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Gutmanns Reisen! Der gute Mann hatte es vollständig vergessen, daß er Frankreich genossen, England studiert, New York sich angesehen hatte! Die gute Frau in dem Käseladen am Marktplatz, der Apotheke gegenüber und mit dem konkurrierenden Kommerzienrat dicht vor der Nase, hatte es verstanden, die lieben, langen Jahre bis an die Silberhochzeit heran ihm den deutschen Weltbürgerverstand und Weltbürgerhumor behaglich auf ein großes Privatziel zu konzentrieren. Er hatte es zu einem Vermögen gebracht und hatte seinen Sohn in die Welt gesetzt.
Dieser Sohn aber konnte augenblicklich nur gaffen, ihn angaffen, angaffen, immer wieder angaffen. Das Phänomen war zu überwältigend und durfte nicht nur das eigene Kind in Erstaunen, sondern auch die fremde Fahrtgenossenschaft im Wagen erst in Verwunderung und sodann in heitere Spannung versetzen.
Es war zuletzt eigentlich schade, daß der alte Herr sich doch zu mäßigen verstand. Sich aufrichtend, fest und breit, mit einem sich übers ganze Gesicht immer glänzender ausbreitenden Wohlbehagenslächeln seufzte er nur:
»Wilhelm, ich weiß nicht, wie mir plötzlich ist; aber das weiß ich, daß, seit ich eben den großen Christoffel wiedersehe, die nächsten Tage mal wieder mir gehören werden!«
Er hing sich noch einmal aus dem Fenster, – so lange der farnesische Herkules für jetzt von der Bahn aus zu erblicken war. Als das nicht mehr möglich war, wendete er sich und lächelte und sonderbarerweise lächelte er melancholisch:
»Junge, wenn wir nicht unsern großen Zweck vor Augen behalten müßten, stiege ich in Kassel mit dir aus, um die närrischsten Erinnerungen aufzufrischen. Du glaubst es nicht, wie vergnügt wir unsererzeit dort im König von England, auf dem Felsenkeller, in der Au und vor allem auf der Wilhelmshöhe gewesen sind. Und wenn ich gar an den hochseligen Herrn, den alten Kurfürsten Wilhelm den Braven denke – Wilhelm, ich sage dir, wie er auf seiner Löwenburg incognito meine Meinung über sich und sein Raubschloß sich mitteilen ließ und den Oberrock aufknöpfte und wütend seinen Stern zeigte und mich allerhöchstselbst am Kragen nahm und über die Zugbrücke hinausgeleitete –«
»Diese Geschichte hast du der Mama und mir wohl schon einige Male erzählt.«
»So?« fragte der gerührte Greis, beugte sich zu dem Sohne und flüsterte ihm ins Ohr: »Hab' ich deiner guten Mutter und dir, Dummkopf, alles erzählt, was der junge Mensch in Kassel erleben kann?«
»Mir bis jetzt jedenfalls noch nicht.«
»Na, das wäre auch noch schöner gewesen!«
»Bitte, Papa, nun doch aber einiges Nähere.«
»Frage ich dich nach allen deinen dummen Streichen, selbst wenn sie mich mein eigenes Geld kosten?«
Der Sohn konnte dem Vater nur stumm die Hand drücken. Hätte sich ihm dazu auch eine Träne ins Auge geschlichen, so wäre das nicht nur recht gewesen, sondern er würde dadurch recht billig von seinen moralischen Verpflichtungen gegen solchen guten Vater abgekommen sein.
Der farnesische Herkules auf dem Karlsberge blieb glücklicherweise nicht immer in Sicht. Sie fuhren in den Bahnhof Kassel ein und, ebenfalls glücklicherweise, bald weiter. Vater Gutmann hatte sein Kursbuch beim Ohr und blätterte krampfhaft darin, um sich doch nur zu überzeugen, daß es nicht möglich sei, einen Zug nach Koburg hin zu überschlagen und doch noch zur Gründung von Neudeutschland rechtzeitig anzukommen. Er hätte gar zu gern vorher auch mit dem jetzigen Kurfürsten Friedrich Wilhelm dem Ersten ein persönliches zärtliches Verhältnis angeknüpft: aber die Friedrich-Wilhelms-Nordbahn gestattete es nicht. Sie führte die Reisenden über Melsungen, Rothenburg und Gerstungen nach Eisenach. Da wurde zu Mittag gegessen und zeigte es sich, daß wirklich ein buntfarbigst leuchtender Reisestern dem altjungen neuaufgefrischten Neudeutschlandsgründer, Vater Gutmann, voranging, daß wirklich ein lachender Zeus Gewährung gewinkt hatte, als er sich von seiner braven Frau Line die Erlaubnis erbat, das »Kind« auf seiner Fahrt nach Koburg ins Politisch-Ungewisse beaufsichtigen zu dürfen.
