Wilhelm Raabe
Gutmanns Reisen
Wilhelm Raabe

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Da liegt vor mir ein Buch in Duodez, betitelt: »Merkwürdige Reisen der Gutmannschen Familie.« Die Vorrede ist datiert von »Schloß Ricklingen, den 7. August 1797«; meine »dritte verbesserte Auflage« stammt aus dem Jahre 1805 und war damals zu finden in Hannover bei den Gebrüdern Hahn. Der Verfasser ist Christian Konrad Dassel, zuletzt Pastor zu Hohenbostel, und dem Manne widme ich heute mein Buch – am 11. Mai 1891.

Wenn ich heute auf dem Papier gern reise und die merkwürdigsten, halsbrechendsten, rührendsten und belehrendsten Abenteuer mit Behagen erlebe und bis jetzt noch immer ziemlich glücklich durchgekommen bin, so danke ich das diesem Autor, von dem natürlich keine »Liste der besten hundert Bücher aller Zeiten und Literaturen« etwas weiß. Was sollte der alte Herr auch unter den hundert Lieblingsschriftstellern des Sir John Lubbock und denen derer, die bei uns selbstverständlich sofort dem unbelesenen Engländer mit ihrem Verzeichnis hoch in der Hand und in der Luft zu Haufen nachzappelten?

Auf meiner Liste, die freilich keine hundert Lieblingsschriftsteller enthält, steht der Pastor Dassel aus Hohenbostel in erster Reihe; denn vor allem habe ich für mein Handwerk aus ihm gelernt, was der Autor mit seiner Heldin anzufangen hat, um durch sie nicht nur Rührung, sondern auch Nutzen im Publikum hervorzubringen. Er läßt seine Emilie den König von Dahomy heiraten und aus dem schwarzen, blutdürstigen, menschenschlachtenden und menschenfressenden Wüterich in Abomy einen weiß-human aufgeklärten Menschenfreund vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts machen: ich lasse meine Klotilde auch heiraten und sie dadurch das deutsche Volk neu gründen und das neue Deutsche Reich stiften. O, die armen, lieben, guten kleinen Mädchen sind auch am Ende des neunzehnten Jahrhunderts immer noch ganz nützlich zu verwenden! und wer weiß, ob nicht am Ende des zwanzigsten Säkulums ein durch die Druckpapierwüste sich selbst seinen Weg suchender armer Teufel, dies mein Buch mit auf seine Liste der »hundert besten Bücher aller Zeiten und Literaturen« setzt? –

»In einer angesehenen Stadt H . . . lebte vor einigen Jahren ein sehr braver und rechtschaffener Vater.« – – »Gutmann war ein reicher und angesehener Kaufmann« – – – wir könnten ganz in dem Tone bleiben und würden vielleicht manchem kindlich-verwundert in den heutigen Tagestumult gaffenden Lesergemüt einen Gefallen damit tun: tun wir unser möglichstes in dieser Hinsicht . . .

Mit dem Buchstaben H fing die Stadt nicht an, von der wir diesmal ausgehen. Eine angesehene Stadt war sie auch gerade nicht, so wenig wie der angesehene Kaufmann, der sich sofort auf seine Reisen machen wird, den Namen Gutmann führte. Nennen wir ihn nun aber gerade erst recht – gerade darum so! und die Stadt meinetwegen auch H . . . Es kommt wirklich nicht darauf an: der liebe Gott kennt beide und wird sie am Ende aller Dinge schon zu rufen und nach ihren politischen Meinungen im September des Jahres Achtzehnhundertsechzig auszufragen wissen. – –

* * *

Das Haus Gutmann und Frau (die Frau hieß Line wie in Gutmanns Reisen) war in der norddeutschen Kleinstadt so wohl und so übel angesehen, wie man es nur wünschen konnte. Die Wohlwollenden wiesen mit Stolz darauf hin; die Konkurrenten barsten dann und wann vor Neid, und im letzteren Falle gab es jedesmal einen so übeln Geruch, daß der Chef schmunzelnd auf seine Dose klopfte und sie auch seinem entrüstet die Nase zuhaltenden Eheweibe hinhielt, um das Wort hinzunehmen:

