auf der ihre irrenden Gedanken schiffen. Wieder ist es Nacht; aber der Morgen dämmert schwach im Osten. Es schneiet, und stürmisch brandet das Meer gegen die Küste; wild schlägt es gegen die Dämme, welche die Vernichtung abhalten von dem sich dahinter ausdehnenden, reichen, flachen Lande. Ein Schiff der Hansa kämpft auf dem grauen, empörten Meer. Notschüsse über Notschüsse feuert die Bemannung ab; aber ratlos stehen auf dem Hafendamme in Haufen die Bewohner der nordischen Stadt, in deren Port das Schiff einlaufen wollte. Mit klopfendem Herzen lauscht dieses Volk kühner Seemänner und Kaufleute! Es ist ein gutes Schiff, die »Jungfraw von Wineta«, und eiserne Hände und Herzen regieren es. Mit reicher Ladung ist es ausgefahren von Syrakus, hat eine lange, schwere Fahrt glücklich überstanden – nun muß es elend zugrunde gehen dicht vor dem heimatlichen Hafen.

Die Mannschaft hat sich in die Boote gestürzt; aber nur ein einziges derselben gelangt glücklich ans Land; die andern verschlingt das tosende Element, und nur als Leichen finden die Matrosen und der Kapitän das Vaterland, welches nur noch eine Gruft für sie hat und das Jammern und Wehklagen der Witwen und Waisen.

Unter den Geretteten befinden sich drei der Passagiere, ein älterer Mann, ein jüngerer und ein junges Weib. Die Frau ist sehr bleich; aber sie wird nicht ohnmächtig. Nur ihre Lippen sind krampfhaft zusammengepreßt, und wild und verwirrt blickt sie umher in der teilnehmenden Menge, welche die armen Schiffbrüchigen umgibt und ihnen liebreich ihre Hülfe und Gastfreundschaft anbietet und aufdringt. Die beiden Männer aber, welche das junge Weib in ihrer Obhut haben, danken den guten Leuten für alle ihre Anerbietungen und weisen sie von sich. Sie bitten nur, daß man sie in ein Gasthaus führen möge. Dieses geschieht, die drei Reisenden schließen sich darauf in ihr Zimmer ein – die verschiedenartigsten Gerüchte über sie durchlaufen die Stadt. Am Abend des folgenden Tages haben die Fremden die Stadt bereits wieder verlassen. Sie haben einen Wagen, eines der schwerfälligen Fuhrwerke jener Zeit, gemietet, und derselbe führt sie langsam tiefer in das Land hinein. Es ist eine mühselige, traurige Reise durch die flache, kahle, winterliche Gegend. Wenn es schneit, so zerschmelzen die Flocken in dem Augenblick, wo sie die Erde berühren, und weichen den Grund tief hinab auf. Grundlos sind die Wege, und oft versinken die Wagenräder bis an die Nabe; der Nordwind pfeift schrill und kalt über die leeren Felder und durch die blätterlosen Wälder; Scharen von Krähen begleiten krächzend die Reisenden. Das tief verhüllte junge Weib schaudert jedesmal, wenn es unter der Leinendecke des Wagens fröstelnd vorblickt, zusammen. Niemals öffnet es den Mund zu einer Frage, zu einer Bitte, und die Unterhaltung der beiden Männer beschränkt sich auf wenige kurze Worte, die mehr geflüstert als gesprochen werden. Nur der Fuhrmann flucht laut, wenn er absteigen muß, um seine Gäule an den gefährlichsten Stellen der Straße zu leiten; mit innerem Mißbehagen denkt er an den langen Weg, der noch vor ihm liegt, und dazu wird ihm die Gesellschaft, welche er führt, immer unheimlicher. Er liebt es, sich mit seinen Reisenden zu unterhalten; aber dieses Mal reden die beiden Männer in einer ihm unbekannten Sprache, und die verschleierte Frau spricht gar nicht und schluchzt höchstens leise vor sich hin.

