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[Endnote aus technischen Gründen im Text wiedergegeben. Re.]De Quincey fügt dieses Postskriptum im Jahre 1854 hinzu, als er die beiden vorhergehenden Schriften im 10. Band seiner »Gesammelten Werke« abdruckte. Er benannte es einfach »Nachschrift«, doch paßt der erweiterte, hier wiedergegebene Titel jetzt besser. Übrigens erschien folgende Notiz in den »Erläuterungen« zu demjenigen Bande von de Quinceys gesammelten Schriften, der seine vollständige Neubearbeitung des Essays: »Der Mord als eine der schönen Künste betrachtet«, enthält:
»Mein Aufsatz über den »Mord als eine der schönen Künste« schien mir eines ergänzenden Berichtes über Williams, den furchtbaren Mörder der verflossenen Generation, zu bedürfen. Nicht nur, weil die Mordliebhaber die Genialität und Großzügigkeit seiner Künstlerschaft in allen Tonarten priesen, sondern weil – ganz abgesehen von dieser zufälligen Beziehung zu meiner Schrift – mir der Mann an sich wegen seiner beispiellosen, mit aalglatter Gewandtheit und einschmeichelnden Umgangsformen gepaarten Kühnheit wohl einer speziellen Erwähnung wert scheint. Auch ist die ungeheure dramatische Wucht seiner Taten (besonders jener beiden, die im Jahre 1812 ganz England in Aufregung versetzten) von höchstem Interesse, und Southey hat nicht unrecht, wenn er sie im Hinblick auf die Tiefe und Nachhaltigkeit der öffentlichen Erregung geradezu als nationale Ereignisse bezeichnete. Ich möchte dem noch hinzufügen, daß auch der geheimnisvolle Schleier, der jene Taten zuerst bedeckte, nicht wenig zur Erhöhung des allgemeinen Interesses beitrug. Es gab da in mehr als einer Beziehung Rätsel zu lösen, besonders hinsichtlich der Frage: »Hatte der Mörder Mitschuldige oder nicht?« Infolgedessen fühlte ich mich sowohl durch den teuflischen Charakter des Mörders als auch durch jenes geheimnisvolle Dunkel, das seine Persönlichkeit umgab, zu einer Nachschrift veranlaßt, die jenen, seit zweiundvierzig Jahren in Vergessenheit geratenen, denkwürdigen Fall dem Publikum wieder ins Gedächtnis zurückrufen sollte.«
Leser von jener grämlichen und mürrischen Sorte, die nicht in aufrichtiger Mitfreude an einer fröhlichen Stimmung teilnehmen können, besonders aber, wenn diese Fröhlichkeit ein wenig in das Gebiet des Außergewöhnlichen hinüberschweift, sind unmöglich zu befriedigen. In solchem Falle heißt: nicht mitempfinden = nicht verstehen, und der Scherz, der keinen Anklang findet, wird flach und albern oder ganz sinnlos. Glücklicherweise bleibt mir, nachdem alle diese stumpfsinnigen Philister sich voll höchsten Mißfallens aus meinem Leserkreise zurückgezogen haben, noch eine große Anzahl solcher, die unverhohlen eingestehen, welches Vergnügen ihnen meine kleine Schrift Die Anwendung des Wortes »Schrift« in der Einzahl läßt darauf schließen, daß die Nachschrift im Manuskript kurz nach der Veröffentlichung der »Ersten Vorlesung« und vor Abfassung der »Zweiten« entstand. bereitet hat, wobei sie durch eine leichte Dosis Kritik die Aufrichtigkeit ihres Lobes beweisen. Wiederholt haben sie mir zu verstehen gegeben, daß die deutlich beabsichtigte Übertreibung, obgleich diese ein wesentliches Element der Scherzhaftigkeit des Sujets ist, vielleicht doch etwas zu weit gehe. Ich selbst bin nicht dieser Meinung und bitte die freundlichen Kritiker, doch zu bedenken, daß es ja gerade der von mir angestrebte Zweck dieses bescheidenen Schriftchens ist, am Abgrunde des Entsetzens zu weiden und alles das zu karikieren, was in Wirklichkeit im höchsten Grade abstoßend wirken würde. Das Übermaß des Absonderlichen dient, indem es dem Leser beständig die Nichtigkeit der ganzen Betrachtung vor Augen führt, als sicherstes Mittel dazu, ihm das Gefühl des Grauens zu nehmen, das sich sonst seiner bemächtigen würde. Ich erinnere diejenigen, die Einspruch dagegen erheben, nur an den Vorschlag des berühmten Dekans Swift, die überflüssigen Kinder der drei Königreiche, die damals in den Findelhäusern von Dublin und London untergebracht waren, zu kochen und zu verzehren. Dies war eine weit kühnere und in ihrer praktischen Auffassung viel derbere Ausschreitung als die meine, und doch erweckte sie, selbst bei einem Würdenträger der bedeutendsten irischen Kirche, keinen Tadel. Ihre Ungeheuerlichkeit war eben ihre Entschuldigung. Die krasse Übertreibung verlieh dem kleinen jeu d'esprit einen Freibrief, genau so wie die baren Unmöglichkeiten aus Liliput, Laputa, den Yahoos usw. jenen Phantasiegebilden Berechtigung verliehen. Die Broschüre Swifts, auf die sich de Quincey hier beruft, trägt den Titel: Ein bescheidener Vorschlag, wie man es verhüten kann, daß armer Leute Kinder in Irland ihren Eltern oder dem Staate zur Last fallen und wie man sie dem Volkswohle nutzbar machen könnte. Ein paar ausgewählte Sätze sollen dem Leser eine Probe von der blutigen Ironie des Verfassers geben: – »Einer meiner Bekannten, ein sehr erfahrener Amerikaner, versicherte mir, daß ein gesundes, wohlgepflegtes, einjähriges Kind köstliche, nahrhafte und bekömmliche Gerichte liefert, ganz gleich, ob in gedämpftem, gebratenem, gebackenem oder gekochtem Zustande. Ich zweifle nicht daran, daß es auch sich als Frikassee oder Ragout verwenden läßt. Daher unterbreite ich folgenden ergebensten Vorschlag zur öffentlichen Erwägung: von den durch Zählung festgestellten hundertundzwanzigtausend Kindern (die alljährlich in Irland zur Welt kommen) mögen zwanzigtausend, darunter der vierte Teil männliche, zur Zucht aufbewahrt werden, was schon einen höheren Prozentsatz bildet, als wir Schafen, Rindern oder Schweinen zugestehen. Die übrigen hunderttausend mögen, wenn sie das erste Lebensjahr vollendet haben, den angesehensten und wohlhabendsten Leuten des Königreichs zum Kauf angeboten werden; der Mutter ist dabei stets anzuraten, sie im letzten Monat recht reichlich zu nähren, damit sie die für einen feinen Tisch notwendige Rundlichkeit erlangen. Aus einem Kinde wird man zu einem Gesellschaftsessen zwei Gerichte herstellen können. Speist die Familie unter sich, so wird ein Vorder- oder Hinterviertel ausreichen. Mit Pfeffer und Salz bestreut, kann es gut am vierten Tage gekocht werden, besonders im Winter.« – Es ist danach kein Wunder, daß de Quincey diesen Vorgänger in seiner Entschuldigungsrede anführte. Christopher North hatte es bereits für ihn getan. Siehe Anmerkung Nr. 5. Wenn also irgend jemand sich bemüßigt fühlt, gegen so eine schillernde Seifenblase wie jene Vorlesung über die Ästhetik des Mordes zu Felde zu ziehen, verschanze ich mich augenblicklich hinter dem Telamonischen Schilde des Dekans. In Wirklichkeit aber – und dies ist (um der Wahrheit die Ehre zu geben) einer der Gründe, weshalb ich den Leser noch mit einer Nachschrift behellige – bedarf mein kleines Schriftstück wohl einer besonderen Entschuldigung für seine Extravaganzen, wie sie dasjenige Swifts durchaus nicht nötig hat.
Niemand kann behaupten, daß in der Menschheit der natürliche Hang schlummere, Säuglinge als Volksnahrungsmittel zu betrachten. Unter allen denkbaren Umständen würde dies stets als schwerste Form von Kannibalismus, noch dazu an den Hilflosesten des Menschengeschlechts verübt, aufgefaßt werden. Andererseits aber ist die Neigung zu kritischer oder ästhetischer Beurteilung von Feuersbrünsten oder Morden allgemein verbreitet. Wenn wir dem Schauspiel eines großen Brandes beiwohnen, so ist zweifellos unser erster Antrieb: löschen zu helfen. Allein das Gebiet dieser Tätigkeit ist sehr engbegrenzt und wird bald durch beruflich geübte und für ihren Dienst wohl ausgerüstete Leute in Anspruch genommen. Zerstört das Feuer Privateigentum, so verhindern uns anfangs Mitleid und Nächstenliebe, das Vorkommnis als ein Schauspiel aufzufassen. Wenn sich das Feuer jedoch auf öffentliche Gebäude erstreckt, betrachten wir die Sache, nachdem wir dem Unglück den schuldigen Tribut des Bedauerns gezollt haben, ganz ungeniert als Bühnenstück. Ausrufe des Entzückens, wie: »Großartig! Wundervoll!« ertönen aus der Zuschauermenge.
Als z. B. im ersten Dezennium dieses Jahrhunderts Am 24. Februar 1809. das Drury Lane-Theater abbrannte, wurde der Einsturz des Daches durch den mimischen Selbstmord des die Kuppel krönenden Apollo angekündigt. Mit der Lyra im Arm schien der Gott in die Glut hinabzublicken, die bedrohlich näherrückte. Plötzlich gaben die stürzenden Balken unter ihm nach; es sah aus, als höben die aufzuckenden Flammenwogen die Statue in die Höhe, und dann hatte es den Anschein, als ob der thronende Gott nicht fiel, sondern in seiner Verzweiflung sich freiwillig kopfüber in das Feuermeer stürzte. Was war die Folge? Von allen nahe gelegenen Brücken und anderen freien Plätzen, die einen Ausblick auf das Schauspiel gewährten, erhoben sich andauernde lärmende Kundgebungen der Bewunderung und Teilnahme.
Einige Jahre vor diesem Ereignis brach ein ungeheurer Brand in Liverpool aus: der Goree, ein mächtiger Speicher in der Nähe des Docks, brannte bis auf den Grund nieder. Das riesige, acht oder neun Stockwerk hohe Gebäude war bis ans Dach fast ausschließlich mit brennbaren Gütern vollgestopft. Viele tausend Ballen Baumwolle, Tausende von Zentnern Weizen und Hafer, Teer, Terpentin, Rum, Schießpulver und dergl. nährten während vieler Nachtstunden die Wut des gewaltigen Elementes. Um das Unheil noch zu vergrößern, blies ein regelrechter Weststurm – für die Schiffahrt war er allerdings ein Glück – landeinwärts. Bis zu dem achtzehn Meilen[ Gemeint sind englische Meilen; 1 englische Meile = ca. 2 Kilometer. Anm. des Übers.] in östlicher Richtung entfernt gelegenen Warrington trug der Wind den sprühenden Funkenregen glühender, oft noch mit Rum getränkter Baumwollflocken, die gleich Milliarden von Sternen das Firmament erhellten. Alles Vieh, das im Umkreise von achtzehn Meilen im Freien nächtigte, wurde in Furcht und Schrecken versetzt, während die Menschen in dem wirbelnden Funkengestöber hoch über ihnen natürlich die Boten einer ungeheuren Katastrophe ahnten, die in Liverpool vor sich gehen mußte. Trotz der allgemeinen Klage, die sich darüber erhob, konnte das Bedauern die spontanen Ausbrüche entzückter Bewunderung beim Anblick jener vielfarbigen Feuergarben, die auf den Schwingen des Orkans bald am freien Himmel, bald an dunklen Wolken vorüberbrausten, nicht unterdrücken.
Die gleiche Stellung nimmt im allgemeinen die große Menge den Mordtaten gegenüber ein. Nachdem die erste Aufwallung des Mitleids mit den Opfern vorüber ist und etwaige persönliche Interessen sich mit der Zeit beruhigt haben, werden die szenischen Eigenschaften der Morde (die man in ästhetischem Sinne relative Vorzüge nennen könnte) rezensiert und gegen einander abgewogen. Man vergleicht die einzelnen Morde und würdigt die verschiedenen Momente, die den einen vor dem andern auszeichnen; z. B. Plötzlichkeit der Überrumpelung, den Schleier des Geheimnisvollen usw. Meine Tollheiten finden daher ihre Entschuldigung in den unveränderlichen, angeborenen Neigungen der menschlichen Natur, während wohl niemand behaupten wird, daß Swift einen ähnlichen Milderungsgrund für sich in Anspruch nehmen könnte.
Dieser wichtige Unterschied zwischen mir und dem Dekan bildet den einen Grund zur Abfassung vorliegender Nachschrift. Die zweite Veranlassung ist die, den Leser ausführlich mit drei denkwürdigen, schon vor langer Zeit von den Kunstliebhabern preisgekrönten Mordfällen, und zwar besonders mit den beiden ersten, den unsterblichen Williamsmorden vom Jahre 1812, Es ist sonderbar, daß de Quincey das genaue Datum seiner Williamsschen Morde, von denen er soviel Aufhebens macht, vergessen haben sollte. Sie fanden nämlich schon im Dezember 1811 statt. Vielleicht schrieb er aus dem Gedächtnis und die durch jene Morde verursachte Panik dehnte sich bis zum Jahre 1812 aus. bekannt zu machen. Die Tat und der Täter sind, einzeln betrachtet, hochinteressant, und da seit 1812 bereits zweiundvierzig Jahre verflossen sind, läßt sich kaum annehmen, daß die jetzige Generation über beide gründlich unterrichtet ist.
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Die Annalen der ganzen christlichen Zeitrechnung verzeichnen keinen Fall, in dem ein einzelnes, machtbegabtes Individuum der Menschheit einen derartigen Schrecken eingeflößt hätte, wie John Williams durch jene Mordserie im Winter 1812, als er innerhalb kürzester Frist zwei Familien vollständig ausrottete und dadurch unter allen Abkömmlingen Kains den ersten Platz eroberte. Die wahnsinnige Aufregung, die während der folgenden Wochen das Publikum beherrschte – der Sturm der Entrüstung bei den einen, die unsinnige Angst bei den andern – läßt sich unmöglich schildern.
Als während der nächsten zwölf Tage das grundlose Gerücht auftauchte, der unbekannte Mörder habe London verlassen, verbreitete sich die Panik, von der die riesige Metropole ergriffen war, über die ganze Insel. Ich befand mich zu jener Zeit dreihundert Meilen von London entfernt, und auch dort, wie überall, war die Angst unbeschreiblich. Meine nächste Nachbarin, eine mir persönlich bekannte Dame, die in Abwesenheit ihres Gatten nur mit ein paar Dienstboten in einem abgelegenen Hause wohnte, ruhte nicht eher, als bis sie – wie ich später mit eigenen Augen sah – ihr Schlafzimmer durch achtzehn, mit schweren Riegeln, Eisenstangen und Ketten versehene Türen gegen jeden menschlichen Eindringling gesichert hatte. Sie auch nur in ihrem Wohnzimmer aufzusuchen, war schon mit ähnlichen Schwierigkeiten verknüpft, wie der Gang eines Parlamentärs in eine belagerte Festung, denn alle sechs Schritte befand man sich vor einer Art Fallgatter.
Doch nicht allein die Reichen wurden von dieser Panik ergriffen. Mehr als eine Frau aus den unteren Volksschichten starb auf der Stelle vor Schreck, weil sie irgend einen Landstreicher, der es wahrscheinlich nur auf einen Diebstahl abgesehen hatte, bei verdächtigen Einschleichversuchen ertappte und, durch Zeitungsberichte aufgeregt, in ihm den berüchtigtsten Londoner Mörder zu sehen glaubte.
Inzwischen weilte dieser einzigartige Künstler, dessen alleinige Beschäftigung und Einnahmequelle, wie später bekannt wurde, der Mord bildete, getragen vom Bewußtsein seiner Größe, wie ein Privat-Attila, eine »Gottesgeißel« der Familien, ruhig in London und bereitete in aller Stille ein wirkungsvolles Dementi der Zeitungsberichte vor. Am zwölften Tage nach seiner Mord-Premiere widerlegte er alle diejenigen, die ihm abgeschmackter Weise Neigung für das Landleben zutrauten, und bewies seine Anwesenheit in London dadurch, daß er eine zweite Familie ausrottete.
Die Provinz atmete jetzt ein wenig auf, denn nun wußte man ja bestimmt, daß der Mörder sich nicht herabgelassen hatte, auf dem Lande unterzukriechen oder aus Gründen der Vorsicht die für immer an den Ufern der Themse aufgeschlagene hauptstädtische castra stativa ungeheuerlicher Verbrechen auch nur für kurze Zeit zu verlassen. Es steht also fest, daß der große Künstler provinziellen Ruhm verschmähte. Ihm muß das Mißverhältnis zwischen einem kleinen Landstädtchen oder gar einem Dorfe und seinem gewaltigen Werke – einem Κτημα ες αει, – einem Morde, der den Stempel seiner Machart trug, doch gar zu lächerlich vorgekommen sein.
