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Das Orchester, welches auf einer Bühne im Hintergrunde der mit illuminierten Büschen und Pflanzen geschmückten Halle Platz gefunden hatte, spielte eben das Finale von Borodines Symphonie in H-moll; obgleich es noch nicht zwölf war, sah man auf den Gesichtern der Zuhörer doch schon mehr oder weniger den Ausdruck der bei solchen Privatkonzerten üblichen Langenweile. Die Damen, die auf den ersten Stuhlreihen zusammengepfercht saßen, folgten der Musik mit angestrengt aufmerksamen, bewundernden Mienen, mit heißen Köpfen und müden Augen. Die Herren zeigten ungeniert, daß sie sich langweilten. Einige lehnten sich in schlaffem Sich-gehen-lassen an die Thürpfosten, andere wanderten leise in den Gängen umher. Eine kleine Gruppe von überlegenen Rauchern, und einige flirtende Paare, die sich über die Kritik der übrigen Gesellschaft hinwegsetzten, hatten sogar Zuflucht gesucht in den Nebenräumen und Vorzimmern, deren Thüren alle weit geöffnet standen, wo die Beleuchtung weniger blendend und die Luft frischer war.
Auf dem Sofa in der kleinen Wohnstube, die Maud sonst als Boudoir benutzte, wo sie ihren privaten Bücherschrank, ihr Klavier und ihren englischen Mahagoni-Schreibtisch hatte, saß Luc Lestrange in einer halb liegenden Stellung allein, mit der rechten Hand unablässig die Spitzen seines blassen Schnurrbarts drehend. Er sah aus, als erwartete er jemanden; er erhob sich jedesmal horchend, wenn der leiseste Laut von nahenden Schritten durch die Thüröffnung des großen Salons zu ihm drang.
»Endlich kommen Sie!« rief er aus, als er Jacqueline de Rouvre eintreten sah ... »Wie ich mich nach Ihnen gesehnt habe ... Sie sind heute abend zum Aufessen niedlich,« fügte er hinzu, indem er seinen Blick über das junge Mädchen hingleiten ließ, die halb ernsthaft, halb lächelnd, mit den Spitzen ihrer Finger das weiße Tüllkleid wie eine Menuetttänzerin graziös in die Höhe hob, und vor ihm einen tiefen Knicks machte.
Er sah sich um, um sich zu vergewissern, daß sie allein waren; dann schlang er seinen Arm um Jacquelines Taille und versuchte mit seinen Lippen den perlmutterweißen Nacken, der unter den roten Locken hervorschimmerte, zu erreichen; aber sie wand sich schnell und geschmeidig aus seinen Armen, und ehe er sich's versah, hüpfte sie, leicht wie eine kleine Bachstelze, hinter das Klavier. Dort stand sie mit dem einen Fuß auf dem Pedal, und ließ ihre Finger über die Tasten gleiten; dabei beugte sie sich so behende vornüber, daß ihre junge Brust fast entblößt erschien, trotz des hohen Ausschnittes ihres Kleides.
»Jacqueline,« flüsterte Lestrange.
»Da hilft keine »Jacqueline« mehr, mein lieber Herr!« antwortete sie, indem sie sich auf das Taburett setzte, bereit wieder fortzuschlüpfen, wenn er versuchen sollte, den Angriff zu erneuern.
»Man küßt mich auch nicht mehr, weder auf den Hals, noch auf die Wange, noch auf die Arme, man küßt mich überhaupt nicht. Es ist mein erster Abend in langem Kleid... Ich bin eine erwachsene Dame.«
Und wie um es festzustellen, daß ihr Kleid nun auch wirklich ein langes sei, legte sie die Beine mit einer so schnellen Bewegung übereinander, daß ihre rechte Wade bis weit hinauf sichtbar wurde. Lestrange stand aufrecht vor ihr und biß sich in die Lippen.
»Aber trotz alledem,« sagte sie ... »soll es heute mal erlaubt sein, mich auf die Hand zu küssen.«
Sie zog mit einem Ruck den Handschuh aus, und streckte den plötzlich entblößten Arm Lestrange zum Kuß hin. Er berührte mit seinen Lippen erst die Fingerspitzen, dann küßte er langsam und begehrlich das Handgelenk, den Unterarm, bis an den Ellbogen hinauf... Mit halb geschlossenen Augen, den Mund ein wenig offen, stand Jacqueline unbeweglich da, immer noch mit ausgestrecktem Arm; sie zog ihn aber plötzlich zurück, als der Bart die feine Haut der Armhöhle berührte.
»Es ist genug für heute,« sagte sie. »Setzen Sie sich dahin, wir wollen hübsch artig miteinander reden.«
Sie zeigte auf das Sofa. Lestrange gehorchte.
»Wie Ihr Gesicht komisch aussieht, heute abend! Was ist mit Ihnen? Sie machen Augen, wie sie Chantel macht, wenn er mit meiner Schwester spricht.«
Lestrange versuchte zu lachen, aber seine Stimme versagte ihm.
»Mir ist ... Sie haben mich zum Besten, Jacqueline, wie die anderen übrigens auch. Aber ich gebe Ihnen die Versicherung, ich leide darunter. Wenn ich es Ihnen sage, finden Sie's vielleicht lächerlich und thöricht, und doch ist es wahr: ich werde eine schreckliche Nacht haben.«
»Ach was,« antwortete Jacqueline, mit ihrem Fächer spielend, »Sie werden schon einige Freundinnen kennen, die Ihnen eine schlaflose Nacht versüßen wollen ... Jedenfalls werden Sie leicht etwas Amüsanteres finden als unser kleines Fest.«
»Kokotten?«
»Kokotten, Schauspielerinnen, was weiß ich, kurzum, Damen für einzelne Herren ... Aber das werden Sie wohl besser verstehen als ich. Oder wollen Sie, daß ich Ihnen Adressen gebe?«
»Als ob ich Sie über derartige Damen vergessen könnte,« antwortete Lestrange ernst.
»Nun denn, es giebt ja auch wirkliche Damen ... Die kleine M me. Duclerc zum Beispiel. Vorhin noch hat sie sich an Sie herangemacht, mit einer Grazie, na! Oh ja, ich habe es wohl gesehen. Ich sehe alles, mein Herr! Und Sie haben sie um eine Blume gebeten. Da steckt sie ja in Ihrem Knopfloch.«
»Ihre Blume? So viel mache ich mir daraus!« Er riß sie los und warf sie auf den Boden.
»Eine Frau, die drei Kinder gehabt hat. Ich danke! Das lockt mich nicht.«
Jacqueline nahm die Blume auf und entblätterte sie.
»Sehen Sie, das kommt davon, von den schlechten Gewohnheiten nämlich,« sagte sie. »Man bildet den Geschmack für junge Mädchen aus, für die noch etwas unreifen Früchte, und dann findet man nicht länger Gefallen an den schönen, reifen.«
Ein Paar zeigte sich in der Thür: eine Dame, deren jungfräuliches Gesicht umrahmt war von glattem, in breiten Streifen über die Schläfen gekämmten Haar, und die von einem sehr jungen Herrn, mit langem Haar, und von mittlerer Größe geführt wurde. Als sie sahen, daß das Zimmer besetzt war, zogen sie sich eilig zurück.
»Siehe da!« sagte Jacqueline, »unsere arme kleine Duclerc; Henri Espiens entschädigt sie, scheint's, für Ihre Hartherzigkeit.«
»Der Romanverfasser? Ein trauriger Märchenprinz. Wenn sie ihn aushält, so mag er sie behalten.«
Sie schwiegen. Nach einer Pause hörten sie, von fern her, wie das Orchester das Finale der Borodineschen Symphonie spielte.
»Aufrichtig gestanden,« sagte Jacqueline, »wäre ich ein Mann, ich hätte denselben Geschmack wie Sie. Mütter einer zahlreichen Familie, nein, das würde mir keinen Spaß machen. – Ich kenne einige der Mütter, die heute abend hier so schlank und anmutig paradieren, von Dr. Krauß her, von seiner Douche, wissen Sie, und ich möchte wohl das Gesicht des Verführers sehen, wenn die Entschleierung beginnt. Huha! ... Ein junges Mädchen dagegen, frisch und zart, wie ... Madeleine de Reversier zum Beispiel –«
»Sprechen Sie mir doch nicht von den andern,« unterbrach sie Lestrange. »Sie wissen sehr gut, daß Sie die einzige sind, die ich mag.«
»Daß Sie ›mich mögen‹, glaube ich wohl. Aber Sie ›mögen‹ gerade so gern jede Frau, sagen wir wenigstens jedes junge Mädchen, dessen Sie habhaft werden können. Ja, und wenn es die kleine flache und geschmacklos gekleidete Jeanne ist, so können Sie es nicht lassen, ihre ›Salzfässer‹ mit strahlenden Augen zu betrachten. Bitte, sagen Sie nicht nein! Es ist eine kleine Krankheit, an der Sie leiden, eine ›Nevrosette‹ wie mein lieber Dr. Krauß es so zartfühlend nennt. Ich mache Ihnen deswegen durchaus keine Vorwürfe, mein Lieber, und bin keineswegs eifersüchtig.«
Sie amüsierte sich damit, bei jedem Satz einen Kuß auf die zerpflückte Blume zu drücken, die sie zwischen ihren Fingern hin und her drehte.
