Paula von Preradović
Königslegende
Paula von Preradović

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Lucia

Lucia«, sagte Slavatz, »weißt du, was das Wandbild in eurer Kapelle bedeutet?«

Lucia mußte lachen. »Wie sollt ich es nicht wissen? Das sind doch Maurus und Placidus.«

Sie saß auf einem kurzen und niederen Mäuerchen, das nur errichtet schien, um die auf der Weide verstreut umherliegenden Steine an einem Platz zu sammeln, und bewachte die Netze ihres Vaters, die zum Trocknen ausgelegt waren. Dabei hielt sie eine Spindel in Händen und drehte grauweiße Schafwollflocken zu einem dicken und unebenen Faden. Wie alle Frauen der Insel war sie schwarz gekleidet, um das Haar trug sie ein unter dem Kinn geknüpftes weißes Leinentuch. Slavatz war auf seiner täglichen Wanderung an ihr vorbeigekommen und hatte sich, ein Stück von ihr entfernt, gleichfalls auf dem locker geschichteten Mäuerchen niedergelassen.

»Nun gut, Maurus und Placidus. Das steht ja drinnen zu lesen. Aber wer sind sie? Was bedeuten sie? Sind sie eure Schiffahrtspatrone?«

Wieder lachte Lucia. »Schifffahrtspatrone? Nein. Mönche sind sie. Mönche des heiligen Benedikt.«

»Das sieht jeder, sie haben ja Kutten an. Aber wie kamen sie in das Wasser?«

Lucia runzelte die schwarzen Brauen und dachte einen Augenblick nach. »Aus Gehorsam kamen sie in 80 das Wasser. Der heilige Vater Benedikt sandte den kleinen Placidus zum See, um den Krug zu füllen; kaum war der Knabe fort, so zeigte ihm der Geist, daß Placidus ins Wasser gestürzt war. Nun schickte er schnell den Maurus, jenen zu retten; als der unten angekommen war, versank Placidus schon; aber weil der heilige Benedikt immerfort betete, konnte Maurus über das Wasser gehen und den Kleinen herausziehen, und heil kamen beide oben an.«

»So also war das?« sagte Slavatz. Er hatte noch nie länger mit Lucia gesprochen.

»Ja, aber dann war noch etwas«, sagte Lucia eifrig. »Als sie oben waren, dankte der heilige Benedikt, der den kleinen Placidus sehr lieb hatte, dem Maurus für dessen Rettung. Maurus aber sagte, er habe ihn nicht gerettet, nur das Gebet des heiligen Benedikt habe alles bewirkt. So stritten sie eine ganze Weile hin und her, der eine sagte: ›Dein Gebet war es!‹ und der andere: ›Nein, dein Gehorsam!‹ Aber das sieht man nicht mehr auf dem Bild.«

»Und woher weißt du das alles?« fragte Slavatz. Er sah das Mädchen gleichmütig und ohne ein Lächeln an, aber es tat ihm wohl, ein wenig zu reden.

»Vater Hieronymus, der unser Pfarrer ist, hat es uns gesagt. Er hat uns die Gebete und die heiligen Geschichten gelehrt, manche von den Burschen haben bei ihm auch lesen gelernt.«

»Du nicht?« fragte Slavatz.

»Nein«, sagte sie. »Ich brauche es nicht. Der Vater kann lesen.«

»Wirst du immer hier auf der Insel bleiben?«

Lucia war erstaunt. »Freilich. Hier bin ich zu 81 Hause. Und der Vater hat keinen Sohn. Ich werde die Wirtin im Haus sein.«

»Dann brauchst du wohl auch einen Wirt?« meinte Slavatz und jetzt lächelte er ein wenig.

Lucia aber war über diese Rede übermäßig erheitert. Sie kicherte lang in sich hinein, während sie weiterspann.

Vom Hafen her kam Tomaso mit breiten, etwas wankenden Seemannsschritten. Als er seine Tochter im Gespräch mit dem Gefangenen sah, entfachte sich ein schlaues Licht in seinen Augen, er verzog den gutmütigen Mund zu einem breiten Lachen und ging ohne Anrede vorüber.

