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Siebentes Kapitel.
Das Fabrikdorf

Von dem Allen nun war freilich in dem Fabrikdorfe, in welches wir so eben mit dem Alten eingetreten sind, nichts zu bemerken. Wohl waren auch hier die Glocken geläutet worden, sehr lange sogar und sehr kunstreich, ein sehr wohllautendes und sehr vollständiges Geläute, das erst ganz kürzlich die gnädige Frau hierher geschenkt hatte: nur daß es übertäubt worden war vom Rasseln der Maschinen, vom Pochen der Hämmer, vom Sausen der Webstühle! Auch hier war die Sonne hinabgestiegen, goldig, in purpurnem Glanz, auch hier hatte die Lerche ihr Abendlied getrillert: nur daß Niemand Zeit gehabt hatte, darauf zu merken!

Erst als die große heisere Fabrikuhr rasselte, als die Thüren der ungeheuern Arbeitssäle aufsprangen in knarrenden Angeln und die Aufseher, durch Wolken von Staub und Schweiß und Qualm hindurch, mit rauher Stimme den Schluß der Arbeitsstunden verkündigten: da erst begann auch hier der Feierabend.

Aber wie beginnt er! – Nicht mit Frieden und Stille und heitrer, seliger Befriedigung, sondern im Gegentheil, mit Lärm und Streit und widerwärtigem Gezänke. Flüche sind das Erste, wozu diese Lippen, so lange verstummt, sich wiederum in Bewegung setzen! Drohungen, Stöße, Schläge das Erste, wozu diese arbeitmüden, diese zitternden Hände sich erheben! – Saal um Saal entleert sich, Männer, Weiber, Kinder, in wüstem Durcheinander – Heda, wartet! drängt nicht so! nehmt das Kind in Acht …!

Umsonst! Niemand hört! Alles, in wilder Gier, drängt, stößt, stürzt sich die breiten, aber unsaubern Treppen abwärts, die dumpfigen Gänge entlang, den Geschäftszimmern zu, wo, an vergitterten Pulten, mächtige Säcke mit kleiner Münze neben sich, die Kassenführer sie erwarten.

Nun Ordnung, Gesindel! der Reihe nach, Mann für Mann, tretet vor! Wo sind Eure Arbeitbücher? – Du da, Weib, du bist dreimal eine halbe Stunde zu spät gekommen … Du hast ein kleines Kind zu Hause, sagst du? Das heckt gedankenlos in die Welt hinein; als ob es nicht schon genug solch Gesindel gäbe wie Ihr! Und krank obenein? Gut, so werde Krankenwärterin, in der Fabrik kann man dich nicht dafür bezahlen, daß du zu Hause kranke Kinder pflegst … Nichts da geheult! Hier ist der halbe Wochenlohn, die andere Hälfte kommt zur Strafkasse … Du raisonnirst? du willst dich beim gnädigen Herrn beschweren? Ah charmant, beschwere dich – Herr Werkführer, streichen Sie das Weib aus Ihren Listen, sie ist zum letztenmal heut in der Fabrik gewesen … Nichts da! die Ordnung der Fabrik verträgt es nicht, daß wir Arbeit geben an Leute, welche die reglementsmäßigen Stunden nicht inne halten und dann hinterdrein, statt die gesetzliche Strafe auf sich zu nehmen, noch mit Beschwerden und Chikanen drohen …

Was gibts, Alter? Du hast allemal etwas zu reden, faß dich kurz … Ah so, ja wohl, ganz richtig, da find' ich dich schon auf meiner Liste – du hast zweimal die Spindel zerbrochen, nicht wahr? Das wird gebüßt, du weißt, nach Paragraph sieben … Ei was, Zittern in den Händen, das kann jeder sagen: Ungeschicklichkeit, reine Ungeschicklichkeit … Dreiundsiebzig Jahre? Aber du närr'scher Kerl, wer heißt dich auch dreiundsiebzig Jahre werden? Da gibts andere Leute, als du, und werden nicht so alt … Nun genug davon! Paragraph sieben – ich kann die Statuten nicht ändern, und wenn ich's könnte, thät' ich es doch noch nicht; Volk wie Ihr muß kurz gehalten werden … So? Nun, für deine ungebührlichen Reden verdopple ich hiermit den Abzug – und übrigens rath' ich dir, mach', daß du stirbst, alter Narr: denn es ist ja doch nur ein reines Almosen, was du bekommst, und die Zeiten sind nicht danach angethan, Almosen zu geben an Tagediebe …