Lestrange murmelte leise:
»Sie haben recht ... Aber ich ... ich begehre Sie vor allen anderen!«
Unter Jacquelines ironischem Blick wagte er es dieses Mal wieder nicht zu sagen: »Ich liebe Sie.« Sie fragte, indem sie die Blume immer noch dicht an die Lippen hielt:
»Es ist also Ihr Ernst?«
»Mein voller Ernst.«
»Gut. Wenn es Ihr Ernst ist,« antwortete sie ruhig, »so heiraten Sie mich. Aha! Ich dachte es mir! Sie sehen ja ganz erschrocken aus!«
»Ich versichere ...«
»Ich versichere Sie, ja, Sie sehen erschrocken aus! Aber was haben Sie sich den eigentlich gedacht, mein armer Luc? Nun? Daß ich mich betragen würde wie Madeleine de Reversier, wie Juliette Avrezac und alle die anderen? Nein, nein, mein Lieber, fehlgeschossen. Ich habe die Komödie aus erster Hand kennen gelernt, und ich weiß, was sie wert ist. Man kommt über das Alter hinaus, wo man noch Aussicht hat, sich zu verheiraten und hat meistens nicht einmal ein wirkliches Abenteuer erlebt, das einem wenigstens ein bißchen Spaß gemacht hätte, dagegen höchst wahrscheinlich eine Unmenge von Scherereien. Ich bedanke mich! Ich will mich verheiraten. Und bin ich denn etwa eine schlechte Partie? Was? Ich bin von guter Familie, besitze eine Mitgift von zweihunderttausend Franks, über die ich frei verfügen kann ... Natürlich ist das nicht alle Welt, nur eine Kleinigkeit, aber in unseren schlechten Zeiten doch eine ganz angenehme Kleinigkeit. Ein bißchen leichtsinnig vielleicht? Pah, das ist doch nur meiner grünen Jugend zuzuschreiben, ich werde schon verstehen, mich in acht zu nehmen, wenn ich erst verheiratet bin. Und was das betrifft, intakt zu sein, so können Sie ganz Paris, ja ganz Orleans mit durchsuchen, mein Herr ... Sie werden keine finden, die mehr ... mehr Jungfrau von Orleans wäre als Ihre Dienerin. Selbst mit der kleinen Chantel und ihren Salzfässern will ich es wohl aufnehmen! Lieber Gott! Ich weiß natürlich recht gut, daß die Kinder nicht mit den Störchen kommen, ich bin kein weißes Gänschen, wie unser Freund Hector sagt. Nichtsdestoweniger wird mein Gatte die volle Befriedigung haben als Erster ... die ganze Geschichte einzuweihen.«
Sie erhob sich, ließ die Finger abermals über die Tasten des Klaviers gleiten und fügte hinzu, wie für sich:
»Und ich bilde mir fest ein, daß die Einweihung durchaus nicht langweilig werden wird.«
Von der Halle klangen die immer leiser werdenden Schlußaccorde der Symphonie zu ihnen herüber. Es wurde Beifall geklatscht: dann hörte man das Geräusch vieler Menschen, die sich in die kleineren Salons verteilten. Luc Lestrange blickte Jacqueline an, aber sagte nichts.
»Ja, so ist's, mein schöner Freund,« schloß sie ihren Vortrag. »Denken Sie darüber nach und entschließen Sie sich. Entweder heiraten, oder Sie werden von mir nichts erreichen als – das!«
Und indem sie ihm die mißhandelte weiße Rose, die ihre Lippen geküßt hatten, ins Gesicht warf, huschte sie davon.
Lestrange wollte ihr folgen, wurde aber von dem Menschenstrom, der die Halle verlassen hatte, aufgehalten. Er sah von weitem, wie sie sich an den Arm des Doktor Krauß hing, ein kahlköpfiger Vierzigjähriger, mit einem Zaren-Gesicht, der gelassen diese Gesellschaft von nervösen, zu Grunde gerichteten Menschen, von deren Nervosität er lebte, durch seine Lorgnette musterte.
Beim Eingang zur Halle stieß Lestrange auf Paul Le Tessier, der sich mit Étiennette Duroy unterhielt. Sie stand ihm gegenüber, und mit einem Blick, der durchaus nicht väterlich war, betrachtete der würdige Senator den entzückenden Hals des jungen Mädchens. Die beiden Herren drückten sich die Hände. Lestrange fragte:
»Jetzt kommen Sie wohl an die Reihe, mein Fräulein! Wir sehnen uns nach einem einfachen Liede nach dieser Sündflut von gelehrter Musik.«
Noch zitternd vor Aufregung von dem Gespräch mit Jacqueline, bohrte er seinen Blick scharf in die blauen Augen der kleinen Étiennette.
»Nein,« antwortete sie lächelnd. »Noch nicht. Erst wird M me. Ucelli singen, und ich bin sehr damit zufrieden.«
»Sie hat das Lampenfieber,« sagte Paul. »Und ganz überflüssigerweise, denn ich wette, sie wird kolossal gefallen!«
»Ach, mein lieber Senator,« bemerkte der Maler Valbelle, der sich ihnen angeschlossen hatte, »schweigen Sie nur still. Sie sind ja ebenso mitgenommen, wie die Kleine. Und mit Recht, Sie treten ja heute abend sozusagen auf als Gatte der Debütantin!«
Étiennette wurde rot. Le Tessier antwortete nicht; er sah mißvergnügt aus, bot dem jungen Mädchen den Arm und führte sie weiter.
»Sie haben sie verletzt,« sagte Lestrange zum Maler. »Weshalb sagen Sie das auch? Sie wissen ja, daß es eine ernsthafte Geschichte ist zwischen den beiden. Man spricht von einer Heirat.«
»Ja, das ärgert mich ja gerade!« antwortete Valbelle. »Mit welchem Recht erlaubt sich dieser dicke Politiker das hübsche Mädchen in Beschlag zu nehmen? frage ich. Sie ist wie für uns geschaffen, für die leichtsinnige Erotik, ebenso wie ihre Mutter, die gutmütige Mathilde und die hübsche Suzon, ihre Schwester. Jetzt will man aus ihr eine anständige Bürgersfrau machen, damit sie ihrem dicken Senator treu bleibt. Na, meinetwegen, ich pfeife drauf!«
»Thatsache ist,« sagte Lestrange träumerisch, »daß sie heute abend entzückend ist, in dem abstehenden Musselinkleid, den Puffärmeln und dem Zuckerhut-Chignon ... Sie muß den appetitlichsten Körper haben ...«
Sie begannen das junge Mädchen durchzunehmen, sie mit plumpen Jockey-Worten zu entkleiden, indem sie sich in Vermutungen über die unbekannten Reize dieser verführerischen Mädchenschönheit verloren. Sie sprachen noch dazu mit lauter Stimme, so daß die Gäste, die auf dem Wege nach der Halle an ihnen vorüberschritten, Bruchstücke ihrer Unterhaltung auffingen. Allmählich glitt ihr Gespräch auf andere Gegenstände über, und es war dann vom Fest, von der Musik die Rede.
»Da heißt es nun, daß diese Geschichte heute abend zu dem Besten gehören soll, was man hier in Paris auf dem Gebiete privater Festlichkeiten aufzutreiben vermag. Seit vierzehn Tagen sind ja die Neuigkeitsrubriken unserer Blätter voll von Notizen über die großartige Halle, über das wirkliche Theater hier, über die anmutige, schöne Wirtin des Hauses ... Ich finde, diese berühmte Geschichte ist nichts anderes, als eine gewöhnliche Abendunterhaltung. Was meinen Sie?«
»Nun ja,« antwortete Lestrange. »Es werden überhaupt keine schönen Feste mehr gegeben. Wir sind viel zu häßliche Menschen, und alles ist schon zu oft da gewesen. Man ist eben nicht erfinderisch mehr. Aber was die anmutige und schöne Wirtin betrifft, so ist das jedenfalls keine Übertreibung. Sehen Sie sie nur mal an!«
Maud stand, auf Maxime de Chantels Arm gestützt, und unterhielt sich mit dem unzertrennlichen Paare, M me. Ucelli und Cécile Ambre. Cécile, in fast geschlossenem, schlichtem Kleide, das Haar in einen niedrigen Knoten gebunden, ungefähr so wie eine Ludwig XVI-Perücke, hatte dasselbe unbestimmbare und beunruhigend zwitterhafte Äußere wie immer; die Italienerin trug ein Empire-Kostüm, die eine Schulter und die halbe Brust entblößt. Maxime war – in einem neuen bei Wasse gemachten Frack erschienen, aber durch kleine Verstöße in der Wahl seiner Wäsche und Stiefel war er trotz alledem sein provinzielles Gepräge nicht los geworden – er sah blaß aus, angegriffen von dem verzehrenden Fieber der Einsamkeit. Er sah nichts, hörte nichts, als die bezaubernde Gestalt, deren Hand auf seinem Arm ruhte, und auf seinem Gesicht, das unfähig war, die Gefühle seiner Seele zu verbergen, strahlte die Freude der sicheren Eroberung. Maud sprach und hörte zu; aber ihre Mienen waren zerstreut, ihre Gedanken abwesend; ihre blauen Augen blickten tiefschwarz, wie sie es immer thaten, wenn ernste Sorgen ihre starke Seele aufregten. Und doch, wie gleichgültig sie auch diesen Abend war gegen die Wirkung ihrer Schönheit, wie fern ihr der Gedanke lag, gefallen zu wollen – sie war trotzdem die Königin in diesem Kreise, von einer anderen Rasse als die übrigen, stolzer, vornehmer und bewußter, geschaffen als Herrscherin über sie zu bestimmen, ihnen die Zügel anzulegen. Von der Spitze ihres ein klein wenig hervorgestreckten Fußes bis zum welligen Helm ihres kastanienbraunen, rotgolden schimmernden Haares war ihre Silhouette in den anmutigsten, feinsten Linien gezeichnet, von jener vollendeten weiblichen Formenschönheit, der gegenüber die Kleidung keine edlere Aufgabe hat, als ihr so nahe wie möglich zu folgen. Maud, die ihre eigene Vollkommenheit kannte, wußte das sehr wohl: ihr blaßgrünes Kreppkleid schmiegte sich liebevoll, wie eine zarte Wasserpflanze, um den weißen Leib einer aus den Wellen entsteigenden Seejungfrau. Und der Hals und die Arme, ohne Schmuck, ohne Band, waren keusch in ihrer blendenden Nacktheit.
»Ja,« wiederholte Lestrange, leise für sich, »sie ist sehr schön.«
Er schwieg. In seiner Seele stieg die Erinnerung auf an einen der peinlichsten Augenblicke seines Lebens, an jenen Moment des Wahnsinns, der ein Geheimnis zwischen ihm und Maud geblieben war, als auch er an diese stolzen Dianalippen hatte rühren wollen. Die Erinnerung daran durchrieselte seine Sinne, und er zitterte, als ob sein Handgelenk noch unter dem rasenden Biß blutete, der ihn damals gezwungen hatte, das junge Mädchen loszulassen.
»Die Ucelli will singen,« sagte der Maler. »Wollen wir hineingehen, es ist der Mühe wert, sie zu hören.«
Die Damen hatten ihre Plätze schon wieder eingenommen, und Cécile Ambres männliche Finger schlugen die ersten Accorde an. Wie die Italienerin da stand neben dem Klavier, mit ihrem Gesicht dem Publikum zugewandt, glich sie einer enormen Statue von Fleisch, unanständig durch ihre üppige und schwellende, ungeheuerliche Nacktheit.