So geht es weiter, immer weiter. Durch schmutzige, verwahrloste Dörfer und Landstädte, durch wüste, menschenleere, verrufene Gegenden, wo jedes einsame Haus einer Räuberherberge gleicht. Aber auch durch große, volkreiche Städte voll bunten Lebens und Getümmels geht die Fahrt. Selten halten die Reisenden an, um die Pferde zu füttern und ruhen zu lassen, noch seltener, um sich selbst zu erquicken, um zu schlafen. Immer fort, immer fort! Es steigen Berge in der grauen Ferne aus der Ebene auf und versinken wieder, – dann steigen sie von neuem empor, näher und höher, aber verhüllt von Nebel und Regen. Nun führt der Weg durch große Wälder, bei deren Durchziehen eine berittene Schutzwache, welche die glimmenden Lunten auf die Fauströhre geschroben hat und die Schwerter in den Scheiden gelockert hält, den Wagen umgibt. Heimatloses, verbrecherisches Gesindel lauert hinter Busch und Baum, bedenkliche Schatten gleiten zwischen den Stämmen den Weg entlang, ein Armbrustbolzen schwirrt einmal aus dem Gebüsch und heftet sich in das Holzwerk des Wagens. Aber glücklich gelangen die Reisenden aus dem wilden, »gnadenlosen« Walde wieder in das Freie, und in der Ferne ragen abermals die Türme einer großen Stadt – einer mächtigen Reichsstadt. Bald rasselt der Wagen durch das dunkle Tor.

»Jesus, Maria und Joseph, schützet uns! Was ist da im Werke?« ruft der Fuhrmann ängstlich.

Aus der Ferne, vom Stadtmarkt her, kracht und knattert ununterbrochen Gewehrfeuer. Schwarze Rauchwolken, von brennenden Gebäuden aufsteigend, wälzen sich über den trüben Himmel. Von den Türmen klingen die Sturmglocken, bewaffnete Haufen durchziehen die Gassen, dringen verwüstend, zertrümmernd mit Hämmern, Äxten, Brecheisen und sonstigem Handwerksgerät in stattliche Häuser. Man trägt Tote und Verwundete vorüber, Banner der Innungen schweben über dem Getümmel: auf Tod und Leben kämpft das Bürgertum, das Plebejertum gegen den Rat, gegen die Patrizier.

Aber nichts vermag die drei Reisenden aufzuhalten; sie bemerken kaum, was um sie her vorgeht, die eben abgespielte Tragödie des deutschen Städtelebens hat nicht den geringsten Sinn für sie. Auf Nebenwegen gelangen sie wieder aus der aufruhrvollen Stadt heraus, und abermals liegt für lange, ermüdende Tage der Weg vor ihnen.

Aber endlich dämmert ein Abend, und das Ziel der Reise ist erreicht!

Im Westen liegt ein blutroter Streif auf dem Horizont und deutet an, wo die Sonne unterging. Abermals windet sich die Straße über eine kahle Ebene, vorüber an trostlosen Wasserlachen und grünlich-fettig schimmernden Sümpfen. Verkrüppeltes, struppichtes Dornengebüsch ist über die ganze Fläche zerstreut; ein schwarzes Fichtengehölz umgibt einen Haufen unregelmäßiger Gebäude, die wiederum von einer hohen, altersgrauen Mauer umzogen sind. Über die Gipfel der Bäume und die langen, an den Giebelenden mit Kreuzen geschmückten Dächer ragt ein hoher, spitzer, mit Schiefer gedeckter Kirchturm.

An einem verschlossenen Tore, über welchem in einer Mauernische ein Heiligenbild verwittert, hält der Wagen.

»Gottlob, daß das vorbei ist!« murmelt der Fuhrmann.

Der Jüngere der Reisenden steigt zuerst aus dem Fuhrwerk, zieht einen Glockenstrang, und gellend ertönt es in der Ferne. Nach geraumer Zeit öffnet sich dann eine Klappe in der Tür, und der Kopf einer alten Frau, einer Nonne, erscheint vorsichtig in der Öffnung.

»Gelobt sei Jesus Christ!« erschallt der Gruß des jungen Fremden.

