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Als diese Studie in einer Pariser Revue erschien, machten einige von denen, die mir die Ehre erwiesen hatten, sie zu Ende zu lesen, zwei Einwendungen in betreff des »wesentlichen Inhalts«, wie man früher im Palais zu sagen pflegte, die mich lebhaft interessierten. Ich lasse sie hier folgen, so klar gefaßt, wie es mir möglich war:
1. Sie schildern unter dem Namen der demi-vierges eine gewisse Kategorie von jungen Mädchen, jedenfalls nur eine Minorität. Bei einer Beobachtung aber, die man an einer Minorität gemacht hat, liegt die Gefahr nahe, daß der zerstreute oder menschenfeindliche Leser sie unklugerweise auf die Majorität ausdehne. Es ließe sich denken, daß Sie zufällig auf einen, von der Reblaus geschädigten, kleinen Zweig eines sonst ganz gesunden Weinstocks gestoßen wären.
2. Aber selbst wenn die Verunreinigung, von der sie sprechen, wirklich vorhanden und verbreitet sein sollte, ist es vernünftig, sie zu veröffentlichen? Es handelt sich ja nur um eine Minorität, wie Sie selber sagen. Die Achtung vor dem jungen Mädchen ist uns geblieben, wo die Achtung vor so manchem anderen uns abhanden gekommen ist. Weshalb soll man sie mit Gewalt zerstören, und so die sociale Verwirrung, in der wir leben, noch vergrößern?
Von diesen beiden Einwendungen ist besonders die erste von Bedeutung. Aber auch sie scheint mir dadurch widerlegt zu sein, daß der Leser im voraus gewarnt wird, nicht voreilig zu verallgemeinern, da das Stück Welt, an der die Beobachtung gemacht wurde, so genau wie möglich beschrieben, so genau wie möglich umgrenzt und definiert worden ist.
Ich habe in Wirklichkeit nicht von der Welt im allgemeinen gesprochen, sondern nur von der müßigen und genußsüchtigen Welt, insbesondere der Pariser Gesellschaft oder doch derjenigen, die den größten Teil ihres Lebens in Paris verbringt: eine Welt mit unbestimmten Grenzen, die sich an einigen Punkten den Landen der Kosmopolis nähert, andererseits von den Gewässern der Kythera bespült wird, aber auch an den äußersten Grenzlinien, die unaufhörlich überschritten werden, die reiche Bourgeoisie und die Aristokratie, die sich amüsieren will, berührt. Und die charakteristischen Merkmale dieser Welt? Die religiösen und moralischen Gedanken werden dort nie zu leitenden Ideen. Man billigt oder verurteilt dort nie im Namen eines höheren, unfehlbaren Prinzips, sondern im Namen der Konvenienz, im Namen der öffentlichen Meinung. Ein zweites Merkmal: es ist dort erlaubt, daß ein junges Mädchen sich in Männergesellschaft amüsiert.
Dieses ist nach meinem Dafürhalten im engeren Sinne die Welt, in der man dem Typus der demi-vierge nicht nur als Ausnahme begegnet. Danach wäre die Verallgemeinerung wahrlich sehr einseitig, welche sagen würde:
» Alle jungen Mädchen aus der Pariser Gesellschaft sind demi-vierges ...« oder: »Alle jungen Pariserinnen«; oder gar: »Alle jungen Französinnen«.
Was die französischen jungen Mädchen betrifft, wäre die Ungerechtigkeit um so krasser, als die demi-vierges ein Typus sind, der in der Fremde weit verbreiteter ist als in Frankreich, ja, es sollte mich durchaus nicht wundern, wenn es sich nachweisen ließe, daß er bei uns überhaupt nur importiert ist. Der »Flirt« ist angelsächsischer Herkunft, und man mag das Wort noch so harmlos gebrauchen, mit noch so viel Poesie schmücken – wir kennen jetzt doch die wahre Bedeutung des Flirt. Aber nirgends in der Welt wird man die demi-vierges so selten finden wie gerade in Frankreich.
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So bliebe noch die zweite Einwendung. Da es sich nun, alles in allem, auch in der Pariser Welt nur um eine Minorität handelt, wozu denn das Elend veröffentlichen? Liegt nicht eine größere Gefahr darin, die Kenntnis dieser Thatsachen zu verbreiten als darin, sie geheim zu halten?