Sie begann zu singen: ein leidenschaftliches Gedicht von Holmès, eine Anrufung des Éros, des Herrn der Welt. Und plötzlich wurde diese Fleischmasse beseelt, die heilige Flamme der Kunst verwandelte sie. Ihre Augen, ihre Lippen, ihre Bewegungen veränderten sich. So wie sie jetzt da stand, war sie die Hohepriesterin der Liebe, berauscht von Weihrauch, entflammt durch heiße Wohlgerüche, die ihre brennenden, nach Küssen schmachtenden Lippen dem Gotte der schmerzlichen Wollust darbietet, und ihre Arme ihm sehnsüchtig entgegenstreckt in zitternder, angstvoller Erwartung seiner Umarmung. Die Stimme, die einen reinen und schmerzlich bebenden Klang hatte, wie die Töne gewisser alten Violinen, war voller Seele, einer leidenschaftlichen und zerrissenen Seele, und die Klagerufe ihres Gesanges waren wie ebenso viele Küsse, Liebkosungen, Seufzer der Begierde oder Seufzer der Sättigung ... Unter den Zuhörern war keiner, der diese Strophen von Holmès nicht schon unzählige Male gehört hätte: so wie sie jetzt ertönten aber, trafen sie das Ohr wie eine ganz neue Musik, lockten sie das schlummernde Raubtier der Sinnlichkeit, das tief im menschlichen Herzen kauert, ans Tageslicht und machten es unruhig, so daß die Wangen der jungen Mädchen sich rot färbten, die Frauen zitternd aufseufzten, und die Augen der Männer sich entzündeten.
Sie schleuderte die Schlußworte: » Éros, erschließe mir Deinen Himmel!« in den Saal hinaus mit einem so schmerzlich schluchzenden, so durchdringenden und leidenschaftlichen Aufschrei, daß es wie ein Beben durch die ganze Zuhörerschaft ging; halberstickte Laute rangen sich unwillkürlich hervor aus mancher zugeschnürten Kehle ... Dann sank sie wie vernichtet um in die Arme des Cécile Ambre und der herbeieilenden Orchesterherren.
»Diese Frau,« sagte jemand hinter Lestrange, »singt mit ihrem Geschlecht.«
Es war Hector Le Tessier.
»Haben Sie bemerkt,« sagte Valbelle, »daß sie während ihres Gesanges ununterbrochen eine und dieselbe Person angestarrt hat?«
Lestrange und Le Tessier wandten sich um nach der Richtung, in der die Augen der Sängerin thatsächlich noch immer wie gebannt hinstarrten. Im Hintergrunde der Halle, an die Wand gelehnt, sahen sie Julien stehen, schön wie ein Balzacscher Held, und ebenso gekleidet, unbeweglich, schweigsam und traurig. Beinahe ihm zu Füßen saß Juliette Avrezac, entfernt von der Mutter und den übrigen Damen, ihre Blicke voll zärtlicher, frauenhafter Liebe zu ihm emporhebend. Die ganze zarte Gestalt bot sich ihm liebend an, mit ihren demütigen Augen, ihrem wehmütig verliebten Lächeln, der feinen Nacktheit ihrer Schultern und Arme.
»Es liegt immerhin eine Macht darin, so schön zu sein,« sagte Hector Le Tessier vor sich hin. »Wenn hinter dieser Schönheit noch eine männliche Seele steckte – die Welt würde ihm gehören.«
In diesem Augenblick näherte sich Jacqueline de Rouvre am Arm des Doktor Krauß den drei Herren. Nachdem sie Lestrange einen kleinen moquanten Blick zugesandt hatte, machte sie Hector ein Zeichen, daß sie ihn zu sprechen wünschte.
»Sie müssen sich schon zu mir herabbeugen, mein Herr. Sie sind viel zu groß für meine vertrauliche Mitteilung.«
Und mit ihrem Munde am Ohr des jungen Mannes fuhr sie fort:
»Jetzt, nachdem Éros der M me. Ucelli definitiv den Garaus gemacht hat, kommt Ihre kleine Schwägerin an die Reihe ... Sie ist entsetzlich bange, die Arme! Verlassen Sie diese Ecke nicht, und fachen Sie die Begeisterung hier an, damit sie lichterloh brennt. Den linken Flügel verteidigt Maxime unter Mauds Kommando: er ist bereit, jeden zu ermorden, der nicht applaudiert.«
»Verlassen Sie sich auf mich,« antwortete Hector. Und indem er den Hals und die Arme des jungen Mädchens betrachtete, zeichnete er in der Luft mit schneller Bewegung, wie die Maler es wohl thun, einen Umriß.
»Vorzüglich,« sagte er lächelnd. »Wirklich überraschend, das muß ich sagen ... Ich hätte es mir nicht so ... na, so ... wirklich überraschend!«
»Sie unverschämter Mensch, Sie!« erwiderte Jacqueline. »Und das was Sie sehen, mein Herr, gehört noch zu dem Magersten an mir. Fragen Sie den Doktor, bitte!«
»Fräulein Jacqueline de Rouvre ist diejenige meiner Klientinnen, welche ... mich am meisten ... aufregt,« antwortete der Amerikaner, ohne eine Miene seines phlegmatischen Gesichts zu verziehen.
»Da sehen Sie! Das nennt man Doktoren-Liebe! ... Und noch dazu sagt er dasselbe zu uns allen, der gute Doktor!«
Sie ließ den Arm des Doktor Krauß los und sprang mit mutwilliger Backfischlustigkeit davon. Der Doktor, der an diese Behandlung gewöhnt schien, blieb wo er war, reichte Hector die Hand und begann ohne jeglichen Übergang ihn wegen einer drohenden Ministerkrise jener Tage auszufragen. Inzwischen war Étiennette auf die Bühne getreten, vom berühmten Pianisten Spitzer geführt ... Weder Hector noch Maxime brauchten das Publikum anzuspornen; man applaudierte sofort, noch ehe sie angefangen hatte zu singen, so eigen und niedlich sah sie aus in ihrem Krinolinenkleide mit der spitz ausgeschnittenen Taille, den weiten Ärmeln und dem runden feinen Gesichtchen, eingerahmt von Seitenlöckchen, und mit dem Zuckerhut-Chignon. Über und über rot vor Aufregung stimmte sie die Guitarre nach den Accorden, die Spitzer auf dem Klavier anschlug, und begann zu singen, während das Publikum in gespanntem, freundlich aufhorchendem Schweigen verharrte. Ihre Stimme, die anfangs etwas unruhig war und vor Angst zitterte, gewann bald ihre Sicherheit wieder und klang, hell und dünn wie sie war, doch rein und gleichmäßig wie Krystall, das von einem Violinbogen berührt wird. Sie sang Romanzen, die von den vibrierenden Klängen der Guitarre und den leisen, gedämpften Tönen des Klaviers vorzüglich begleitet wurden, entzückende alte Romanzen, in denen ein ganzes Zeitalter wieder auflebte, die Zeit von Amy Robsart und Jane Eyre, die Zeit der kleinen Spinette, der Postwagen und der jungen Kavaliere in Kniehosen und hohen Stiefeln ... Ja! der Töne Zauber! Für einen kurzen Augenblick verlieh sie allen diesen blasierten und verlebten Parisern eine lebendige Seele der Kindlichkeit und Kunstbegeisterung, die den Franzosen von 1830–1840 eigen war. Allmählich ergriff diese Stimmung den ganzen Saal; Beifallklatschen und Bravorufe rauschten zu Tiennette hinauf, die Damen warfen ihr Blumen zu, und als sie die Estrade verließ, stritt man sich darum, ihr den Arm zu bieten.
Paul Le Tessier erwartete sie in Jacquelines Schlafkammer, die an diesem Abend den Damen als Ankleidezimmer diente. Sie warf sich ihm erregt und freudestrahlend in die ausgestreckten Arme, und er küßte sie auf beide Wangen.
»Sind Sie zufrieden?«
»Mein liebes Kind, Sie sind ja eine große Künstlerin! Aber ich hoffe, daß diese große Künstlerin niemals dem Publikum gehören wird.«
Sie wechselten einen Blick und besiegelten in diesem Augenblick die Zukunftspläne, die sie miteinander verbanden.
»Sie sind gut,« sagte das junge Mädchen. »Sie lieben mich aufrichtig, so wie man mich lieben muß. Ich fühle mich so allein ... und es war so schrecklich, hier vor all den fremden Menschen zu singen, während ich an Mama dachte, die krank zu Hause liegt.
Aber jetzt müssen Sie gehen ... Sie kompromittieren mich sonst, es kommt jemand.«
M me. de Rouvre, die beinahe hübsch aussah in einem schwarzen Sammetkleide, mit Mondschein-Schmelz übersäet, Maud, M me. Ucelli und die beiden Reversiers traten ein, um das junge Mädchen zu beglückwünschen. Paul zog sich zurück.
Als er in die Halle trat, begegnete ihm Julien de Suberceaux, der allein herumspazierte. Es waren außer ihm nur wenige Menschen im Saal. Paul war in der überströmend fröhlichen Stimmung, wo das eigene Glück einem die ganze Welt und alle Menschen liebenswert macht. Er drückte Juliens Hand mit freundlicher Wärme, wurde aber sofort abgekühlt, als ihn der gleichgültige Blick des jungen Mannes traf. Kurz darauf hörte er auf dem Wege zum Speisesaal folgendes Bruchstück eines Gesprächs zwischen Espiens und Valbelle, die von Herren aus den Ministerien und Regierungsbureaux umringt waren:
»Wissen Sie, was die kleine Duroy ihrem Beschützer Le Tessier sagte, als sie vorhin von der Bühne herunterkam?«
»Nein?«
»Ach, mein Freund, wäre doch Mama hier! ... Sie, die immer nur auf meine Schwester Suzanne stolz war!«
Der Zuhörerkreis brach in ein lautes Gelächter aus. »Ach die gute Mathilde!... Die gute Suzon!«
In Paul kochte es auf; er hätte gar zu gern diesen faden Verleumdern einen Faustschlag ins Gesicht gegeben. Er beherrschte sich aber und ging weiter. An wen sollte er sich auch wenden? So war ja nun einmal der Ton in Paris, wo man mit falscher Geistreichigkeit und ohne Barmherzigkeit seinen Nächsten verleumdet, wo jede ehrenhafte Anstrengung verachtet wird, wo man sich freut, wenn es jemandem schlecht ergeht, und diejenigen, die sich herausarbeiten, mit Unwillen betrachtet. »Einerlei,« dachte er. »Ich werde sie heiraten.« Und sein Herz wurde warm bei dem Gedanken, daß er sein liebes kleines Mädchen, die so tapfer und brav war, rächen könnte, indem er diese Kerle zwingen würde, sie mit Achtung zu behandeln.
