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Zweiter Teil.

I.

Vézéris, März 1893.

Also wage ich es doch, Ihnen zu schreiben, ohne zu wissen, wie ich Sie nennen soll, ich, der ich es kaum wage, Ihren Namen auszusprechen, wenn ich an Sie denke – und ich denke fortwährend an Sie. Ich habe Sie ja so wenig gesehen! Ich habe Sie ja so wenig gesprochen! Jetzt, wo ich wieder weit von Ihnen entfernt bin, scheint es mir, als müßte ich ganz aus Ihrer Erinnerung entschwunden sein. Oh wie fühle ich mich fern von Ihnen! Nicht nur durch Weg und Steg, sondern durch die weit größere Entfernung, die zwischen Ihrem Leben und meinem Leben liegt, zwischen Ihrem Wesen und meinem Wesen. Ich bitte Sie, glauben Sie nicht, daß dies überflüssige Worte sind, die ich nur so hinschreibe; daß ich in linkischer Verlegenheit versuchen wolle, die galanten Reden Ihrer geschmeidigen Anbeter nachzuahmen. Nein, es ist die tiefste Wahrheit meines Herzens, die ich Ihnen hiermit bloßlege; ich empfinde in Wirklichkeit den Abstand zwischen Ihnen und mir ebenso groß, wie den Abstand zwischen mir und dem unbeholfensten, niedrigsten meiner Hirten.

»Es gibt Augenblicke, wo dieses Gefühl mich verzweifeln läßt. Dann wünsche ich, daß ich Ihren Pariser Freunden ähnlich wäre; dann würden die Worte, die ich Ihnen sagen oder schreiben wollte, ganz von selbst kommen, ich spräche Ihre Sprache und Sie verständen mich besser ... Aber eine Rolle zu spielen, die nicht für mich paßt, dazu bin ich zu ungeschickt, zu unbeholfen! Auf diesem Schlachtfelde bin ich im voraus geschlagen; Sie sind von mehr als zwanzig Bewerbern umgeben, die verführerischer sind als der arme Einsame auf Vézéris. Ich habe nichts Ihnen zu Füßen zu legen, als meine leidenschaftliche Zärtlichkeit, und, ich weiß, das ist etwas, das weder leuchtet noch lockt. Was soll ich thun? Aber trotzdem flehe ich Sie an, Sie lieben zu dürfen. Ich bitte um eine Gnade; eine ganz unwahrscheinliche, unverdiente Gnade: ich sage zu Ihnen: »Ich bin der Geringste von allen, und doch, geben Sie mir den Vorzug!«

»Ich liebe Sie so sehr! Lassen Sie mich diese Worte laut ausrufen, sie würden mich sonst ersticken, jetzt, da ich so weit entfernt von Ihnen bin. Niemals wird ein anderer Sie anbeten, wie ich es thue. Kein Mensch auf der weiten Welt, keiner, wird Ihnen je seine Seele so ganz und voll hingeben wie ich, ohne einen anderen Gedanken als Ihnen anzugehören und Sie glücklich zu machen. Und wenn ich auch meine Unwürdigkeit einsehe, so gibt es doch Eines, auf das ich stolz bin, ich biete Ihnen ein Herz an, das besser, das reiner und mehr Ihrer würdig ist, als es Ihnen diese Herren aus Paris, über deren Leerheit und Lasterhaftigkeit ich mich entsetzt habe, geben können. Um Gottes willen, um Ihrer selbst willen, werfen Sie sich nicht weg an einen von diesen Männern! Wenn ich daran denke, daß einer von ihnen in diesem Augenblick bei Ihnen wäre, zu Ihnen spräche, Ihnen gefiele – dann flammt es in mir auf mit der ganzen leidenschaftlichen Kraft, die in meinem Wesen schlummert, dann möchte ich die falschen Worte in seinem trügerischen Munde vernichten und Sie mit Gewalt herausreißen aus allem, was Ihrer unwürdig ist, was Ihnen nicht nahen dürfte, Ihnen nie hätte nahen sollen! Verzeihen Sie mir, daß ich es wage, Ihnen das zu schreiben, aber ich empfinde es so qualvoll. Ich mußte es Ihnen sagen! ...

