Rudolf Presber
Theater
Rudolf Presber

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Aglavaine und Selysette

(Ein Trauerspiel in vielen Szenen aber noch viel mehr Küssen. Sehr unfrei nach Maeterlinck)

Im Schloß. Rote Schleier

Der blinde und taube Großvater O, wie schön bist du heute, Selysette!

Selysette Woher weißt du das, da du doch blind und taub bist, Großvater?

Der blinde und taube Großvater Meine Taubheit würde mich nicht hindern, das zu sehen. Aber meine Blindheit. Aber wenn man schon so lange blind ist, dann ist man nicht mehr blind. Und außerdem riecht es nach Zwiebelsauce. Und immer, wenn es nach Zwiebelsauce riecht, bist du schön, Selysette.

Selysette Ich fürchte, sie wird heute nach Tränen schmecken, Großvater. Denn die Köchin hat viel geweint. Sie weint immer und küßt mich, wenn ich zu ihr in die Küche trete. Heute ganz früh, als der Bäcker kam, hat sie schon geweint und ihn geküßt. Und als der Schlachter das Fleisch brachte, hat sie auch geweint und ihn geküßt. Und als ich kam, ihr zu sagen, daß sie immer Dinge aufschreibt, die wir gar nicht bekommen, hat sie geweint und mich geküßt. Und als Meleander vorhin in die Küche trat, hat sie wieder geweint und auch ihn geküßt. Meleander aber hat es nicht gern, wenn die Köchinnen immer weinen und küssen. So seltsam ist er jetzt.

Der blinde und taube Großvater Das alles sagst du mir nur, weil ich taub bin, Selysette. Aber wenn man schon so lange taub ist, so ist man nicht mehr taub.

(Er schläft ein . . .)


Verwandlung. Am Bahnhof. Graue Schleier.

Meleander So wie du jetzt vor mir stehst, Aglavaine, sah ich dich in meinen Träumen. Küsse mich.

Die Dame mit der Pelzboa Kannst du mich küssen, wenn ein Gepäckträger in der Nähe ist?

Meleander Ich kann es, Aglavaine. Küsse mich.

Die Dame mit der Pelzboa Kannst du mich auch küssen, wenn ein Stationsvorsteher in der Nähe ist?

Meleander Ich kann es, Aglavaine. Die höchsten Würden der Menschheit schrecken mich nicht. Küsse mich.

Die Dame mit der Pelzboa Paß auf, tritt zur Seite, ein Gepäckwagen! Du kannst nicht küssen, wenn du unter einem Gepäckwagen liegst.

Meleander Ich hab' es noch nicht versucht, Aglavaine. Komm mit nach dem Schloß. Dort freut sich alles auf dich. Möbel sind freilich keine darin. Bloß ein einziger alter Stuhl. Auf dem sitzt der Großvater. Weil er taub und blind ist. Taube und blinde Greise sitzen immer auf alten Stühlen.

Die Dame mit der Pelzboa Ich freue mich auf den Stuhl und auf den Großvater.

Meleander Gegessen und getrunken wird nichts auf dem Schloß. Wir leben von Nichts. Und wir reden auch davon. Immerzu. Von Nichts. Redest du gern von Nichts, Aglavaine, so küsse mich.

Die Dame mit der Pelzboa Warum nennst du mich immer Aglavaine. Ich heiße nicht so.

Meleander Dann bist du nicht, die ich erwartete. Wir warten immer auf etwas, das nicht kommt. Oder es kommt ein anderes. Und ein andermal kommt auch dieses nicht. Oder wir warten nicht darauf. Das ist sehr seltsam. Ich heiße Meleander. Schon lange. Küsse mich.

Die Dame mit der Pelzboa Ich möchte dich jetzt nicht küssen, Meleander.

Meleander Warum möchtest du mich jetzt nicht küssen?

Die Dame mit der Pelzboa Siehst du den Mann, der dort steht mit der roten Mütze.

Meleander Es könnte ein Henker sein.

Die Dame mit der Pelzboa Aber es ist der Stationsvorsteher. Und ich glaube, es ist mein Mann. Genau weiß man das nie. Aber als ich gestern abfuhr, war er mein Mann.

Meleander Nun weiß ich erst, daß du in Wahrheit nicht Aglavaine bist. Denn sie hat keinen Mann, der Stationsvorsteher war. Nun will ich dich nicht mehr küssen. Aber ich will den alten Stuhl in dem alten Schloß von dir grüßen. Und wir werden zusammen weinen. Das tun wir immer, wenn wir uns freuen.


Verwandlung. Im Schloßpark. Grüne Schleier.

Aglavaine Ich wußt' es, daß ich dir begegnen würde. Küsse mich.

Der Mann mit der Tasche Gerne will ich dich küssen.