Coleridge, den ich einige Monate nach diesen schrecklichen Ereignissen sprach, erzählte mir, daß er von der alles beherrschenden Panik nicht ergriffen worden wäre, obwohl er sich damals gerade in London aufhielt. Als Philosoph grübelte er nur über die ungeheure Gewalt nach, die sich in einem furchtlosen, jeden Gewissenszwang abwerfenden Menschen verkörpert. Wenn Coleridge den öffentlichen Angstzustand auch nicht teilte, so fand er ihn doch ganz natürlich und leicht erklärlich. Wie er richtig sagte, bestehen Tausende von Haushaltungen in der Riesenstadt nur aus Frauen und Kindern; Tausende von anderen vertrauen ihre Sicherheit in langen Abendstunden der Besonnenheit eines jungen Dienstmädchens an, und wenn diese sich durch die Vorspiegelung einer Botschaft von ihrer Mutter, Schwester oder ihrem Schatz verleiten läßt, die Tür zu öffnen, so richtet sie im Augenblick die Sicherheit des ganzen Hauses zugrunde. Zu jener Zeit und noch viele Monate später war es allgemein üblich, die Sicherheitskette vor die Tür zu legen, ehe man sie öffnete, eine Gewohnheit, die den von Mr. Williams hinterlassenen tiefen Eindruck bekundete. Ich will noch erwähnen, daß auch Southey in diesem Falle mit der Allgemeinheit fühlte. Denn ein oder zwei Wochen nach dem ersten Morde bezeichnete er ihn mir gegenüber als eine Begebenheit aus dem Privatleben, die sich zum Range eines nationalen Ereignisses erhöbe Ich weiß nicht genau, ob Southey zu jener Zeit beim Verlage des »Edinburger Jahresregisters« angestellt war. Trifft dies zu, so findet sich zweifellos im Unterhaltungsteil jener Chronik ein ausgezeichneter Bericht der ganzen Begebenheit.
Nachdem ich den Leser nun so weit vorbereitet habe, daß er die ganze Bedeutung dieser grausigen Massenmorde zu würdigen vermag, will ich auf die Einzelheiten eingehen, da ich annehme, daß sich aus der heutigen Generation kaum der vierte jenes denkwürdigen Falles aus einer zweiundvierzig Jahre zurückliegenden Ära genau entsinnen wird.
Zunächst ein paar Worte über den Tatort! Ratcliffe Highway ist ein öffentlicher Durchgang in einer höchst chaotischen Stadtgegend des Ostens oder Hafenviertels von London. Zu jener Zeit (d. h. im Jahre 1812), als außer der – für ihre besonderen Zwecke großartigen, aber für den allgemeinen Sicherheitsdienst ganz unzulänglichen Detektiv-Polizei der Bow Street noch keine ordentliche Polizei existierte, war es ein höchst gefährliches Viertel. Fast jedem dritten Menschen, dem man begegnete, sah man auf den ersten Blick den Ausländer an. Auf Schritt und Tritt traf man Laskaren, Chinesen, Mulatten und Neger. Abgesehen von all der Schurkerei, die sich unter den verschiedenen Kopfbedeckungen und Turbanen jener Fremdlinge verbirgt, von deren Vergangenheit kein Europäer auch nur die leiseste Ahnung hat, ist es allgemein bekannt, daß auch die christliche Marine (in Kriegszeiten besonders die Handelsmarine) ein sicherer Unterschlupf für alle Mörder und sonstigen Verbrecher ist, die triftige Gründe haben, sich für eine Weile der Oeffentlichkeit zu entziehen. Allerdings eignen sich von jener Sorte die wenigsten zu »tüchtigen« Seeleuten. Doch zu allen Zeiten und hauptsächlich im Kriege besteht nur ein kleiner Teil (oder nucleus [Der Kern. Anm. des Übers.]) jeder Schiffsmannschaft aus befahrenen Matrosen, die Mehrzahl setzt sich bei weitem aus unerfahrenen Landratten zusammen.
John Williams, der gelegentlich als Matrose an Bord verschiedener Indienfahrer etc. gedient hatte, war vermutlich von Hause aus eine echte Teerjacke, alles in allem aber sicherlich ein sehr geschickter Mensch, dem es in unvorhergesehenen Schwierigkeiten nie an Hilfsmitteln gebrach und der sich allen Veränderungen des sozialen Lebens anzupassen verstand. Williams war ein Mann von mittlerer Statur (fünf Fuß sieben einen halben bis fünf Fuß acht Zoll groß), schlank, fast mager, dabei aber sehnig und ziemlich muskulös, ohne alles überflüssige Fett.
Eine Dame, die ihn beim Verhör (ich glaube, auf dem Themse-Polizeibureau) zu Gesicht bekam, versicherte mir, daß sein Haar eine höchst auffallende gelblich-rötliche Farbe hatte. Williams war in Indien gewesen, zwar hauptsächlich in Bengalen und Madras, doch hatte er sich auch am Indus aufgehalten. Da bekanntlich in Pandschab die Pferde oft rot, blau, grün und purpurn angemalt werden, kam mir der Gedanke, daß Williams vielleicht zu Verkleidungszwecken aus diesen in Scinde und Lahore üblichen Bräuchen eine Nutzanwendung gezogen haben mochte und die geschilderte Haarfarbe gar nicht seine natürliche sei. Im übrigen war, nach einem Gipsabguß zu schließen, den ich in London kaufte, sein Aeußeres durchaus normal und, was seine Gesichtszüge anbelangt, geradezu gewöhnlich. Etwas jedoch fiel an ihm auf und stimmte merkwürdig gut zu seiner angeborenen Tigernatur – sein Gesicht zeigte stets eine geisterhafte, blutleere Blässe. »Man könnte glauben, in seinen Adern ränne nicht rotes Lebensblut, das im Aufwallen der Scham, des Zornes oder des Mitleids die Wange höher färbt, sondern ein grünlicher Saft, der aus keinem Menschenherzen quillt,« versicherte mir jene Dame. Sein Blick war glasig und stier, als ob er irgend ein ferneres Opfer belauere. So abstoßend seine Erscheinung aber auch gewesen sein mag, muß er es, der Aussage vieler Konkurrenten und der stummen Beweiskraft der Tatsachen nach, doch verstanden haben, sich durch sein glattes, einschmeichelndes Benehmen bei unerfahrenen jungen weiblichen Wesen in Gunst zu setzen, trotz seiner unheimlichen, geisterhaften Physiognomie. Ein vielumworbenes Mädchen, das Williams unzweifelhaft zu ermorden beabsichtigte, bezeugte, daß er sie einmal unter vier Augen gefragt habe: »Was würden Sie sagen, Miß R., wenn ich um Mitternacht, mit einem Tranchiermesser bewaffnet, neben Ihrem Bette stände?« Und das vertrauensselige junge Mädchen antwortete: »Wenn es ein anderer wäre, Mr. Williams, würde ich vor Entsetzen außer mir sein. Doch sobald ich Ihre Stimme hörte, wäre ich ganz beruhigt.« Armes Ding! Hätte Mr. Williams diese Skizze ausgearbeitet, so würde ein gewisser Blick in dem leichenhaften Gesicht, ein gewisser Klang in der unheilvollen Stimme ihre Ruhe auf ewig zerstört haben. Und doch konnte Mr. John Williams nur durch solche schrecklichen Erfahrungen entlarvt werden.
Es war an einem Dezembersonnabend Sonnabend, den 7. Dezember 1811., als Mr. Williams, von dem wir annehmen dürfen, daß er seinen »ersten Versuch« längst hinter sich hatte, durch die wimmelnden Straßen seinem Ziele zustrebte. Bei ihm heißt es: »Gesagt, getan!« Und heute abend, hatte er sich im stillen gesagt, sei die Stunde gekommen, ein bereits im Umriß angelegtes Werk auszuführen, das im Falle des Gelingens am folgenden Tage das ganze gewaltige London vom Mittelpunkt bis zum äußersten Umkreis in Schrecken und Bestürzung versetzen müßte. Später entsann man sich, daß er zu diesem geheimnisvollen Unternehmen seine Wohnung gegen elf Uhr abends verlassen hatte, nicht etwa, um schon so früh ans Werk zu gehen, sondern um vorher die Gelegenheit auszukundschaften. Sein Handwerkszeug hatte er fest unter den Mantel geknöpft. In Übereinstimmung mit der Verschlagenheit seines Charakters und der vornehmen Abneigung gegen jede Roheit, zeichnete sich sein Benehmen durch auserlesene Verbindlichkeit aus; das Herz des Tigers barg sich unter einschmeichelndem, schlangenglattem Wesen. Alle seine Bekannten bezeichneten seine Heuchelei als so vollendet, daß er sicherlich beim Passieren der, wie gewöhnlich am Sonnabend in den ärmeren Stadtteilen, überfüllten Straßen jeden auf das höflichste um Entschuldigung gebeten hätte, den er im Gedränge versehentlich anstieß. Während sein teuflisches Herz die schwärzesten Pläne ausbrütete, wäre er auf seinem Wege stehen geblieben, um in den liebenswürdigsten Worten die Hoffnung auszudrücken, daß der zu einem gewissen, neunzig Minuten später vollführten Geschäft unter dem eleganten Überzieher verborgene Hammer dem Fremden, mit dem er in Kollision gekommen war, auch wirklich nicht wehgetan habe. Ich glaube, Tizian, ganz gewiß aber Rubens und vielleicht auch Van Dyck pflegten ihre Kunst stets nur in tadellosem Anzuge, mit Spitzenkrause, Perücke und diamantenfunkelndem Degen auszuüben. Wir haben guten Grund anzunehmen, daß auch Mr. Williams, als er sich zu seinem großartigen Massenmorde aufmachte, schwarzseidene Strümpfe und Schnallenschuhe wählte. Auch würde er seine Künstlerehre keinesfalls so weit herabgesetzt haben, daß er bei seiner Arbeit einen Morgenanzug getragen hätte. Dem einzigen Menschen, der, wie der Leser später erfahren wird, in zitternder Todesangst von einem verborgenen Schlupfwinkel aus gezwungenermaßen dem zweiten großen Werk und seinen Abscheulichkeiten als Zuschauer beiwohnen mußte, fiel es besonders auf, daß Mr. Williams einen langen blauen, mit Seide gefütterten Rock aus feinstem Tuche trug. In den Anekdoten, die über ihn im Schwange waren, wird gleichzeitig erwähnt, daß Mr. Williams den ersten Zahnarzt und den ersten Hühneraugenoperateur mit seiner Kundschaft beehrte. Minderwertigeren Kräften wandte er seine Gunst unter keiner Bedingung zu, und man könnte ihn unter den Künstlern, die jener gefährlichen Richtung huldigten, zweifellos als den aristokratischsten und wählerischsten bezeichnen.
Doch wer war das Opfer, zu dessen Behausung er eilte? Denn sicherlich war er doch nicht so leichtfertig, auf irgendeine beliebige Person zu warten, die ihm der Zufall in den Weg führen sollte? O nein! Er hatte sich schon lange vorher ein passendes Opfer ausersehen, nämlich einen alten, sehr intimen Freund. Allem Anschein nach war er der Meinung, daß eine befreundete Person sich am besten zur Ermordung eigne oder in Ermanglung eines Freundes, über den man ja doch nicht immer verfügt, ein guter Bekannter, der bei der ersten Annäherung des Mörders keinen Argwohn hegt, während ein Fremder leicht Verdacht schöpfen und aus den Gesichtszügen des Mörders eine Mahnung, auf der Hut zu sein, herauslesen könnte. Im vorliegenden Falle vereinte das auserkorene Opfer alle erforderlichen Eigenschaften in sich: es war ursprünglich ein Freund gewesen, der sich später aus triftigen Gründen in einen Feind verwandelt hatte, obgleich, wie viele meinten, die Gefühle, die einst den Anlaß zu freundschaftlichen oder feindlichen Beziehungen gegeben hatten, wahrscheinlich längst vergessen waren.
Der Unglückliche, der, ob nun als Freund oder Feind, zum Gegenstand der sonnabendlichen Glanzleistung ausersehen war, hieß Marr, und ein Gerücht, das nie amtlich widerlegt worden ist, wollte wissen, die beiden wären vor Jahren auf demselben Indienfahrer nach Kalkutta gesegelt und hätten auf hoher See einen Streit miteinander gehabt. Einer anderen Lesart zufolge war dieser Streit erst nach ihrer Rückkehr ausgebrochen und zwar um die spätere Mrs. Marr, eine bildhübsche junge Frau, um deren Gunst sich damals beide in erbitterter Nebenbuhlerschaft bewarben. Einige Begleitumstände des Mordes geben dieser Geschichte einen Anstrich von Wahrscheinlichkeit. Andererseits aber hat sich schon öfter jemand aus reiner Gutherzigkeit, weil er bei einem nicht genügend aufgeklärten Morde nicht an einen gemeinen Beweggrund glauben wollte, eine nachträglich vom Publikum bestätigte Geschichte ausgedacht, wonach der Mörder unter irgendeinem edleren Gesichtspunkte handelte. In diesem Falle begrüßte das Publikum, das sich von dem Gedanken abgestoßen fühlte, Williams habe lediglich aus Gewinnsucht eine so vielgestaltige Tragödie in Szene gesetzt, mit Freuden jene Erzählung, die ihn als einen, von tödlichem Haß gegen den glücklichen Rivalen beseelten verschmähten Liebhaber darstellte. Bleibt auch der Fall einigermaßen zweifelhaft, so besteht doch immerhin die Wahrscheinlichkeit, daß Mrs. Marr tatsächlich die wahre Ursache, die causa teterrima der Fehde zwischen den beiden Männern gewesen ist.
Inzwischen sind die Minuten gezählt, bald ist der Sand in dem Stundenglase, das die Dauer dieser Fehde auf Erden abmißt, ausgelaufen, noch in dieser Nacht soll sie ihr Ende erreichen. Morgen ist der Tag, den man in England »Sonntag«, in Schottland mit dem hebräischen Namen »Sabbath« nennt. Für beide Völkerschaften aber hat der Tag dieselbe Bedeutung: er ist ein Tag der Ruhe. Es steht geschrieben, daß er auch dir, Marr, ein Tag der Ruhe werden soll. Du selbst, dein ganzer Haushalt, ja auch der Fremde, der sich innerhalb deiner Mauern befindet, Ihr werdet Ruhe finden, die Ruhe jenseits des Grabes; denn auf dieser Welt habt Ihr zum letzten Male Euer Auge im Schlummer geschlossen.
Keine strengen und pedantischen Religionsvorschriften, wie die der Juden, ordnen einen genauen Beginn und Schluß der Sonntagsruhe an. Im schlimmsten Falle erstreckte sich der Sonntag von 1 Uhr morgens des einen bis 8 Uhr morgens des folgenden Tages, also über einen Zeitraum von einunddreißig Stunden, der sicherlich allen Ansprüchen genügen dürfte. Marr hätte sich an diesem speziellen Sonnabend gern mit einem Feiertage von kürzerer Dauer begnügt, wenn er nur schneller herbeigekommen wäre; denn seit sechzehn Stunden mühte er sich ununterbrochen hinter dem Ladentisch ab. Er betrieb nämlich einen Handel mit Strumpfwaren und hatte in die Vorräte und die Einrichtung seines kleinen Ladens die Summe von 180 Lire [Nach deutschem Gelde 3600 Mark. Anm. d. Übers.] gesteckt. Wie alle Kaufleute, kämpfte er mit Schwierigkeiten, denn obwohl er erst kürzlich das Geschäft eröffnet hatte, quälten ihn bereits böse Schulden; auch Rechnungen, die er voraussichtlich nicht durch entsprechenden Absatz würde regeln können, wurden demnächst fällig. Doch der kräftige, rotbäckige, siebenundzwanzigjährige Mann war von Natur sanguinisch veranlagt. Wenn auch hinsichtlich seiner kaufmännischen Zukunft in gewissem Grade beunruhigt, bewahrte er doch seine Heiterkeit und freute sich jetzt schon im voraus darauf (ach, leider umsonst), wenigstens für diese und für die folgende Nacht die Sorgen zu vergessen und das müde Haupt am Herzen seines liebreizenden jungen Weibes ausruhen zu können.
Der Hausstand Marrs bestand aus folgenden fünf Personen: Zunächst er selbst, der, falls er auch geschäftlich ruiniert worden wäre, doch stets genug Energie entwickelt hätte, um sich, wie eine Flammengarbe, auch über wiederholte Schicksalsschläge immer aufs neue emporzuschwingen. Jawohl, armer Marr, so käme es offenbar, wenn deiner angeborenen Energie nichts hindernd in den Weg träte. Doch in diesem Augenblicke schon steht auf der anderen Seite der Straße ein höllischer Schurke, der allen deinen lockenden Zukunftsaussichten ein gebieterisches Nein entgegensetzt. Das zweite Mitglied des Haushaltes ist Marrs hübsches, liebenswürdiges Weibchen, das nach Art sehr junger Frauen – sie ist erst zweiundzwanzig Jahre alt – außerordentlich glücklich und, wenn überhaupt, nur in betreff ihres Lieblings besorgt ist. Denn drittens ruht in der, von der jungen Mutter ab und zu in schaukelnde Bewegung versetzten Wiege, die in einer mollig warmen, etwa neun Fuß unter dem Straßenniveau liegenden Küche steht, ein acht Monate altes Kind, der erstgeborene Sprößling ihrer vor neunzehn Monaten geschlossenen Ehe. Trauert nicht darüber, daß dieses Kind die tiefe Sabbathruhe im Jenseits genießen muß; weshalb sollte sich eine Waise, die, der Eltern beraubt, bitterster Armut anheimgefallen wäre, in einer feindlichen oder mörderischen Welt herumstoßen? Die vierte Person des Hausstandes war der Lehrling, ein stämmiger, dreizehnjähriger und – wie alle Devonshirer Burschen Ein Künstler erzählte mir in diesem Jahre (1812), daß er ein neunhundert Mann starkes einheimisches Devonshire-Regiment (Freiwillige und Miliz) an sich vorübermarschieren gesehen und darunter kaum ein Dutzend Leute bemerkt habe, auf die der Ausdruck »gut aussehend« nicht gepaßt hätte. – auch recht hübscher Junge, der mit seiner Stelle sehr zufrieden war, nicht überanstrengt und freundlich behandelt wurde, was er dankbar anerkannte. Fünftens und letztens vervollständigte ein erwachsenes Dienstmädchen diesen friedlichen Haushalt. Da es sehr gutherzig war, nahm es seiner Herrin gegenüber, wie es in anspruchslosen Familien öfter vorkommt, eine Art schwesterlicher Stellung ein.