Das Buffett war – nach Mauds Angabe – durch kleine Tische ersetzt worden, die im Speisesaal und im anstoßenden Rauchzimmer aufgestellt waren; die beiden Räume waren durch Dekorationen zu normannischen Wirtshäusern umgeschaffen. Man konnte sich darin zu verschiedenen, traulichen kleinen Gruppen niederlassen und die Diener wie in einem Wirtshause anrufen.
»Das ist wirklich der Höhepunkt aller Erfindung im modernen Gesellschaftsleben! Kann man sich etwas Amüsanteres denken, als daß die jungen Mädchen und Frauen sich zu zweien und zu vieren, mit welchen Herren sie wollen, zu Tische setzen können, um ganz ungeniert das Kokottenspiel, das sie so sehr lieben, zu spielen, während Eltern und Ehemänner mit milder Nachsicht zuschauen.«
So sprach Hector Le Tessier zu Aaron, dessen runde, kurzsichtige Augen in der lärmenden Gesellschaft nach Maud herumspähten, ohne sie zu entdecken.
»Sie haben Fräulein de Rouvre wohl nicht gesehen?« fragte er Lestrange, der vorbeiging.
»Ich suche sie gerade. Sie meinen wohl Fräulein Jacqueline, nicht wahr?«
»Nein ... Ich meine Fräulein Maud.«
»Ach Maud! aufrichtig gestanden, man muß im Besitz Ihrer Unverfrorenheit sein, um sie ihren beiden wachthabenden Leibgardisten abwendig machen zu wollen. Haben Sie sie beobachtet? Sie sind nämlich sehr amüsant anzusehen.«
»Ja,« sagte Hector ernst, »amüsant anzusehen. Aber ich fürchte, die Geschichte endet nicht gut. Das Drama, das sich dort vorbereitet, wird weniger amüsant werden, fürchte ich.«
Der Bankier, der langsam eine saftige Birne verzehrte, rief:
»Drama? Passieren denn heutzutage Dramen in der guten Gesellschaft, darf ich fragen? Heh? Es gibt ja keine Leidenschaften mehr, nur Begierden! Keine Eifersucht, nur Verdruß.«
»Ist dieser Gedanke von Ihnen, mein Herr?« fragte Hector sehr ernsthaft.
»Ja ... jawohl,« antwortete der Bankier, der die Ironie in den Worten Hectors witterte.
Um diese Zeit ging M me. Ucelli zwischen den Tischen umher und trieb die trägen Gäste wieder in die Halle, wo das Konzert fortgesetzt werden sollte.
»Herein, herein! meine Damen und Herren! su! su! Ich bitte, herein in den Saal! ... Fräulein Ambre will die fin de siècle-Lieder singen, die sie bei der Herzogin vorgetragen hat ... Schnell, kommen Sie! ... Es ist großartig sage ich Ihnen. Gleich fängt sie an. Aber so kommen Sie doch, schnell!«
Von neuem ertönten in der Halle die Klänge des Klaviers. Jeder suchte seinen Platz wieder auf. Von M me. Ucelli begleitet trug die junge Sängerin einige jener trocken-komischen Lieder vor, die nun schon seit fünf Jahren das musikalische Vergnügen von Paris bildeten, und die ohne Zweifel unsere Nachkommen durch ihre mühsam zusammengesuchte und schwerfällige Albernheit in Erstaunen setzen werden. Die Freundin der Herzogin sang die Lieder nach dem üblichen Rezept, mit strammer und steifer Haltung, ohne daß eine Muskel in ihrem Gesicht sich rührte, und fast ohne die Lippen zu bewegen.
An passenden Stellen wurde stark geklatscht. M me. Ucelli gab das Zeichen. Fräulein Ambre verbeugte sich nicht, sondern setzte sich ruhig nieder, während die Italienerin auf dem Klavier rauschende Variationen in den Saal hinaus klingen ließ. Es war das verabredete Zwischenspiel. Maud und Jacqueline benutzten es, um diskret zwischen den Stuhlreihen hindurchzuschlüpfen und den jungen Mädchen Zeichen zu geben, daß sie aufstehen und ihnen folgen sollten.
»Was bedeutet denn das?« fragte Doktor Krauß M me. de Reversier, die neben ihm saß.
»Die jungen Mädchen werden hinausgeschickt. Diese Sitte ist seit kurzem sehr in Aufnahme gekommen. Wenn die gewagtesten Sachen von Bruant oder Félicia Mallet gesungen werden, schickt man die jungen Mädchen fort. Es ist ja auch viel passender, nicht wahr?«
»Natürlich,« murmelte der Doktor.
Aber er konnte das Lächeln nicht lassen, als er sie hinausgehen sah, seine kleinen konfusen Freundinnen, die fast alle seine Klientinnen waren, und deren Vertrauen er besaß. Jetzt wanderten sie, von den beiden Töchtern angeführt, in die Verbannung, mitsamt ihrer vielseitigen Tugend. Einige jüngere und ältere Herren, anerkannte und privilegierte Verehrer des Jungfrauen-Flirts, folgten ihnen: Lestrange, Hector Le Tessier und der Maler Valbelle, der seine unartigen Bemerkungen in die schwarzen Locken der kleinen Dora Calvell hineinlispelte.
Die Auswanderung wurde mit Gelächter und Beifall begrüßt. In der Thür drehte Jacqueline sich um und sagte:
»So, jetzt können Sie Ihre kleinen Unanständigkeiten in Ruhe genießen. Die Unschuld ist gerettet.«
Von Maud geleitet, zog die lustige kleine Schar von hellen Musselinkleidern, in ihrer Mitte die vier oder fünf schwarzen Herrenfracks, in die kleine Wohnstube hinein, wo Lestrange und Jacqueline vor kurzem während der Symphonie Borodines ihr Zwiegespräch gehabt hatten. Die hier versammelten jungen Damen waren fünfzehn an der Zahl, von denen zehn hübsch waren; die anderen mit Ausnahme von zweien, welche unvorteilhaft aussahen, waren jedenfalls elegant und reizvoll genug, um sich Courmacher erobern zu können. Hier nun eingeschlossen zu sein mit Herren, die ihnen so manchen Abend schlüpfrige Reden ins Ohr geflüstert hatten, während die Töne einer leichtfertigen Musik, die sie sehr wohl kannten, gedämpft zu ihnen hineindrangen, – das erhitzte die kleinen Köpfe noch mehr, es erweckte in ihnen das Verlangen, sich diesen treuen Kavalieren, die sie den verheirateten Frauen mit geheimem Stolz entführt hatten, noch mehr auszuliefern.
Maud hatte ihren Arm unter Jeanne de Chantels gesteckt, die von den vielen Lichtern, von der Musik – und vielleicht auch von einigen Tropfen Champagner, die Lestrange ihr vorhin eingeschenkt hatte, – ein wenig berauscht war. Trotz der rührenden Ungeschicktheit ihrer provinziellen Toilette fiel Jeanne de Chantel den Leuten auf durch ihre schöne Figur, ihr schweres, braunes Haar, ihre weiße Haut und ihre großen, frommen Augen. Sie fragte treuherzig:
»Weshalb durften wir nicht im Saal bleiben? Was haben sie denn vor da drinnen?«
Valbelle griff die Frage sofort auf und antwortete:
»Das elektrische Licht wird ausgelöscht, mein Fräulein; die Herren nehmen die Damen auf den Schoß und küssen sie ab nach Herzenslust. So ist es Sitte in allen Pariser Gesellschaften nämlich, aber nur die verheirateten Damen haben die Erlaubnis, dabei zu sein.«
»Er scherzt Kind,« sagte Maud und küßte die Stirn des jungen Mädchens, die plötzlich feuerrot geworden war. »Nein, die Wahrheit ist nämlich, man trägt heutzutage mit Vorliebe bei den musikalischen Soiréen Lieder im Straßenjargon vor ... und für uns junge Mädchen ist es viel angenehmer, nicht dabei zu sein.«
»Aber es ist ja gar kein Jargon in den Liedern, die heute abend gesungen werden sollen,« wendete Juliette Avrezac ein, die mißvergnügt darüber war, von Julien getrennt zu sein. »Cécile hat mir das Programm erzählt: Héloïse und Abélard, die Droschke, Ronsards Stanzen ... Ich weiß sie alle auswendig.«
»Ich auch,« gestand Marthe de Reversier.
Und lachend erklärten die anderen, Dora Calvell, Madeleine de Reversier und Jacqueline:
»Ich auch! ... Ich auch!«
»Ich,« sagte ein ganz junges Mädchen, die Schwester der M me. Duclerc, »ich kenne die Droschke und Ronsards Stanzen, aber Héloïse und Abélard hat mein Bruder mir nie vorsingen wollen ... Das muß bös sein.«
»Soll ich es singen?« fragte Jacqueline.
»Ja, Ja!«
»Schön. So hört denn!«
Sie sprang auf den Klavierstuhl und fing an zu präludieren, ehe Maud, der dies mißfiel, sie zurückhalten konnte. Sie betonte die zweideutigen Verse mit einem überraschend talentvollen Vortrag. Die Herren applaudierten das Lied, das in Wirklichkeit einen tieferen Eindruck auf sie gemacht hatte, als sie es sich gestehen wollten. Der Gegensatz zwischen den Unanständigkeiten des Liedes und den jungfräulichen Lippen, die es vortrugen, den Mädchenohren, die dabei zuhörten, ließen in ihren Herzen die leichterregten Wallungen der Begierde aufsteigen.
Auch die jungen Mädchen, diese demi-vierges, hatten sich im perlenden Schaum des gewagten Liedes einen Rausch getrunken. Ihr Lachen klang unnatürlich abgebrochen, und sie lehnten sich noch schmachtender an den Arm ihrer Herren.
Mit lüstern glänzenden Augen hatte Luc Lestrange sich Jeanne de Chantel genähert. Er paßte während des Liedes auf, welche Wirkung jede Anzüglichkeit auf ihrem reinen und sinnenden Gesichtchen hervorbrachte. Aber das harmlose, wohlwollende Lächeln wich nicht von den Lippen des Kindes.
