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XXVII.

Klärchen war mutterseelenallein zu Hause. Die beiden Schwestern walteten schon seit dem ersten Tage nach der beispiellosen Katastrophe im Golden Gate Park als Krankenpflegerinnen, wo die Regierung nach und nach gegen fünfzigtausend Obdachlose in Zelten hatte unterbringen lassen. Mr. Williams hatte sich ebenfalls sofort zu irgend einer Arbeit oder Hülfeleistung angeboten und arbeitete augenblicklich an der Seite seines farbigen Dieners, Snowball, und seines Kutschers, Charles, mit einer Schaufel in der noch immer glühend heißen Asche der Market Street, um diese so schnell wie möglich für den Geschäftsverkehr freilegen zu helfen. Mit einer ganz unvergleichlichen Tatkraft wurde diese und ähnliche Arbeiten, die alle der Wiederherstellung ihres lieben Friskos galten von den besten Bürgern der Stadt betrieben: Bankpräsidenten, Ratsherrn und Professoren schafften einträchtig neben Flickschustern und Steinträgern, und dabei waltete ein Humor, eine Schalkhaftigkeit, die jedem, der eben diese wunderbare Stadt nie gekannt hatte, angesichts des ausgestandenen entsetzlichen Elends und der noch immer weiter fressenden Feuersbrunst geradezu ruchlos erschienen wäre. Aber ihr wunderschöner, blauer Himmel spannte sich ja wieder über ihnen aus, sie hatten sie ja noch ihre milde, strahlende Sonne und ihren belebenden Wind, – was Teufel, konnte ihnen also selbst ein solches Erdbeben anhaben! Ähnliches hatten ihre Väter und Großväter auch schon durchgemacht und trotzdem ihnen, den Söhnen und Töchtern, dieses wonnige Leben geschenkt! Also nicht mehr zurückblicken, sondern vorwärts, nur vorwärts! San Franzisko mußte wieder emporblühen! Aus Flammen und Trümmern, ach, schöner, großartiger; der Welt allergrößtes Wunder sollte es werden! Und während Not, Hunger und Elend noch immer ihren düsteren Umzug durch die zerstörte Stadt hielten, während sich aller Orten fast bis zur Lächerlichkeit grausige Szenen abspielten, während Davenport und auch andere Offiziere immer wieder ganze Gruppen von Leichenräubern ohne Gnade niederschießen ließen, zerbrachen sich doch schon die übrig gebliebenen Kapitalisten die Köpfe über Kolossalbauten von Theatern, Bahnhöfen, Kunstgalerien und ähnlichen: »Das Unglück war eben dagewesen und hatte nichts mit der Zukunft zu tun, und die menschliche Energie gehört nicht der Vergangenheit, sondern nur der Zukunft; darum noch 'mal, in Dreiteufelsnamen: vorwärts! vorwärts!«

Ein solcher Geist belebte alle diese Menschen, die hier meist bei ungewohnter, schwerer Handarbeit unverdrossen drauf los arbeiteten; kein Murren, keine Klage ertönte. Allerdings waren auch manche Faullenzer dabei, die nur gezwungen und widerwillig ihre Arme in den allgemeinen Dienst gestellt hatten; nun, diese hielt das Todesurteil für eine solche Weigerung in Schach, ein Urteil, das auf der Stelle durch einen Schuß oder Bajonettstich vollzogen wurde! –

Klärchen war bisher noch von keiner Seite aufgefordert worden, ebenfalls helfend einzugreifen: man achtete allgemein ihren grimmigen Schmerz. Aber sie selber hatte sich fest vorgenommen, sich nun endlich der müßigen, egoistischen Trauer zu entreißen und über dem Jammer einer Welt den eigenen zu vergessen! Ihr guter Gatte hätte dies sicher auch getan, und wenn diese beiden edlen, vornehmen Mädchen sich nicht scheuten, manches grauenhafte, blutige Bild mitanzusehen, so kam es ihr wahrlich auch nicht zu, sich auszuschließen! Und sich zusammenraffend sprang sie empor und wollte eben das Haus verlassen, um sich ebenfalls nach dem Golden Gate Park zu begeben, als die Hausglocke stark geläutet wurde. Sie ging hinab, zu öffnen, denn, wie schon gesagt, auch die Hausmädchen hatten sich den Werken der Barmherzigkeit unterwerfen müssen, und sie sah sich im nächsten Augenblicke Mr. Truth gegenüber. Der Chefredakteur mußte auch ziemlich stark verletzt worden sein, denn der ganze obere Teil seines Kopfes war umwunden, und der linke Arm ruhte in einer schwarzen Schlinge; aber die heitere Lebenszähigkeit war nicht aus seinen Zügen gewichen, nur jetzt beim Anblick dieser Schwergeprüften nahmen sie vorübergehend den Ausdruck eines großen Mitleids an.