In der britischen Gesellschaft hat sich seit zwanzig Jahren eine große demokratische Wandlung vollzogen. Eine Unmenge von Personen schämt sich, von »ihrem Herrn« oder »ihrer Herrin« zu sprechen; diese Bezeichnung wird allmählich durch »mein Arbeitgeber« ersetzt. In den Vereinigten Staaten verursacht dieser Ausdruck demokratischen Hochmuts, obgleich er als zwecklose Betonung einer Unabhängigkeit, die niemand anzweifelt, unangenehm berührt, keine schädliche Wirkung. Denn die häuslichen »Stützen« befinden sich ziemlich allgemein in einem Stadium sicheren und schnellen Übergangs zu der Leitung eines eigenen Haushalts, so daß sie tatsächlich nur ein Verhältnis ableugnen, das sich ohnehin in ein oder zwei Jahren auflöst. Doch in England, wo es keine derartigen unversieglichen Hilfsquellen gibt, wirkt der Sinn dieser Änderung peinlich, da er die Befreiung von einem Joch, das in jedem Falle leicht und in vielen Fällen ein segensreiches war, mit überflüssiger Schärfe betont. Bei einer andern Gelegenheit will ich an Beispielen erläutern, was ich meine.
In Mrs. Marrs Dienst wurde anscheinend der oben erwähnte Grundsatz in die Praxis übertragen. Mary, das Dienstmädchen, empfand eine aufrichtige, ungeheuchelte Hochachtung vor ihrer Herrin, die sie unermüdlich mit häuslichen Pflichten beschäftigt sah, und die trotz ihrer großen Jugend nie die Gebieterin herauskehrte, noch ihre Autorität in launenhafter Art mißbrauchte. Sämtliche Nachbarn bezeugten, daß sie ihrer Herrin stets mit unaufdringlicher Ehrerbietung entgegenkam und sich dabei ereiferte, ihr, wo es irgend möglich war, die Mutterpflichten mit der fröhlichen Willigkeit einer Schwester zu erleichtern.
Diesem jungen Mädchen nun rief Marr ein paar Minuten vor Mitternacht von den obersten Stufen der Treppe aus den Auftrag zu, noch schnell einige Austern zum Abendessen einzuholen. Was können geringfügige Zufälle im Menschenleben oft für ernste, einschneidende Folgen haben! Der im Laden beschäftigte Marr und seine Frau, die eine kleine Unpäßlichkeit ihres Kindes in Anspruch nahm, hatten beide nicht an das Abendessen gedacht. Bei der vorgerückten Stunde konnte die Auswahl nur gering sein, und Austern waren nach Mitternacht wohl noch am ehesten zu haben. An diesem unbedeutenden Umstand hing Marys Leben. Wäre sie wie gewöhnlich um zehn oder elf Uhr zu Einkäufen ausgeschickt worden, so hätte sie, das einzige Mitglied des Hauses, das der Vernichtung entging, sicherlich das Schicksal der anderen geteilt.
Da die Zeit drängte, eilte Mary, nachdem sie von Marr Geld bekommen, mit einem Korbe in der Hand barhäuptig aus dem Laden. Später erinnerte sie sich mit Grausen daran, daß sie beim Heraustreten aus der Ladentür auf der gegenüberliegenden Seite der Straße im Laternenschein die Gestalt eines stillstehenden Mannes gesehen habe, der jedoch im nächsten Augenblick weiterging. Es war Williams, wie ein kleiner, vorher oder gleich nachher eingetretener Zwischenfall bewies, dessen genauer Zeitpunkt nicht mehr festzustellen ist. Wenn man in Betracht zieht, daß die Zeit zur Ausführung ihres Auftrags sehr knapp bemessen war, muß man darauf schließen, daß die Bewegungen des Unbekannten in Mary eine dunkle Beunruhigung erweckten, sonst wären sie ihr bei der unter diesen Umständen gebotenen Hast und Überstürzung wohl überhaupt kaum aufgefallen. Über das, was ihr halb unbewußt durch den Sinn ging, äußerte sie sich später folgendermaßen: Trotz der Dunkelheit, in der sie weder die Gesichtszüge des Mannes erkannte, noch die Richtung seines Blickes wahrnehmen konnte, fiel es ihr doch auf, daß er seiner Haltung nach Nr. 29 ins Auge gefaßt haben mußte.
Der kleine, Marys Annahme bekräftigende Zwischenfall, auf den ich vorhin anspielte, bezog sich darauf, daß der Nachtwächter kurz vor Mitternacht ebenfalls jenen Fremden bemerkt hatte. Er beobachtete ihn dabei, wie er andauernd durch das Fenster in Marrs Laden spähte, was ihm samt dem Äußern des Menschen so verdächtig erschien, daß er hineinging und Marr seine Wahrnehmungen mitteilte. Diese Aussage machte er später vor Gericht, wobei er hinzufügte, Marr habe ihn gebeten, ihm beim Schließen der Läden behilflich zu sein, als er ein paar Minuten nach Mitternacht (wahrscheinlich acht bis zehn Minuten nach Marys Weggange) auf seiner halbstündigen Runde zurückkehrte. Hierbei erwähnte der Wächter Marr gegenüber, der geheimnisvolle Fremde müsse sich anscheinend gedrückt haben, denn er sei jetzt nirgend mehr zu sehen.
Vermutlich hatte Williams den Besuch des Wächters bei Marr bemerkt, war sich dadurch der Auffälligkeit seines Benehmens bewußt geworden und hatte die Warnung, die Marr gegolten, sich selber zu Gemüte gezogen. Zweifellos ist dann kaum eine Minute später, nachdem der Wächter Marr beim Schließen der Läden Beistand geleistet hatte, der Bluthund ans Werk gegangen. Was ihn bisher davon abgehalten, war eben der Umstand, daß die Vorübergehenden von draußen durch die Scheiben den Laden überblicken konnten. Zuerst mußten also die Läden fest verrammelt werden. Doch sobald diese Vorbedingung, der Ausschluß der Öffentlichkeit, erfüllt war, galt es keinen Augenblick mehr zu verlieren, wenn er nicht den Erfolg ebenso durch Verzögerung, wie vorher durch Übereilung in Frage stellen wollte; denn alles hing davon ab, ins Haus zu kommen, ehe Marr die Tür verschloß. Wenn wir die Reihenfolge der Tatsachen in ihrem richtigen Zusammenhange betrachten, werden wir sehen, daß Williams diese Art des Eindringens jeder anderen vorgezogen haben muß.
Er wartete nicht etwa erst Marys Heimkehr ab, um mit ihr gleichzeitig ins Haus zu gelangen, sondern gleich nachdem die Schritte des fortgehenden Wächters verhallt waren und von dieser Seite keine Störung mehr zu befürchten war, beugte er der Gefahr, daß Marr ihn ausschließen könnte, dadurch vor, daß er mit einem Satz ins Haus sprang und dabei mit der linken Hand den Schlüssel umdrehte, ohne daß Marr diese verhängnisvolle Kriegslist bemerkte. Es ist wirklich wunderbar und höchst interessant, die Schritte jener menschlichen Bestie zu verfolgen und aus den stummen Hieroglyphen dieses Falles mit absoluter Sicherheit den ganzen Vorgang des blutigen Dramas so deutlich herauszulesen, als ob wir in Marrs Laden versteckt gewesen wären oder vom gnadenreichen Himmel herabgeblickt hätten. Daß sein rasches Manöver mit dem Schlüssel Marr entgangen war, geht daraus hervor, daß letzterer trotz der Warnung des Wächters keinen Verdacht geschöpft hatte. Damit Williams sein Werk erfolgreich vollenden konnte, war es für ihn von größter Wichtigkeit, jedem Angstschrei Marrs vorzubeugen oder ihn zu verhindern. Ein derartiger Schrei dringt durch die dünnen Mauern und wäre auf der Straße so deutlich zu hören gewesen, als hätte ihn draußen jemand ausgestoßen. Ihn zu ersticken, war also unumgänglich notwendig, und der Leser wird bald erfahren, wie dies geschah.
Inzwischen wollen wir den Mörder für fünfzig Minuten nach Belieben schalten und walten lassen. Wir wissen ja, daß die Vordertür gegen alle Hilfe verschlossen ist, und begleiten nun im Geiste Mary auf ihrem Gange, kehren, nachdem alles vorüber ist, mit ihr zusammen heim, lüften den Vorhang vor dem Schauplatz der Taten von neuem und sehen das Entsetzliche, das in ihrer Abwesenheit geschehen ist.
Das arme Mädchen wanderte in großer Unruhe, über die es sich keine Rechenschaft abzulegen vermochte, auf der Suche nach einem Austernladen umher. Da sie in dem ihr bekannten Viertel keinen mehr offen fand, hielt Mary es für das beste, ihr Glück in einem entfernteren Stadtteil zu versuchen. Lichter, die sie von weitem schimmern sah, verlockten sie, immer weiterzugehen, und so kam es natürlich, daß sie sich in den spärlich erhellten Straßen Ich entsinne mich der Geschichte der Gasbeleuchtung nicht mehr in chronologischer Reihenfolge. Doch wurden in London, nachdem ein Deutscher, namens Mr. Winsor, durch eine Probebeleuchtung Pall Malls am 28. Januar 1807 den Wert des Gaslichtes und seine Verwendbarkeit zur Straßenbeleuchtung vorgeführt hatte, mehrere Stadtteile durch ihre alten Kontrakte mit Ölhändlern noch auf Jahre hinaus an der Einführung des neuen Systems verhindert. einer unbekannten Gegend Londons, wo wüster Lärm sie oft zu Umwegen veranlaßte, in der stockdunklen Nacht verirrte. Das Vorhaben, weswegen sie ausgegangen, war mittlerweile aussichtslos geworden; es blieb ihr also nichts weiter übrig als umzukehren. Doch jetzt war der Weg schwierig zu finden und sie fürchtete sich, Vorübergehende, denen sie in der Finsternis nicht ansehen konnte, wes Geistes Kind sie waren, danach zu fragen. Endlich erkannte sie im Laternenschein einen Wächter, der sie auf den richtigen Weg wies, und zehn Minuten später stand sie vor der Tür von Ratcliffe Highway Nr. 29. Jetzt erst merkte sie, daß sie fast eine Stunde fortgewesen sein mußte, denn in einiger Entfernung hörte sie den Wächterruf »Die Glock' hat eins geschlagen«, der in kurzen Zwischenpausen zehn Minuten lang wiederholt wurde.
In dem Aufruhr angstgepeinigter Gedanken, die sehr bald auf sie einstürmten, vermochte sie sich der Angst des Argwohns und der düsteren Vorahnungen, die in jenem Augenblick in ihr aufstiegen, natürlich kaum zu erinnern. Doch soviel man feststellen konnte, hatte sie im ersten Moment nach ihrer Rückkehr nichts geradezu Beunruhigendes bemerkt. In den meisten Städten setzt man sich durch Klingeln von der Straße aus mit dem Innern der Häuser in Verbindung, in London überwiegen jedoch Türklopfer. An Marrs Hause gab es beide Vorrichtungen; Mary zog daher die Glocke und klopfte gleichzeitig ganz leise. Ihre Herrschaft fürchtete sie nicht zu stören, denn sicherlich waren beide noch auf; ihre Ängstlichkeit galt nur dem Kinde, das vielleicht, einmal aus dem Schlaf geweckt, ihrer Herrin wieder die Nachtruhe rauben könnte. Auch wußte sie genau, daß von den drei Personen, die gewiß sehnsüchtig auf ihre Heimkehr warteten und sich über ihr langes Ausbleiben vielleicht schon beunruhigten, sicher eine auf den leisesten Ruf von ihr an die Tür kommen würde.
Doch was ist das? Zu ihrem Erstaunen, dem sich eisiger Schrecken zugesellte, hörte sie weder Schritte noch Murmeln aus der Küche heraufdringen. In diesem Augenblick fiel ihr mit lähmendem Entsetzen die undeutliche Gestalt des Fremden in dem weiten, dunklen Mantel ein, wie er im ungewissen Laternenlicht einhergeschlichen war und ihren Herrn beobachtet hatte. Sie machte sich jetzt die bittersten Vorwürfe, Mr. Marr trotz ihrer Eile nicht auf die verdächtige Erscheinung aufmerksam gemacht zu haben. Das arme Mädchen wußte nicht, daß die nutzlose Warnung ihrem Herrn schon von anderer Seite zugegangen war und ihrer eigenen, aus übergroßer Eile entstandenen Unterlassung daher nicht die bösen Folgen zur Last gelegt werden konnten.
Doch allen derartigen Erwägungen machte die überwältigende Angst ein Ende. Denn schon die Tatsache, daß auf ihr doppeltes Zeichen sich niemand meldete, ließ sie das Schreckliche ahnen. Eine Person konnte wohl fest eingeschlafen sein, doch zwei – oder gar drei – das war undenkbar. Selbst wenn alle drei samt dem Kinde in tiefem Schlaf lagen: wie sollte sich diese anhaltende Totenstille erklären? Naturgemäß wurde das arme Mädchen jetzt von hysterischer Aufregung ergriffen und riß in ihrem Entsetzen wie toll an der Klingel. Darauf machte sie eine Pause; denn ob gleich fast am Ende ihrer Selbstbeherrschung, behielt sie doch genügend Überlegung, um zu bedenken, daß wenigstens Mrs. Marr und das Kind zu Hause sein müßten, wenn vielleicht ein Unglück geschehen sein sollte und sowohl Marr wie der Lehrling zum Arzt gelaufen wären. Aber selbst in diesem kaum anzunehmenden Falle würde doch die arme Mutter auch in äußerster Not wenigstens ein schwaches Lebenszeichen von sich geben. Mary mußte sich also ganz still verhalten, damit ihr nicht die etwaige Antwort auf ihr stürmisches Anläuten entging. Armes, zitterndes Geschöpf! Krampfhaft bemüht, auf jeden Ton zu achten, rührte sie sich nicht.
Während sie den Atem anhielt, hörte sie in der furchtbaren Stille etwas, das ihr einen Todesschreck einjagte und bis an ihr Lebensende im Ohre widerklang. Sie, die sich aufs äußerste anstrengte, um nur ja nicht die Stimme ihrer geliebten Herrin zu überhören, vernahm nun endlich ganz deutlich einen Ton innerhalb des Hauses. Doch nicht die ersehnte Antwort auf ihr Pochen – nein, ein Krachen der Treppe, die zu dem einzigen Obergeschoß hinaufführte, wo die Schlafzimmer lagen. Danach unterschied sie deutliche Tritte: ein, zwei, drei, vier, fünf Stufen stieg jemand langsam hinab; dann näherten sich die schrecklichen Schritte durch den schmalen Gang der Haustür. Hier hielten sie inne. Nur eine einzige Tür liegt noch zwischen Mary und dem furchtbaren Fremdling; sie hörte ihn atmen, ihn, der alles andere atmende Leben im Hause vernichtet hat. Wie behutsam und leise waren seine Schritte, wie schwer sind seine Atemzüge! Was tut er an der andern Seite der Tür? Stellt Euch vor, daß er sie plötzlich öffnet und Mary unvorsichtig ins Dunkel hinein und damit in die Arme des Mörders stürzt! Wäre dies unmittelbar nach Marys Rückkehr, nach ihrem ersten Klingeln geschehen, so wäre sie unfehlbar in ihr Verderben gerannt. Doch nun ist sie auf ihrer Hut. Der unbekannte Mörder und sie stehen einander lauschend auf den entgegengesetzten Seiten der Tür gegenüber; beim leisesten Anzeichen, daß er den Riegel zurückschieben oder den Schlüssel umdrehen wollte, hätte Mary sich in das schützende Dunkel geflüchtet.
Was bezweckte aber der Mörder mit seinem Kommen an die Haustür? Als Einzelwesen betrachtet, bedeutete ihm Mary nichts; doch als Glied des Haushalts hatte sie den Wert für ihn, daß er mit ihrer Ermordung die Ausrottung des gesamten Hauses vollendet hätte. Damit wäre ihm der ganze Fang ins Netz gegangen, der Untergang des Hauses restlos bewerkstelligt und die Zahl der Opfer abgerundet worden. Der Fall, dessen Kunde sich wie ein Lauffeuer durch alle Welt verbreiten würde, mußte die entsetzte Phantasie der Hörer gefangen nehmen und widerstandslos in die sieghafte Gewalt des Mörders zwingen. Er brauchte nur zu sagen: »Meine Zeugnisse datieren von Ratcliffe Highway Nr. 29,« und die arme ohnmächtige Phantasie sank hilflos vor dem faszinierenden Schlangenblick des Mörders zusammen.
Zweifellos gab er sich der Hoffnung hin, daß es ihm gelingen würde, Mary zu täuschen, wenn er ruhig die Tür öffnete, Marrs Stimme nachahmte und ihr zuflüsterte: »Weshalb sind Sie so lange geblieben?« Allein er befand sich im Irrtum, der Augenblick war verpaßt. Mary geberdete sich wie wahnsinnig, riß an der Klingel und vollführte mit dem Klopfer einen Höllenlärm. Die Folge davon war, daß der eben zu Bett gegangene Nachbar aus tiefstem Schlummer gerissen wurde und aus dem andauernden, wütenden Läuten und Klopfen schloß, daß irgendeine entsetzliche Schreckenstat die Veranlassung zu diesem Aufruhr sein müsse. Aufstehen, das Fenster aufreißen und sich ärgerlich nach der Ursache des Lärms erkundigen, war das Werk eines Augenblicks. Das arme Mädchen beherrschte sich mühsam so weit, um mit fliegenden Worten zu erzählen, sie sei eine Stunde fortgewesen und Mr. Marrs Familie in der Zwischenzeit wahrscheinlich umgebracht worden, während der Mörder sich auch jetzt noch im Hause befinden müsse.