»Der infame Kerl!« dachte Hector, der sie beobachtete.
Zum erstenmal hatte er, der skeptisch nachsichtige Betrachter der Laster seiner Zeit und seines Umgangskreises, das Gefühl, wie widerlich diese Rolle des professionellen Frauenverderbers in Wahrheit ist; heute bemerkte er's, weil das Opfer dieser entsetzlichen Pest diesmal eine junge Seele war, die in einer ihm unerklärlichen Weise, fast unmerklich, ihm lieb geworden war.
Als Jacqueline unter Bravorufen den letzten Refrain beendet hatte, fragte Lestrange Fräulein de Chantel, indem sein Blick die Augen des jungen Mädchens liebkosend suchten:
»Wie gefällt Ihnen die Romanze, mein Fräulein?«
»Sehr gut,« antwortete Jeanne naiv und etwas zerstreut, »es ist sehr hübsch ... und Jacqueline hat ausgezeichnet gesungen.«
»Ja, nicht wahr? Man kann unmöglich in einer geistreicheren Weise Sachen sagen, die ... unpassender wären.«
Jeanne wurde abermals purpurrot; ohne eigentlich recht zu begreifen, was Lestrange damit sagen wollte, ahnte sie dennoch die häßliche Absicht, ihre Gedanken auf verbotene Wege zu führen. Und dieses rief in ihr das Gefühl hervor, welches jedes junge Mädchen bei Liebesworten, die nichts mit aufrichtiger Zuneigung zu thun haben, ergreifen wird: die Angst. Gleichzeitig schämte sie sich, dort mit nacktem Hals und nackten Armen vor diesem Herrn zu stehen; sie fühlte sich unglücklich und einsam. Instinktiv suchte sie eine Stütze, einen Zufluchtsort; sie sah sich um, und zum erstenmal ging es ihr auf, wo und zwischen welchen Menschen sie sich befand. Sie begriff, was in diesen Gruppen von jungfräulichen Toiletten und schwarzen Fracks geflüstert wurde, sie entdeckte die übrigens kaum verheimlichten Liebeleien, die dort getrieben wurden. Die Offenbarung traf sie plötzlich wie ein Blick vom Himmel: ihr war zu Mute, wie vor Zeiten wohl einer christlichen Jungfrau, die, nachdem sie durch einen Schlaftrunk betäubt worden, in einem Hause von Suburra wieder zum Bewußtsein erwacht.
Lestrange, der ihre Verwirrung mißdeutete, fuhr fort mit leiser Stimme zu sprechen; er verließ das Thema vom unanständigen Liede, das jedenfalls zu schlüpfrig war für die unwissende Jeanne, und, nachdem er ihr als Übergang einige Komplimente gesagt, versuchte er es mit der Melodie, die er auswendig wußte, weil er sie so oft heruntergeleiert hatte, und die er für ausgezeichnet, ja für unfehlbar hielt, wenn es galt, unter der Maske der Bewunderung und Freundschaft die Nerven eines jungen Mädchens zu erregen und ihre physische Sensibilität zu erwecken.
»Mein Fräulein,« sagte er, »haben Sie sich wohl schon überlegt, welche Grausamkeit die gesellschaftlichen Berührungen in Paris mit sich führen? Wir begegnen einander heute abend; der Zufall will, daß wir uns freundschaftlich miteinander unterhalten; ich kann mir für den Augenblick einbilden, daß Sie, die so zart, so schön sind, mir angehörten; ich ahne, welch eine Welt von berückender Zärtlichkeit sich in Ihnen eines Tages entfalten wird ... ich ahne es – aber wir gehen wieder auseinander, vielleicht auf Nimmerwiedersehen ... Und ein anderer wird den Schatz heben: für einen anderen werden sich diese schönen Augen verschleiern, einem anderen wird diese Stirn, diese Lippen angehören, und alles Übrige, dessen Schönheit ich erraten kann, aus dem, was ich gesehen ...«
»Mein Herr!« murmelte Jeanne.
Sie fühlte, wie sein Blick sie förmlich entkleidete, sie war einer Ohnmacht nahe, aber er fuhr unbarmherzig fort, berauscht von seinen eigenen Worten, in seiner eigenen Falle gefangen.
»Dieser Glückliche, ich werde es nicht sein ... aber von Ihnen zu träumen, daran kann mich nichts hindern. Ich sehe Sie an, und ich halte Sie fest; in einsamen Stunden kann mein Traum Sie zu mir zurückführen, wann ich es wünsche. Und wenn Sie mir auch fern sind, so wird all' Ihre junge Schönheit mir dennoch angehören; es wird an Ihnen auch nicht das geheimnisvollste Fleckchen sein, das ich nicht ...«
Wie oft hatte er diese weiche, sanft anschmiegende Rede angewendet jungen Mädchen gegenüber, sicher sie darunter wie unter einer Liebkosung erbeben zu sehen? Aber dieses Mal kam er nicht zu Ende damit. Plötzlich stand Hector Le Tessier zwischen ihnen und schnitt ihm kurz das Wort ab.
»Mein Fräulein, darf ich Sie zu M me. de Chantel begleiten?«
»Ach ja, bitte!« rief sie mit einem Blick voll Dankbarkeit.
»Aber, mein lieber Le Tessier, ich muß Sie denn doch ...« fuhr Lestrange auf.
Hector sah ihm gerade ins Gesicht.
»Ich stehe Ihnen sofort zur Verfügung, mein Herr.«
Diese Scene verlor sich im Lärm des Aufbruchs der jungen Mädchen, die unter Gelächter und dem Rauschen von seidenen Kleidern hinauseilten. Das Konzert war zu Ende; in der Halle wurden die Stühle an die Wand gestellt, um Platz zum Tanzen zu schaffen; die Gäste strömten in den Speisesaal und verteilten sich an die kleinen Tische. Jeanne, die vor Gemütsbewegung nicht sprechen konnte, nahm Hector Le Tessiers Arm; durch die beiden Wohnstuben erreichten sie die Halle. Dort kam ihnen Maxime entgegen.
»Weißt Du, wo Mama ist?« fragte das junge Mädchen.
»Sie hat sich in M me. de Rouvres Zimmer zurückgezogen und ruht sich einen Augenblick aus. Soll ich Dich hineinbegleiten?«
»Herr Le Tessier wird so freundlich sein.« Draußen im Korridor waren sie einen Augenblick allein.
»Ich danke Ihnen,« sagte Jeanne, und sah mit ihren großen Augen zu Hector auf. »Bitte, gehen Sie jetzt wieder hinein ... Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Herr Le Tessier!«
Sie reichte ihm ihre Hand; vorsichtig, bereit sie sofort loszulassen, wenn er den geringsten Widerstand spüren sollte, drückte Hector einen leichten Kuß auf die Spitze des grauen Handschuhs. Als das junge Mädchen verschwunden war, blieb er noch einige Augenblicke in eigentümlich bewegter Stimmung zurück; erst eine sonderbare, kitzelnde Empfindung in den Augenwinkeln brachte ihn wieder zu sich. Er schalt sich nun selber:
»Das ist doch zu thöricht! Wahrhaftig ganz bewegt, und das nur, weil ich ein kleines dummes, unschuldiges Mädchen aus den Klauen dieses gemeinen Lestrange gerettet habe! ... Freilich – unschuldig ist sie allerdings. Ein weißeres Gänschen gäbe es wohl schwerlich unter all' den weißen Gänschen.«
Trotz der ironischen Worte lachte und sang etwas in seinem Innern, so süß und frohlockend. Als ihm aber darauf die kleine Scene mit Lestrange von vorhin in den Sinn kam, empfand er mit seinem Spürsinn das Komische, das in diesem wohlfeilen Salon-Heroismus lag.
»Ein Duell wegen dieses kleinen Mädchens, das ich ja kaum kenne, und die mir in Wirklichkeit vollkommen gleichgültig ist, nein! das wäre denn doch gar zu lächerlich! ... Aber dieser rohe Kerl, der Lestrange, ist mir unglaublich zuwider!«
Er trat in die »normannische Schenke« hinein, und stand im selben Augenblick Lestrange gegenüber, auf dessen klugem und sinnlichem Gesicht er ein spöttisches Lächeln sah.
»Ich stehe Ihnen zu Diensten,« sagte er.
»Mir zu Diensten,« höhnte Lestrange ... »Ein Duell etwa, weil Sie die Kleine eben hinausführten? Ich glaube, Sie scherzen, Le Tessier. Ich fühle mich durchaus nicht beleidigt, kann ich Sie versichern, und habe gar keine Lust mich lächerlich zu machen. Es war mir wirklich ganz neu, daß Fräulein de Chantel Sie ...«
»Fräulein de Chantel und ich haben durchaus nichts miteinander zu schaffen,« unterbrach ihn Le Tessier. »Lassen wir sie aus dem Spiel. Übrigens haben Sie recht. Ich habe durchaus keine Veranlassung, Ihnen persönlich an den Kragen zu wollen; ich bin, wie Sie wissen, auch keineswegs prüder als Sie, und ich, notiere die Unschuld unserer modernen jungen Damen nicht zu höherem Preise, als sie es verdient ... Aber gerade, weil sie sehr selten ist, meine ich sollte man sie schonen, wo man sie noch unverfälscht findet. Und eine mehr oder weniger, das wird Ihnen wohl so ziemlich einerlei sein, nicht wahr? Sie haben ja doch genug junge Damen eingeweiht! ... Eigentlich wundert's mich, wie das Ihnen noch immer Spaß machen kann.«
»Mir Spaß machen! Es macht mir weniger Spaß, als Sie denken,« erwiderte Lestrange, der plötzlich ernst und finster geworden war.
»Aufrichtig gestanden, ich schere mich den Teufel um all' diese nervösen und anspruchsvollen kleinen Dinger ... Aber wissen Sie, es ist mir notwendig geworden, sie überhaupt einmal in erotische Erregung zu bringen – nachher können sie sich meinetwegen hingeben an wen sie wollen, sich verheiraten, ins Kloster gehen oder Kokotten werden, mir ist das alles ganz egal! Der Doktor Krauß nennt meinen Fall eine »Nevrosette« scheint's. Das Diminutiv ist ganz überflüssig. Ich sage Ihnen, ich leide darunter, bis zur wahnsinnigsten Angst... gerade wie die Monomanen. Eine von den kleinen Hexen hat sich das gemerkt; sie hält mich beim Genick, ich werde sie heiraten müssen.«
Es war außer allem Zweifel: dieser Mensch war aufrichtig. Hector wurde durch dieses unerwartete, eigentümliche Geständnis angezogen; er konnte dem interessanten »Fall«, den es enthüllte, nicht widerstehen.