»Wissen Sie, welchen Traum ich in meiner Einsamkeit träume und immer wieder träume, tausende von Malen?

Ich stelle mir vor, daß Sie hier bei mir wären, Sie ein ganz kleines Mädchen und ich schon ein Mann; so fand ich vor zehn Jahren meine Schwester Jeanne, als ich nach Vézéris zurückkehrte mit einem Herzen voll Kummer, daß ich mein Regiment verlassen mußte ... Ihre kindliche, noch ganz unwissende Seele nahm mich sofort gefangen! Ich beschloß, daß ich allein ihr den Weg zur Erkenntnis, zum Denken und Wissen erschließen wollte, damit das Beste in mir in ihr zur Entfaltung käme; und ich habe Wort gehalten. Jeanne hat keinen Erzieher, keinen Freund außer mir gehabt; abgesehen von den weiblichen Beschäftigungen, in denen meine Mutter sie unterrichtete, hatte jeder ihrer Gedanken seinen Ursprung in meinem Denken. Ach, Maud! Sie als Kind gekannt zu haben, Sie erzogen und Ihre Entwickelung überwacht zu haben! Sie wären dann vielleicht, nein sicherlich, weniger glänzend geworden, weniger »Königin«, aber ich hätte dann zu jeder Zeit den Schlüssel zu Ihren Gedanken und Träumen gehabt, und ich brauchte nicht an Ihnen herum zu raten, wie an einem Rätsel!

»Und doch, kaum habe ich diesem Gefühl des Bedauerns Ausdruck gegeben, so zweifle ich schon an seiner Berechtigung. Was ich an Ihnen so blind bewundert habe, ist vielleicht gerade das Gegenteil von dem, was ich in Jeanne liebe. Gerade Ihre wundersame Königinnenhoheit, die mich ängstlich macht, bezwang mich. Verzeihen Sie mir. Ich habe mich geirrt, habe mir etwas vorgelogen. Ich möchte Sie gar nicht anders haben, als Sie sind. Und Ihre letzten Worte haben mir Vertrauen eingeflößt: die schöne Stunde des Alleinseins, jene seligen Minuten, die ich kurz vor meinem Scheiden bei Ihnen verleben durfte – die Erinnerung daran läßt mich wieder Mut fassen. So unwürdig ich Ihrer auch bin: Sie haben es angenommen, daß ich Ihnen mein Leben weihe. Das ist alles, was ich für den Augenblick von Ihnen begehre. Und wenn ich daran denke, daß Sie mir das erlaubten, überkommt mich die Furcht, daß es nur ein Traum gewesen.

»Bitte, schreiben Sie mir. Ich verlange nicht mehr, als was Sie mir schon gaben. Nur darum bitte ich Sie von ganzem Herzen, schreiben Sie mir: »Ich bleibe bei meinem Wort.« Ich bedarf dieses Trostes, um das Leben auszuhalten, bis ich Sie wiedersehe.

»Ich denke nur an Sie, ich lebe nur für Sie. Die gänzliche Gleichgültigkeit meiner Seele gegen alles, was nicht mit Ihnen in Berührung steht, erschreckt mich. Es scheint mir, als könnt' ich nichts von dem mehr lieben, was mir früher so liebenswert war. Die Abwesenheit meiner Mutter ist mir gleichgültig; ich habe keine Freude mehr in dem Zusammensein mit meiner Schwester. Die arme Kleine ist untröstlich darüber! Ich fühle mich so entsetzlich einsam im Leben. Wohl bin ich thätig wie früher, ich spreche und arbeite wie sonst; aber ich habe das Gefühl, als wäre ich es gar nicht selber, sondern irgend eine gleichgültige Schattengestalt, die ich handeln sehe, die ich sprechen höre. Um Ihnen das zu schildern, müßte ich über andere Worte verfügen, als sie mir in die Feder fließen, aber Sie verstehen alles, Sie sind klug, und Sie werden mich, trotz meiner unzulänglichen Worte verstehen.«

*

Paris, März 1893.