Slavatz stand mühsam auf, nickte Lucia kurz zu und wanderte gegen das Haus. Während er ging, dachte er über die beiden Heiligen nach, die jeder dem anderen das Verdienst an der Rettung des Knaben zuschieben wollten. Die Geschichte schien ihm von mönchischer Albernheit. War es eines Mannes Sache, zu gehorchen und auf den wohlverdienten Ruhm zu verzichten? Stjepan im Kloster zu Spalato hatte ja auch derlei Reden geführt.

Ach, wieder mit Männern reden können, mit Ebenbürtigen, mit Kriegern und Königen! Tomasos Frau begegnete ihm, als er ins Haus trat, und sie erschrak vor der Finsternis seines Blickes.

Im Innern der Insel, unfern der Mönchszelle, gab es einen winzigen Steinbruch. Slavatz war schon seit Wochen gewahr geworden, daß an dem zuvor öden Ort Geschäftigkeit eingekehrt war. Es wurden Steine gebrochen, grob behauen und sodann auf ein hinter Tomasos Haus gelegenes Grundstück geführt, wo man 82 alsbald begann, ein Gebäude aufzurichten. Tomaso pflegte breitbeinig und wohlgelaunt den Bau zu beaufsichtigen und Slavatz, der nicht wußte, wie er seine Tage verbringen sollte, stellte sich oftmals zu ihm hin. Was gebaut wurde, war ein Stall, und es kamen auch, kaum daß er unter Dach war, eines sehr schönen und heißen Junitages etwa zwanzig Schafe mitsamt einem Widder, allesamt jämmerlich blökend, an Bord eines Trabakels angesegelt, sprangen an Land und wurden in das neue Haus getrieben. Auch diesem Schauspiel wohnte Slavatz bei. Während er dastand und zusah, wie die wolligen Tiere ängstlich und doch schnell trippelnd über ein schmales Brett das Boot verließen und sodann aneinandergedrängt den Weg nahmen, den die heftig fuchtelnden Stecken von Tomasos Frau und Tochter ihnen wiesen, hörte er, wie zwei Männer, die am Hafen herumlungerten, miteinander sprachen. »Tomaso hat den Mönchen die Hälfte ihres Weidegrunds abgekauft«, sagte der eine. »Einen Stall hat er auch gebaut und zwanzig Schafe aus Issa kommen lassen«, brummte der andere, »er muß gute Geschäfte gemacht haben.« »Wann hätte Tomaso keine guten Geschäfte gemacht! Sie sagen ja auch, er habe sich noch ein Boot dazugekauft«, meinte wieder der erste, und damit gingen sie, die Häupter wiegend, ihrer Wege.

Nun war es Sommer, die Sonne zog Tag für Tag ihre völlig wolkenlose Bahn und brannte auf die fast baumlose Insel nieder, so daß Slavatz meinte, er müsse vor Hitze vergehen. Wohl war er aus dem Narentatal schwere Hitze gewöhnt, doch war es in den Kačićburgen, die mit starken Mauern auf Hügeln und Bergabhängen lagen, leichter gewesen, sich vor der sengenden 83 Sonne zu schützen, als hier auf dem schattenlosen Erdenfleck. Er schlich umher oder lag müde auf seinem Lager, wo es noch heißer war als sonstwo, mitunter warf er in einer kleinen felsenumstandenen Bucht, die er entdeckt hatte, die Kleider ab und legte sich ins Wasser, um sich zu kühlen. Der Fischfang stand auf seinem Höhepunkt, jeden Tag wurde ausgelaufen, mitunter kamen die Boote erst nach mehreren Tagen leer oder mit fremder Ware gefüllt wieder, und es war deutlich, daß sie in irgendeinem Hafen ihren Fang losgeschlagen und dafür Güter eingetauscht hatten.

Um diese Zeit war es, daß Slavatz aus dem Wunsch, der Hitze und dem tödlichen Einerlei zu entgehen, eines Morgens, als er Tomaso mit ein paar Gesellen zu den Booten hinabgehen sah, zu ihm sagte: »Nimm mich mit!«

Tomaso blieb stutzend stehen, er verzog das Gesicht, hob die Schultern und sagte: »Herr Peter, das ist nicht erlaubt.«

»Wer hat es verboten?« sagte Slavatz unwillig und unglücklich.