»In Ewigkeit, Amen!« antwortet die Schwester Pförtnerin. »Was beliebt euch, ihr Herren?«

Auch der Greis ist nun aus dem Wagen gestiegen und führt seine Begleiterin, über deren Körper fortwährende Fieberschauer zu laufen scheinen, mit sich gegen die Tür. Er verlangt die Äbtissin zu sprechen; die Nonne verschwindet, die Klappe schließt sich wieder und öffnet sich erst nach langem Harren abermals, um die Nachricht herauszulassen: man erwarte die Wanderer und bitte den Meister Benedictus Meyenberger mit seiner Begleiterin einzutreten.

Die Tür erschließt sich nun, und der Alte verschwindet mit dem zitternden jungen Weibe hinter ihr. Der jüngere Mann, fröstelnd in seinen Mantel sich hüllend, bleibt neben dem Wagen und dem Fuhrmann zurück. Tausend wechselnde Empfindungen bewegen seine Brust, während er der Zurückkunft des Alten wartet. Und lange, lange Zeit muß er harren, und immer finsterer wird sein Blick, und immer schmerzhafter werden die Seufzer, welche sich seiner Brust entringen. Der Abend wird dunkler und stürmischer, eisigkalte Tropfen schlagen – wieder vereinzelt hernieder – – endlich, endlich öffnet sich die Tür und dreht sich kreischend und knirschend in ihren verrosteten Angeln.

Wankenden Schrittes, mit Tränen in den Augen, erscheint der alte Mann auf der Schwelle.

Er ist allein!

Nur die Schwester Pförtnerin geleitet ihn, diesmal mit einer Laterne versehen.

In die Arme Simone Spadas fällt der Meister Meyenberger – er weint laut auf, und der junge Mann weint ebenfalls – Fausta La Tedesca ist hinter den dunkeln, hohen Klostermauern zurückgeblieben – lebendig begraben, daß sie Buße tue und gerettet werde für die Ewigkeit! ...

Auf dem spitzen Turme der Klosterkirche ruft die Glocke die geistlichen Jungfrauen soeben feierlich zum Gebet; die Fenster der Kirche, soweit man sie über die Mauer weg zu sehen vermag, haben sich erhellt, der Gesang der Nonnen tönt an das Ohr der beiden trauernden Männer, welche einen Augenblick noch stumm, mit gesenkten Häuptern lauschen und dann wieder in den Wagen steigen.

Dem Fuhrmann wird ein Wink gegeben; er wendet den Wagen und treibt die Pferde an. Das Fuhrwerk rollt in die Nacht davon.

Der Wind wird zum Sturm, die Regentropfen verwandeln sich in scharfe Eisteilchen – wie es heult und klagt und pfeift und grollt und lispelt und zischt um das einsame Kloster! Wie die Fenster erklirren unter den Stößen des Windes! Wie der Sturm sich fängt in den langen Kreuzgängen; wie er dem lauschenden Ohr jetzt eine Strophe des traurig ernsten Gesanges der Nonnen entführt, jetzt eine andere Strophe auf seinen Flügeln desto kräftiger und klangvoller herträgt!

Und in einer engen, öden, kalten Zelle sitzt Fausta – Fausta, der Nachtstern von Venedig – Fausta, die Schöne, die Stolze, welche den Tizian unter ihre Bewunderer zählte – Fausta, la falsa Maga – Fausta, die grenzenlos Elende!

Nicht mehr bereiten ihr alle Künste des Orients und des Okzidents das wollüstige Lager – nicht mehr harren Diener und Dienerinnen, nicht mehr vornehme Kavaliere, berühmte Dichter und Künstler ihres Winkes; machtlos, gefesselt ist die kleine, feine, weiße Hand, welche Vecelli am liebsten seinen Göttinnen und Heiligen gab auf der Leinwand! Neben dem ärmlichen Lager der eingeschlossenen Fausta steht ein Wasserkrug, liegt ein hartes schwarzes Brod; eine blutgerötete Geißel hängt von der Wand, die Geißel, womit die Vorbewohnerin dieser Zelle sich zerfleischte; auf dem rohgezimmerten Gebetpult liegt ein Totenkopf neben dem Rosenkranz und Breviarium und starrt aus seinen hohlen Augenhöhlen die große Sünderin – magna peccatrix – Fausta La Tedesca an! …...