Und der Gott lächelte weiter: es war das Kind, das »Lamm«, welches an der Eisenbahn-Wirtstafel in Eisenach das Wiedererkennen zwischen dem früheren Reisenden für das Welthaus Heyne und Söhne in Hamburg und der Frau Gossel aus Ruhla vermittelte.
»Anfangs saß ich wie ein Schaf dabei,« pflegte sich der Kammerrat, Herr Wilhelm Gutmann, jahrelang später sehr unnaturhistorisch darüber auszudrücken. Denn noch niemand hat je ein Schaf sitzen sehen. –
»Täuschen mich meine Augen oder irre ich mich? Sind Sie es, Herr Student, oder sind Sie es nicht?« fragte eine Dame, die gegenüber an der Tafel auf zwei Stühlen Platz genommen hatte, aber dem Nachbar zur Rechten und Linken von dem seinigen doch nur die Hälfte ließ. »Und nehmen Sie es auch nicht übel, wenn ich Ihnen nicht den rechten Titel jetzt gebe! Sie erinnern sich wohl nicht mehr? Die Frau Gossel! . . . Die Wirtin aus der Traube in Ruhla!«
Wie Sonnenschein ging es dem jungen Mann über das ganze Gesicht, und wer die Ohren spitzte, das war der alte.
Wer ist Student gewesen in Göttingen, Jena und Halle und hat nicht in der Ruhl in der Traube zu Pfingsten getanzt? Und wer reist für Hamburg und Bremen und weiß nicht, daß die schönsten Meerschaumpfeifen aus Ruhla kommen, und daß es wunderschöne Mädchen in Ruhla gibt? Daß Aphrodite aus dem Meerschaum entsprungen ist, braucht er dabei noch nicht einmal zu wissen, oder kann es ruhig schon längst wieder vergessen haben.
Wenn sie sie heute abgeschafft haben, ihre Kopfbinden aus jenen Zeiten, die heutigen Jungfrauen in der Ruhl – blau und silber und kirschrot und gold – so wußten sie nicht, was sie taten und waren sehr törichte Jungfrauen: sie sind sich dann leider zu hübsch vorgekommen vor dem Bazar, der Deutschen Frauenzeitung und der Allgemeinen Modenzeitung. Und die Herren Väter in der Mitte des Tanzsaals in ihren langen Röcken, mit ihren langen Pfeifen, die (nicht die Röcke und Pfeifen) auf Ordnung, Zucht und Ehrbarkeit sahen, aber das Vergnügen durchaus nicht störten, die mit den Frauen Müttern die Lust der Jugend im Auge behielten und doch dabei den Meerschaumhandel, der Sache angemessen, würdig, ernsthaft und eingehend bereden durften! O, Fest der Freuden, o, Pfingsten in der Ruhl! Sonnenschein über dein Tal bei Tage, Ruhla; und hellster Lichterglanz bei Nacht über deinen fröhlichsten Tanzboden, o Thüringen! –
»Die Frau Gossel aus Ruhla!« rief der jüngere Gutmann, die Hand über den Tisch reichend, und als sie einschlug, die Traubenwirtin, da widerhallte der Eisenbahn-Wartesaal erster und zweiter Klasse in Eisenach, und mehr als einer der fahrenden Tischgäste blickte verwundert auf ob der klatschenden Ohrfeige, die da eben ausgeteilt sein mußte.