Und nun Ihr da, Platz! und laßt die Kleine vor, die da, mit den schwarzen Augen, die kleine frische … Aber weißt du auch, du kleiner Satan, daß das sehr schlecht zusammenpaßt, solche verwetterte schwarze Augen im Kopfe haben und dabei so unartig sein? Der Werkführer hat Beschwerde über dich angebracht; du bist schnippisch, sagt er, und faul … Ah bah, geh doch! Wegen eines Kusses? Du bist auch wol Eine, die sich lange bitten läßt wegen eines Kusses? Und nach dem Fabrikreglement fällt ja auch so etwas gar nicht vor … Es käme darauf an, sagst du? und willst mir die Sache auseinandersetzen? Hm? Ei? So? Auseinandersetzen? Sieh mal an … Auf meinem Zimmer? Morgen früh? Gut, gut, du Teufelsauge, morgen früh! … Ei, ei! hm, hm! … Komm doch noch ein Bischen näher, wie schmuck du bist … Wir werden sehn, mein Schatz! wir werden sehn! Einstweilen mag es dir für diesmal noch so hingehn. Aber wenn du nicht Wort hältst, Teufelsauge …

Und so geht es ohne Aufhören, hier und dort, da und drüben! Zanken, Schreien, Drohen! Gekreisch der Weiber, Fluchen der Männer, Heulen der Kinder, Schelten der Beamten! Dazwischen Klappern der Münzen, Kritzeln der Federn – bis endlich, unter tausend Widersprüchen, tausend Schimpfworten, das schwere Geschäft der Abrechnung beendet ist und der ganze zahllose Haufe, gleich einem entfesselten Strom, über den Vorplatz weg sich in das Dorf ergießt …

Wohin? Welche Frage! Ist es nicht ein Feierabend im Fabrikdorf, den wir schildern? Und wohin anders also kann der Zug sich wälzen, als in die Schenke?

Die Schenke! die das stattlichste Haus im ganzen Dorfe ist! die, gleich einem Palast, mit hohen, hellen Fenstern, in sauberem Anstrich, mit prangendem Schilde, dem Fabrikgebäude gerade gegenüberliegt! wo die Kaffeekessel schon sieden! die Suppen schon dampfen! wo, die Wand entlang, hinter dem erhöhten Sitz des Wirthes, auf vergoldetem Gestelle, die Flaschen winken, die köstlichen, gelb, roth, grün, mit langen goldenen Buchstaben daran, und jede hat ein Spiegelchen hinter sich, das glitzert und blinkt und wirft den geliebten Anblick verdoppelt zurück!

Also in die Schenke – Heda, Wirthschaft! Hier ist Geld – Branntwein, Branntwein her! Und Würfel! Karten!! … Was da, ihr Weiber? Laßt die Tasche los, sag' ich … Kein Brod im Hause? Lächerlich! Wozu Brod im Hause, da wir hier Alles in der Schenke haben können, fix und fertig, Branntwein, Musik, Vergnügen?! Setzt euch heran, ihr Weibsgesichter, ihr sollt ja nicht leer ausgehen; da, trinkt! und macht die Schultern weit …! Die Kinder? Ah pah, die Kinder! Gebt ihnen Branntwein zu saufen, den Kindern, so werden sie ruhig sein! … Und nun Musik! Musik!! den allerneuesten Schleifer, und ob es mein letzter Groschen in der Tasche wäre und mein letzter Athem in der Kehle: Musik! –

Hinwirbeln die Paare; dieselben Menschen, die noch so eben todtmüde, kraftlos zusammenzubrechen drohten – dennoch, wie die Musik ihr Ohr berührt, der Branntwein Feuer durch ihre Adern jagt, fühlen sie sich ergriffen, gepackt, bewältigt von bacchischem Taumel! rasen sie hin, unaufhaltsam, mit verrenkten Gliedern! fallen, stürzen, taumeln durcheinander! Die Tänzer jauchzen, Dirnen schreien, Kinder quieken, zerschmetterte Flaschen klirren; dazwischen das Scharren der Füße, das Krächzen der Geigen, der gellende Triller der Pickelflöte, Kreischen, Stampfen, Toben – ein Sabbath, ja: aber ein Hexensabbath! – –