Der Nachbar, dem sie das alles erzählte, war ein Pfandleiher, ein kreuzbraver Mann; denn schon was körperliche Kräfte anbetraf, war es ein gefährliches Unternehmen, allein einem geheimnisvollen Mörder gegenüberzutreten, der seine physische Überlegenheit anscheinend durch so umfassende Heldentaten bewiesen hatte. Auch erforderte es viel Selbstverleugnung, sich mit raschem Entschluß in die unheimliche Nähe eines derartigen Menschen zu wagen. Nicht einmal ein Soldat steht in der Regel auf dem Schlachtfelde so unberechenbaren Gefahren gegenüber. Falls es sich also wirklich bestätigen sollte, daß die ganze Familie Marr umgebracht war, ließ sich ja beinahe annehmen, daß zwei Eindringlinge die Schreckenstat verübt hätten. Oder wenn nur einer dieses Blutbad angerichtet hatte, wie ungeheuer mußte dann seine Kühnheit, also vermutlich auch seine Kraft und Geschicklichkeit sein! Jedenfalls war der unbekannte Feind (ob nun allein oder zu zweien) reichlich bewaffnet.
Trotz aller dieser Bedenken stürzte der furchtlose Mann jedoch sofort auf das Schlachtfeld in seines Nachbarn Haus. Nachdem er sich nur soviel Zeit genommen, Beinkleider anzuziehen und die Feuerzange in der Küche zu ergreifen, eilte er in den kleinen Hof hinunter, der an der Rückseite seines eigenen Hauses lag. Auf diese Weise hoffte er den Mörder zu packen, was auf der Vorderseite aussichtslos war, da dort das Einbrechen der Tür zuviel Zeit beansprucht hätte.
Er zwang sich über die neun bis zehn Fuß hohe Ziegelmauer, die seinen eigenen Hofraum von dem Marrs trennte, und gerade in dem Augenblick, als ihm einfiel, daß er wieder zurückmüsse, um eine Kerze zu holen, sah er aus der weit offen stehenden Hintertür des Marrschen Hauses einen schwachen Lichtschimmer dringen. Der Mörder war also wahrscheinlich kurz vorher entflohen. Rasch ging der wackere Mann weiter, betrat den Laden und sah dort die Schlachtopfer auf dem Boden ausgestreckt. Die engen Räume waren derartig von Blut überschwemmt, daß er kaum vermeiden konnte hineinzutreten, als er sich einen Weg zur Vordertür bahnte. Im Schloß steckte noch der Schlüssel, der dem unbekannten Mörder einen so verhängnisvollen Vorteil über seine Opfer verschafft hatte.
Inzwischen hatte Mary, die sich einbildete, daß einem oder dem andern der Unglücklichen noch durch möglichst schnell herbeigeholten ärztlichen Beistand zu helfen sei, durch ihr Geschrei selbst zu dieser späten Stunde eine kleine Anzahl von Menschen herbeigelockt. Der Pfandleiher öffnete die Tür, und ein oder zwei Nachtwächter drangen an der Spitze der Menge, deren lautes Stimmengewirr bei dem herzzerreißenden Anblick plötzlich verstummte, in den Laden.
Das Drama verkündete laut seine eigene Entwicklung und Szenenfolge. Noch immer wußte man nicht, wer der Mörder war oder auf wen sich der Verdacht richten könnte; doch waren Gründe genug zu der Annahme vorhanden, daß jener eine mit Marr bekannte Persönlichkeit gewesen sein müsse. Zunächst: er hatte den Laden erst nach Geschäftsschluß betreten. Nachdem der Wächter aber Marr Vorsicht empfohlen, hätte das Erscheinen eines Fremden zu jener Stunde, als durch das Schließen von Tür und Läden jede Verbindung mit der Außenwelt abgeschnitten war, Marr selbstverständlich zu Wachsamkeit und Abwehr veranlassen müssen. Da dies jedoch nicht der Fall gewesen, ließ sich voraussehen, daß irgend etwas Marrs Beunruhigung beschwichtigt und seine Vorsicht entwaffnet hatte. Dieses »Etwas« aber konnte nur in der einfachen Tatsache bestehen, daß die Person des Mörders ein unverdächtiger Bekannter Marrs gewesen sein mußte.
Als man hierin erst den Schlüssel zu dem Drama gefunden hatte, lag die Entwicklung der weiteren Handlung klar vor aller Augen: Der Mörder hatte die zur Straße führende Tür sachte geöffnet und ebenso wieder geschlossen. Während er mit dem ahnungslosen Marr die unter alten Bekannten üblichen Begrüßungsworte wechselte, näherte er sich dem Ladentische und forderte ein paar Socken aus ungebleichter Baumwolle. In einem so kleinen, schmalen Laden gab es aber nicht genug Raum zur Unterbringung sämtlicher Artikel in den Schubfächern des Ladentisches. Diese Einrichtung war zweifellos dem Mörder genau bekannt, und er wußte, daß Marr sich, um das betreffende Paket von einem anderthalb Fuß höheren Repositorium herunterzulangen, umdrehen und seine Hände emporstrecken mußte. Diese Bewegung brachte ihn dem Mörder gegenüber in die denkbar unvorteilhafteste Stellung; und in dem Augenblick, wo Marrs Hände und Augen beschäftigt waren, zog jener unter dem weiten Mantel plötzlich ein schweres Schiffszimmermannsbeil hervor und betäubte sein Opfer mit einem einzigen Hiebe auf den ungeschützten Hinterkopf so gründlich, daß es keinen Widerstand mehr leisten konnte. Aus der ganzen Lage Marrs, der hinter dem Ladentisch mit erhobenen Händen zusammengebrochen war, ersah man, wie sich der Vorgang abgespielt hatte. Höchstwahrscheinlich raubte schon der erste Schlag dem Überfallenen das Bewußtsein. Der Plan des Mörders ging systematisch darauf aus, das Opfer mit einem Hiebe niederzustrecken oder es doch wenigstens für längere Zeit zu betäuben. Dieser Anfang verschaffte dem Täter dann freien Spielraum; da die Rückkehr des Bewußtseins bei seinem Opfer ihn in die schlimmste Patsche bringen konnte, hatte er es sich zur Regel gesetzt, jenes durch Halsabschneiden vollständig unschädlich zu machen.
Alle Morde wiesen dieselben typischen Merkmale auf: zunächst Verhinderung jeden Widerstandes, Zerschmetterung des Schädels, dann Herbeiführung ewigen Stillschweigens durch Abschneiden der Kehle.
Das übrige ergab sich nun von selbst: Marrs Sturz wird vermutlich ein dumpfes Geräusch verursacht haben, das man, da die Türe geschlossen war, nicht mit irgendeinem Straßenlärm verwechseln konnte. Wahrscheinlicher jedoch ist, daß man in der Küche erst aufmerksam wurde, als Williams dabei war, Marr die Kehle abzuschneiden, denn es läßt sich annehmen, daß es dem Mörder bei der gebotenen Eile und in der Enge hinter dem Ladentisch unmöglich war, den grauenhaften Prozeß auf einmal zu vollenden, sondern daß er dem Verwundeten mehrere Schnitte versetzte, wobei dieser tief stöhnte. Daraufhin kam jemand die Treppe heraufgelaufen, wogegen sich der Mörder wohl besonders vorgesehen hatte. Mrs. Marr und der Lehrling, beide jung und behende, stürzten natürlich zum Ausgang nach der Straße. Wäre Mary zu Hause gewesen und hätte es der Mörder gleichzeitig mit allen dreien zu tun gehabt, so wäre es leicht möglich gewesen, daß wenigstens einer von ihnen glücklich die Straße erreicht hätte. Doch das schreckliche Beil streckte sowohl den Jungen wie dessen Herrin auf dem Wege zur Tür nieder. Sie brachen mitten im Laden bewußtlos zusammen, und in demselben Augenblick machte sich der Höllenhund auch schon mit seinem scharfen Messer über sie her. Im ersten Schreck über das Stöhnen ihres Mannes muß Mrs. Marr ihre sonstige Klugheit im Stich gelassen haben, sonst hätten sie und der Knabe ihre Zuflucht wohl zum hinteren Ausgang genommen, wo ihr Hilferuf auf der Straße gehört worden wäre. Außerdem hätten sie auf jenem Wege dem Mörder vielleicht ausweichen können, was sich in dem beschränkten Raume des engen Ladens von selbst verbot.
Unmöglich ist es, das Entsetzen zu schildern, das die Zuschauer beim Anblick der grausigen Tragödie durchrieselte. Man wußte, daß ein Mitglied des Haushalts durch Zufall der allgemeinen Metzelei entronnen sei, doch begann Mary, als man sie ausfragen wollte, irre zu reden. Sie wurde von einer mitleidigen Nachbarin fortgeführt und zu Bett gebracht. So kam es, daß eine Zeitlang niemand zur Stelle war, der mit Marrs Familienverhältnissen genügend Bescheid wußte, um an das kleine Kind zu denken. Der tapfere Pfandleiher hatte sich nämlich zu dem Leichenbeschauer und einem anderen Nachbar auf den Weg gemacht, damit dieser das Verbrechen auf dem nächsten Polizeiamte meldete. Plötzlich erinnerte sich jemand unter der Menge an das Kind des ermordeten Paares, das man entweder unten oder in einem der oben gelegenen Schlafzimmer suchen mußte, und sofort ergoß sich ein Menschenstrom die Treppe zur Küche hinunter, wo die Wiege stand. Die Decken und Kissen befanden sich in unbeschreiblicher Unordnung, und als man das Durcheinander entwirrte, kamen Blutlachen zum Vorschein, auch war das Verdeck der Wiege total zersplittert. Den Elenden hatten augenscheinlich das gewölbte Verdeck am Kopfende der Wiege sowie die Kissen und Decken um das Köpfchen des Kindes in seiner Bewegungsfreiheit behindert. Infolgedessen hatte er das erstere mit seinem Beile zertrümmert und schließlich auch dem kleinen, unschuldigen Geschöpf das Messer an die Kehle gesetzt. Ohne ersichtlichen Zweck, höchstens vielleicht, um sich den Anblick der von ihm selbst verübten Scheußlichkeiten zu ersparen, schichtete er danach die Decken wieder sorgfältig über der kleinen Leiche auf.
Dieser Umstand trug unleugbar dazu bei, dem ganzen Ereignis den Charakter eines Racheakts zu verleihen und das umlaufende Gerücht, die Feindseligkeit zwischen Williams und Marr entspränge ihrer Nebenbuhlerschaft, zu bestätigen. Ein Reporter war der Ansicht, daß der Mörder, seiner eigenen Sicherheit wegen, das Geschrei des Kindes habe verhindern wollen, doch wurde ihm ganz richtig erwidert, ein acht Monate altes Kind schreie nicht unter dem Eindruck einer sich abspielenden Tragödie, sondern einfach wie gewöhnlich nach seiner Mutter. Auch würde ein solches Geschrei, selbst wenn man es außerhalb des Hauses hörte, schwerlich den Nachbarn besonders aufgefallen sein und ebensowenig den Mörder ernstlich beunruhigt haben. In dem ganzen Gewebe von Abscheulichkeiten entfesselte nichts so stark die Volkswut gegen den unbekannten Schurken, wie dieses zwecklose Abschlachten des Säuglings.
Naturgemäß verbreitete sich an dem vier bis fünf Stunden später anbrechenden Sonntagmorgen die Schauermär in alle Windrichtungen, doch glaube ich nicht, daß sie in einem der zahlreichen Sonntagsblätter Aufnahme fand. Denn im regelmäßigen Verlauf der Dinge fand jedes Ereignis, das an einem Sonntage nicht bis fünfzehn Minuten nach ein Uhr morgens geschah oder bekannt wurde, Ein klareres Beispiel für den Unterschied zwischen »geschehen« und »bekannt werden« oder einen deutlicheren Tadel der mißbräuchlichen Anwendung von »bekannt werden« im Sinne von »geschehen« gibt es kaum. erst durch die Montagsausgaben der Sonntagsblätter und die regelmäßigen Montagsmorgenzeitungen den Weg in die Öffentlichkeit. Wenn auch bei dieser Gelegenheit der vorgeschriebene Kurs eingehalten wurde, so bedeutet das einen bedauerlichen Mangel an geschäftlicher Routine. Sicherlich hätte die Befriedigung des allseitigen Verlangens nach genaueren Einzelheiten, dem man durch Weglassen einiger langweiliger Spalten und Einrücken eines ausführlichen, vom Pfandleiher und Wächter gelieferten Berichtes leicht nachkommen konnte, ein Vermögen eingebracht. Sicherlich hätten in allen Stadtteilen der riesigen Metropole 250 000 Extrablätter abgesetzt werden können, wenn eine Zeitung Material gesammelt und so die von umherschwirrenden Gerüchten aufgewühlte sowie auf nähere Mitteilungen erpichte allgemeine Erregung befriedigt hätte.
[Endnote aus technischen Gründen im Text wiedergegeben. Re.]Einer interessanten, soeben von Mr. Charles Pollit aus Kendal, unter dem Titel »De Quincey als Herausgeber der Westmoreland Gazette« veröffentlichten Flugschrift entnehmen wir, daß während der ganzen Zeit seiner redaktionellen Tätigkeit (einer Periode, die nach neueren Feststellungen genau vom 11. Juli 1818 bis zum 15. November 1819 dauerte) de Quincey die Spalten dieses provinziellen Toryblattes mit Vorliebe durch Berichte über Schwurgerichtsverhandlungen und Mordprozesse füllte. »Während er mit der Zeitung in Verbindung stand«, so äußert sich Mr. Pollit, »bildeten Schwurgerichtsverhandlungen nicht allein einen überwiegenden Teil, sondern oft den ausschließlichen Inhalt des verfügbaren Raumes.« Zur Erläuterung führt Mr. Pollit folgende, der Zeitung vom 8. August 1818 entnommene Notiz an: »Es wird dem Leser auffallen, daß die Spalten unseres Blattes in dieser Woche fast nur mit Gerichtsverhandlungen angefüllt find. Aus folgenden drei Gründen glaubten wir ihnen berechtigter Weise den Vorrang vor allen andern lokalen oder ausländischen Neuigkeiten einräumen zu müssen:
1. Weil sie allen Lesern, ohne Unterschied der Stellung, gleich interessant sind.
2. Weil sie auf die ungebildeteren Klassen ganz besonders wohltätig einwirken, indem sie diese auf das eindrücklichste über ihre sozialen Pflichten belehren: nämlich nicht in der abstrakten Form der Erklärung und des Verbots, wie der schroffe Wortlaut der Gesetzesparagraphen, sondern durch die Darstellung eines bestimmten Falles, einer Verkörperung jener Gesetzesforderung, wie die Logiker es nennen würden, und zwar gleichzeitig in Verbindung mit den Strafen, die eine Uebertretung oder Außerachtlassung des Gesetzes nach sich zieht.« Und
3. »Weil sie den besten Überblick über den moralischen Zustand der Gesellschaft gewähren.«
Was die Westmoreländer von dieser ständigen Versorgung mit Schauermären durch die .Herausgeber der Gazette hielten, weiß man nicht; doch scheint jene mit eine Ursache zur Unzufriedenheit der Zeitungsverleger gewesen zu sein, die de Quinceys Redaktionstätigkeit ein frühes Ende bereitete, wie Mr. Pollit meint.
Am folgenden Sonntag – also acht Tage nach dem traurigen Ereignis – fand die Beerdigung der Marrs statt. In den ersten Sarg hatte man Marr, in den zweiten die Frau mit ihrem Kinde im Arm, in den dritten den Lehrling gebettet. Sie wurden nebeneinander bestattet und 30 000 Arbeiter, auf deren Gesichtern Teilnahme und Entsetzen geschrieben stand, schlossen sich dem Leichenzuge an.
Bis zu diesem Augenblicke ahnte noch immer niemand, wer der gräßliche Urheber dieser bestialischen Tat – der Schutzpatron der Totengräber – war. Hätte man an dem Sonntage jenes Begräbnisses schon gewußt, was sechs Tage später allgemein bekannt wurde, so wäre die Menge vom Kirchhof unverzüglich nach der Wohnung des Mörders geeilt, um ihn in Stücke zu reißen. Doch vorläufig mußte sich die Volkswut in Ermangelung eines Gegenstandes, an den der Verdacht sich heften konnte, noch etwas gedulden. Weit entfernt, allmählich nachzulassen, verstärkte sich die Aufregung im Gegenteil von Tag zu Tag in dem Maße, wie die allgemeine Erschütterung aus der Provinz in die Hauptstadt zurückflutete. Auf jeder Landstraße des Königreichs wurden fortwährend Landstreicher und herumziehende Personen, die sich nicht genügend ausweisen konnten oder nach der ungenauen Beschreibung des Wächters eine entfernte Ähnlichkeit mit Williams zeigten, angehalten und festgenommen.