Und – »Frei, frei, frei!« ruft Fausta La Tedesca und hebt die Arme und holt Atem aus voller Brust, und draußen wogt und wallt der silberne Mondnebel magisch über den Bergen und Wäldern, Wiesen und Halden von Pyrmont, und in ihrer schönsten Blüte duftet und leuchtet die deutsche Sommernacht.

Gleich einer Tigerin schreitet das Mädchen hin und her auf der glänzenden Bahn, welche der Mond durch das Turmgemach zieht. Mit einer wilden Bewegung wirft sie die schwarzen Haarflechten über den Nacken zurück. Sie ballt die rechte Hand:

»Frei, frei, frei! Wer will mich halten in Ketten und Banden? Ohnmächtiger Simone!«

Sie lacht; aber schauerlich klingt das Lachen in der stillen Nacht. Sie scheint selbst unheimlich dadurch berührt zu werden, hält in ihrem Gange inne, setzt sich nieder auf das Lager und stützt das feine Kinn sinnend mit der Hand.

Lange sitzt sie so; der Mond ist hinter die Berge gesunken, der Nebel hat sich dichter zusammengezogen; das Frösteln, welches beim Anbruch des Tages den, welcher die Nacht schlaflos hinbrachte, überkommt, überfällt auch die schöne Fausta.

Noch einmal springt sie empor:

»Niemand, niemand soll mich fesseln und halten! Unglück und Verderben denen, welche es versuchen! Es ist wahr, unter einem bösen Stern bin ich geboren; aber es ist mein Stern, und er soll mich leiten. Und leitet er mich nicht gut? Und verwirrt und vernichtet er nicht die, welche mich aufhalten und mich irren wollen auf meinen Wegen? Verderben dir, Simone von Bologna! Verderben dir –«

Sie fährt zusammen und spricht den zweiten Namen, dem sie flucht, nicht aus. Abermals tritt sie an das Fenster.

Draußen ist alles grau und öde; aller Schein und alles Licht ist erloschen, der Horizont hat sich verengt, die Berge sind verhüllt, die verglimmenden Feuer des schlafenden Volkes um den heiligen Born gleichen festgebannten Irrlichtern auf einem großen Kirchhofe oder einem eben begrabenen Schlachtfelde.

»O, du Herr dieses Schlosses, o du Herr dieses Landes, hüte dich! – Der arme Tor, der sich selbst nicht hüten konnte, hat dich gewarnt; aber es soll ihm und dir nichts helfen, Signor Conde. Mein sollst du werden, mein Sklave sollst du werden, Signor Conde; und den Fuß will ich dir auf den Nacken setzen, wie allen andern. Da kommt der Morgen! Gestern noch glaubte ich, sterben zu müssen, und heute – heute – ah, ich lebe noch, ich atme noch – wer fesselt und hält die Fausta, die Glückliche? – Siegen will ich und die Sonne sehen, ich, Fausta, Fausta die Glückliche, und mein Stern möge über mir leuchten!« – – –

Im Osten leuchtete es rot über den Bergen, und als die sengende Sonne des Jahres fünfzehnhundertsechsundfünfzig ihre ersten Strahlen über das Tal von Pyrmont sandte und das Lager des Volkes am heiligen Born zu neuem Leben erwachte, als alle Träume des Schlosses Pyrmont zu einem Ende gekommen waren, als Turmwärtel und Kellermeister sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatten, als Frau Hedwig von Brandenburg, geborene Prinzessin von Polackien, Gott gedankt hatte, daß ihr allergnädigster Traum nur Traum gewesen sei, als Fräulein Ursula mit beiden Füßen aus dem Bett und in ihr saueres Tagewerk hineingesprungen war, als Fräulein Walburg, rot wie ein Röslein, erwacht war mit einem kleinen Schrei über einen hübschen Schluß ihres Traumes, als Philipp von Spiegelberg seufzend sich wiedergefunden hatte im Licht des neuen Tages: schlummerte Fausta La Tedesca tief und fest und träumte nun selbst einen wirklichen Traum.

In die Zukunft führte sie dieser Traum, und ein Lächeln spielte um die Lippen der Schläferin. Sie träumte, daß sie frei sei, trotzdem daß sie eine Gefangene war auf dem Schloß Pyrmont.


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