Nein; weil das Übel zunimmt, und schnell zunimmt. Das ist außer allem Zweifel, und es kann nicht anders sein, weil die Sitten der müßigen und genußsüchtigen Welt immer mehr die Sitten aller Welt werden, und selbst die niedrigere Bourgeoisie anfängt, sich nach ihr zu modeln. Und nichts ist ansteckender als das »Genre« der demi-vierges. Die demi-vierge geht durch das Leben elegant, strahlend und gefeiert. Sie rivalisiert mit der jungen Ehefrau und ringt ihr die Courmacher ab, durch den unberechenbaren Vorteil ihrer Frische und ihrer Neuheit. Auf das junge Mädchen der anständigen Bourgeoisie übt die demi-vierge denselben Zauber aus, wie der Lebemann auf den Schüler.
Deshalb ist es von Wichtigkeit, den Müttern zu sagen. »Wenn Ihr nicht den Mut habt – Ihr, deren Töchter heranwachsen – ausschließlich für ihre Erziehung zu leben, damit sie mit intaktem Herzen und Körper in die Ehe gehen, d. h. ihretwegen aufs neue das Leben der jungen Mädchen zu leben, so laßt sie doch wenigstens nicht an Eurem weltlichen Leben teilnehmen, gewöhnt sie nicht daran, wie Frauen zu leben. Verheiratet sie jung, aber schließt sie von der Welt aus bis zur Ehe. Allerdings ist als Erziehungsmilieu nichts der ernsten Familie zu vergleichen, aber ein gut beaufsichtigtes Pensionat bleibt doch der müßigen Familie, wo jedes Buch Eingang findet, die jedem Vorübergehenden offen steht, immer vorzuziehen ... – »Aber sie müssen doch das Leben kennen lernen!« »Nein, gnädige Frau. Sie müssen die Pflicht, die Ehre, die Resignation kennen lernen. Glauben Sie denn im Ernst, daß ein junges Mädchen gut gewappnet sei gegen die Prüfungen des Lebens, weil sie wie ein Student der Medizin über gewisse Geheimnisse aufgeklärt ist? Wir unsererseits sind zwar aufgeklärt; aber es verhindert uns keineswegs, bisweilen recht thörichte Ehen zu schließen.«
Und nun schließlich der wichtigste und treffendste Grund: die christliche Ehe – und bis eine neue Ordnung entsteht, ist es unsere Ehe – ist auf die Vorstellung von der Jungfräulichkeit, von der absoluten Unberührtheit der Braut, gegründet. (Die Wiederverheiratung ist außer Frage, denn für die christliche Frau, die sich wieder verheiratet, betrachtet man die erste Ehe als Lehrzeit ihrer Pflichten.) Zwischen der christlichen Auffassung der Ehe und dem Typus der demi-vierge existiert also eine unauflösbare Antinomie. Nun hat aber die moderne Erziehung die Tendenz, immer mehr den Typus der demi-vierge zu entwickeln. Deshalb muß die Erziehung der jungen Mädchen geändert werden – und es ist die höchste Zeit! – sonst wird die christliche Ehe zu Grunde gehen. Das ist, in wenigen Worten, der Inhalt meiner Überzeugungen.
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Ich möchte noch eines hinzufügen. Indem ich die Sitten eines verderbten Milieus schilderte, gab ich mir die größte Mühe, nur das zu sagen, was mir unumgänglich notwendig schien. Das beleidigte Schamgefühl, das verständnislos genug ist, mich zu verklagen, sei es in geschriebener oder gesprochener Form, wird mich wenig beunruhigen. »Der Vorwurf der Immoralität,« sagt Balzac, »dem der mutige Schriftsteller noch nie entgangen ist, bleibt der letzte, der zu machen ist, wenn man dem Dichter sonst nichts anhaben kann. Wenn er in seiner Schilderung wahr ist, wirft man ihm das Wort unmoralisch ins Gesicht. Dieses Vorgehen gereicht denen zur Unehre, die sich seiner bedienen.«
Juni 1894.
Marcel Prévost.