»Ich hab' ein Gedächtnis vom Geschäft aus für so was, junger Herr,« sagte die dicke Dame gutmütig schmunzelnd, »aber es freut mich, lieber junger Herr, daß auch Sie mich noch wiedererkennen, wenn ich die Red' drauf bring', und zwar an einem andern Gasttisch als dem meinigen in der Ruhl. Ach du lieber Gott, es war wohl des jungen Fuchses erste Reise ins Weite. Hat der einen Kater! Du verdienst dir diese Nacht das Himmelreich auf Erden, hab' ich zu meiner alten Käterle gesagt, wenn du dem armen jungen eingeseiften Lamm still nachwischest. Das ist ja das reine unentwöhnte Mutterkind unter den heulenden Wölfen! Ich hab' keine Zeit wegen dem Büfett, sonst besorgt' ich's selber und hielte ihm den Kopf.«
Sie grinsten rundum in dem Wartesaal erster und zweiter Klasse in Eisenach, und der Vater Hildebrand, wenn er Venedig gefunden hätte, hätte darob seinem Sohn Hadubrand keine anderen Augen machen können, als wie der Vater Gutmann seinem Sohne Willi. Aber an ihn sollte sofort die Reihe kommen. Sein Kind nämlich in seiner blutübergossenen, tödlichen Verblüfftheit hielt sich an ihm unter den Blicken der Tischgesellschaft wie an einem Strohhalm, d. h. stellte ihn in stotternder Verlegenheit vor – stellte ihn der wohlgeputzten, wohlgenährten, gutmütigen, behaglichen, lächelnden Wirtsfrau gegenüber vor:
»Mein Papa – Frau Gossel aus der Traube in Ruhla –«
»Mir ein wahres Vergnügen,« schmunzelte der alte Herr.
»Mir auch,« nickte lächelnd die alte Dame. »Lieber Herr, nehmen Sie's mir nicht übel, wenn ich dem jungen Herrn eben arglos vor Ihren Augen –«
»Das Gelbe vom Schnabel gewischt habe! I, bewahre! Vivat die Ruhl! und Gossel hieß die Wirtin in der Traube zu meinen Zeiten auch. Und in der Traube habe auch ich zu meinen Zeiten Pfingsten gefeiert –«
»Das muß wohl zu Zeiten meines seligen Schwiegervaters gewesen sein. Der liebe Mann ist tot, und mein Mann seliger ist auch tot. Mein Schwiegersohn hat jetzt die Wirtschaft, der heißt aber –«
Der Vater Gutmann in fliegender Hast ließ sie nicht ausreden:
»Und Sie sind der Wirtin lieblich Töchterlein, das Lenchen Wagner aus Krawinkel, das schlanke Reh, das mir damals das Leben gerettet!« schrie er, ohne sich um das europäische und außereuropäische Thüringen bereisende Publikum im Bahnhofssaal zu Eisenach im geringsten zu kümmern, in hellem Entzücken. »Reden Sie nichts mehr, Sie sind meine holde Lebensretterin, und ich bin der Esel, der zum Tanzen aufs Eis ging, und der Schafskopf, der sich in die Gefahr begab und beinahe drin umgekommen wäre!«
»Ja, lieber Herr,« rief die Wirtin aus der Ruhl. »Das ist ja aber auch wahr und geht mir wie ein Seifensieder auf: Sie sind der junge Herr – will sagen, der junge Herr gewesen, dem mein Bräutigam damalen in blutiger Eifersucht mit dem Küchenbeil ans Leben wollte und dem ich das junge naseweise Leben errettete, indem ich ihm – will sagen, meinem nachmaligen seligen Mann Vernunft sprach und fragte, wen er durch seine Mordgier am meisten zu blamieren gedächte: mich, sich, Sie oder das vergnügteste Wirtshaus in ganz Thüringen? Ei ja, hernachen haben wir noch oft über die närrische Nacht gelacht. Nu, Herr, en bißle älter und verständiger sind wir beide wohl seit dem Jahre geworden. Wann kommen Sie denn mal wieder nach der Ruhl und beehren mich alte Frau im Ruhestüblein in der Traube?«
»Sie haben es ja schon erfahren, Frau Gossel. Ich schicke von meinem Ruhestüblein aus meinen Sohn.«