»Gut, lieber Freund,« sagte er, »ich bin Ihnen nicht böse!«
Und sie drückten sich die Hände, mit jener gleichgültigen »guten Kameradschaft«, die schnell verzeiht und schnell vergißt, welche die Pariser, wo es ihre Laster gilt, miteinander verbindet.
»Aber bitte, ein Wort noch,« äußerte Le Tessier. »Es ist mir eigentlich immer ein Rätsel gewesen, daß Sie, mit Ihrem üblen Ruf – den wir ja faktisch alle kennen – von den Müttern überhaupt bei den jungen Mädchen zugelassen werden? Und wie geht es zu, daß die jungen Mädchen sich von Ihnen bethören lassen; sie wissen, daß Sie nicht heiraten wollen, wissen, daß Sie nicht lieben können – wie geht es zu?«
»Hm ... die Mütter würden sich gekränkt fühlen, wenn ein Herr, der dadurch berühmt geworden, daß er allen jungen Mädchen den Hof macht, ihre Töchter links liegen ließe. Und was nun unsere lieben kleinen »demi-vierges« (das Wort ist von Ihnen, nicht wahr?) betrifft, so ist das Geheimnis ganz einfach dieses: geben Sie ihnen zwanzig unschuldige Romane zum Lesen, und stecken Sie in den Haufen » den Pförtner der Kartheusen« hinein, so können Sie darauf schwören, daß sie dieses Buch zuerst lesen. Sehen Sie, ich bin ein solches Buch, in seinem Einband von Wasse und Charnet, alle wollen sie mich gelesen haben.«
Ein lustiger Walzer, vom Orchester intoniert, schnitt ihr Gespräch ab, und eine Schar vergnügter Tänzer und Tänzerinnen, die vom Speisesaal herüberströmten, drängte die beiden Herren in die aufgeräumte Halle hinein. Die Mütter begannen ihre Plätze längs den Wänden einzunehmen. M me. de Rouvre und M me. de Chantel setzten sich in den Hintergrund des großen Saales unter einem von Draperien und Pflanzen arrangierten Zelt, ein abgesondertes Plätzchen, wo die Frau des Hauses, ungestört von den Tanzenden, sich unterhalten lassen konnte, und dabei gleichzeitig dem Tanzvergnügen zuschauen.
Lestrange eilte zu Jacqueline hin, schlang seinen Arm um ihre Taille und zog sie in den Strudel des Tanzes hinein. Während er mit ihr herumwalzte, beugte er seinen Kopf so tief über sie hinab, daß sein rotblonder Schnurrbart ihren rotblonden Nacken berührte; es war nicht leicht zu entscheiden, ob er ihr nur Worte zuflüsterte oder auch einen Kuß raubte. Und man hörte das junge Mädchen im Vorbeifliegen lachen, wie ein girrendes Täubchen. Valbelle, der Dora Calvell untreu geworden, führte Marthe de Reversier am Arm, die bleich wie ein Wachsbild war; ihr langes weißes Kleid berührte kaum den Fußboden, als sie in ihrer schmächtigen Lilienschönheit durch den Saal dahin schwebte. Die kleine M me. Duclerc schmiegte sich in einer wenig psychologischen Umarmung an Henri Espiens. Hector Le Tessier stand unterdessen in einer Ecke des Saales angelehnt an die Thür, mit mehreren anderen nichttanzenden Herren. Er hatte seinen Anfall von großmütigem Zorn schon wieder vergessen und betrachtete mit Wohlbehagen die vorbeitanzenden Paare, gleichgültig den verheirateten Frauen gegenüber, aber um so neugieriger, wenn es zarten, hellen, nur wenig ausgeschnittenen Musselinkleidern und feinen Mädchenköpfchen galt. Er sah sie mit der Anmut ihrer zwanzig Jahre an sich vorüberschweben, alle seine kleinen Freundinnen, deren naive Verderbtheit und wurmstichige Frische ihn amüsierten ...
»Jetzt sind sie so recht in ihrem Element,« dachte er. »Seit zwei Stunden hat die Musik unaufhörlich ihre Nerven erhitzt. Erst M me. Ucellis Liebesanrufung, dann Tiennettes sentimentale Lieder und Fräulein Ambres Zweideutigkeiten, die Jacqueline ihnen wiederholte. Vor allem aber haben die leise geflüsterten Bemerkungen der Herren, ihre frechen Blicke, sie gehörig in Aufregung versetzt. Sie sind wohl vorbereitet; ihre Augen glänzen feucht, ihre kleinen Hände zittern. Nun kommt der Walzer ihnen gerade recht ... Ja, sie sind in ihrem Element, die lieben Kleinen ...!«
*
»Wie geht es Ihnen, mein Freund? Wo stecken Sie denn eigentlich heute abend? Ich habe Sie seit zwei Stunden unter all' diesen Menschen gesucht, ohne daß es mir gelang, Sie zu finden.«
Es war Maxime de Chantel. Hector drückte ihm lächelnd die Hand.
»Sind Sie nun auch ganz sicher, daß Sie mich gesucht haben? Ich meinerseits habe Sie öfters gesehen, aber ich hatte nicht das Herz, Sie zu stören.«
»Ach, mein Freund,« antwortete Maxime, ohne einen Versuch zu widersprechen, »wenn Sie wüßten, wie glücklich ich bin! Kommen Sie ...«
Er zog ihn mit sich. Das Bedürfnis, seine Freude mitzuteilen, machte ihn beredt.
»Gestern morgen bin ich in Paris angekommen,« sagte er, »und wie Sie sich denken können, fuhr ich, so früh es irgend anging, nach der Avenue Kléber hinaus. Ich war furchtbar unruhig und traurig, ohne zu wissen warum. Ich hatte ein Gefühl, als müßte ich ihr total gleichgültig sein; als würde sie mich wahrscheinlich wie einen ganz Fremden, oder am Ende gar nicht empfangen. Ich versichere Sie, lieber Freund, ich war nahe daran, auf halbem Wege umzukehren; beinahe hätte ich es wirklich gethan.«
»Was geht das alles mich eigentlich an,« dachte Hector, der Maxime mit überlegenem Mitleid beobachtete, in das sich aber doch etwas wie Neid mischte. »Aber die Leidenschaft entschuldigt ja alles.«
»Trotzdem fuhr ich vor, stieg hinauf und klingelte. Ich wurde angenommen. Ach, mein lieber Freund, ich fand eine neue, eine entzückende Maud, ganz verändert durch die Zurückgezogenheit, in der sie gelebt hatte, während ich fort war, – so schlicht und einfach! so gut! Sie und die liebenswürdige Madame de Rouvre, ja selbst der kleine Schalk, die Jacqueline, empfingen mich, als ob ich zur Familie gehörte. Sie waren mitten in den Vorbereitungen zum Balle, alles ging drüber und drunter, und sie hatten furchtbar viel zu thun. Ich wurde auch gleich in Arbeit genommen, bin auf die Leiter gestiegen, habe Nägel eingeschlagen, kurzum, den Tapezier gespielt. Ach, wie glücklich fühlte ich mich! ... Wir fanden keine Gelegenheit viel miteinander zu sprechen, da wir nie allein waren, aber jedesmal, wenn ich ihre Augen suchte, begegneten sie den meinen mit einem Ausdruck, wie ich ihn liebe, ernst und sanft und gar nicht mehr ironisch, und ich fühlte, so gehörte sie mir.«
»Die Circe!« dachte Hector. »Sie hat mir meinen braven Chantel gründlich verändert. Aus dem stolzen Romanhelden hat sie einen galanten Tapezier gemacht. Na, mir kann's gleich sein, aber er gefiel mir früher besser, mit seiner wilden Eifersucht und seinen starken Worten.«
Und laut sagte er:
»Wie ist es denn mit den ernsten Fragen, lieber Freund? Sind Sie zu einer Verständigung gekommen? Und was hat sie geantwortet? Denn was Sie selber betrifft, so ist ihr Entschluß gefaßt, sehe ich.«
»Mein Leben gehört ihr. Sie kann damit machen, was sie will. Ich werde nie eine andere als sie lieben. Aber gestern wurde die Sache nicht berührt.«
»Die Situation war wohl auch nicht sonderlich dazu geeignet,« sagte Hector lächelnd. »Solche Dinge pflegt man nicht auf einer Leiter, den Hammer in der Hand, abzumachen.«
»Ja, das hat sie wohl auch gedacht. Sie hat unser Gespräch bis heute Abend aufgeschoben. Sie ist aber den ganzen Abend so gegen mich gewesen, daß ich nur ...«
Er unterbrach sich plötzlich. Während das Orchester noch immer mit rauschenden Klängen ihr Gespräch übertönte, war in dem Saal selbst eine Art Pause entstanden; die einzelnen Paare zogen sich allmählich vom Tanz zurück. Hector und Maxime kamen näher, um zu sehen, was los war. Maud de Rouvre und Julien de Suberceaux waren während eines Walzers angetreten, und schon nach wenigen Augenblicken hatte die Neugierde und Bewunderung, welche die beiden unwillkürlich immer erregten, besonders wenn sie sich zusammen zeigten, einen offenen Platz um sie herumgeschaffen: sie fegten gleichsam die anderen beiseite, und walzten jetzt in der Ecke des Saales, welche dem Orchester am nächsten war, fast ganz allein auf dem Parketboden herum.
Hector beobachtete Maxime; dieser sagte nichts, aber seine Wangen hatten sich plötzlich aschgrau gefärbt.
»Der echte Chantel lebt noch, er ist nicht tot,« dachte Hector. »Und so hab' ich ihn lieber: eifersüchtig und wütend.«
Maximes Eifersucht bedurfte keiner weiteren Erklärung: die beiden Tanzenden schienen so ganz für einander geschaffen zu sein! Man fühlte, daß sie sich lieben mußten. Doch war ihre Tanzweise durchaus korrekt, keinerlei verdächtige Intimitäten, wie sie sich vorhin Jacqueline, Dora, Juliette Avrezac und die kleinen Reversiers erlaubt hatten. Suberceaux und Maud hielten sich während des Tanzens in passender Entfernung voneinander, sie ruhte leicht in seinem Arm und ihre linke Hand berührte kaum seinen Rockärmel, während die andere nur leicht in der seinen lag. Dennoch war in ihren Bewegungen eine solche vollendete Harmonie, daß sie, trotz der flüchtigen Berührung, miteinander aufs innigste vereint schienen, wie jene geflügelten Insektenpaare, die man an Spätsommer-Abenden gemeinsam fliegen sieht, die sich kaum berühren und doch beide von demselben Lufthauch geschaukelt werden. Ihre Lippen bewegten sich anscheinend nicht, und doch sprachen sie miteinander.