»Niemals, mein lieber Maxime, habe ich es so sehr wie in diesem Augenblick bedauert, daß ich nicht, wie mein ältester Bruder – der berühmte Paul – Gesetzgeber und Mitglied der Bankadministration bin; dann hätte ich doch jetzt wenigstens eine annehmbare Entschuldigung für die Verspätung meines Briefes ... Der Ihrige verriet mir, obgleich er anscheinend im ruhigen Ton gehalten war, eine nicht geringe Nervosität und Ängstlichkeit; ich hätte ihn früher beantworten müssen. Aber ach! ich werde bis zu meinem Todestage die Bezeichnung verdienen, die mir jetzt seit zehn Jahren anhaftet, »derjenige von den Le Tessiers, der nichts thut«. Verachten Sie mich wegen meiner Unthätigkeit nicht zu sehr, Sie Arbeitsmensch. Ich thue nichts, das ist freilich wahr. Jeder Entschluß kostet mich eine solche Anstrengung, daß ich vierzehn Tage gebrauche, um den Brief eines Freundes, den ich sehr lieb habe, zu beantworten; aber, daß ich so gar nichts thue, ist ursprünglich nur meiner Gewissenhaftigkeit und anständigen Gesinnung zuzuschreiben. Ich habe mich zur Unthätigkeit entschlossen von dem Tage an, da ich einsah, daß es nichts gäbe, was ich besser ausgeführt hätte, als irgend ein anderer beliebiger Mensch. Ein furchtbares »zu welchem Zweck?« hat mich zur ewigen Unthätigkeit verurteilt, oder besser, ich habe mich resignierterweise damit begnügt, einfach Zuschauer zu sein, ein so intelligenter und aufmerksamer Zuschauer wie nur möglich, bei den Handlungen anderer.

»Und muß es denn nicht auch Zuschauer geben bei der fesselnden Komödie des Lebens? Waren Sie nicht selber, Sie, der Fremde, davon hingerissen und haben doch nur so wenigen Vorstellungen beigewohnt? ... Ihr Brief, mein Lieber Herr Lieutenant, zittert ja vor Neugierde. Sie wünschen die Fortsetzung des Stückes kennen zu lernen? Ihr Wunsch soll befriedigt werden, ich werde versuchen, Ihnen die begehrte Auskunft zu erteilen, vor allem über das, was Ihnen so sehr am Herzen liegt.

»Da muß ich Ihnen denn zuerst erzählen, daß wir – durch ein sonderbares Zusammentreffen, dessen Rätsel Sie vielleicht zu lösen imstande wären – seit Ihrer Abreise von Paris, unsere Freunde de Rouvres fast ebensowenig gesehen haben wie Sie. M me. de Rouvre ist noch immer leidend; ihre Töchter haben ihr Kranksein als Vorwand benutzt, um alle und jede Einladung, sei es zu Mittagsgesellschaften, Bällen oder Theatervorstellungen abzulehnen. Trotzdem habe ich Miß Maud jeden Dienstag gesehen; ich bin an dem Tage Stammgast bei de Rouvres. Dort habe ich auch Ihre Mutter, M me. de Chantel, getroffen, deren Befinden sich zusehends gebessert hat. Sie können ihretwegen, glaube ich, ganz ruhig sein. Miß Maud selber ist noch immer dieselbe königliche Zauberin, wie Sie sie kennen; sie scheint mir im Augenblick ein wenig zerstreut zu sein, als läge ihr nur wenig daran, ihre Zaubermacht zu gebrauchen. Jüngst vertraute sie Paul und mir an, wie sehr sie Paris hasse, wie sehr sie sich sehne von hier fortzukommen. Wir haben uns beeilt, ihr Chamblais zur Verfügung zu stellen; wir bewohnen es selber ja nie, und einen schöneren Aufenthalt kann sie sich in diesem zeitigen Frühjahr doch kaum wünschen! M me. de Rouvre nähme unser Anerbieten gern an, glaube ich, nur müßte sie sich dann entschließen, die so liebgewonnene Freundin, Ihre Frau Mutter, zu verlassen.