In die mächtige Flut des Mitleids und der Empörung über das Geschehene mischte sich auch ein Unterstrom angstvoller Befürchtung für die unmittelbare Zukunft. Um hier nur ein Zitat aus Wordsworth anzuführen:
»Kein Erdbeben beruhigt sich sogleich.«
Alles Unheil wiederholt sich. Ein Mörder, dessen tierische Blutgier eine eigenartige Form unnatürlicher Wollust ist, kann nicht auf einmal der Befriedigung seiner Gelüste entsagen. Solch ein Mensch findet, fast mehr noch als der Gemsjäger in den Alpen, einen prickelnden Reiz darin, die Gefahren seiner Tätigkeit, denen er oft nur um Haaresbreite entgeht, immer wieder von neuem aufzusuchen, um sich dadurch die fade Eintönigkeit des Alltagslebens zu würzen. Doch abgesehen von den teuflischen Instinkten, die ihn ganz sicher zu erneuten Scheußlichkeiten treiben würden, lag es klar auf der Hand, daß der Mörder der Marrs, wo er auch stecken mochte, in dürftigen Verhältnissen leben mußte, und ein bedürftiger Mensch jener Sorte pflegt seine Hilfsquellen nicht in ehrlicher Arbeit zu suchen, zu der Gewaltmenschen schon infolge ihres hochmütigen Widerwillens dagegen sowie ihrer Verachtung aller Umgangsformen sich besonders schlecht eignen. Also schon um seines Unterhalts willen würde der Mörder, dessen Entdeckung jeder ersehnte, wahrscheinlich nicht verabsäumen, in irgendeinem Schauerdrama von neuem aufzutreten. Selbst wenn man den Mord der Marrs der Hauptsache nach als Racheakt auffaßte, so unterlag es doch keinem Zweifel, daß Raubgelüste dabei mitgespielt hatten, denen aber eine arge Enttäuschung folgte. Mit Ausnahme der geringen Summe, die Marr für seine wöchentlichen Ausgaben zurückzubehalten pflegte, hatte der Mörder wahrscheinlich wenig oder nichts von Belang gefunden, so daß sich seine Beute vielleicht auf zwei Guineen [1 Guinee = 21 Mark. Anm. des Übers.] belief, eine Summe, mit der er nach Ablauf einer Woche sicherlich fertig war. Daher war alle Welt fest davon überzeugt, daß man in ein bis zwei Monaten, nachdem die Wogen der Erregung sich gelegt und neuere Gesprächsstoffe das allgemeine Interesse in Anspruch genommen, so daß die verschärfte Wachsamkeit in den Haushaltungen wieder nachließ, auf einen neuen, ebenso grauenhaften Mord gefaßt sein mußte.
*
Nun möge sich der Leser das wahnsinnige Entsetzen vorstellen, als in diese erwartungsvolle Spannung, die dennoch an die unerhörte Kühnheit eines derartigen Schrittes kaum zu glauben vermochte, in der zwölften Nacht plötzlich ein zweiter, ähnlich geheimnisvoller Fall hineinplatzte. Wiederum war es ein Familienmord, noch dazu in unmittelbarer Nachbarschaft des Marrschen Hauses.
Am zweiten Donnerstag nach dem ersten Morde spielte diese erneute Schreckenstat sich ab In der Donnerstagsnacht, am 19. Dezember 1811., die nach Ansicht vieler den ersten Fall an dramatischer Wirkung noch übertraf. Diesmal ereilte das Geschick die Familie eines gewissen Mr. Williamson. Das Mordhaus lag, wenn auch nicht direkt am Ratcliffe Highway, so doch gleich um die Ecke in einer Nebenstraße, die ihn rechtwinklig schnitt.
Mr. Williamson, ein bekannter, angesehener und lange in jener Gegend ansässiger Mann, stand im Rufe großer Wohlhabenheit. Mehr aus Tätigkeitsdrang als aus Pfennigfuchserei betrieb er eine Art Gastwirtschaft, in der es ziemlich patriarchalisch zuging. Keine ängstliche Trennung zwischen den wohlhabenderen Besuchern, die sich in den Abendstunden dort einzustellen pflegten, und den andern, aus Handwerkern und einfachen Arbeitern bestehenden Gästen wurde aufrecht erhalten. Jeder, der sich anständig betrug, konnte sich setzen, wohin er wollte, und bestellen, was ihm beliebte. So kam es, daß die Kunden Williamsons zum einen Teil aus Stammgästen, zum andern aus ziemlich gemischtem Laufpublikum bestanden.
Der Haushalt setzte sich aus folgenden fünf Personen zusammen: erstens, das Oberhaupt Mr. Williamson, ein siebzigjähriger Mann, der für seinen Beruf vorzüglich paßte, stets höflich und niemals verdrossen war, dabei aber fest auf Ordnung hielt; zweitens, Mrs. Williamson, seine etwa zehn Jahre jüngere Gattin; drittens, ein neunjähriges Großtöchterchen; viertens, ein fast vierzig Jahre altes Hausmädchen, und fünftens, ein etwa sechsundzwanzigjähriger junger Mann, der für eine Fabrik reiste. (In welcher Branche habe ich vergessen, auch entsinne ich mich seiner Nationalität nicht mehr.)
Bei Mr. Williamson gehörte es zur Hausordnung, daß alle Gäste, ohne jegliche Ausnahme, Punkt elf Uhr das Lokal verließen. Durch diese Maßnahme hatte Mr. Williamson es verstanden, sogar in jener wüsten Gegend sein Haus von Zank und Streit rein zu halten. An dem Abend jenes Donnerstags hatten sich wie gewöhnlich alle Gäste entfernt, doch nicht, ohne sich eines unbestimmten Verdachtes erwehren zu können. In einer weniger bewegten Zeit wäre der Umstand vielleicht niemand aufgefallen, doch jetzt, wo sich bei jedem geselligen Zusammensein das Gespräch ausschließlich um die Marrs und deren unbekannten Mörder drehte, erregte es natürlich Unbehagen, daß ein Fremder von unheimlichem Äußeren in einem weiten Mantel zu verschiedenen Malen im Laufe des Abends aus und ein ging, sich in dunklen Ecken dem Bereich des Lichtscheins entzog und, wie verschiedene beobachtet hatten, verstohlen die Privaträume des Hauses musterte. Man nahm an, daß er ein Bekannter Williamsons war, was er in gewissem Grade als gelegentlicher Besucher der Gastwirtschaft immerhin sein konnte. Später aber haftete der leichenblasse Fremde mit dem abstoßenden Äußern, der unnatürlichen Haarfarbe und den glasigen Augen, der sich in den Stunden zwischen acht und elf Uhr abends immer wieder zeigte, allen, die ihn mit innerem Schaudern beobachtet hatten, so fest im Gedächtnis, als ob ihnen die schrecklichen Gesichter der beiden von Banquos Blute dampfenden Mörder im »Macbeth« erschienen wären, wie sie im nebligen Hintergründe beim prächtigen Gastmahl des Königs auftauchen.
Inzwischen schlug es elf Uhr, die Anwesenden brachen auf, die Eingangstür wurde nur angelehnt, und die fünf zurückbleibenden Hausinsassen verteilten sich nun folgendermaßen: Die drei älteren, nämlich Williamson, seine Frau und das Dienstmädchen waren alle zu ebener Erde beschäftigt. Williamson zog Porter, Ale usw. zum Verkauf an die Nachbarn ab, für die er die Haustür bis zwölf Uhr geöffnet hielt, während Mrs. Williamson und das Mädchen zwischen der Küche und einem kleinen Wohnzimmer hin und her gingen. Das Großtöchterchen, dessen Schlafzimmer im ersten Stock lag (in London versteht man darunter die eine Treppe über dem Erdgeschoß liegende Etage) schlief schon seit neun Uhr; auch der Reisende hatte sich bereits zur Ruhe begeben. Er war ein regelmäßiger Logiergast des Hauses und nächtigte in einem Zimmer der zweiten Etage; als Geschäftsmann an frühes Aufstehen gewöhnt, hatte er sich zeitig zu Bett gelegt. Natürlich wäre er gern recht schnell eingeschlafen; in dieser Nacht hielten ihn jedoch unruhige Gedanken an den kürzlich in Nr. 29 verübten Mord, die sich schließlich bis zu nervöser Erregtheit steigerten, noch einige Zeit wach. Möglicherweise hatte er jemand von dem verdächtigen Fremden sprechen hören oder ihn selbst herumschleichen sehen. Vielleicht dachte er auch an die gefährliche Nachbarschaft in dieser Verbrechergegend, an die ungemütliche Tatsache, daß die Marrs ganz in der Nähe gewohnt hatten und der Unterschlupf des Mörders folglich nicht weit sein mochte. Außer solchen allgemeinen Gründen zur Beunruhigung gab es für dieses Haus noch besondere: Williamsons offenkundiger Reichtum – die mehr oder weniger berechtigte Annahme, daß er in Pulten und Schubladen das ihm beständig zuströmende Geld anhäufte; und schließlich die geflissentlich heraufbeschworene Gefahr durch das Offenlassen der Haustür während einer vollen Stunde einer Stunde, in der die allseitig bekannte Gewißheit, niemals einen Gast anzutreffen, da ja alle von elf Uhr an verbannt waren, die Gefahr noch erhöhte.
Diese Einrichtung, die sich bisher zugunsten des Hauses bewährt hatte, bedeutete jetzt, unter veränderten Umständen, geradezu eine Herausforderung des Unheils. Williamson, ein schwerfälliger, siebzigjähriger Mann hätte, nachdem die Gäste das Lokal geräumt, die Haustür sicherheitshalber sofort verschließen müssen.
Über dies und anderes (besonders auch darüber, daß Mr. Williamson in dem Rufe stand, eine beträchtliche Menge Silbergeschirr zu besitzen) grübelte der Reisende, tief in Gedanken versunken, als plötzlich, ungefähr fünfundzwanzig Minuten vor Mitternacht mit einem Krach, der eine gewalttätige Hand verriet, die Haustür zugeschlagen und abgeschlossen wurde. Zweifellos war jetzt der geheimnisvolle Teufel vom Ratcliffe Highway Nr. 29 erschienen; das schreckliche Wesen, das seit zwölf Tagen alle Gedanken beschäftigte und alle Zungen in Bewegung setzte, hatte das unbeschützte Haus betreten, und in wenigen Minuten würde ihn jeder einzige der Insassen von Angesicht zu Angesicht sehen. Eine Frage freilich war immer noch offen geblieben – ob bei Marrs nicht zwei Verbrecher ihre Hand im Spiel gehabt hatten. In diesem Falle würde es sich auch hier um zwei handeln, von denen der eine dann wahrscheinlich die Arbeit in den oberen Stockwerken übernehmen würde, da bei einem derartigen Anschlag nichts verhängnisvoller werden konnte, als Hilferufe von den oberen Fenstern auf die Straße hinaus. Eine halbe Minute lang saß der arme Mann, wie gelähmt vor Schreck, aufrecht im Bett. Dann erhob er sich und ging nach der Tür, nicht etwa in der Absicht, sie gegen den Eindringling zu versichern, – wußte er doch nur zu gut, daß sie weder Schloß noch Riegel hatte; auch war im Zimmer kein zum Verbarrikadieren geeignetes Möbelstück vorhanden, selbst wenn die Zeit zu einem solchen Manöver ausgereicht hätte. Lediglich eisige Furcht trieb den jungen Mann, die Tür zu öffnen. Mit einem Schritt stand er am Treppengeländer und beugte sich lauschend darüber. Im selben Augenblick ertönte aus dem kleinen Wohnzimmer der in höchster Todesangst ausgestoßene Schrei des Dienstmädchens: »Herr im Himmel! Wir werden alle ermordet!« Ein Medusenhaupt mußte hinter jenen blutlosen Zügen mit den glasigen, eiskalten Augen lauern, daß ein Blick auf sie genügte, um aus ihnen Todesgewißheit herauszulesen.
Drei Todeskämpfe waren vorüber, als der arme, versteinerte Reisende, halb bewußtlos dem Zwange des Entsetzens nachgebend, beide Treppenabsätze hinabstieg. Der fassungslose Schrecken löste bei ihm dieselbe Wirkung aus, wie der tollkühnste Mut. Im Hemd stieg er die ausgetretenen Stufen, die ab und zu leise krachten, bis zu der vierten von unten hinunter. Ein Husten, ein hörbarer Atemzug in dieser Situation – und der junge Mann wäre rettungslos verloren gewesen. Denn der Mörder befand sich zur Zeit gerade in dem kleinen Wohnzimmer, dessen der Treppe gegenüberliegende Tür halb offen stand, oder vielmehr beträchtlich weiter geöffnet war, als was man so gemeinhin »halboffen« nennt. Von dem Quadranten oder den neunzig Grad, welche die Tür beschreiben müßte, wenn sie mit dem Türrahmen einen rechten Winkel bildete, waren wenigstens fünfundfünfzig Grad übersichtlich und damit auch zwei der drei Leichen dem Blicke des jungen Mannes preisgegeben. Wo aber war die dritte und wo der Mörder?
Letzteren hörte er in dem durch die Tür verdeckten Teiles des Zimmers hin und her gehen und an dem Büfett, dem Schreibtisch und einem Wandschrank Schlüssel probieren. Bald darauf kam er in Sicht, doch war er zum Glück für den jungen Mann in diesem kritischen Augenblick zu sehr in seine Beschäftigung vertieft, um einen Blick nach der Treppe zu werfen, wo er sonst die weiße, regungslose Gestalt sofort erspäht und in der nächsten Sekunde ins Jenseits befördert hätte.
Der dritte, noch fehlende Leichnam, nämlich der Mr. Williamsons, lag im Keller, was der junge Reisende freilich nicht wußte; da er den alten Mann aber weder stöhnen, noch sich bewegen hörte, mußte er auch auf Williamsons Tod schließen. Von den vier Freunden, die der junge Mann vor kaum vierzig Minuten verlassen hatte, schliefen drei bereits den ewigen Schlummer; es blieben also noch vierzig Prozent (für Williams wahrlich ein hoher Prozentsatz) übrig, nämlich der Reisende und seine niedliche, kleine Freundin, das Großtöchterchen, die in kindlicher Unschuld, unbekümmert um ihr oder der Großeltern Schicksal, in süßem Schlummer lag. Zum Glück weilt ein Freund, der diesen Namen mit Recht verdient, in ihrer Nähe – wenn er nur imstande ist, sie aus dieser entsetzlichen Gefahr zu erretten. Doch ach! der Mörder ist ihm noch näher als der Kleinen. Regungslos, zur Bildsäule erstarrt, jeder Bewegung unfähig, steht der Aermste da, während sich in einer Entfernung von dreizehn Fuß seinen Augen folgende Szenerie enthüllt:
Über das Hausmädchen war der Mörder hergefallen, als sie den Kamin, dessen Gitter sie soeben mit Graphit geputzt hatte, mit Kohlen und Holz füllte, damit sie am nächsten Tage alles bereit fand und nur das Feuer anzuzünden brauchte. Augenscheinlich muß sie beim Eindringen des Mörders noch mit dieser Arbeit beschäftigt gewesen sein, und höchstwahrscheinlich spielte sich der Gang der Ereignisse folgendermaßen ab. Der furchtbare, von dem Reisenden vernommene Aufschrei, der aber erst ein bis zwei Minuten nach dem Türzuschlagen erfolgte, war der erste Ausdruck ihres Entsetzens. Folglich mußte jenes Anzeichen, das den jungen Mann so sehr beunruhigt hatte, von den beiden Frauen auf unerklärliche Weise falsch gedeutet worden sein. Mrs. Williamson soll zu jener Zeit an Schwerhörigkeit gelitten haben, und das Mädchen, das mit dem Kopf halb unter dem Kamingitter steckte, mag bei dem Geräusch, das sie bei ihrer Arbeit selbst vollführte, den dumpfen Krach mit Straßenlärm verwechselt oder das heftige Zuschlagen einem Streich ungezogener Jungen zugeschrieben haben.
Tatsächlich hatte das Mädchen bis zu ihrem Ausruf keinen Verdacht geschöpft und ihre Arbeit nicht unterbrochen. Daraus folgt, daß auch Mrs. Williamson nichts aufgefallen war, da sie sonst ihren Argwohn dem in demselben kleinen Zimmer befindlichen Mädchen mitgeteilt hätte.
Da sie zufällig mit dem Rücken nach der Tür stand, hatte Mrs. Williamson wahrscheinlich den Eintritt des Mörders gar nicht bemerkt und war von ihm durch einen Schlag mit einem Brecheisen, der ihr die Schädeldecke zertrümmerte, betäubt und zu Boden gestreckt worden. Erst das Geräusch ihres Falles – der ebenso wie der tödliche Streich das Werk eines Augenblicks gewesen – hatte die Aufmerksamkeit des Mädchens erregt und sie zu dem Aufschrei veranlaßt. Bevor sie ihn wiederholen konnte, hatte der Mörder das erhobene Werkzeug auch auf ihr Haupt niedersausen lassen. Beide Frauen waren nun auf immer unschädlich gemacht und weitere Gewalttätigkeiten eigentlich überflüssig. Allein trotz seiner Eile und der Gefahr, die jeder Zeitverlust für ihn heraufbeschwören konnte, hielt der Unhold es doch für notwendig, den beiden Opfern die Kehle durchzuschneiden, um dadurch alle Wiederbelebungsversuche und etwaige Aussagen gegen ihn unmöglich zu machen. Mrs. Williamson war mit dem Kopf nach der Tür zu auf den Rücken gefallen. Das Mädchen hatte sich aus seiner knienden Stellung nicht erheben können und den Kopf widerstandslos dem Todesstreiche dargeboten, worauf der Unmensch nur den Hals der Unglücklichen zurückzubeugen brauchte, um durch einen Schnitt den Mord zu vollenden.
