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Zehntes Kapitel.
Der Meister

Es war eine lange hagre Figur, der Meister, im dunkelfarbigen, selbstgewebten Rock. Spärliche schwarze Haare, glatt anliegend, umschlossen ein bleiches, abgehärmtes Antlitz, so mild, so schüchtern, daß es unbegreiflich schien, wie ein Mann von dem unbeugsamen, ehernen Charakter, als welchen das Gerücht den Meister bezeichnete, zu diesem Gesichte kam. Nur um den Mund, mit schmalen blassen Lippen, fest eingekniffen, spielte ein Zug – war es Schmerz? war es Bitterkeit? aber jedenfalls ein Zug, der auf eine ungewöhnliche Energie hindeutete.

Der Meister, noch in der Thür, warf ein schweres Pack vom Rücken. Die Kranke, in der Angst ihres Herzens, hatte nicht gewagt, den Bruder anzusehen; sie lag, wie schlummernd, und ließ nur aus dem Grund ihrer Seele stumme, verzweifelnde Gebete gen Himmel steigen.

Aber auch ohne die Augen aufzuschlagen, an dem dumpfen Hall, mit dem das Pack zu Boden fiel, an der Art dann, wie der Meister seinen Weißdornstab, erschöpft, in die Ecke sinken ließ und nun, statt allen Grußes, tief aufseufzte aus beklemmter Brust – an diesem Allen, auch ohne die Augen auszuschlagen, hatte sie gemerkt und wußte: es war dieselbe Leinwand, die unter tausend Angst und Qual gewebte, mit welcher er Tags zuvor das Haus verlassen, und der Unglückliche kehrte, von vergeblicher Wanderung, rathlos, hilflos zurück!

Auch Reinhold dröhnte der dumpfe Hall durch die Seele; so gebrochen, so ganz zerknickt, wie in diesem Augenblick, hatte er den Vater noch nie gesehen.

Lenens Entschluß war sogleich gefaßt. Sie schlug die Augen auf, richtete sich, so schweres ihr ward, in die Höhe – und mit dem lieblichsten, trostvollsten Lächeln, als wär' es zu einem recht freudigen Empfange und es gäbe nichts in diesem Augenblick, was ihre Herzen angstvoll zusammenschnürte, streckte sie dem Bruder die bleiche, zitternde Hand entgegen.

Der Meister, ohne die Anwesenheit des Fremden auch nur im Geringsten zu beachten, ging, quer durchs Zimmer, auf das Bette zu, ergriff die dargereichte Hand und fuhr mit der andern leise über das dünne, feuchte Haar der Kranken.

Der Großvater, nach seiner bethulichen Weise, hatte ein Fußbänkchen herbeigetragen. Der Meister küßte ihm ehrerbietig die Hand, nickte Reinhold mit wehmüthiger Freundlichkeit; dann, lautlos, setzte er sich in die Ecke.

Auch hier wieder war Sandmoll der Erste, der die allgemeine schwüle Stille zu unterbrechen wagte.

Schöne Leinwand das, sagte er, nach dem Thürwinkel deutend: nämlich wenn sie Einer möchte. Aber ich geb' Euch einen Rath, Meister, wißt Ihr was? Macht Leichentücher daraus für Eure Jungfer Schwester. Aber nein (unterbrach er sich selbst: es mußte etwas sehr Angenehmes für ihn sein, was er da sagte, denn er gurgelte beträchtlich) –: bei jedem Schaden ist noch allemal ein Vortheil, und Jungfer Lene, wenn sie todt ist, wett' ich, braucht keine Leichentücher …

Der Meister hatte die Worte nicht verstanden; aber schon der Ton der Stimme schreckte ihn empor. Wer sprach da? rief er und sprang, mit gleichen Füßen, in die Höhe.

Ich, erwiderte Sandmoll phlegmatisch: und ich denke, Ihr werdet mir's erlauben.

Seltsame Macht, die diesem dämonischen Unhold beiwohnte! Der Meister, als er aus seiner Versunkenheit in die Höhe fuhr, hatte offenbar im Begriff gestanden, in hellem Zorn zu entbrennen. Aber kaum daß sein Blick das grinsende Antlitz des Sandmoll streifte, als er auch seinen Zorn niederkämpfte und mit völlig gemäßigter, ja demüthiger Stimme:

Ich bitt' um Entschuldigung, Herr Inspector, sagte er, daß ich Euch nicht früher gesehen habe; aber ich war mir in so später Stunde keines Besuchs mehr gewärtig. Ich bin, setzte er in ganz gebrochenem Ton hinzu, ein armer müder Mann und ihr werdet mich ganz gewiß entschuldigen, Herr Inspector.