»Interessiert es Sie vielleicht auch, mein lieber Freund, ein wenig Stadtgeschwätz zu hören? Ich bin freilich in dieser Beziehung nur schlecht unterrichtet, gestehe ich. Aber da Sie mich auffordern, Ihnen etwas über die Menschen mitzuteilen, die Sie in unserm Kreis getroffen haben, so will ich Ihnen schreiben, was mir gerade einfällt. Erfahren Sie also zuerst, daß wir das Glück hatten, während einiger Tage die Herzogin de la Spezzia mit samt ihrer cortina in unserer Mitte zu haben. Das brachte zahlreiche Mittags- und Abendgesellschaften und mail-coach-Fahrten mit sich, bei denen M me. Ucelli und ihre unzertrennliche Cécile, die vom übertriebenen Morphiumgebrauch immer gespenstischer aussieht, beide glänzten. Und ferner: der schöne Suberceaux kompromittiert jetzt die kleine Juliette Avrezac unter den Augen der Mutter, dieser vortrefflichen Dame, die vollkommen gut weiß, wer Suberceaux ist und ihm unter keiner Bedingung die Tochter zur Frau geben würde. Ein anderes Gerücht, das noch überraschender ist, will wissen, daß von einer Heirat zwischen Jaqueline de Rouvres und Luc Lestrange die Rede ist. Die kleine gewandte Schwester der Zauberin soll den verstockten Junggesellen bekehrt haben. Da wird sich Marthe de Reversier die Augen blind weinen, wenn es wirklich der Fall ist.

So lauten die Nachrichten von unseren lieben »demi-vierges«. Wenn ich noch hinzufüge, daß der Direktor der Katholischen Gesellschaft kürzlich, durch den Verkauf von amerikanischen Silberminenaktien vor der Baisse, einige Millionen gewonnen hat, und das Fräulein Suzanne Duroy, die Schwester der niedlichen Tiennette, deren Bekanntschaft Sie in Chamblais machten, immer noch in irgend einem unbekannten Lande weilt, daß ihre Mutter sehr krank ist und im Begriff steht, dem Himmel ihre, zwar spät bekehrte, aber äußerst gutmütige Seele zu überlassen – ja, dann hätte ich Ihnen glücklich alle Neuigkeiten mitgeteilt, die sich in dem Teil der Pariser Welt zugetragen haben, in welchem ich lebe.

»Ach ja! Während ich diesen Bericht niederschreibe, möchte ich über seine Albernheit, seine Nichtigkeit weinen. Sich vorstellen zu müssen, daß man bald dreißig Jahre alt geworden ist, und daß man den Rest seiner Jugend damit verbringen soll, dem Zappeln all dieser gleichgültigen Marionetten, zuzuschauen: Leuten wie Suberceaux, M me. Ucelli, die kleinen Fräulein de Reversier, Lestrange, Mädchen von der Straße und Mädchen aus den Salons, Börsenschwindler, Klubherren, Theatermütter und – solche Menschen wie ich selbst bin! Ist diese Komödie wirklich so lustig? Habe ich nicht schon genug Scenen gesehen? Ist es nicht schon eine Wiederholung, der ich beiwohne, ohne es zu wissen, und sind die Rollen nicht schon von anderen besser gespielt worden? Ach, lieber Freund, beurteilen Sie mich nicht nach meiner Unthätigkeit oder meinen Vergnügungen, darum bitte ich Sie herzlich! Wenn Sie wüßten, wie oft ich diese Schein-Freunde, diese Schein-Menschen zum Kuckuck gewünscht und den Entschluß gefaßt habe, resolut ein anderes Leben, in anderer Umgebung, anzufangen. Aber zu diesem anderen und besseren »Ich« gelangt man nicht durch eigene Kraft allein. Um das Leben eines Mannes, der mein Alter erreicht hat, zu ändern, ist die Hülfe einer weiblichen Hand nötig. Wo soll ich sie finden, solch eine kleine, starke und gute Hand? Und hätte ich sie auch gefunden, würde sie sich dann die Mühe geben, sich nach der meinen auszustrecken?

»... Ich habe Freunde hier, die mich tüchtig auslachen würden, könnten sie hinter mir stehen und über meine Schulter in diesen Brief gucken. Binnen kurzem erwarten sie mich zu einem Mittagessen mit kleinen Dämchen, die noch dümmer und affektierter sind als wirkliche Damen: nachher geht's wahrscheinlich wieder in irgend ein Theater, darauf wird das Essen und Trinken im Kabinet eines Restaurants fortgesetzt und dann – geht man schlafen, jeder wie er's trifft. Ein lustiges Leben, nicht wahr?!