Es ist merkwürdig, daß der junge Kaufmann, obgleich von Schreck wie gelähmt und förmlich wie behext, so daß er dem Löwen geradezu in den Rachen taumelte, doch imstande war, alles Wesentliche zu bemerken und zu erfassen. Der Leser muß ihn sich vorstellen, wie er den Mörder beobachtet, der sich gerade über Mrs. Williamson beugt, um die Leiche nach gewissen Schlüsseln zu durchsuchen. Zweifellos befand Williams sich in einer peinlichen Lage. Wenn es ihm nicht gelang, die erforderlichen Schlüssel rasch zu finden, so hatte die ganze grausige Tragödie keinen weiteren Erfolg als den, das Entsetzen des Publikums aufs äußerste zu steigern, die Leute zu zehnfach erhöhter Wachsamkeit zu veranlassen und damit doppelte Hindernisse zwischen dem Mörder und seiner künftigen Laufbahn aufzutürmen. Sogar ein noch brennenderes Interesse stand auf dem Spiel; seine eigene Sicherheit konnte durch einen plötzlichen Zwischenfall gefährdet werden. Die Mehrzahl der Kunden, die von Williamson Getränke holen kamen, bestand zwar aus leichtfertigen Dirnen oder Kindern, die, ohne sich weiter Gedanken zu machen, zu einem andern Laden laufen würden, falls sie diesen hier geschlossen fänden. Wenn jedoch eine verständige Person an die Tür käme und eine Viertelstunde vor der üblichen Zeit keinen Einlaß mehr erhielt, so müßte sie ohne Zweifel Verdacht schöpfen, würde höchstwahrscheinlich Lärm schlagen, und dann konnte lediglich ein glücklicher Zufall den Verbrecher retten. Einen charakteristischen Beweis für die seltsamen Widersprüche im Charakter dieses Schurken bildet der Umstand, daß er, der so oft mit raffinierter Schlauheit zu Werke ging, andererseits aber auch wieder die selbstverständlichsten Vorsichtsmaßregeln außer acht ließ, jetzt inmitten seiner Opfer in dem kleinen, blutüberströmten Zimmer wahrscheinlich gar nicht wußte, ob ein Ausgang existierte, durch den er sicher und unbehelligt das Haus verlassen konnte. Auch hatte er keine Ahnung, worauf die Fenster der Hinterfront hinausgingen, und außerdem ließ sich wohl annehmen, daß in einer so gefährlichen Gegend die Fenster des unteren Stockwerkes vergittert waren. Ein Sprung aus den oberen bedeutete bei der Höhe ein gewagtes Unternehmen; es galt folglich, sich mit dem Probieren der Schlüssel und dem Heben der verborgenen Schätze möglichst zu beeilen.
Diese intensive Verfolgung des einen Ziels machte den Mörder blind und taub für seine Umgebung, so daß er die schweren Atemzüge des jungen Mannes, die diesem selbst furchtbar im Ohre dröhnten, überhörte. Wieder und wieder durchwühlte der Mörder Mrs. Williamsons Taschen und zog mehrere Schlüsselbunde daraus hervor, – deren eines mit hartem, klirrendem Laut zu Boden fiel.
Bei dieser Gelegenheit bemerkte der heimliche Zeuge auf seinem verborgenen Lauscherposten, daß Williams' Mantel mit schwerer Seide gefüttert war, und noch etwas anderes fiel ihm auf, das sich als viel bedeutsamer erwies als alle übrigen von ihm beobachteten Umstände: die anscheinend neuen, vermutlich von dem Gelde des armen Marr gekauften Schuhe des Verbrechers knarrten beim Gehen, und als er sich mit den Schlüsseln wieder in den hinter der Tür liegenden Teil des Zimmers zurückzog, ersah der Reisende hierin eine Rettungsmöglichkeit. Einige Minuten würden sicher beim Probieren der Schlüssel und Durchsuchen der Fächer oder bei dem gewaltsamen Aufbrechen der Schränke und Schubladen vergehen. Der Lauscher konnte also mit einer kurzen Zeitspanne rechnen, während der das Schlüsselrasseln das Krachen der Stufen unter seinen hinaufschleichenden Füßen übertönte. Sein Plan war gefaßt.
Als er sein Zimmer erreicht hatte, rückte er zunächst das Bett vor die Tür, um den Feind, wenn auch nur vorübergehend, aufzuhalten und im gegebenen Moment ein Warnungssignal zu empfangen, so daß er schlimmstenfalls in einem verzweifelten Sprung aus dem Fenster Rettung suchen konnte. Nachdem er so geräuschlos wie möglich die Tür verbarrikadiert, riß er seine Bettlaken, Kissenbezüge und Decken in breite Streifen, flocht sie zu Seilen zusammen und knüpfte die verschiedenen Längen aneinander. Dann aber kam ihm ein schwerwiegendes Bedenken. Wo sollte er einen Haken, eine Querstange oder irgendeine andere Befestigung herbekommen, an der er sein Seil sicher anknüpfen konnte? Von dem Fensterbrett, d. h. von der niedrigsten Stelle des Fensterbalkens aus gemessen, betrug die Entfernung bis zum Erdboden zirka zwei- bis dreiundzwanzig Fuß, wovon etwa zehn oder zwölf Fuß abgingen, weil man sich von jener Höhe gefahrlos fallen lassen konnte. Es blieb also ein ungefähr zwölf Fuß langes Seil herzustellen. Doch Unglücklicherweise gab es am Fenster keinerlei eisernes Befestigungsmittel. Die nächste oder vielmehr die einzige derartige Vorrichtung bestand in einem Pflock, der anscheinend zwecklos im Bettpfosten steckte. Da das Bett jedoch vom Fenster abgerückt war, so befand sich der Pflock noch um drei Fuß weiter als sonst, im ganzen also sieben Fuß vom Fenster entfernt. Sieben ganze Fuß mußten noch zu dem ursprünglichen Maß hinzugefügt werden.
Nur Mut! In den Sprichwörtern aller Völker der Christenheit hilft Gott dem, der sich selbst hilft. Dessen war unser junger Freund sich dankbar bewußt, denn in dem Vorhandensein eines Pflocks an einer Stelle, wo er bisher zwecklos war, erkannte der in Lebensgefahr Schwebende das Walten der Vorsehung. Wäre es nur um das eigene Ich gegangen, so hätte er sein Werk wohl kaum für besonders verdienstlich gehalten, doch seine Gedanken weilten bei dem armen Kinde, das ihm ans Herz gewachsen war und dem jede Minute der Verzögerung Verderben bringen konnte. Als er vorhin an der Tür der Kleinen vorübergegangen, war sein erster Gedanke gewesen, sie aus dem Bette zu reißen und in sein Zimmer zu tragen, wo sie sein Schicksal mit ihm teilen mochte. Doch bei näherer Überlegung sagte er sich, daß er ihr für sein Verhalten keine Erklärung geben und sie daher vor Schreck leicht aufschreien konnte, was ihnen beiden verhängnisvoll werden mußte. Wie die zu Häupten des Bergsteigers drohende Lawine, oft nur von einem Flüstern, einem Hauch erschüttert, herabstürzt, so konnte selbst ein kaum vernehmbarer Laut die Mordwut des Mannes dort unten aufs neue entfesseln.
Nein, zur Rettung des Kindes ging der Weg nur über seine eigene Befreiung. Der erste Schritt bildete einen verheißungsvollen Anfang: denn seine Befürchtung, daß der Pflock in dem halbverrotteten Holz dem Zuge nachgeben würde, bestätigte sich nicht: er hielt fest, selbst als das volle Körpergewicht des Reisenden daran hing. In fliegender Eile befestigte der junge Mann am Pflock drei Längen seines Seils, die ungefähr elf Fuß maßen. Er flocht sie möglichst locker, so daß nur drei Fuß verloren gingen, fügte ein neues, gleich langes Ende hinzu und hatte nun schon sechzehn Fuß zur Verfügung, die er aus dem Fenster werfen konnte. Jetzt war ein tödlicher Ausgang des Sprunges, wenn man an dem Seil hinunterglitt, so weit es reichte, und sich dann fallen ließ, nicht mehr unbedingt zu befürchten. Ungefähr sechs Minuten dauerte schon der heiße Wettkampf zwischen oben und unten. In fliegender Hast arbeitete der Mörder unten im Wohnzimmer, in fiebernder Eile der Reisende oben in seinem Schlafgemach. Dem Schurken unten lächelte das Glück; ein Bündel Banknoten war ihm bereits in die Hände gefallen und einem zweiten spürte er gerade nach. Auch einen Haufen Goldmünzen hatte er aufgestöbert. Zwar existierten Sovereigns damals noch nicht, doch galten die Guineen, die ihm zur Beute gefallen, zu jener Zeit dreißig Schillinge. [Ein Schilling = eine Mark. Anm. des Übers.]Ueber den Fund sehr erfreut, ja beinahe vergnügt, würde der Mörder sogar, falls noch ein lebendes Wesen im Hause existiert, wovon er sich gleich überzeugen will, gern mit diesem ein Glas auf sein Wohl leeren, bevor er ihm den Hals abschneidet. Dem armen Geschöpf das Leben zu schenken, fiele ihm natürlich nicht im entferntesten ein. O nein! Das ginge auf keinen Fall! Hälse sind keine Dinge, die man verschenkt. Geschäft ist Geschäft, und in Geschäftssachen hört bekanntlich die Gemütlichkeit auf.
Lediglich als Geschäftsleute betrachtet, sind die beiden Männer fraglos gleich tüchtig. Wie Chor und Halbchor, Strophe und Antistrophe wirken sie gegen einander. Der Reisende zieht hierhin, der Mörder dorthin.
Was den ersteren anlangt, so ist er jetzt in Sicherheit, denn das Rettungsseil, von dessen Länge allerdings sieben Fuß durch die Entfernung des Bettes vom Fenster in Abzug gebracht werden müssen, ist um weitere sechs Fuß gewachsen, so daß nur noch etwa zehn Fuß bis zum Erdboden fehlen dürften – als Sprung eine Kleinigkeit, die selbst ein Knabe riskieren könnte.
Dem Mörder dagegen hat seine kühle Auffassung der Sachlage zum ersten mal in seinem Leben trotz aller Geschicklichkeit einen Streich gespielt. Der Leser und ich – wir wissen eine immerhin ziemlich wichtige Tatsache, von der jener nicht die leiseste Ahnung hat, nämlich, daß jemand ihn volle drei Minuten lang, wenn auch in tödlicher Angst, aufs allergenaueste beobachtete und über die knarrenden Schuhe sowie den seidengefütterten Mantel an einer Stelle Bericht erstatten wird, wo dem Mörder diese kleinen Eigentümlichkeiten nicht gerade zum Vorteil ausgelegt werden könnten. Obwohl nun Mr. Williams von dem stillen Zuschauer bei Mrs. Williamsons Taschenvisitation nichts wußte und ihm daher auch das Seilergewerbe, das jener daraufhin ergriffen, keinerlei Besorgnisse einflößen konnte, so hatte er doch genug der schwerstwiegenden Gründe, sich nicht unnötig aufzuhalten. Trotzdem zögerte er, wie die Polizei später aus allerlei Anzeichen entnehmen konnte, immer noch, das Haus zu verlassen. Was ihn dazu bewog, bekräftigt die Annahme, daß bei ihm der Mord nicht allein Mittel zum Zweck, sondern auch Selbstzweck war.
In den fünfzehn bis zwanzig Minuten, die Mr. Williams nun auf dem Plan war, hatte er, sogar für seine eigenen hohen Ansprüche, Beträchtliches geleistet, sozusagen »ein glänzendes Geschäft« gemacht. In zwei Stockwerken, nämlich dem Keller und dem Erdgeschoß, hatte er mit den Einwohnern »geräumt«. Doch es blieben wenigstens noch zwei Stockwerke übrig, in denen Williams trotz seiner Unkenntnis der Familienverhältnisse seines in diesen Dingen ihm gegenüber sehr zugeknöpften Wirtes noch einige Hälse vermutete. Den Raub hatte er so restlos eingesackt, daß eine etwaige Nachlese auch nicht mehr das Geringste ergeben hätte. Aber die Hälse – die Hälse – da eröffneten sich seinem Tatendurst vielleicht noch Aussichten.
Bei diesem Gedanken setzte Mr. Williams, blutgierig wie ein Raubtier, die ganzen Früchte seiner nächtlichen Arbeit und sein Leben dazu aufs Spiel. Hätte der Mörder in diesem Augenblick das offene Fenster oben gesehen, in dem der Reisende sich eben zum Abstieg anschickte, hätte er die Schnelligkeit beobachtet, mit der jener auf Leben und Tod gearbeitet, und die furchtbare Erregung vorausgeahnt, die sich binnen neunzig Sekunden der Einwohnerschaft dieses stark bevölkerten Stadtteils bemächtigen würde, er wäre wie ein Wahnsinniger, dem die Verfolger auf den Fersen sind, nach der Haustür gestürzt. Dieser Ausweg war bis jetzt noch frei, und mit seiner über hundert Pfund [Über zweitausend Mark.] betragenden Beute in der Tasche hätte er in klug gewählter Verkleidung den Roman seines abscheulichen Lebens weiterspinnen können. Freilich wäre dazu unbedingt erforderlich gewesen, daß er noch in dieser selben Nacht seine Augenbrauen geschwärzt, sein gelbes Haar abrasiert und in der Morgenfrühe durch eine dunkle Perücke ersetzt hätte, die ihm im Verein mit einem unauffällig schlichten Anzug das Aussehen eines biederen Bürgers verliehen und den Argwohn zu dringlicher Polizeibeamten zerstreut haben würde. So wäre es ihm möglich gewesen, sich auf irgendeinem Fahrzeug nach einem beliebigen Hafen der 2400 englische Meilen langen Küste Amerikas einzuschiffen und dort noch fünfzig Jahre lang mit Muße seiner Reue zu leben, ja, sogar im Gerüche der Heiligkeit zu sterben. Hätte er es dagegen vorgezogen, sich im öffentlichen Leben zu betätigen, so wäre es bei seiner Schlauheit, Kühnheit und Gewissenlosigkeit in einem Lande, das den Fremden durch den einfachen Akt der Naturalisation umgehend in den Schoß der Familie aufnimmt, für Williams nicht ausgeschlossen gewesen, den Präsidentensitz zu erwerben, worauf man ihm nach seinem Tode ein Denkmal errichtet und eine dreibändige Biographie von ihm herausgegeben hätte, in der freilich nicht die leiseste Anspielung auf Ratcliffe Highway Nr. 29 zu finden gewesen wäre.
Die Entscheidung über dieses verlockende Zukunftsbild hing von den nächsten neunzig Sekunden ab, in denen es für Williams darauf ankam, den richtigen Weg einzuschlagen. Zeigte ihm sein Schutzengel jetzt den rechten Pfad, so konnte für sein irdisches Heil noch alles gut ausgehen. Doch gebt acht! Binnen zwei Minuten werden wir ihn den falschen Weg einschlagen und damit ins Verderben rennen sehen. Schon schwebt der rächende Arm der Nemesis über ihm.
Wenn auch der Mörder noch saumselig zögert, der Seiler über ihm zaudert nicht, da er nur zu gut weiß, daß des armen Kindes Geschick auf des Messers Schneide steht. Es kommt alles darauf an, Lärm zu schlagen, ehe der Mörder an das Bett der Kleinen tritt.
Und in demselben Augenblick, während die bebenden Finger kaum noch ihr Werk vollbringen können, hört er den Mörder leisen Schritts die Treppe heraufschleichen. Nach dem geräuschvollen Zuschlagen der Haustür hatte der Reisende erwartet, daß Williams in freudigen Sätzen, ein Tigergebrüll ausstoßend, die Treppe heraufspringen würde; vielleicht hätte dies auch seiner natürlichen Veranlagung und Sinnesart mehr entsprochen. Doch jene bei einem plötzlichen Überfall höchst wirksame Methode der Annäherung mußte gefährlich werden, wenn die Leute inzwischen gewarnt und auf ihrer Hut waren.
Der Schritt erklang auf der Treppe, doch es fragt sich, auf welcher Stufe? Er nahm an, auf der untersten, was bei einer so leisen und behutsamen Vorwärtsbewegung schon etwas ausmachte. Doch konnte es nicht ebenso gut die zehnte, zwölfte, vierzehnte Stufe sein? Noch nie vielleicht hatte ein Mensch die Last einer schweren Verantwortung so intensiv gefühlt, wie der Reisende sie in jenem Augenblick für das arme Kind empfand. Vergeudete er auch nur zwei Sekunden durch Ungeschicklichkeit oder angstvolles Lauschen und Zögern, so konnte diese geringe Zeitspanne bei dem Kinde schon über Leben oder Tod entscheiden. Doch noch ist nicht alle Hoffnung verloren, und das, worauf dieser letzte Hoffnungsstrahl sich gründet, spricht mit furchtbarster Deutlichkeit für die teuflische Gesinnung des Feindes, dessen finsterer Schatten, im astrologischen Sinne gesprochen, das Haus des Lebens verdunkelte. Der Reisende war der Überzeugung, daß der Mörder sich nicht damit begnügen würde, das Kind im Schlafe umzubringen. Für einen Mord-Epikureer, wie Williams, wäre dann der eigentliche Zweck verfehlt, die ganze Sache ihres Reizes beraubt, wenn das arme Kind den bitteren Kelch des Todes leeren sollte, ohne vorher zum Bewußtsein seiner entsetzlichen Lage zu kommen. Zum Glück würde jedoch deren Erklärung Zeit beanspruchen. Außerdem mußte der Schreck, zu so ungewöhnlicher Stunde aus dem Schlaf gerüttelt zu werden, und das Entsetzen beim Begreifen der Veranlassung bei der Kleinen eine Ohnmacht oder doch mindestens eine Art Geistesabwesenheit hervorrufen, die einige Zeit anhalten würde. Kurz, diese Logik rechnete mit einem Übermaß von Schlechtigkeit auf seiten des Mörders. Hätte man von ihm voraussetzen können, daß er sich mit der bloßen Ermordung des Kindes ohne künstliche Verlängerung seiner Seelenqualen begnügen würde, so wäre der Fall hoffnungslos gewesen. Doch da unser Mörder in der Ausführung seiner Taten übertrieben peinlich war – eine Art Martinet in szenischer Gruppierung seiner Morde –, und da solche Vorbereitungen und Finessen Zeit erfordern, so ließ sich noch mit einiger Berechtigung hoffen. Bei einem von der Notwendigkeit diktierten Morde war die größte Schnelligkeit geboten, bei einem reinen Lustmorde jedoch, wo kein feindlicher Augenzeuge zu beseitigen, noch Beute zu gewinnen oder Rachegelüste zu kühlen waren, mußte Überstürzung alles verderben. Wurde das Kind also gerettet, so verdankte es sein Leben nur ästhetischen Gründen. Möge der Leser, falls er geneigt sein sollte, die Williams beigemessene Bösartigkeit für übertrieben oder romantisch zu hatten, bedenken, daß der Verbrecher außer dem Zweck wollüstigen Schwelgens in der verzweifelten Todesangst seines Opfers sonst überhaupt keine Gründe für den beabsichtigten Mord der Kleinen hatte. Sie schlief fest hinter geschlossener Tür, hatte weder etwas gesehen, noch gehört, so daß sie ebenso wenig gegen ihn zeugen konnte, wie die drei Leichen. Und dennoch war er im Begriff, sie zu ermorden, als der Lärm auf der Straße ihn davon abhielt.