Nach dem üblichen Gruß fragte der Journalist: »Von den Geschwistern ist wohl keines anwesend?«

Und als Klärchen, nun wieder weinend, – denn jeder nun wieder auftauchende Bekannte des Toten ließ ihren Gram neu erstehen – verneinte, fuhr Truth fort: »Erlauben Sie, daß ich einen Augenblick eintrete? Lange kann ich sowieso nicht verweilen, denn ich muß dann sogleich zum General Funston. Unser Freund Davenport nämlich – Sie erinnern sich doch seiner – überschreitet gewaltig seine Machtbefugnisse, und wenn er so weiter geht, wird ihm die Miliz bald den Garaus machen; ich weiß es aus guter Quelle! Daher soll ihn der General abberufen, zu seiner eigenen Sicherheit abberufen! Es wäre schade um ihn und – Cäcilien!«

Zuerst hatte Klärchen kaum auf seine Worte gehorcht; jeder Tag, jede Stunde brachte ja so viel Schreckenskunden von blutigen Gewalttaten, daß mit der Zeit alles gegen Tod und Untergang abgestumpft worden war. Doch bei seiner letzten Äußerung schrak sie empor«. »Schade um ihn und Cäcilien!« – So waren ihre Beobachtungen doch richtig gewesen? Zwischen den beiden bestand also ein geheimes, zartes Verhältnis? Daß der Hauptmann glühende Gefühle für die Schöne hegte, war ja ganz offenkundig, aber nach dem Ausspruche des Redakteurs schien sie ja diese Gefühle – wenn auch in mädchenhafter Zurückhaltung, zu erwidern!

Nun erwachte in Klärchen die frauenhafte Neugier und sie sagte: »Mein dahingeschiedener Gatte hat mir einen Ausspruch des Herrn Hauptmanns wiederholt, wonach weder Fräulein Cäcilie noch auch Fräulein Franziska jemals heiraten will oder kann! Ihrer Ansicht nach, Mr. Truth, würde aber das jüngere Fräulein dennoch um den Offizier trauern«.

Der Journalist beugte sich vor und versetzte leise: »Die beiden Schwestern sind Theosophistinnen, und als solche müssen sie einen Eid ablegen, nie zu heiraten, das heißt eben: so lange sie sich zu Anhängerinnen dieser Gesellschaft bekennen; treten sie aus, nun so verliert selbstverständlich der Eid alle Kraft. Vorläufig ist eben das Feuer unseres Freundes nicht stark genug gewesen, das Eis dieses Schwures aufzutauen. Aber dennoch würde das Fräulein gewiß um ihn trauern, zumal wenn er durch die Kugeln grüner Jungen sein Leben verlieren müßte!« Aber nun muß ich fort, jede Minute ist kostbar! Ich suche die Damen heute nachmittag im Park auf!«

Und er enteilte. Klärchen dachte noch eine Weile über seine Aussage nach. »Theosophistinnen«, klang es noch immer in ihren Ohren. Wohl hatte auch sie von der »Theosophischen Gesellschaft« gehört, aber noch nie davon, daß deren Anhängerinnen nicht heiraten dürften. Das war ja eine höchst sonderbare Vereinigung, und Klärchen beschloß, die lieben großherzigen Freundinnen ganz offen und ehrlich darnach zu fragen.

Unter solchen Gedanken ging sie zunächst durch den unversehrt gebliebenen Teil der Stadt, dem Golden Gate Park zu.

Ach, aber schnell veränderte sich dieses lachende, goldene Bild und wich trostlosen, schrecklichen Szenen!

Bald kamen ihr ganze Scharen von Weibern und Kindern entgegen, deren rußige Gesichter und rote Augen gar nicht größeren Jammer hätten ausdrücken können. Wahrscheinlich war ihnen allen der Gatte und Vater in jener fürchterlichen Minute dahingerafft worden, und nun flohen sie, flohen – sie wußten selber nicht wohin – ins ungewisse hinein, führerlos, hoffnungslos, – wie die Tiere der Prärie nach einem Riesenbrande! –