Aglavaine Wollen wir auch zusammen weinen? Oder kannst du nicht weinen, wenn die Vorhänge grün sind?

Der Mann mit der Tasche Ich kann weinen, wenn die Vorhänge grün sind. Aber ich habe keine Zeit zu weinen.

Aglavaine O, wir sollen immer Zeit zu weinen haben, Meleander. Es ist schön zu weinen und dann zu küssen. Aber es ist noch schöner, zu küssen und dann zu weinen.

Der Mann mit der Tasche Das ist Geschmacksache. Aber ich muß fort. Ich habe Dienst.

Aglavaine Was für einen Dienst könntest du haben, Meleander, als den: zu küssen und zu weinen?

Der Mann mit der Tasche Ich bin der Briefträger. Ich heiße auch nicht Meleander. Aber es ist schön Meleander zu heißen.

Aglavaine Wie kommt es doch, da du nicht Meleander bist, daß du küssest, wie Meleander? Ich werde dir schreiben und dich in Briefen küssen, die du dir selber bringst. Das wird herrlich sein.

Der Mann mit der Tasche Bitte Aufschrift und Marke nicht vergessen.


Verwandlung. Im Schloß. Rote Schleier.

Der blinde und taube Großvater Es muß etwas geschehen sein. Etwas Furchtbares. Ich kann es nicht sehen und hören. Aber deshalb weiß ich es. Es ist schon eine ganze halbe Stunde lang niemand gekommen, mich zu küssen und bei mir zu weinen. Wofür bin ich ein blinder und tauber Großvater, wenn niemand kommt, mich zu küssen und bei mir zu weinen?

Die Köchin Armer Großvater, haben sie dich allein gelassen. Es gibt nichts Rührenderes, als einen alten Mann, der auf einem Stuhle sitzt. Alter Mann kannst du auch küssen, wenn du auf einem Stuhle sitzest?

Der blinde und taube Großvater Mir ist es immer, als spräche jemand vom Frühling. Und es riecht wieder nach Zwiebelsauce. Bist du es, Selysette? Küsse mich . . . Nein, es ist die Köchin.

Die Köchin Jetzt wollen wir zusammen weinen, Großvater, daß du so alt und so taub bist.


Verwandlung. Ein Korridor. Violette Schleier.

Meleander Küsse mich, Selysette.

Selysette Ich kann dich jetzt nicht küssen. Ich muß gehen, den Großvater küssen. Die Köchin hat ihn vorhin geküßt. Und jetzt hat sie ihn allein gelassen.

Meleander Wo ist die Köchin?

Selysette Sie küßt den Briefträger.

Meleander So will ich gehen, Aglavaine zu küssen.

Selysette Man sagt mir, sie küßt den Stationsvorsteher.

Meleander Warum tut sie das?

Selysette Sie sagt, sie tut es, weil du die Dame mit der Pelzboa geküßt hast.

Meleander Was tut die Dame mit der Pelzboa jetzt wohl?

Selysette Ich glaube, sie küßt den Weichensteller.

Meleander Ob sie an mich denkt, wenn sie den Weichensteller küßt? Ich fürchte, der Stationsvorsteher und der Briefträger werden weinen, wenn sie geküßt haben.

Selysette Geh noch nicht, Meleander, ich muß dich etwas fragen.

Meleander Ich werde dir antworten, Selysette.

Selysette Denkst du an mich, wenn du zusiehst, wie der Weichensteller Aglavaine küßt?

Meleander Ich denke an dich, Selysette. Auch wenn es der Stationsvorsteher tut.

Selysette Ach, Meleander, ich bin traurig. Ich glaube, der Briefträger weint nicht, wenn er geküßt hat. Aber jetzt muß ich zum Großvater.


Verwandlung. Nacht. Am Bahnhof. Schwarze Schleier.

Aglavaine Bist du da, Meleander? Küsse mich, eh ich abreise.

Der Stationsvorsteher Nein, ich bin es.

Aglavaine Das macht nichts. Küsse mich auch.

Der Stationsvorsteher Ich habe gesehen, wie du im Wartesaal einen Passagier geküßt hast.

Aglavaine Es ist wahr. Er reiste nach Bromberg. Das rührte mich so. Deshalb küßte ich ihn.

Der Stationsvorsteher Es ist traurig nach Bromberg zu reisen. Aber es ist noch trauriger, in einem falschen Zuge zu sitzen.

Aglavaine Still! Horch! Ist das nicht Selysette, die dort auf den Schienen schleicht? Ich höre sie weinen.

Der Stationsvorsteher Nein, Aglavaine, es ist eine Rangiermaschine. Sie stößt den Dampf aus.


Verwandlung. Noch mehr Nacht. Anderer Teil des Bahnhofs. Pechschwarze Schleier.