Doch alle derartigen Erwägungen werden kurzerhand abgeschnitten. Ein zweiter, ein dritter vorsichtiger Schritt auf der Treppe wird hörbar – und des Kindes Schicksal scheint besiegelt. Doch schon hat sich der Reisende aus dem weitgeöffneten Fenster hinausgeschwungen und seinen Abstieg begonnen. Infolge seines Körpergewichts gleitet er schnell hinab, während er mit den Händen die Schnelligkeit zu hemmen sucht, wobei die verschiedenen Knoten ihm gute Dienste leisten. Unglücklicherweise erwies sich das Seil als vier bis fünf Fuß zu kurz, und der Flüchtling baumelte ungefähr elf Fuß über dem Erdboden in der Luft. Vor Erregung versagte ihm die Stimme, und aus Furcht, sich die Beine zu brechen, wagte er nicht, sich auf das holprige Steinpflaster fallen zu lassen. Obwohl die Nacht nicht so dunkel war, wie beim Morde der Marrs, so konnte sie für die Kriminalpolizei nicht günstiger sein als die schwärzeste Finsternis, die je einem Mörder in ihren schützenden Mantel hüllte und seine Verfolgung vereitelte. Ganz London war nämlich mit dem berüchtigten dichten, aus dem Flusse aufsteigenden Nebel bedeckt. So wurde der in der Luft Schwebende wohl eine halbe Minute lang gar nicht bemerkt, bis sein weißes Hemd die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Drei oder vier Leute, die sofort ahnten, daß er ihnen Schreckliches mitzuteilen hätte, fingen ihn auf. Doch wo gehörte er hin? Selbst das Haus war im Nebel nicht deutlich erkennbar; aber er wies mit dem Finger auf Williamsons Tür und keuchte in halb ersticktem Ton: »Da drinnen ist Marrs Mörder bei der Arbeit!«
Alles übrige erklärte sich von selbst durch den beredten Mund der Tatsache. Der geheimnisvolle Vernichter von Ratcliffe Highway Nr. 29 hatte ein anderes Haus heimgesucht, und – man denke! – nur ein einziger Mensch war im Nachtgewande durch die Luft entkommen, um das Entsetzliche zu verkünden. Wohl mochte abergläubische Furcht vielleicht davor zurückschrecken, die Verfolgung des rätselhaften Verbrechers aufzunehmen, allein im Interesse der Moral und der rächenden Justiz war es unbedingt geboten, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, zu beschleunigen und energisch durchzuführen.
Ja, der Mörder Marrs, der große Unbekannte, war wieder am Werk und blies vielleicht in diesem selben Augenblick jemand das Lebenslicht aus, und das nicht etwa in irgendeinem abgelegenen Winkel, sondern in dem nämlichen Hause, an dessen Schwelle man soeben diese grausige Nachricht vernahm. Die wilde Erregung und der ungeheure Tumult der nun folgenden Szene läßt sich nach den spaltenlangen Zeitungsberichten jener Tage nur noch mit einem einzigen Ereignis vergleichen, nämlich mit der Freisprechung der sieben Bischöfe zu Westminster im Jahre 1688; allerdings mit dem Unterschiede, daß jetzt nicht jubelnde Begeisterung, sondern glühender Rachedurst sich Luft machte. Der unersättliche Schrei nach Vergeltung, der sich anfänglich nur in der betreffenden Straße selbst, dann aber – wie durch ein magnetisches Fluidum fortgepflanzt – auch in den angrenzenden Straßen erhob, wird am anschaulichsten durch Shelleys dythirambische Verse wiedergegeben:
»Ein Freudentaumel rast durch das Gewimmel,
Reißt mit sich fort die angstbefreiten Massen:
Und selbst, wo – teilnahmlos in dem Getümmel –
Ein Sterbender verschmachtet auf den Gassen,
Von jeder Hoffnung, jedem Trost verlassen,
Vermag sein Ohr jetzt doch, als letzten Klang
Die frohe Rettungsbotschaft noch zu fassen,
Die weiter eilend, Straß' um Straß' entlang,
In jeder Brust ein jauchzend Echo weckt.«
Shelleys:
»The revolt of the Islam« 12. Gesang.
Ja, es war in der Tat etwas Seltsames um jenen einstimmigen Racheschrei gegen den furchtbaren Dämon, der zwölf Tage lang die gesamte Bevölkerung geängstigt und in Atem gehalten hatte. Wie auf Kommando öffneten sich in allen Häusern Fenster und Türen; einzelnen Ungeduldigen dauerte der normale Weg über die Treppen zu lange, und sie sprangen daher kurzerhand aus den Fenstern der niedrigeren Stockwerke auf die Straße. Kranke erhoben sich von ihrem Schmerzenlager, ja, ein Sterbender sogar, dessen Ableben man stündlich erwartete, und der auch tatsächlich am nächsten Tage das Zeitliche segnete, stand auf, wie Shelleys Verse es in den Strophen 4-7 schildern, bewaffnete sich mit einem Degen und wankte im Hemd auf die Straße. War doch jetzt die beste Gelegenheit, den Bluthund gerade bei seinen mörderischen Schwelgereien zu überfallen und zu fangen. Wie ein Rausch kam das Bewußtsein ihrer Macht über die leidenschaftlich erregte Menge, gleichzeitig aber regte sich in den besonnenen Elementen ein instinktives Verlangen nach energischem, planmäßigem Vorgehen. Da im Innern des Mordhauses außer dem kleinen Mädchen kein lebendes Wesen mehr weilte, mußte die schwere Haustür gewaltsam geöffnet werden, was mit Hilfe von Brecheisen in kurzer Zeit geschah. Gleich einem brausenden Strom ergoß sich die Menge in das verödete Haus und gehorchte nur unwillig dem beschwichtigenden Wink eines angesehenen Mannes, der ihr Schweigen gebot. »Still,« warnte er, »damit wir hören können, ob wir ihn oben oder unten zu suchen haben.«
Das Klirren einer Fensterscheibe im Obergeschoß bewies der lauschenden Menge, daß der Mörder sich noch im Hause befinden müsse und zwar in einem der oberen Schlafzimmer; augenscheinlich nur ungenügend bekannt mit den Räumlichkeiten des Williamsonschen Hauses, schien er nun irgendwo in die Enge geraten zu sein und keinen Ausweg zu finden. In rasender Wut stürmte die Menge jetzt treppauf, allein die Tür, die den Verbrecher schützte, war fest verschlossen, und noch ehe man sie eingedrückt hatte, verkündete drinnen ein lautes Klirren und Splittern, daß der Elende glücklich entkommen sei.
In der ersten Hitze sprangen ein paar Verfolger ihm durch das zertrümmerte Fenster nach und fanden sich unten auf einem sehr nassen und abschüssigen Lehmdamm wieder. Tief hatten die Fußspuren des fliehenden Mörders sich in den feuchten, zähen Lehmboden gedrückt und konnten bei Fackelbeleuchtung mühelos bis auf den Grat des Abhanges verfolgt werden; von weiterem Nachsetzen aber mußte man des dichten Nebels wegen Abstand nehmen, denn schon auf zwei Fuß Entfernung vermochte man keinen Menschen mehr zu unterscheiden, geschweige denn wiederzuerkennen, wenn man ihn einmal aus dem Gesicht verloren. So begünstigte das Geschick den Mörder in einer Weise, wie es vielleicht nur alle hundert Jahre einmal der Fall sein dürfte. Außerdem konnte der Flüchtling sich durch allerlei Verkleidungen unkenntlich machen, und an Schlupfwinkeln in der Nähe des Flusses, die ihn auf Jahre hinaus vor unliebsamen Nachforschungen schützten, war kein Mangel.
Doch dem Leichtsinnigen und Undankbaren wirft das Glück umsonst seine Gaben in den Schoß. In dieser Nacht, die für ihn zur Schicksalswende wurde, wählte Williams von allen ihm offen stehenden Wegen den allerverkehrtesten, in dem er sich in unbegreiflicher Sorglosigkeit in seine alte Wohnung begab, die er von allen Zufluchtsstätten in ganz England gerade am sorgfältigsten hätte meiden müssen.
Unterdessen hatte die racheschnaubende Volksmenge das ganze Williamsonsche Grundstück abgesucht. Die erste Nachforschung galt der kleinen Enkelin, deren Zimmer Williams ebenfalls gesucht und gefunden hatte, in dem er aber augenscheinlich durch den plötzlichen Aufruhr auf der Straße überrascht worden war. Von diesem Zeitpunkt hatte seine ungeteilte Aufmerksamkeit sich nur auf die Fenster gerichtet, da ihm diese ganz allein noch die Möglichkeit des Entkommens boten. Und_ selbst diese Möglichkeit verdankt er nur dem Nebel und der Unzugänglichkeit des Grundstückes von der Hinterfront her. Das kleine Mädchen war durch den Anblick so vieler fremder Leute zu dieser ungewöhnlichen Stunde natürlich aufs heftigste erschrocken, wurde aber durch die verständigen Maßnahmen mitleidiger Nachbarn vor dem Anblick all des Entsetzlichen bewahrt, das sich während seines Schlafes zugetragen hatte. Nach dem armen, alten Großvater der Kleinen suchte man noch immer, bis er endlich lang ausgestreckt im Keller gefunden wurde. Augenscheinlich war er von Williams die Kellertreppe hinuntergestoßen worden und zwar mit so brutaler Gewalt, daß der Aermste dabei ein Bein gebrochen hatte. Nachdem das Opfer auf diese Weise unschädlich gemacht worden war, hatte der Mörder ihm die Kehle abgeschnitten.
Beim Erörtern und Vergleichen all dieser Umstände wurde in den Zeitungsausgaben jener Tage viel darüber gesprochen, ob wirklich nur ein einzelner als Täter in Betracht käme. Alle Anzeichen wiesen darauf hin. Nur ein Verdächtiger war im Falle Marr beobachtet worden; nur eine und zweifellos dieselbe Persönlichkeit hatte der junge Reisende im Williamsonschen Gastzimmer gesehen, und nur von einer Person rührten die Fußspuren auf dem Lehmabhang her. Allem Anschein nach hatte die Untat sich in folgender Weise abgespielt: Der Mörder betrat das Gastzimmer und bestellte Bier, worauf der alte Mann in den Keller ging, um das Verlangte heraufzuholen. Diesen Augenblick hatte Williams nur abgewartet, um in der oben geschilderten Weise mit großem Krach die Haustür ins Schloß zu werfen und zu verriegeln. Wie er erwartet hatte, kam Williamson bei diesem Lärm natürlich sofort in großer Erregung herauf; der Mörder ging ihm entgegen, traf ihn augenscheinlich an der Kellertreppe und stieß ihn hinunter, worauf er sein Opfer in der üblichen Weise abschlachtete. Der ganze Vorgang mochte kaum anderthalb Minuten gedauert haben, denn so viel Zeit ungefähr verfloß zwischen jenem von dem Reisenden beobachteten Zuschlagen der Haustür bis zu dem gleich darauf folgenden entsetzten Aufschrei des Dienstmädchens. Daß sich Mrs. Williamsons Lippen nicht gleichfalls ein Schrei entrang, hat seinen Grund hauptsächlich in der Schwerhörigkeit der alten Dame. Unbemerkt konnte der Mörder hinter sie treten und sie bewußtlos zu Boden strecken, ehe sie seiner gewahr wurde. Bei der Magd hatte er diesen Vorteil allerdings nicht; sie war Zeugin seines Angriffs auf ihre Herrin und stieß in ihrer Todesangst jenen furchtbaren Schrei aus, der draußen gehört wurde. –
Schon vorhin erwähnte ich, daß der Mörder des Hauses Marr fast vierzehn Tage lang völlig unbehelligt und unverdächtig blieb, d. h. es wurde vor dem Williamsonschen Morde kein Verdachtsmoment gefunden, das die Polizei oder das Publikum auf seine Spur geführt hätte. Und doch waren zwei solcher Momente vorhanden. In der Hand des Kriminalbeamten befand sich ein Gegenstand, der bei sorgfältiger Untersuchung sehr wohl einen Anhaltspunkt für die Verfolgung des Mörders geboten hätte, aber – diese sorgfältige Untersuchung hatte noch immer nicht stattgefunden. Bis zum Freitag nach der Ermordung der Williamsons war die wichtige Tatsache, daß auf dem Zimmermannshammer, den der Mörder zur Betäubung seiner Opfer benutzt hatte, die Buchstaben » J. P.« standen, noch nicht bekannt gemacht worden. Diesen Hammer hatte der Mörder in unbegreiflicher Vergeßlichkeit im Marrschen Hause liegen gelassen; der brave Pfandleiher hätte also den Schurken – falls er ihm wirklich noch begegnet wäre – voraussichtlich waffenlos angetroffen. Am Freitag, dem dreizehnten Tage nach dem ersten Morde, bequemte man sich endlich dazu, diese wichtige Tatsache zu veröffentlichen und erzielte damit sofort einen überraschenden Erfolg.
In der Stille eines einzigen Schlafzimmers von ganz London hatte sich nämlich vom ersten Augenblicke seit der Marrschen Tragödie gegen Williams ein geheimer Verdacht geregt, den seine eigene Torheit heraufbeschworen. Der Mörder bewohnte mit mehreren anderen Schlafgenossen verschiedener Nationalität ein gemeinsames, großes Zimmer in einem Wirtshause. Die fünf oder sechs Betten, die hier standen, waren von größtenteils anständigen und ehrenwerten Handwerkern besetzt, und zwar von ein oder zwei Engländern und Schotten, ein paar Deutschen und Williams, dessen Herkunft nicht genau bekannt war. Als an jenem verhängnisvollen Sonnabend der Mörder gegen halb zwei Uhr nachts von seiner Blutarbeit heimkehrte, fand er die Engländer und Schotten bereits schlafend, die Deutschen dagegen noch wach. Einer von ihnen saß mit einer brennenden Kerze in der Hand aufrecht im Bette und las den beiden anderen etwas vor. Sofort befahl Williams in unwilligem, gebieterischem Tone: »Löscht augenblicklich das Licht aus! Sollen wir etwa alle in unseren Betten verbrennen?« Wäre er den Engländern gegenüber in dieser Weise aufgetreten, so hätten sie ihm für seine Anmaßung sicher gehörig Bescheid gesagt; Deutsche aber sind im allgemeinen friedfertig und nachgiebig und willfahrten ihm daher auf der Stelle. Insgeheim natürlich wunderten sie sich, worin denn eigentlich die Gefahr bestehen sollte, da die Fenster keine Vorhänge hatten und übereinander geschichtete Bettücher genau so schlecht Feuer fangen wie die Blätter eines geschlossenen Buches. Infolgedessen drängte sich ihnen unabweisbar die Vermutung auf, Mr. Williams müsse an diesem Abend wohl begründete Ursache haben, das Licht zu scheuen, und als am nächsten Morgen die Kunde von den Vorgängen der Nacht natürlich auch in dieses, kaum eine Viertelstunde von dem Marrschen Laden entfernte Haus drang, da wuchs jene Vermutung sich zu einem schrecklichen Verdacht aus, der auch den anderen Zimmergenossen mitgeteilt wurde. Freilich waren sich alle der Gefahr bewußt, die nach englischem Recht jeder Ankläger läuft, der seine Anschuldigungen nur auf einen unbestimmten Verdacht und nicht auf vollgültige Beweise zu stützen vermag. Und diese Beweise hätte Williams mit größter Leichtigkeit aus der Welt schaffen können, wenn er nach vollbrachter Tat die paar Schritte bis zum Themseufer hinuntergegangen wäre, um die beiden Mordinstrumente ins Wasser zu werfen. Bei Beobachtung dieser eigentlich ganz selbstverständlichen Vorsicht hätte auch nicht der Schatten eines Beweises gegen ihn erbracht werden können, und es wäre ihm ein leichtes gewesen, sich nach dem Muster Courvoisiers (des Mörders von Lord William Russell) jeden Monat durch einen neuen, wohlüberlegten Mord neue Subsistenzmittel zu verschaffen. Wie schon erwähnt, waren also die Bewohner jenes Schlafsaals von seiner Schuld vollkommen überzeugt und warteten nur auf die Gelegenheit, auch andere davon zu überzeugen. Kaum war nun die wichtige Kunde von den Anfangsbuchstaben auf dem Zimmermannshammer in die Öffentlichkeit gedrungen, so erinnerten Williams Schlafgenossen sich sofort, daß ein rechtschaffener norwegischer Schiffszimmermann, John Petersen mit Namen, der in demselben Gasthause wohnte, augenblicklich aber auf einer Besuchsreise in seiner Heimat weilte, den Kasten mit seinem Arbeitsgerät bis zu seiner Rückkehr auf dem Dachboden des Wirtshauses verwahrt hatte. Sogleich wurde der Boden durchsucht, der Werkzeugkasten gefunden, der Hammer jedoch vermißt; und zu diesem einen schwerwiegenden Verdachtsmoment gesellte sich bald darauf noch ein anderes, nicht minder belastendes. Die ärztliche Leichenschau der Ermordeten hatte nämlich ergeben, daß der Mörder seinen Opfern nicht mit einem gewöhnlichen Rasiermesser die Kehle durchschnitten hatte, sondern mit einem ganz anders gestalteten Instrument, und man besann sich, bei Williams vor kurzer Zeit ein geliehenes, höchst eigenartig geformtes, französisches Messer gesehen zu haben. Bei weiterem Suchen entdeckte man in einem Haufen alter Lumpen eine Weste, die das ganze Gasthaus auf der Stelle als Williams' Eigentum erkannte, und in der Tasche dieser Weste fand sich, zwischen Oberstoff und Futter versteckt, das bewußte Messer. Ferner war jedem der Hausgenossen bekannt, daß Williams zurzeit ein Paar knarrende Schuhe und einen mit Seide gefütterten Überzieher trug. Weiterer Beweise bedurfte es kaum, und so wurde der Mörder noch an demselben Tage, einem Freitag, verhaftet und einem kurzen Verhör unterworfen.