Beladen waren diese Unglücklichen mit den seltsamsten Dingen, die sie in der höchsten Seelenangst, mit dem letzten, zitternden Griff vor der hereinflutenden Lohe hatten erfassen können: die eine Frau trug eine prachtvolle Vase, während eine andere neben ihr einen alten Lumpensack am Boden hinzerrte, dort zog eine dritte einen kleinen Handwagen, worin ein Vogelgebauer, mehrere Blumentöpfe, eine Kaffeemühle und einige dicke Bücher bunt zusammengeworfen lagen, noch eine andere brach fast zusammen unter der Last eines großen Koffers, den sie – wahrscheinlich zum ersten Male in ihrem Leben – auf den Schultern dahin schleppte. Ach, und die Unzahl Kinder! Wo kamen sie nur alle plötzlich her? Warum hatte sie Klärchen nie vorher in solcher erstaunlicher Menge gesehen? Namentlich diese vielen, vielen Säuglinge! Wie war es nur den Müttern gelungen, alle diese Würmchen vor der Wut des Feuers zu schützen? Oder hatte sie die Todesfurcht der Mutter vorzeitig ins Leben gerufen? War das verheerende Unglück die Amme gewesen, die die Kleinen aus der Feuertaufe gehoben hatte? Aber die Bilder wurden nach und nach immer trüber. Zwischen den zahllosen Wanderern bewegten sich auch Wagen jeder Beschreibung, deren Pferde – vielleicht vor kurzer Zeit noch edle, oder doch wenigstens schmucke Tiere – nun zu halbverhungerten Kleppern herabgekommen waren; die meisten zeigten Wunden aller Art: Brüche, Verrenkungen, klaffende Riffe, wahrscheinlich von stürzenden Balken oder Mauerstücken herrührend, und Verkohlungen! In dem glanzlosen Auge dieser nunmehrigen Schindkracken spiegelte sich das allgemeine Elend fast ebenso deutlich, wie in denjenigen all dieser Bettler, denn das waren sie vorläufig ohne Ausnahme – ob früher zehnfacher Millionär oder Milliardär – lebten sie nun von der öffentlichen Mildtätigkeit! Einen gräßlichen Anblick gewährten auch die überall massenhaft umherlungernden, unaufhörlich winselnden und heulenden Hunde: ausgehungert bis zur Tollwut schaffen sie mit weitgeöffneten Rachen und blutroter Zunge dahin, stürzten sich auf jedes Stück Aas, jeden halbverbrannten Leichnam, jeden Knochen, und das Knirschen und Knacken ihrer gierigen Zähne, das Schlingen und Würgen und mißgünstige einander Anknurren hallte schauerlich durch diese Schutt- und Aschenwüste. Da die Köter in ihrer Raserei auch oft Miene machten, sich auf Kinder, ja sogar Erwachsene stürzten, wobei sie natürlich sofort totgeschlagen wurden, so wurden ihre Kadaver nun auch von anderen angegriffen und vollständig aufgefressen.

In einer Seitenstraße schon nahe am Park kam Klärchen gerade hinzu, als eine Schar Soldaten, geführt von einem blutjungen, jedoch sehr energisch dreinschauenden Offizier, ein ganzes Rudel schwer betrunkener Männer aus mehreren Wirtschaften hinaustrieb.

»Ja, aber Leutnant«, lallte der eine, – er war gut gekleidet und wohl sonst ein ordentlicher Mensch – »was sollen wir denn trinken? Womit denn unseren unerträglichen Durst stillen? Wasser gibts ja doch in diesem ganzen ausgedörrten Nest nicht!«

»Geht nach dem Park«, erwiderte der Offizier kurz, aber menschenfreundlich, »man wird euch dort Tee oder Kaffee verabreichen; Wein oder gar Schnaps gibt es auf keinen Fall mehr!« Dann wandte er sich an die Soldaten und befahl: »Öffnet alle Fässer in diesen Kneipen, zerschlagt jeden Gallonenkrug, jede Flasche und Karaffe, – vorwärts!«

Im nächsten Augenblicke erfüllte ein mächtiges Geräusch von zersplitterndem Glas und eingeschlagenen Dauben die Luft, und gleich darauf schwamm die Straße von roten, braunen, grünen und gelben, jetzt förmlich giftig erscheinenden Flüssigkeiten.

»So!« sagte der junge Anführer noch einmal zu den Hinausgetriebenen, »geht also! Folgt jenen Frauen dort, Schwestern vom Roten Kreuz, sie werden sich Euer annehmen. Eins laßt Euch aber gesagt sein erwische ich Euch noch 'mal beim Wein- oder Schnapstrinken, so lasse ich Euch sofort über den Haufen schießen, – verstanden?«

Die Männer erwiderten kein Wort, sondern entfernten sich nur in dumpfem Schweigen.

Aber Klärchen erschauerte. So wenig galt jetzt das Menschenleben? So hatte es die Tragödie »verbilligt«, daß ein Trunk Weines auf der Stelle ein Todesurteil herbeizog? Und dieses Urteil konnte ein Soldat, fast noch ein Knabe, über einen Bürger, der ihm früher vielleicht in jeder Beziehung überlegen gewesen war, aussprechen und ohne weiteres an ihm vollstrecken? Gab es nun keine Richter mehr und keine Gerichte? War Ordnung und Recht aus dieser armen zerstörten Stadt gewichen, und mußten jetzt die Bewohner außer dem Verluste an Hab und Gut auch noch die blinde Gewalt der bewaffneten Macht, des augenblicklich Stärkeren, erdulden?

O, trauriges armseliges Menschenleben, wohin kann dich die unbegreifliche Vorsehung doch führen, und du sollst dich beugen und immer wieder beugen und nicht einmal fragen: »Warum? –

Mit solchen Gedanken in ihrer leidenden, tiefgepreßten Seele langte die Witwe endlich im Golden Gate Park an.


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