»Sind Sie mit mir zufrieden?« fragte Suberceaux mit leiser Ironie.
»Nur halb zufrieden.«
»Und doch habe ich Ihren Befehl pünktlich erfüllt? Ich habe Sie nirgends gestört.«
»Sie benehmen sich aber ganz wie ein schmollendes Kind; Sie ziehen sich absichtlich von den anderen zurück; meinen Sie denn, daß das nicht auffallen würde?«
»Wie? Ich habe die kleine Avrezac ja keinen Augenblick verlassen.«
»Sie hat Sie nicht verlassen, wollen wir lieber sagen. Die arme Kleine, sie verschlingt Sie förmlich mit den Augen! M me. Ucelli hat sich allein für Sie ganz heiser gesungen. Aber Sie sehen heute abend auch sehr gut aus, mein Freund!«
Sie sah ihn so verliebt an, daß eine leichte Blutwelle sein blasses Gesicht färbte. Und während sie in eine Ecke des Saales hineintanzten, drückte er sie unmerklich an sich.
»Ich bete Sie an,« flüsterte er. »Mein Leben gehört Ihnen, machen Sie damit, was Sie wollen.«
»Und ich liebe Dich! Ich verlange nach Dir!« antwortete sie. »Laß mich gewähren, sei nicht eifersüchtig! Jedesmal, wenn der Zweifel in Dir erwacht, denke an unser Zimmer in Rue de Berne. Nimm Dich aber jetzt in acht! Man beobachtet uns!«
Als sie selbst, die ihm die seligsten Augenblicke des Nervenrausches und des Selbstvergessens schenkte, ihn mit eigenem Munde an ihre leidenschaftlichen Liebeszusammenkünfte erinnerte, hatte er einen Moment die Besinnung verloren; sein Arm preßte Mauds Körper an sich mit einer Glut, wie es nur der Liebhaber wagt. Aber nur eine Sekunde ... dann war er wieder Herr seiner Bewegungen. Der Walzer hörte auf.
»Führe mich an meinen Platz zurück,« sagte Maud. »Morgen sehen wir uns wieder, es sei denn, daß Étiennettes Mutter kränker werden sollte. Bis dahin, denke an meine Lippen!«
Sie brachen den Tanz kurz aber zwanglos ab vor der Laube, wo die Mütter saßen. Julien verbeugte sich vor seiner Tänzerin, die ihm mit einer leichten Neigung des stolzen Köpfchens antwortete. Niemand, nicht der vielerfahrene Hector, nicht der eifersüchtig aufpassende Maxime, ahnten, welche Verabredung dieser kühle Kavalier und diese korrekte Weltdame für den morgigen Tag getroffen hatten.
Maud blieb nur wenige Augenblicke bei M me. de Rouvre; während die Musik zu einer Quadrille aufspielte, ging sie allein quer über das Parket des Saales zu Maxime de Chantel hinüber.
»Herr de Chantel, wollen Sie die Güte haben, mir Ihren Arm zu reichen?« sagte sie, »und mich in das Garderobezimmer führen. Ich muß Ihre Hilfe für einen Augenblick in Anspruch nehmen.«
Er zögerte, aber gehorchte doch, und bot ihr ohne zu antworten den Arm. Sie verließen den Saal zusammen und suchten sich einen Weg durch das Menschengewimmel, bis sie das Garderobezimmer, einen kleinen Raum neben Jacquelines Zimmer, erreichten.
»Nein, wir wollen noch weiter gehen. Ich habe Ihnen etwas zu sagen.«
Sie ging voran, durch einen kleinen Korridor und eine Schrankkammer. Dann standen sie in ihrem Schlafgemach. Es war ein großes dreifenstriges Eckzimmer mit seltenen, schönen, hellgrün lackierten Möbeln, in deren lichte, seidene Bezüge, große phantastisch hingestreute Blumen gewebt waren.
Maxime folgte ihr mit klopfendem Herzen, die Bewegung schnürte ihm fast die Kehle zu. Hier in diesem entlegenen Winkel des Hauses war die Kapelle seiner Gottheit; das durchdringende Parfüm, welches Maud gebrauchte, ein Duft von Ambra und Farnkräutern, mit einer Essenz gemischt, die ihr Geheimnis war, floß hier mit dem Duft ihrer Haare, ihres Körpers zusammen und berauschte den jungen Mann. Hier kleidete sie sich an, dort stand ihr Bett, hier schlief sie. Es ergriff ihn ein Schwindel; er fühlte sich wie ein von starkem Wein Berauschter, der plötzlich an die frische Luft hinauskommt. Und die steife Haltung, die er in dem Anfall von Eifersucht angenommen hatte, verschwand.
Maud sagte einfach:
»Hier wird es ruhig sein. Niemand wird uns stören. Es würde mir nie einfallen, wie Mama und Jacqueline es thun, mein Zimmer fremden Menschen preiszugeben, und wäre es auch nur für einen Ballabend.«
Diese Worte, die ihm so deutlich eine Ausnahme-Stellung einräumten, heilten Maximes verwundetes Herz völlig. Er folgte ihrer Aufforderung, auf einer mit Kissen bedeckten Chaiselongue Platz zu nehmen; sie selbst setzte sich auf einen Stuhl. Ein kleiner Tisch, auf dem eine Menge Toilettengegenstände lagen, trennte sie; auf einem stummen Diener neben dem Bette, brannte eine silberne, in einfachem, vornehmem Renaissancestil gehaltene Lampe mit silbernem Schirm. Sie warf ein ziemlich starkes Licht über einen kleinen Teil des Zimmers, während der übrige in Halbdunkel lag.
»Sie sehen, daß ich Wort halte,« sagte Maud. »Ich habe Ihnen ein Gespräch unter vier Augen versprochen; hier sind wir ungestört. Wenn ich dies Gespräch bis heute abend aufgeschoben habe, so glauben Sie nicht, daß das eine Laune von mir gewesen. Ich wollte nicht eher mit Ihnen von den ernsten Sachen, die unsere Gedanken beschäftigen, sprechen, bis wir uns in dieser Gesellschaft getroffen hätten.«
»Aber,« ... unterbrach sie Maxime.
»Lassen Sie mich ausreden. Wir haben uns ja nicht oft gesehen, da sie aber gleich anfangs Eindruck auf mich gemacht hatten, und ich oft an Sie gedacht habe, ist es mir, als kennte ich Sie schon gut. Sie glauben, mich zu lieben ...«
»Ach Maud!«
»Der Ausdruck ist Ihnen nicht recht? Gut, ich will einen anderen wählen. Sie lieben mich also – auf Ihre Weise nämlich. Das heißt, Sie haben gleichzeitig ein Gefühl von Erbitterung gegen mich und die Neigung, die Sie für mich empfinden. Sagen Sie nicht Nein. In Wirklichkeit sind Sie wütend darüber, eine Pariserin und eine Weltdame lieben zu müssen, und Ihre Erbitterung wächst, wenn Sie mich in einer Gesellschaft, wie zum Beispiel heute abend, sehen. Als ich vorhin nur einen Walzer mit einem Jugendfreunde tanzte, war das Ihnen schon Grund genug, um wieder an mir zu zweifeln.«
Sie hielt einen Augenblick inne, während Maxime bei ihren Vorwürfen beschämt den Kopf senkte. Er kam sich jetzt selbst wie ein Sünder vor, der keine Verzeihung verdient, und diese süße Reue machte ihn unendlich glücklich.
»Sie zweifeln an mir, weil ich auf unserem eigenen Balle mit einem unserer Gäste tanze. Und bis jetzt haben Sie noch kein Recht über mich! Wenn ich Ihnen nun dieses Recht erst wirklich gegeben habe, welchen Gebrauch werden Sie dann davon machen? Verstehen Sie, weshalb ich zögere, Sie zu meinem Herrn zu machen?«
Maxime antwortete mit leiser Stimme:
»Ich liebe Sie ... so sehr, daß Sie sich keine Vorstellung davon machen können. Aber ich habe ein Grauen vor der Gesellschaft, in der Sie leben.«
»Vor der Gesellschaft, in der ich lebe? Sie wissen ja, daß ich sie nicht höher schätze, als sie es wert ist. Aber wir sind hier nicht auf einem Rittergute in Poitou, wir sind in Paris, mein Freund, wo ich nur Pariser und Pariserinnen sehen kann. Ist es denn meine Schuld, frage ich Sie, wenn diese Gesellschaft gemischt, und die Mischung trübe ist? Bin ich erst verheiratet, wird meine Lebensweise natürlich von dem Manne abhängen, den ich heirate, wie sie jetzt von meiner Familie abhängt. Aber ich dulde es nicht, daß mein zukünftiger Gatte etwa glaubt, durch die Ehe mit mir etwas zu riskieren, oder sich dadurch in irgend einer Weise herabzusetzen. Ich bin nun einmal so. Vielleicht ist es ein thörichter, übertriebener Stolz – aber ich will, daß derjenige, der mich heiratet, es mit unbedingtem Vertrauen thut. Ich glaube, das kann ich verlangen!«
Sie war während der letzten Worte aufgestanden. Ihre brennende Eigenliebe, die durch die ironischen Zweifel der Welt aufgestachelt und erhitzt war, machte sie aufrichtig. Maxime sah ihren stolzen Trotz und kam sich ihr gegenüber erbärmlich vor; der Gedanke fuhr ihm durch den Kopf, daß er sie verlieren könnte; bei dieser Vorstellung erfüllte eine so eisige, so entsetzliche Verzweiflung sein Herz, daß es ihm mit Blitzesschnelle klar wurde, wie notwendig sie ihm geworden war.