»Und der tanzt mit meiner Nachkommenschaft; aber so ausgepicht wie der Herr Papa scheint er mir noch nicht zu sein. Fragen Sie nur in der Küche! Ja, ja, so gehen die Zeiten hin und ändern sich; aber dasselbige bleibt es doch immer zu Pfingsten, was die Traube in Ruhla anbetrifft. Worauf wollen Sie denn heute zu, bei so angehendem Herbst, wenn ich fragen darf?«
»Nach Koburg, um das deutsche Volk unter Einen Hut zu bringen.«
»I so was! Na hören Sie, darauf verstehe ich mich nicht; aber meinetwegen auch diesmal gute Geschäfte! In Kaffee reisen Sie also wohl nicht mehr? Was mich angeht, so will ich mal auf Gotha zu.«
In diesem Augenblick brüllte der Türhüter in den Saal hinein:
»Nach Meiningen, Hildburghausen, Eisfeld, Koburg einsteigen!«
Und sie kamen voneinander ab im Tumult des Aufbruchs; aber im Wagen seufzte Vater Gutmann:
»Schade, daß wir heute nicht auch über Gotha nach Koburg gelangen können, wie in der deutschen Volksgeschichte, mein Sohn. Ich habe mich seit lange nicht so sehr Gothaer gefühlt als wie jetzt; aber, beiläufig, was meinst du, wenn wir unsere Reiseerlebnisse lieber gar nicht, oder doch sehr vorsichtig zu Buche brächten? Ich will gewiß nicht sagen, daß deine gute Mutter nicht gerade so herzig Spaß versteht, wie die liebe Dicke eben; aber –«
»Besser ist besser, und vorsichtiger ist vorsichtiger, meinst du?«
»Hm, du weißt, wie partikularistisch sie so schon gesinnt ist. Sie könnte uns für spätere Jahre das ganze politische Vergnügen verderben.«
»Schade, daß sie – Mama meine ich – uns nicht auf unserer Fahrt begleitet. Dieses zärtliche Wiederfinden in Eisenach würde sie sofort überzeugt haben, daß die verschiedensten deutschen Stämme und Völkerschaften ganz gut miteinander auskommen, wenn sie nur in der richtigen Weise zusammenkommen.«
»Hm, hm, naseweiser Bengel, ich sage jetzt weiter nichts, als: Tagebuch führen ist manchmal Silber; aber Tagebuch nicht führen, ist jedenfalls viel häufiger Gold. Übrigens verkennst du deine brave Mutter ganz, kennst sie überhaupt gar nicht! Und jetzt sage ich dir im Ernst: ziemlich genau würde sie sich sicherlich nach einigen genaueren Umständen der Sache bei der Frau Gossel aus Ruhla erkundigt haben. Aber nach erfolgter genauester Bekanntschaft würden auch diese feindlich-verwandten Stämme unter einen Hut gekommen sein. Sie würden lachend die Köpfe zusammengesteckt haben und Blut-, Tee- und Kaffee-Schwesterschaft bis an das Ende der Dinge, wie man bei uns zu Hause sagt, geschlossen haben. Ich wünsche nur nicht, daß du in deinen Reiseaufzeichnungen zu schlechte Witze machst: nach so zufällig herumliegenden Papieren ist unsere Alte her, wie der Iltis nach Eiern!«
»Weißt du was, Papa? Meinetwegen mag jeder beliebige andere Gutmanns Reisen diesmal beschreiben. Nach eben gemachten Erfahrungen lasse ich die Hände davon, verbrenne mir die Finger nicht!«
»Mein Sohn,« sagte der vergnügte Greis gerührt. »Dieses ist meine Meinung auch. Leben wollen wir! erleben wollen wir! aber in die Tinte wollen wir uns nicht damit setzen! Hätte ich es denn gestern abend noch für möglich gehalten, daß der Mensch immer noch einmal so hell aufleben könnte? Vivat der große Christoffel! Vivat unsere Mutter Michel vom Fels zum Meer! Vivat das deutsche Volk und der deutsche Nationalverein! Willi, wenn dieses so fort geht, verspreche ich mir doch was in Koburg. Ich persönlich wenigstens habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so als der Kaiser Barbarossa gefühlt, wie er seinen Bart aus der steinernen Tischplatte zieht. Kann ich dann aber dafür, wenn einer beim bloßen Zusehen manchmal ›Au!‹ sagt?«