Ein Thor seid Ihr, erwiderte der Andere, ein unverbesserlicher alter Thor! Nicht wahr? Sie haben Euch die Thür vor der Nase zugeworfen als Ihr angezogen kamt mit Eurem Bettel? haben gesagt, sie brauchten das nicht mehr und wenn Ihr es geschenkt geben wolltet, sie nähmen es doch nicht? O geht doch: Ihr thätet ja besser, Steine zu klopfen, wenn Eure erbärmliche Brust es aushielte, als die Zeit zu verlieren an solche Arbeit.

Der Meister wollte etwas sehr Bitteres erwidern, aber noch einmal bezwang er sich. Ein Jeder, sagte er, treibt, was er gelernt hat, Herr Inspector …

So lernt auch verhungern, fiel Sandmoll mit grobem Gelächter ein: Ah pfui, solch ein alter Kopf und bildet sich noch ein, er könnte die Welt einrennen? Packt ein, Meister, besinnt Euch, es wird ja doch nicht anders; ich seh' Euch ja doch schon, wie Ihr die Räder einschmiert in der Fabrik, ei ja, das wird hübsch sein! Und der Junker da, gebt Acht, das ist ein feiner Gesell, es fehlte nicht viel vorhin, so hätte er mich zur Thür hinauscomplimentirt, noch eh' ich Euch guten Abend sagen konnte. Der artet nach Eurem charmanten Schwiegersohn, ei ja: das wird ein vergnügtes Paar, wenn die erst zusammen hinter der Spindel sitzen …

Der Meister sah Reinhold fragend an. Hat mein Junge unrecht gegen Euch gethan, sagte er, so wird er Euch um Verzeihung bitten.

Reinhold wurde blutroth; bei aller Verehrung, die er seinem Vater zollte, war diese Unterwürfigkeit, welche der Meister vor dem unheimlichen Alten zeigte, doch mehr als sein jugendliches Herz ertragen konnte.

Aber ein strenger Blick des Vaters hielt auch ihn in Schranken. Der Herr Inspector, sagte er, kam zu so später Stunde und die Reden, die er zu der Tante führte, schienen ihr so viele Unruhe zu machen …

Zu meiner Schwester?! schrie der Meister, indem unwillkürlich seine Hand sich ballte.

O nicht doch, flüsterte die Kranke dazwischen, es war nichts …

Gewäsch, sagte der Sandmoll gleichmüthig: was soll man reden, wenn Einem die Zeit lang wird? Ich habe auf Euch gewartet, Meister; ich meine, Ihr wißt, weshalb …

Der Meister lachte bitter.

Ist es so weit gekommen, sagte er, daß Ihr Euch noch um Mitternacht in die Häuser Eurer Schuldner drängt? ward auch unser Schlaf an Euch verpfändet?

Für Euern Schlaf, erwiderte Sandmoll, indem er die Spitze seines Stocks zwischen die Dielen bohrte, geb' ich nichts – warum? weil Ihr wenig schlaft, denk' ich. Und mein Schuldner seid Ihr auch nicht: sondern dem Staat seid Ihr schuldig und dem Herrn Commerzienrath, als welchem der Grundzins gehört von jedem Haus im Dorf und viele andere gute Abgaben noch. Was aber Eure übrige Frage betrifft, so ist es allerdings so weit gekommen und wird noch viel weiter kommen mit Nächstem. Ich sag' Euch, rief er und seine Lippen schnalzten ordentlich vor Behagen, indem er dies Gemälde bevorstehenden Elends entwarf: es werden Zeiten kommen für arme Narren, wie Ihr seid – Mitleid wird so rar werden, wie eine Rose im Schnee, und Erbarmen wird es geben, gerade so viel wie Haare wachsen in meiner flachen Hand. Wohl dem Manne, der sein Haupt im Sichern hat, wie ich! Es ist besser, Henker sein als gehängt werden. Und ans Hängen geht es, verlaßt Euch drauf! Es ist schon heraus bei der Regierung: alle Armen, die nicht bezahlen können, sollen gehängt werden. Ja, was sag' ich gehängt? In Stücke sollen sie geschnitten werden, bei lebendigem Leib' in lauter kleine Stücke – und das muß doch noch häßlicher sein, als bei todtem, wiewohl auch das sehr abscheulich ist, sehr abscheulich, Jungfer Lene …?