Am folgenden Morgen, vierzehn Tage nach dem ersten Morde, wurde er von neuem dem Untersuchungsrichter vorgeführt, doch vermochte das gegen ihn vorgebrachte, erdrückende Beweismaterial ihn nicht aus seiner vorsichtig abwartenden Haltung herauszulocken. Natürlich wurde er trotzdem in Haft behalten, um bei der nächsten Schwurgerichtsperiode überführt und verurteilt zu werden. Bei seinem Transport in das Untersuchungsgefängnis wäre er – wie man sich wohl denken kann – sicherlich der Volkswut zum Opfer gefallen, wenn man nicht durch ein starkes Polizeiaufgebot dafür gesorgt hätte, daß er heil und unversehrt den Kerker erreichte. In jenem Gefängnis herrschte damals die Bestimmung, daß die Gefangenen der Kriminalabteilung schon um fünf Uhr nachmittags ohne Licht in ihre Zellen eingeschlossen wurden. Vierzehn Stunden also, nämlich bis sieben Uhr früh, blieben sie dort in völliger Dunkelheit sich selbst überlassen – Zeit genug für Williams, um Selbstmord zu begehen. Großen Spielraum in der Wahl der Mittel hatte er freilich nicht, und so erhängte er sich, wahrscheinlich gegen Mitternacht, mit seinen Hosenträgern an einer Eisenstange, die allem Anschein nach zum Anbringen einer Lampe bestimmt war. Fast zu derselben Stunde also, in der er vor vierzehn Tagen die unglückliche Familie Marr hingeschlachtet, mußte er nun selbst den bitteren Todeskelch leeren, den seine eigene, verruchte Hand ihm bot.
*
Auch der Fall M'Keans, auf den ich weiter oben besonders hinwies, verdient es seiner düster malerischen Begleitumstände halber wohl, daß man sich seiner wieder einmal genauer erinnert. Der Schauplatz dieses Mordes war ein ländliches Wirtshaus, wenn ich mich recht entsinne, in der Gegend von Manchester. Gewöhnlich pflegen derartige Lokale an besuchten und belebten Plätzen zu liegen, da sie sich sonst kaum rentieren würden. In jenem Falle lag das Haus jedoch ziemlich einsam, ja, sogar außer Rufweite, so daß bei einem Verbrechen jedes Dazwischentreten hilfreicher Nachbarn so gut wie ausgeschlossen war. Andererseits aber war die weitere Umgebung des Gasthauses dicht bevölkert, daher hielt ein Wohltätigkeitsverein seine gewöhnlichen Zusammenkünfte hier ab und ließ den klingenden Erfolg seiner Sammlungen unter der Obhut des Wirtes im Vereinszimmer zurück. Erst wenn die Summe sich ungefähr auf fünfzig bis siebzig Pfund belief, wurde sie einer Bank übergeben; es lohnte sich also schon, in dem genannten Wirtshause einmal einen Einbruch zu riskieren, bei dem man ja so gut wie keine Gefahr lief.
Diese günstigen Umstände waren durch Zufall einem der beiden M'Keans zu Ohren gekommen und zwar unglücklicherweise gerade zu einer Zeit, wo beide sich in schwerer Bedrängnis befanden. Sie waren bis jetzt ehrsame Hausierer gewesen, hatten aber durch irgendeinen kaufmännischen Umschwung ihr gemeinsames Betriebskapital bis auf den letzten Heller verloren. Dieses unverdiente Mißgeschick brachte sie an den Rand der Verzweiflung, und da sie den Verlust ihres Vermögens einer großen sozialen Katastrophe zuzuschreiben hatten, so machten sie auch die Gesellschaft für diesen Verlust haftbar. Daher erschien ihnen der geplante Raub nur als ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit, denn das Geld, das sie sich aneignen wollten, war ja in gewissem Sinne öffentliches Eigentum, weil es das Ergebnis verschiedener Sammlungen und Subskriptionen bildete. Bei diesem fein ausgeklügelten System übersahen die beiden Spießgesellen jedoch, daß sie für die Mordtaten, mit denen sie ihre räuberische Eigenhilfe einzuleiten gedachten, keine so spitzfindigen Entschuldigungsgründe geltend zu machen vermochten.
Da sie es nur mit einer einzigen, anscheinend hilflosen Familie zu tun hatten, verließen sich die jungen, rüstigen, im Alter von achtundzwanzig und zweiunddreißig Jahren stehenden Männer ausschließlich auf ihre Muskelkraft. Von untersetztem, gedrungenem Körperbau, breitschultrig und von stattlichem Brustumfang, boten sie in der vollendeten Symmetrie ihrer Knochen- und Gelenkfügung ein Bild so vollkommenen körperlichen Ebenmaßes, daß ihre Leichen nach erfolgter Hinrichtung in einer im Manchester Krankenhause veranstalteten Privatausstellung von den Ärzten als Wunder der Anatomie angestaunt wurden.
Die Bewohner des Wirtshauses bestanden aus vier Personen: erstens, dem Wirt, einem kräftigen Landmann, den die beiden Räuber jedoch durch einen in der Verbrecherwelt eben neu auftauchenden Trick unschädlich zu machen gedachten, nämlich durch Narkotisieren, indem sie die Getränke ihres Opfers heimlich mit Opiumtinktur vermischten; zweitens, der Frau des Wirtes; drittens, einem jungen Dienstmädchen; viertens, einem zwölf- bis vierzehnjährigen Knaben.
Für die Verbrecher war nun die Gefahr nicht ausgeschlossen, daß zum mindesten eine der vier Personen durch einen Nebenausgang des Hauses entkommen und – unterstützt durch ihre bessere Ortskenntnis – aus den zunächst liegenden Häusern Hilfe herbeiholen könnte. Die Räuber konnten daher ihren Plan nicht in allen Einzelheiten ausarbeiten, sondern mußten im gegebenen Moment so handeln, wie der Augenblick es gebot. Da sie jedoch vereinbart hatten, sich gegeneinander wie völlig Fremde zu benehmen und sich daher, ohne Verdacht zu erregen, in Gegenwart der Wirtsfamilie nicht miteinander verständigen konnten, so mußten sie ihren Plan wenigstens in großen Umrissen festlegen; sonst wäre der Erfolg vielleicht in Frage gestellt worden. Einen Mord hatten sie bestimmt in Rechnung gezogen, im übrigen aber wünschten sie jedes überflüssige Blutvergießen zu vermeiden.
Einzeln und zu verschiedenen Stunden stellten sie sich an dem verabredeten Tage in jenem Wirtshause ein, der eine um vier Uhr nachmittags, der andere erst um halb acht Uhr abends. Mit knapper Höflichkeit begrüßten sie einander und wechselten gelegentlich ein paar gleichgültige Worte, schienen aber beide zu einem eingehenderen Gespräch nicht aufgelegt. Mit dem Wirte jedoch, der gegen acht Uhr aus Manchester heimkehrte, ließ der eine der beiden Brüder sich in eine längere Unterhaltung ein, in deren Verlauf er ihn zu einem Glase Punsch einlud. Als der Wirt einen Augenblick das Zimmer verließ, setzte der Fremde dem Getränk rasch einen Löffel Opiumtinktur hinzu. Bald darauf schlug die Uhr zehn, und der ältere M'Kean verlangte, Müdigkeit vorschützend, in sein Schlafzimmer geführt zu werden, denn gleich nach seiner Ankunft hatte jeder der beiden Brüder ein Bett bestellt.
Sofort eilte das arme Dienstmädel herbei, um ihm mit einer Kerze die Treppe hinaufzuleuchten, denn der Wirt, bei dem die Wirkung des Betäubungsmittels sich bereits äußerte, hatte sich in ein neben der Gaststube liegendes Privatzimmer zurückgezogen, um sich dort ein wenig auf das Sofa zu legen. Zum Glück für seine eigene Sicherheit war er also augenblicklich vollkommen außer Gefecht gesetzt; die Wirtin bemühte sich um ihren Mann, und so blieb der jüngere M'Kean ganz allein im Gastzimmer. Leise schlich er sich an den Fuß der Treppe, um die etwa von oben Herunterflüchtenden aufzuhalten. Unterdessen hatte das Dienstmädchen den Gast in ein Zimmer mit zwei Betten geleitet, deren eins schon von einem Knaben besetzt war, während sich die beiden Fremden nach Belieben in das andere teilen mochten, wie sie sagte. Dann reichte sie dem Gast die Kerze, die er rasch auf den Tisch stellte, um dem Mädchen den Weg zu vertreten und die Arme um den Hals zu schlingen, als wollte er sie küssen. Da solche Annäherungsversuche aber allem Anschein nach nicht ihr Geschmack waren, so sträubte sie sich gegen seine Umarmung. Wer beschreibt jedoch ihr furchtbares Entsetzen, als sie die verräterische Hand, die sich soeben noch scheinbar zärtlich um ihren Nacken gelegt hatte, nun mit einem Rasiermesser bewaffnet sah, das ihr mit einem Ruck die Kehle durchschnitt. Sie hatte kaum noch Zeit, einen Schrei auszustoßen, ehe sie, wie vom Blitz getroffen, zusammenbrach.
Der einzige Zeuge dieser Schreckenstat war der Knabe, der nicht schlief, aber genug Geistesgegenwart besaß, sofort die Augen zu schließen. Hastig trat der Mörder an sein Bett, um den Gesichtsausdruck des Schlummernden zu prüfen und mißtrauisch die Hand auf dessen Brust zu legen, um an den etwa beschleunigten Herzschlägen Angst oder Aufregung zu erkennen. Das war ein kritischer Moment für den Knaben, dessen Verstellung ohne Zweifel sofort entdeckt worden wäre, wenn nicht in diesem Augenblick ein gräßliches Schauspiel die Aufmerksamkeit des Mörders auf sich gelenkt hätte.
In grausigem Schweigen erhob nämlich die Ermordete sich im Todeskampf noch einmal vom Boden, stand einige Sekunden aufrecht und wankte dann nach der Tür. Sofort stürzte sich der Mörder von neuem auf sie, während der Knabe blitzschnell die Gelegenheit wahrnahm und mit einem Satze aus dem Bett zur Türe sprang. Daß er auf diese Weise den Mördern entgehen könnte, von denen der eine die oberste, der andere die unterste Treppenstufe besetzt hielt, schien freilich ausgeschlossen; und dennoch geschah dieses Wunder auf eine höchst einfache und natürliche Art. In seiner Todesangst hatte nämlich der Knabe die Treppenbrüstung gepackt, sich mit einem tollkühnen Satz hinübergeschwungen und war so am Geländer entlang an dem älteren M'Kean vorübergeglitten, ohne eine einzige Stufe berührt zu haben.
Unten hatte inzwischen der Aufschrei des Mädchens die Wirtin herbeigerufen, die dem jüngeren Bruder in die Hände gefallen war und jetzt auf Leben und Tod mit ihm rang, so daß der Knabe auch an dem zweiten Mörder ungefährdet vorbeikam. Glücklich erreichte er die Küche, aus der eine nur mit einem Riegel verschlossene Hintertür ins Freie führte.
In diesem Augenblick aber wurde der ältere M'Kean durch den Tod des armen Mädchens in den Stand gesetzt, die Verfolgung des Fliehenden aufzunehmen. Zweifellos hatte dem schon halb umnachteten Geist der Ermordeten das Bild einer Klubsitzung vorgeschwebt, wie sie wöchentlich einmal in dem Gasthause stattfand; und um Hilfe und Rettung herbeizurufen, war sie in das Vereinszimmer gewankt, auf dessen Schwelle sie dann sterbend zusammenbrach.
So konnte nun der Mörder, der ihr auf dem Fuße gefolgt war, sofort dem Knaben nachsehen, durch dessen Entkommen der ganze Erfolg des verbrecherischen Unternehmens in Frage gestellt worden wäre. Er überließ daher die Überwältigung der Wirtin seinem Bruder allein und stürzte durch die offene Tür ins Freie, denn schon in der nächsten Sekunde konnte es zu spät sein.
Dem Knaben hatte unterdessen sein gesunder Menschenverstand gesagt, daß es aussichtslos für ihn sei, einem jungen, kräftigen Manne durch Laufen zu entkommen, und er hatte sich daher Hals über Kopf in den ersten besten Graben gestürzt. Hätte nun der Mörder sich Zeit gelassen, diesen Graben einer genaueren Prüfung zu unterziehen, so wäre ihm der Knabe, den sein weißes Nachthemd weithin kenntlich machte, sicher nicht entgangen. Doch raubte das spurlose Verschwinden des Flüchtlings dem Verbrecher alle kaltblütige Überlegung, und jede verrinnende Sekunde vergrößerte noch seine Kopflosigkeit. Schon in den nächsten fünf Minuten konnte nämlich der Knabe, falls er wirklich die Nachbargehöfte erreicht hatte, die Verfolger auf ihre Spur hetzen, und dann wäre es den beiden Mördern bei ihrer Unkenntnis der Feldwege wahrscheinlich unmöglich gewesen, unbehelligt zu entkommen.
Nichts blieb daher übrig, als seinen Bruder sofort von der drohenden Gefahr zu verständigen und danach schleunigst mit ihm das Weite zu suchen. So kam es, daß die Wirtin, obgleich schwer verletzt und verstümmelt, noch mit dem Leben davonkam und sich später wieder erholte. Auch der Wirt blieb, dank dem rechtzeitig wirkenden Betäubungsmittel unversehrt, und die fliehenden Mörder nahmen das niederschmetternde Bewußtsein mit sich, daß ihr scheußliches Verbrechen vollkommen nutzlos verübt worden war. Zwar stand ihnen der Weg in das Sitzungszimmer jetzt ungehindert offen, und vierzig Sekunden hätten vollauf genügt, die Geldkassette in Sicherheit zu bringen, um sie später in aller Ruhe zu erbrechen und zu leeren. Allein die Furcht vor den Verfolgern brachte jeden anderen Gedanken zum Schweigen, und so entflohen sie auf einem Wege, der sie in einer Entfernung von sechs Fuß an dem Knaben vorbeiführte.
Noch in derselben Nacht durchquerten sie Manchester und verbargen sich bei Tagesanbruch in einem Dickicht, das von dem Schauplatz ihres Verbrechens schon zwanzig Meilen [d. h. englische Meilen; 1 engl. Meile = 2 Kilometer. Anm. des Übers.] entfernt lag. Während der zweiten und dritten Nacht setzten sie zu Fuß ihre Flucht fort und rasteten nur am Tage. Am vierten Morgen erreichten sie bei Sonnenaufgang ein Dorf in der Nähe von Kirby Lonsdale in Westmoreland, mußten also von ihrer eigentlichen Wegrichtung abgewichen sein, denn ihr ursprüngliches Ziel war ihre Heimat Provinz Ayrshire, wohin der direkte Weg über Shap, Penrith und Carlisle führte. Wahrscheinlich fürchteten sie die Steckbriefe mit ihrer Personalbeschreibung, die in den verflossenen vierundzwanzig Stunden sicherlich durch die Post über alle Wirtshäuser und Herbergen verbreitet waren. Daher trennten sie sich auch an dem erwähnten Morgen und betraten das Dorf nicht gleichzeitig. Erschöpft und fußkrank wie sie waren, hatte man jetzt leichtes Spiel mit ihnen. Ein Grobschmied, dem sie aufgefallen waren, verglich ihr Äußeres mit der Beschreibung des Steckbriefes und erkannte sie sofort. Mühelos wurden sie eingeholt und einzeln verhaftet, worauf auch sehr bald in Lancaster die Verhandlung gegen sie stattfand. Beide wurden zum Tode verurteilt und kurze Zeit darauf hingerichtet. Eigentlich hätten ihnen mildernde Umstände zugebilligt werden müssen, denn obwohl es ihnen bei der Durchführung ihres Planes auf einen Mord mehr oder weniger nicht ankam, hatten sie sich doch nach Kräften bemüht, unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Welch ein Unterschied also zwischen ihnen und dem Scheusal Williams? De Quincey hat seiner Schilderung des Falles M'Kean, den er mit soviel Einzelheiten ausschmückt, kein Datum beigefügt. Die Verbrecher waren zwei Brüder, Alexander und Michael Mackean (auch M'Keand geschrieben), die am 18. August 1826 in Lancaster wegen des am 22. Mai an Elisabeth Bates, der Dienstmagd des Gastwirtes Joseph Blears aus Winton bei Manchester begangenen Mordes zum Tode verurteilt wurden. Außer diesem einen tatsächlichen Schlachtopfer hatten die Verbrecher den Wirt durch Betäubung unschädlich gemacht und seine Frau beinahe ermordet; ein im Hause weilender Knabe (Michael Higgins) hatte sich nur mit genauer Not in der von de Quincey beschriebenen Weise durch die Flucht retten können.
Sie sühnten ihr Verbrechen auf dem Schaffot, während Williams, wie ich bereits erwähnte, durch Selbstmord endete. Den Gepflogenheiten jener Tage entsprechend, durchbohrte man sein Herz mit einem Pfahl und bestattete ihn am Knotenpunkt eines Kreuzweges (in diesem Fall dem Treffpunkt von vier Londoner Straßen), und über seinem Grabe braust und brandet unaufhörlich das rastlose Leben der Großstadt!
Die Endnoten wurden als Fußnoten eingepflegt, die Fußnoten des Übersetzers in [ ] gesetzt. Re.