Er stand ebenfalls auf und stammelte: »Ich habe ja aber nichts dergleichen gesagt, nichts dergleichen gedacht. Ich habe die größte Achtung vor Ihnen, ich glaube an Sie. Ich flehe Sie aus tiefstem Herzen an, ich flehe Sie demütig an: stoßen Sie mich nicht von sich.«
»Noch ein Wort,« unterbrach ihn Maud, und ihr Blick hatte noch immer den strengen, traurigen Ausdruck. »Ich sagte Ihnen vorhin: mein Leben als verheiratete Frau wird von meinem Manne abhängig sein. Wenn also mein Mann verlangt, daß ich fern von der Welt leben soll, werde ich gehorchen, aber ich weiß nicht, ob ich mich dann glücklich fühlen werde. Ich bedarf einer gewissen Eleganz und Verfeinerung der Umgebung, eines Milieus, wo ich Kunstsinn und geistreiche Unterhaltung finde ... Ich bezweifle, daß man das anderswo als in Paris haben kann. Wenn ich aber für immer von Paris entfernt würde, käme ich mir wahrscheinlich vor wie in der Verbannung; wie die armen tropischen Vögel etwa, die hier im vergitterten Bauer leben. Ich würde nicht glücklich sein können, und Sie wissen, wenn in der Ehe einer leidet, leidet der andere auch. Bedenken Sie es wohl, mein Freund,« fügte sie langsam und sanft hinzu.
Maxime ergriff ihre Hände, die sie ihm überließ. Er beugte sich darüber, und ohne zu wagen sie anzusehen, sagte er mit einer Stimme, die von hervorbrechender Leidenschaft so heftig zitterte, daß auch ihr das Herz davon erbebte:
»Ich gehöre Ihnen, ohne Bedingungen, wie Sie wollen! Ich bin Ihr Sklave, Ihr Eigentum. Wenn Sie aber nicht einwilligen können, meine Gattin zu werden, dann sagen Sie es mir lieber gleich, ich flehe Sie darum; ich habe nicht länger die Kraft, in dieser Ungewißheit zu leben. Wenn Sie mich von sich stoßen, muß ich sterben, das fühle ich; aber ich sterbe jedenfalls rasch. So, langsam an der Ungewißheit zu Grunde zu gehen, das ist zu furchtbar.«
Er war zu ihren Füßen gesunken, sein eines Knie ruhte auf dem Teppich; sie überließ ihm ihre Hände, die er gegen sein Gesicht drückte; aber sie hob ihn nicht auf.
»Ich bitte Sie, sprechen Sie! Ich bitte Sie, sprechen Sie!«
Sie antwortete:
»Ich verlange, daß Sie an mich glauben, unbedingt, rückhaltlos, wie an Ihre Mutter und Ihre Schwester.«
Er wiederholte mit denselben Worten:
»Wie an meine Mutter und an meine Schwester.«
Dann zog Maud ihn langsam zu sich empor. Er wagte es nicht, sie anzusehen, das Urteil aus ihren Augen zu lesen.
Sie fragte:
»Ihre Mutter und Ihre Schwester ... haben Sie ihnen von der Möglichkeit einer Ehe zwischen uns gesprochen? Und was sagen sie dazu?«
»Meine Mutter und Jeanne sind so schlichte Menschen, daß sie sich ein wenig vor Ihnen fürchten. Vielleicht sind Sie auch erstaunt, daß ich als einfacher Landmann mich in Sie verliebt habe: ich denke mir das nur, sie haben mich nicht gefragt, und ich habe ihnen meine Pläne auch nicht mitgeteilt. Aber ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß beide die größte Achtung für Sie empfinden, und daß sie die Frau, die ich zur Gattin wähle, lieben werden.«
»Dann lassen Sie M me. de Chantel morgen bei meiner Mutter um meine Hand anhalten. Ich gebe sie Ihnen,« sagte Maud einfach.
Als Maxime, überwältigt von dem plötzlichen Glück, stumm und unbeweglich stehen blieb, reichte sie ihm langsam und ernst ihre Stirn zum Kuß. Als seine Lippen sie berührten, erwachte in ihm die Leidenschaft, und er preßte das junge Mädchen an sich, Worte der Liebe und Zärtlichkeit hervorstammelnd ... Dieses Mal schreckte sie nicht zurück, entzog sie sich seiner Umarmung nicht; mit übermenschlicher Kraft beherrschte sie ihre Nerven und Sinne, entsetzt über den Aufruhr ihrer Seele bei diesem einzigen Verlobungskuß, und geängstigt von dem Gedanken, was ihrer künftig wartete, wenn sie sich zwischen ihm und dem andern teilen sollte – trotz alledem aber fest entschlossen, ihren Vorsatz auszuführen.
*
Sie kehrten in die Halle zurück und gingen in die Laube, wo sich jetzt alle näheren Freunde der Familie versammelt hatten. M me. de Chantel saß neben M me. de Rouvre; die beiden Brüder Le Tessier sprachen mit Tiennette. Hector las sofort auf Mauds und Maximes Gesichtern, was geschehen war. Er bewunderte Maud wegen des Sieges, den sie gewonnen hatte; er beneidete Maxime wegen seiner Niederlage. »Der Gatte einer so ungewöhnlichen Frau zu werden,« dachte er, »wiegt das nicht jahrelange Eifersucht auf, angsterfüllte Monate und den Pistolenschuß, der das Ende vom Liede wird? Glücklich die, welche blind oder verrückt sind!« Maxime ging zu Jeanne hin und küßte sie auf die Wange; dieser Ausbruch brüderlicher Zärtlichkeit machte ihr nun auch alles klar. Hector sah, wie ihr die Thränen in die Augen stiegen, die sie aber sofort zurückdrängte. Paul dagegen bemerkte nichts: er blickte nur Tiennette an; seine Seele war einzig und allein von dem freudigen Staunen erfüllt, das ein vierzigjähriger Mann empfindet, wenn die Liebe ihm unverhofft einen neuen Frühling bringt. »Der gute, alte, dumme Kerl,« dachte Hector mit brüderlicher Ironie und Zärtlichkeit, »ist er nicht ebenso verrückt wie der ackerbauende Vaterlandsverteidiger!« Im Grunde beneidete er ihn ebenfalls. »Bin ich denn wirklich der einzige Standhafte hier?« sagte er zu sich selber, fest entschlossen sich nicht zu sehr in seine eigenen Stimmungen zu vertiefen, und dem wehmütigen Gefühl des Alleinseins, dem sentimentalen Bedürfnis nach Zärtlichkeit, das beim Anblick der vielen Verliebten hier in diesem Ballsaale in ihm aufstieg, nicht nachzugeben.
Es war spät geworden. Die Tanzlust schien nachzulassen; es war die Pause, die dem Kotillon vorangeht. Jacqueline und Suberceaux, die ihn anführen sollten, gingen umher und beaufsichtigten das Aufstellen der Stühle.
»Nun passen Sie auf,« sagte Hector zu Maxime, »jetzt bekommen wir eine ausgezeichnete Gelegenheit, die Unschuld der jungen Mädchen zu prüfen. Einige von ihnen, so zum Beispiel Dora Calvell, die Schwester der M me. Duclerc und die kleinen Reversiers werden sich mit ihren Tänzern in unzugängliche Winkel zurückziehen. Für sie ist der Kotillon nur ein Vorwand zum ungestörten Flirt ... Diejenigen dagegen, die sich auf die vorderste Reihe setzen und tapfer ihren Platz behaupten, sind artige kleine Mädchen, die gern tanzen wollen. Die muß man, je schneller je besser, heiraten, ehe sie die Winkel aufsuchen, denn früher oder später kommen sie alle dahin!«
Chantel lächelte zerstreut; seine Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt. In diesem Augenblick schritt der Diener Joseph durch die Halle auf Maud zu und sagte ihr flüsternd einige Worte. Als er seine Meldung beendigt hatte, fragte Maud laut:
»Sind Wagen unten?«
»Jawohl, Fräulein, es sind Wagen da.«
»So lassen Sie einen vorfahren, Joseph.«
Darauf eilte sie zu Étiennette und flüsterte ihr etwas zu. Étiennette wurde leichenblaß, und ging sofort, von Maud begleitet, hinaus. Paul Le Tessier erhob sich und folgte den jungen Mädchen. Dieser Auftritt, der von keinem der anderen Gäste bemerkt wurde, ließ das Gespräch in der Nähe von M me. de Rouvre einen Augenblick stocken.
»Was ist geschehen, mein liebes Kind?« fragte sie Jeanne de Chantel. »Haben Sie es gehört?«
»Nein, gnädige Frau. Aber ich glaube, es handelt sich um die Mutter von Fräulein Duroy. Denn als Fräulein Maud ihr etwas zuflüsterte, sagte sie:
»Ach, meine arme Mutter ...«
»Es werden schlimme Nachrichten sein,« sagte Hector. »Die arme Frau ist nämlich todkrank.«
Maud kam wieder zurück. Man fragte sie aus.
»Ja, ihre Mutter ... ist sehr krank. Eine Frau, die im selben Hause wohnt, kam, um Étiennette abzuholen.«
»Ach!« rief Jeanne de Chantel ... »Wie schrecklich ist das! Gerade während eines Balles! Und das junge Mädchen muß jetzt ganz allein nach Hause? ... Könnten wir sie nicht begleiten?«
»Étiennette ist nicht allein,« antwortete Maud. »Sie haben zur Pflege der Mutter ein Dienstmädchen und eine Diakonissin im Hause. Und dann ist die Frau noch da, die sie abholte ... Wir würden ihr nichts nützen können. Sie hat nicht einmal gewollt, daß Paul Le Tessier sie begleitete.«
Julien de Suberceaux und Jacqueline erschienen wieder. Sie trug die lustig flatternden Kotillonschleifen, und er schlug die Trommel und schüttelte das Tamburin dazu. Das Orchester intonierte einen Walzer aus der neuesten Operette. Und die ersten Paare fingen an vorzutanzen. Als Julien an Maud vorüber ging, erhob sie sich und hielt ihn an. Leise, doch so, daß Maxime sie hören konnte, sagte sie:
»Wir wollen keine Schleifen; Herr de Chantel und ich tanzen nicht.«
Aber noch leiser, beinahe lautlos, ohne die Lippen zu bewegen – so wie sie miteinander zu sprechen pflegten, wenn sie sich vor der Welt, ihr zum Trotz, etwas sagen wollten – fügte sie hinzu:
»Étiennettes Mutter liegt im Sterben. Unmöglich bei ihr. Morgen früh, in der Rue de la Baume. Ich muß Dich sprechen.«
Und Maud setzte sich wieder zu Maxime, der ihr einen dankerfüllten Blick sandte, weil sie seinetwegen auf die Freuden des Balles verzichtete.