Denn überhaupt hatte er diese ganze tolle Rede mehr an die Kranke neben ihm gerichtet, als an den Meister.

Der Meister war, bei den ersten Worten des Alten, wieder in trübes Nachdenken versunken. Ihr wollt Geld, sagte er endlich: nun denn, ein Wort für tausend: ich habe keins.

Eure Rechnung ist verdammt kurz, spottete Sandmoll, aber meine ist desto länger: Kopfsteuer, Gewerbsteuer, Grundzins, Hauszins, Ihr seid ein flinker Rechner und werdet es wohl selbst im Kopfe haben.

Ich hab' es, erwiderte der Meister mit gepreßter Stimme, und ich bitt' Euch, habt nur noch Geduld bis morgen – oder da, da, nehmt meine Leinwand …

Eure Leinwand, antwortete der Alte, behaltet selbst, ich mag sie nicht; brennt Zunder daraus, alter Tropf, und seht zu, ob Ihr in Euerm harten Schädel einen Funken habt, an dem sie zündet – ich aber will Geld, Geld!! schrie er, mit derselben drohenden Heftigkeit, wie schon einmal: oder ich bleibe sitzen an Eurer Schwester Bett, die ganze Nacht und alle Tage, bis Ihr mich bezahlt habt!

Während der letzten Worte war Margareth (unsere Leser entsinnen sich, welches der Grund war, der sie so rastlos hin- und hertrieb zwischen der Schenke, wo ihr Mann saß, und ihres Vaters Haus) ins Zimmer getreten. Da sie den Alten noch immer auf seiner Stelle sah und seine drohenden Worte hörte, erschrak sie heftig und blieb bestürzt unter der Thüre stehen.

Ueber des Meisters Antlitz, wie er sein Kind ansah, ging ein mildes Lächeln. Er winkte ihr: Komm, meine Margareth, sagte er, schütz' deinen Vater; du bist allzeit mein gutes Kind gewesen, es wäre ja nicht Recht von einem Vater, wollt' er nicht auch Gutes nehmen von seinem Kinde. – Es ist Sonnabend heut, du wirst Geld haben: gib dem Manne – und morgen trag ich meine Leinwand noch einmal herum.

Das war zu viel für das gequälte Herz des Weibes. O mein Vater! schrie sie und fiel, mit gleichen Knieen, in Thränen zerschmelzend, vor ihm nieder …

Sandmoll knackte, wahres Pelotonfeuer. Ah, ah, gurgelte er, solchen Spaß hab' ich nicht erlebt, so alt ich bin! Denkt, es ist Sonnabend, der Narr! will Geld haben von seiner Tochter, der Thor! Geld? Aber thut mir den Gefallen, Meister, geht hinüber in die Schenke! nehmt Eure vortreffliche Leinwand mit, Euer Schwiegersohn braucht sie! auf mein Wort, er braucht sie! denn so eben, denk' ich mir, wird er wohl das Hemd verspielt haben vom Leibe …

Der Meister sah Margarethen voll Bestürzung an; sie wagte seinen Blick nicht zu erwidern.

Der Meister holte tief Athem; an der bleichen Stirn schlugen die Adern, als ob sie springen müßten …

Nun denn, rief er, und streckte beide Arme verzweiflungsvoll gen Himmel: so sind wir zu Ende und der Blitz Gottes zerschmettere mich und mein Haus! Da, da, schrie er, indem er das Wams von einander riß, daß die arme, eingedrückte Brust sichtbar ward: Hier ist mein Herz! Ich kann nicht weiter, ich bin müde – da, nehmt! nehmt! Schneidet mir das Herz aus dem Leibe, ich will still halten, und münzt Geld daraus, wenn Ihr könnt – ich habe keins! und weiß auch keins mehr zu erwerben!