Und doch, was sich hier immer begibt, beim Glanz der Lampen, Angesichts der ganzen Versammlung, wie roh, wie widerwärtig an sich: es ist sittsam, es ist tugendhaft im Vergleich mit dem, was draußen geschieht! – Hinaus mußt du treten auf die Gasse, die sonst so still, so öde, jetzt wiederhallt von rohen Flüchen und unzüchtigen Gesängen; sehen mußt du, wie in jedem abgelegenen Winkel, jeder Höhlung des Wegs Laster sich zu Laster gattet; hören mußt du, wie halberwachsene Dirnen, zehn- und zwölfjährige Kinder, den Vorübergehenden anfallen mit schamlosen Reden und den armen unreifen Leib feilbieten um eine Scheidemünze, ja nur um ein Glas Branntwein …

Verhülle, wohlthätige Nacht, mit keuschem Schleier den entsetzlichen Anblick dieses Elends! Sechs Tage haben diese Unglücklichen gearbeitet, von früh bis spät, Maschine unter den Maschinen, ohne Trieb, ohne Gedanken, ohne Gefühl des Eigenthums, stumpfsinnig, bewußtlos, wie das Thier im Pfluge, ja schlimmer noch: denn das Thier im Pfluge athmet doch wenigstens reine Luft – darf es uns Wunder nehmen, dürfen wir den Stein aufheben wider sie, weil sie jetzt, am Schluß dieses langwierigen Tagewerks, in den wenigen Stunden, die sie aus ihrem Joch entlassen werden, sich in ihren Freuden gleichfalls roh und thierisch zeigen? Sechs Tage lang ununterbrochen, Jahr aus, Jahr ein, von Kindesbeinen an, ist an diesen Armseligen gearbeitet worden, den letzten Rest von Menschenwürde, den letzten Funken menschlichen Bewußtseins in ihnen zu ersticken – und jetzt wollt ihr Zeter schreien und wollt den Stab über sie brechen, weil ihr euch überzeugt, daß euer Werk gelungen ist? Alles, was das Leben veredelt und verschönert, was ihm Anmuth, Werth und Würde verleiht, das Glück des eignen Herdes, die Gemeinschaft der Familie, der Segen der Bildung, habt ihr es ihnen nicht vorenthalten und verkümmert, habt ihr sie nicht absichtlich blind, dumm, taub erhalten, weil sie euch so besser dienen und weil blinde Pferde am Besten in das Tretrad taugen – und nun überrascht es euch, daß sie wirklich geworden sind, wozu ihr sie mit so vielem Eifer zu machen gesucht habt – Bestien?!

Und redet mir auch nichts vom sträflichen Leichtsinn dieses Volkes! Leichtsinn? O ganz gewiß: der Leichtsinn der Verzweiflung! Sie wissen Alle, wie sie hier sind, daß sie dem Tode verfallen! Sie wissen wohl, wie jede Stunde, die sie an diesen Maschinen zubringen, jeder Athemzug, den sie in der verpesteten Luft dieser Werkstätten thun, an ihrem Leben zehrt; sie sind auch durchaus nicht im Unklaren darüber, zu welchem Schicksal ihre Kinder gleicher Weise emporwachsen und daß Armuth, Siechthum, Knechtesdienst das einzige Erbtheil ist, das sie ihnen zu hinterlassen im Stande sind: ist es nicht – wir wollen nicht sagen gerechtfertigt: aber ist es nicht zum Wenigsten erklärbar, ist es nicht menschlich, ja das Einzige, was noch menschlich ist an ihnen, daß sie die elende Neige Leben, die ihnen übrig, so wild, so luftig zu verschlemmen wünschen, als sie können? daß sie mit wahnsinniger Hast jedem Genuß, jeder Freude nachjagen, wie vergänglich, wie nichtig, wie entwürdigend sie sei, genug, wenn sie nur auf Augenblicke wenigstens das Bewußtsein ihres Jammers übertäubt? Ja selbst daß sie ihre Kinder sogar geflissentlich anlernen zu dieser elenden Lebensweise, daß sie frühzeitig sie vertraut machen mit aller Verworfenheit, allen Lastern ihres künftigen Schicksals – ist nicht auch dies, wie sehr immerhin unser Gefühl sich dagegen empören mag, ist es nicht recht eigentlich menschlich, nicht wahrhaft väterlich gehandelt, der ganze Rest von Aelternliebe, den diese Unglückseligen ihren Kindern erweisen können?!

Oder wie wollte ein Mensch – ich sage gar nicht die tägliche Erfahrung, nein: nur den täglichen Anblick dieses Jammerlebens ertragen, es wäre denn, daß er von Kindheit an daran gewöhnt und gleichsam abgestumpft ist gegen seine Schrecken?!


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