»Beklagen Sie mich! Denken Sie an mich und schreiben Sie an mich. Und (dies bleibt ein Geheimnis zwischen uns beiden) sagen Sie mir, ob Ihre kleine sanfte Gefährtin wohl draußen in der Einsamkeit, ihre Freunde in Paris ganz vergessen hat ...«

*

Paris, März 1893.

»... Weshalb, lieber Freund, schicken Sie mir einen Brief, der mich in Verlegenheit setzt, den ich mich fast bemühen muß zu vergessen, als hätte ich ihn überhaupt nicht empfangen und gelesen, um mir nicht die Freude zu rauben, Ihnen antworten zu dürfen? Ich frage Sie ganz ehrlich, wenn Sie entdeckten, daß Hector Le Tessier Ihrer Schwester Jeanne (ich wähle diesen Namen nicht aufs Geratewohl) einen Brief geschrieben hätte, der in ähnlichem Ton gehalten wäre wie Ihr letzter Brief an mich, würden Sie das mögen? Würden Sie nicht finden, daß ein junges Mädchen beanspruchen kann, daß die Neigung eines Mannes zu ihr, sei sie noch so ehrenwert und aufrichtig, sich einen weniger unverhohlenen, einen rücksichtsvolleren Ausdruck ihr gegenüber wählt? ... Gut! ich habe das Recht, dieselben Rücksichten zu fordern wie unsere kleine Jeanne. Selbst in der Welt, in der ich lebe, und die mir nicht besser gefällt als Ihnen, würde es niemandem einfallen, mir diese Rücksichten zu verweigern. Sie bei Ihnen nicht zu finden, würde mir also ganz besonders schmerzlich sein.

»Jetzt, nachdem ich Sie ein klein wenig ausgescholten habe, werde ich auf das in Ihrem Brief antworten, was ich lesen wollte und konnte. Sie sagen, daß Sie den Abstand zwischen mir und Ihnen ganz ebenso empfänden, wie den Abstand zwischen Ihnen und dem geringsten Ihrer Hirten. Nun muß ich aber meinerseits gestehen, daß ich mich Ihnen ganz nahe fühle, lieber Freund. So, wie man jeden Punkt seiner heimatlichen Umgebung wiedererkennt, so habe ich in Ihnen sofort die Eigenschaften wiedererkannt, die ich am höchsten schätze: Redlichkeit und Herzensgüte, in Verbindung mit etwas von der Rauheit, die einem ehrlichen Manne so gut steht. Mir sind die nachsichtigen Skeptiker, die resignierten und müden Männer, welche die Herrenwelt unserer modernen Gesellschaft ausmachen, noch mehr zuwider als Ihnen, und Sie können sicher sein, daß ich keinen von ihnen nur eines Gedankens würdigen werde. Zwischen jenen und mir fühle ich den weiten Abstand; mir stehen die Energischen, die Willensstarken, ich hätte beinahe gesagt die Gewaltthätigen, näher. Und was ich an Ihnen so hoch schätze, das ist gerade das ungestüme Feuer, das Ihre Neigungen durchströmt. Bleiben Sie deshalb für mich, was Sie sind. Aber wenn Sie an Ihre Freundin Maud denken, so denken Sie nur an sie. Vergessen Sie, was um sie herum ist; es spielt für sie auch keine Rolle.

»Sie kehren ja bald wieder zu uns zurück, mit dem kleinen wilden Vogel von Vézéris, unserer kleinen Jeanne; wir werden Ihnen einen festlichen Empfang bereiten, um Sie mit Paris auszusöhnen und Sie auf einen Augenblick Ihr schönes Vézéris vergessen zu lassen. Seit Ihrer Abreise bin ich nirgends gewesen, auf keinem Ball, in keinem Theater. Mein erstes »Wiederaufstehen« im Gesellschaftsleben soll unter Ihren Augen, in unserem Hause stattfinden. Wir geben am 3. April ein großes Abendfest: musikalische Unterhaltung bis zwölf Uhr; dann wird getanzt und soupiert. Bitte sorgen Sie dafür, daß Sie zur rechten Zeit hier sind! Ich würde es Ihnen nicht verzeihen, wenn Sie fortblieben, und habe doch ein unklares Gefühl davon, wie leicht bei Ihnen noch in letzter Stunde allerlei Bedenken aufsteigen könnten.