Reinhold war erschrocken aufgesprungen –

Laßt ihn nur, sagte der Sandmoll ruhig, er ist im Zuge und daß ihm Keiner das Herz ausschneidet, weiß er doch; dergleichen passirt alle Tage und einen erfahrenen Mann, wie ich bin, alterirt es nicht.

Und dabei steckte er die schwieligen Hände in die Taschen, so unerschüttert, so behaglich, als wäre dies das angenehmste Schauspiel von der Welt.

Aber der Damm der Zurückhaltung, welche der Meister bisher noch so mühsam erkünstelt hatte, war gebrochen und in überströmender Rede ergoß sich die Fluth seines Jammers. Hörst du es, rief er, hörst du es, Gott dort oben? Alle Tage passirt das! alle Tage Tausende deiner Geschöpfe gehen unter in Elend und Verzweiflung! alle Tage, in deiner reichen Schöpfung, vor den Augen der Welt, die sich fühllos wälzt in der Fülle deines Segens, sind Tausende, die nicht wissen, wovon den Leib ernähren, den du selbst ihnen gegeben hast! Tausende, die zu Grunde gehen in Noth und Schande, weil ihnen die Brosame fehlt, die die Hunde der Reichen nicht mehr mögen! Allgerechter Gott, rief er und die hellen Thränen stürzten aus den Augen des gepeinigten Mannes: ist das deine Weltordnung? Hast du das gewollt, Erbarmender, daß ich leide und verzweifle und muß leiden und verzweifeln sehn, die mir die Liebsten sind auf Erden, indessen das satte Laster trotzt auf seine Sicherheit?! Du kennst mein Leben, Allwissender, du hast meine Tage gesehen von Kindheit an, du hast die Nächte gezählt, die ich schlaflos in Sorgen verbracht habe, du weißt, wie oft ich zu dir gebetet – um kein Glück, Herr, wie die Menschen es wünschen, nur um Ergebung und Kraft, daß ich die Last aushalte, die du auf mich gelegt und die ich ja tragen will ohne Murren, so lange du es willst; du weißt auch, ob ich je ein Schwelger gewesen bin und ein Faullenzer und ob ich das Elend verschuldet habe, das mich verschlingt – es ist nicht um meinetwillen, um deinetwillen, Gott der Gerechtigkeit, daß der Glaube an dich nicht zu Schanden werde vor den Menschen – errette mich! oder tobte mich! tobte uns Alle, wenn du nicht erretten willst!!

Und seiner Sinne unmächtig, sank er seinem alten Vater, der ängstlich hinter ihm stand, um die Schultern und ließ sich trösten von ihm und streicheln wie ein Kind.

Ja, spottete der Sandmoll ruhig, das muß der Neid Euch lassen, ein ordentlicher Mann seid Ihr gewesen jederzeit. Ihr seid ein Bettler – aber Ihr wart immer fleißig; der Hunger schrumpft Euch das Gebein zusammen – aber Ihr wart immer mäßig und nüchtern; Ihr geht zu Grunde, ohne Erbarmen, wie Ihr da seid – aber Ihr wart immer tugendhaft; auch Eure Kinder sind tugendhaft, auch Euer alter Vater, der blöde Narr, war tugendhaft – und Ihr da, Jungfer Lene, Ihr wart auch tugendhaft, nicht wahr?

Bei diesen Worten, um die Aufmerksamkeit der Kranken mehr anzuregen, ließ er den Stock leicht auf die Decke des Bettes fallen: Ihr wart auch tugendhaft, nicht wahr, Jungfer Lene?

Allein plötzlich bei dieser Geberde, wiewohl sie im Grunde kaum so böse gemeint war, zerriß der Geduld des Meisters der letzte Faden. Elender, schrie er und stürzte sich, stammelnd vor Wuth, auf den erschrocknen Alten: Du wagst es, Hand zu legen an meine Schwester?! Ja sie ist tugendhaft, eine Heilige, Elender, an deren Reinheit deine verpesteten Gedanken nicht reichen – Hinweg! hinweg! rief er und schleifte, mit einer Gewalt, die Niemand dem bleichen, schwächlichen Manne zugetraut hätte, den zitternden Alten quer durchs Zimmer, über den Flur hinweg, unaufhaltsam, hinaus auf den freien Platz vor dem Hause: hinweg! daß ihr frommes Auge sich nicht länger an deinem Anblick besudele!


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