»Ich begreife nicht, Alter, wie du zu der Nichtsnutzigkeit lachen kannst!«

»Aber ich. Prosit! Das Weinen wollen wir uns doch auf eine passendere Gelegenheit aufsparen. Augenblicklich bedeutet die Sache mal wieder weiter gar nichts, als daß unser Jahresabschluß den Herren Konkurrenten Fuchs, Sengerich und Kompagnie besser gefällt als der ihrige. Ist das ein Grund, um sich über ihre Redensarten hinter unserm Rücken zu ärgern?«

»So laß mir doch nur deine dumme Dose unter der Nase weg! Du magst ja gottlob wohl recht haben.«

Es ist den Leuten nichts Neues mehr zu sagen. Das Haus, die Wirtschaft und die Familie sind bereits in der Phantasie jedes gebildeten Lesers vorhanden. Das Haus ist eins der solidesten der Stadt und liegt in der allerbesten Geschäftsgegend, am Markt. Die Familie besteht aus Vater, Mutter und Sohn, und eine junge, hübsche, brave Schwiegertochter und junge Frau dazu wäre durchaus kein Unding: um Himmels willen machen wir ein Ende mit allen dergleichen Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten! Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung und Mutter der Musen, sei uns gnädig, und wenn die lieben Fräulein Töchter auch ein freundliches Auge auf diese Blätter werfen wollen, so küssen wir ihnen neunfach dafür die Hände. Leider haben wir aber ihren edlen Namen keine neun Gesänge zur Verfügung zu stellen! dafür würden sie sich jedoch höchst wahrscheinlich auch sehr bedanken und es gegebenen Falls für eine Unverschämtheit erklären.

Wie vom Anwesen des »Wirtes zum goldenen Löwen« aus, sah man von der Haus- und Ladentür des Geschäftes Gutmann und Frau auf den Marktplatz der Stadt. Und drüben lag nicht bloß das Haus des begüterten Nachbars mit den grünen Läden, – des Kommerzienrats Sengerich – sondern auch die Apotheke, wie in Hermann und Dorothea. Um die Ecke der Apotheke aber führte, was in Hermann und Dorothea noch nicht möglich war, der Weg nach dem Bahnhof. Hiermit endet also jegliche Ähnlichkeit, und wir verbleiben im neunzehnten Jahrhundert und in unserer Geschichte bis zum Ende, wo freilich ein gewisses Plagiat wiederum nicht zu verkennen sein wird. Nämlich der junge Mensch in unserm idyllisch-politischen Epos, in unserer Geschichtserzählung kriegt sein Mädchen ebenfalls und wird so glücklich damit als möglich.

* * *

»Was geht denn das mich an, daß um die Apotheke der Weg nach dem Bahnhof führt?« darf der Leser fragen. Kühl und mit einem kleinen Aufruck des Selbstbewußtseins antwortet der Geschichtenberichter und Geschichteberichtiger: »Sehr viel!«

Mit dem Wege nach dem Bahnhof geht die Geschichte an. Ohne den Weg nach dem Bahnhof würde aus der ganzen Geschichte nichts. Wie wären ohne den Weg zum Bahnhof die deutschen Völkerstämme zu einem erträglichen Verhältnis untereinander, wie wären die beiden aus den annähernd dieselbe Sprache sprechenden zwei deutschen Völkerschaften stammenden jungen Leute miteinander zusammengekommen? Wie hätte aus dem heillosen Durcheinander im ganzen und im einzelnen ein Herz und eine Seele, ein Fleisch und ein Blut werden können ohne den – Weg zum Bahnhof?

Lächelnd hinter dem rosigen Ohr sich – die Löckchen mit Rosenfingern (weißen) ordnend, wird die Leserin fragen:

»Aber, mein Gott, wer hat denn jemals was gegen den Weg zum Bahnhof einzuwenden gehabt?« und damit hätte sie ihr Wort am Sonnabend, den 1. September 1860 mit in die Wagschale werfen dürfen: es würde sicherlich mit gewogen worden sein. In unserm ersten Kapitel handelt es sich einzig und allein um den Weg nach dem Bahnhof.

 


 


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