Der Weichensteller Liegst du wieder auf den Schienen, Selysette?

Selysette Ja, das tue ich. Jeden Abend tue ich das. Aber ehe der Schnellzug kommt, stehe ich immer auf und gehe nach Hause. Den Großvater zu küssen. Weil er taub ist. Aber er ist nicht halb so taub, wie ich unglücklich bin.

Der Weichensteller Kannst du unglücklich sein, wenn ich Aglavaine küsse?

Selysette Ich kann es.

Der Weichensteller Stehe auf, Selysette. Heute hat der Schnellzug keine Verspätung. Siehe, da kommt auch Meleander.

Meleander Tritt weg, lieber Weichensteller. Aber vorher küsse mich.

Der Weichensteller Warum soll ich wegtreten? Ich fühle in mir keine Veranlassung dazu.

Meleander Die Veranlassung liegt im Stil. Es ist nicht angängig, daß mehr als zwei Personen zugleich auf der Szene sind. Küsse mich und tritt weg.

Selysette Nun ist der Weichensteller weg. Ich sehe nur noch in der Ferne seine Nase.

Meleander Das ist nicht die Nase des Weichenstellers. Das ist ein Signallicht. Jetzt kommt der Schnellzug.

Selysette Und von jener Seite kommt Aglavaine.

Meleander So will ich in diese Nische treten. Auf ihrem Türbalken steht: »Für Männer«. Anatomisch gehöre ich dahin. Seelisch bin ich ein altes Weib. Aber das merkt die Polizei nicht. Die urteilt nach dem Anatomischen. Küsse mich, Selysette, ehe Aglavaine oder der Schnellzug kommt.


Verwandlung. Dieselbe Szene. Noch schwärzere Schleier.

Aglavaine Bist du es, Selysette, der ich ins Gesicht gegriffen habe?

Selysette Wenn es dich nicht verstimmt durch die Bestimmtheit der Aussage, so gestehe ich dir: ich bin es.

Aglavaine Mir ist ein Gedanke gekommen . . .

Selysette Sprich ihn nicht aus! Das wäre gegen den Stil.

Aglavaine So will ich dir einen Vorschlag machen.

Selysette Aber verschleiere ihn, daß ihn der Herr im Parkett dort nicht versteht.

Aglavaine Warum hast du dich vor den Schnellzug werfen wollen, Selysette.

Selysette Ich wollte es, weil kein tarifmäßiger Bummelzug fällig war.

Aglavaine Ich verstehe dich. Unser Herz hat seine eigenen Entschließungen. Aber wir sind gebunden. An das Reichskursbuch. Küsse mich, Selysette.

Selysette Steigen wir ein in den Schnellzug und entfliehen wir uns selbst. Hier ist das Damenkupee.

Aglavaine Lieber Nichtraucher. Hier sitzt ein alter Herr, mit dem wir weinen können.


Verwandlung. Ein Tunnel. Man sieht gar nichts. Schwarze Schleier.

Aglavaine Selysette, ich sehe dich nicht. Was machst du?

Selysette Ich küsse den alten Herrn.

Aglavaine Wie sich die Gedanken wiederholen. Im vorigen Tunnel habe ich den alten Herrn küssen wollen aber –

Der alte Herr Meine Damen, verzeihen Sie, aber der Arzt hat mir jegliche Gemütsbewegung verboten.


Verwandlung. Im Park. Lichtgrüne Schleier.

Meleander Sie sind beide die Nacht nicht nach Hause gekommen.

Die Köchin Aber der Großvater ist gestorben, Meleander.

Meleander Das ist eine üble Vorbedeutung. Ich erschrecke immer, wenn Großväter sterben. Es muß etwas Düsteres geschehen. Wurde schon erwähnt, daß ein Teich mit schwarzem Wasser hinter dem Schloße liegt?

Die Köchin Ich entsinne mich nicht, Meleander. Aber gibt es romantische Schlösser, hinter denen kein Teich mit schwarzem Wasser liegt?

Meleander Nein, du hast recht. Also ist alles gut vorbereitet. Küsse mich.

Die Köchin Du hast vor – – du willst dich – – –?

Meleander Still, sonst weckst du den dicken Herrn im Parkett. Er hatte eine Glatze. Ich liebe Herren mit Glatzen. Er soll das Furchtbare erst erfahren, wenn er morgen die Zeitungen liest.

Die Köchin Aber wenn er gar nicht lesen kann? Es gibt Leute, die zwanzig Mark für einen Parkettsessel zahlen und doch nicht lesen können.

Meleander Um so besser. Den Analphabeten Rätsel aufzugeben, ist die heilige Aufgabe mystischer Kunst. Küsse mich.

Die Köchin Leb' wohl, Meleander.

(Hier endet angeblich die Tragödie.)

 


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