»Also, auf Wiedersehen, mein Freund! Bis dahin denken Sie an mich, wie ich wünsche, daß Sie an mich denken sollen, mit Achtung und mit Vertrauen. Von ganzem Herzen umarme ich unsere kleine reizende Jeanne, in der ich gerade das aufrichtig liebe, was ich an Ihnen bewundere – alles das, was Sie ihr gegeben haben.«

» Maud

*

Vézéris, März 1893.

»Es ist abgemacht, liebes Mütterchen, wir reisen übermorgen früh nach Paris! Maxime hat schon alles zur Reise vorbereitet, und ich habe meinen Koffer schon gepackt, so sehr sehne ich mich fortzukommen und Dich wiederzusehen. Es scheint mir eine Ewigkeit, seit ich Dich zuletzt sah. Denke Dir, ich, deren Gedanken doch immer bei Dir sind, ich kann mir Dein Gesicht gar nicht mehr recht vorstellen, oder wenigstens nur ein blasses Bild davon, das sich sofort wieder verwischt, und das ich nicht festhalten kann, wie ich möchte. Es hat mir sehr viel Kummer gemacht. Ich habe darüber weinen müssen, liebes Mütterchen!

»Oh wie langweilig waren diese Wochen, die ich hier zugebracht habe, so weit von Dir! Ich habe es Dir gar nicht schreiben mögen, um Dich nicht zu betrüben, aber ich bin so unglücklich gewesen. Maxime ist so verändert! Es ist, als hätte er mich gar nicht mehr lieb! Er spricht kaum mit mir; und wenn ich etwas zu ihm sage, so sehe ich deutlich, daß er gar nicht zuhört! Von Zeit zu Zeit nimmt er mich noch auf den Schoß und küßt mich, küßt mich so heftig, daß es weh thut. Aber seine gute, immer gleichmäßige Liebe von früher ist verschwunden, liebes Mütterchen. Er liebt mich nicht mehr über alles. Er liebt die schöne Maud de Rouvre mehr. Aber weshalb sagt er es uns denn nicht? Ich wünsche mir ja nichts Besseres, als sie ebenfalls lieben zu dürfen, wenn sie ihn liebt und glücklich macht. Und doch, ich will es Dir nur sagen, liebes Mütterchen, fürchte ich mich ein klein wenig vor ihr. Sie ist zu schön, und sie spricht zu gut. In ihrer Nähe fühle ich mich immer ganz beschämt, daß ich nur ein so dummes kleines Ding bin. Übrigens kann ich mit niemandem als mit Dir und Maxime ganz so sprechen, wie mir's ums Herz ist. Und jetzt fängt Maxime auch an mich einzuschüchtern.

»Ich glaube, wir sind am 3. April zu einem großen Ball bei de Rouvres eingeladen. Ach, Mütterchen, wie werde ich mich wieder langweilen! Ich mag freilich gern tanzen, das weißt Du, aber – aber in Paris muß man sich auch mit den Tänzern unterhalten, und wenn diese jungen Herren, die ich ja gar nicht kenne, mich anreden, weiß ich nie, was ich ihnen antworten soll.

»Hier ist nichts Neues passiert seit meinem letzten Brief. Das Wetter ist noch immer schön, so warm, daß man glauben sollte, wir wären mitten im Sommer. Da fällt mir ein: eine Neuigkeit kann ich Dir doch erzählen. Mathilde Sorbier, Du weißt, die Dienstmagd bei Croissets gewesen ist, und die vor vier Monaten den Joseph Lepéroux heiratete (der Zweitälteste von den Söhnen) hat ein kleines Baby gekriegt. Es ist ein Knabe. Sie ist sehr stolz, daß er so schnell gekommen ist, es scheint etwas sehr Seltenes zu sein, so schnell ein Baby zu kriegen. Dienstag wird er in der Marienkapelle getauft werden.

»Lebe wohl, mein liebes Mütterchen! Deine kleine Jeanne schickt Dir zärtliche Grüße und Küsse. Sie ist glücklich, Dich bald wiederzusehen!«


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