»Das könnt Ihr Euch ja denken. Ich darf es nicht, Herr Peter.« Tomaso machte eine bedauernde Gebärde und ging schnell zu seinem Boot, wo die Knechte schon auf ihn warteten.

Er blieb mehrere Tage aus; als er heimkehrte, kam er mit drei Booten statt mit zweien und alle waren mit wertvoller Ware gefüllt, mit Wein- und Wasserfässern und mit schönen irdenen Krügen.

Am nächsten Morgen aber sagte Tomaso zu Slavatz; »Heute könnt Ihr mitkommen, wenn es Euch gefällig ist.« 84

Also ging Slavatz auf das Boot, setzte sich auf Deck nieder und sah den ganzen Tag den Fischern zu. Es erfreute ihn zu sehen, wie die Netze ausgeworfen und schwer und voll heraufgezogen wurden und wie der Bauch des Bootes sich mit den zappelnden silbernen Leibern füllte. Auf See strich eine angenehme Brise dahin, Möwen zogen in Scharen hinter dem Boot her und Delphine hielten sich ihm zur Seite, so wie es gewesen war, da sie ihn von Spalato nach der Insel geführt hatten. Es war ihm wohl zumute wie seit langen Zeiten nicht, und er war begierig, ob Tomaso nach einer fremden Küste segeln würde, um seinen Fang loszuschlagen. Als es aber Abend wurde, kehrten sie zur Insel zurück und Slavatz begriff, daß Tomaso ihn nur deshalb mitgenommen hatte, weil er an diesem Tag nicht geplant hatte, einen fremden Hafen anzulaufen.

Es geschah nun oft, daß Tomaso Slavatz aufforderte mitzufahren. Jedesmal fragte er: »Ist's Euch heute gefällig, Herr Peter?« und jedesmal nickte Slavatz und ging zum Boot hinab, denn auszulaufen war das einzige, das ihn erfreute. Sie kehrten stets am Abend zur Insel zurück, aber Slavatz hatte nun durch das Zusehen so viel vom Fischen gelernt, daß er mit Hand anlegen konnte und nicht mehr verdammt war, immer völlig müßig zu gehen. Eines Mittags, da sie die Stelle erreicht hatten, wo Tomaso die meisten Fische vermutete, rief er Slavatz zu: »Werfet das Netz aus, Herr Peter!« Slavatz ergriff die Korke des Netzes, das schon halb entfaltet bereitlag, und wollte sie ins Meer schleudern, da erbleichte er plötzlich und ließ die Hand sinken. »Was ist Euch, Herr Peter?« rief 85 Tomaso. »Nichts«, sagte Slavatz und tat nun, was nötig war. Es waren ihm aber plötzlich die Worte der Vila in den Sinn gekommen: »Im Westen wirst du Netze auswerfen und Fische fangen.«

Seit er zuweilen mit Tomaso ausfuhr, ward Slavatz die Zeit weniger lang; trotzdem hörte er nicht auf, eine Botschaft oder eine Befreiungstat zu erharren und mit qualvoller Sehnsucht Jelenas und des kleinen Michael zu gedenken. Da der Sommer fortschritt und der Monat August sich vollenden wollte, war für den Tag der unseligen Schlacht die Zeit da, sich zu jähren und Slavatz begann wieder, wie in den Wochen des Fahrens und Reitens, sich unablässig zu fragen, wie das Unheil denn hatte geschehen und wodurch es hätte vermieden werden können. Er mußte sich sagen, daß das Weichen und Versagen des rechten Flügels vielleicht durch Verrat, vielleicht durch ein anderes, heute nicht mehr feststellbares Unglück war verursacht worden, daß aber alles zum Guten hätte gewendet werden können, wäre er, Slavatz, nicht im entscheidenden Augenblick verwundet worden und ohnmächtig vom Pferd gesunken. Mit einer Bitterkeit, die ihm mit Tränen des brennendsten Schmerzes in die Augen und in die Kehle schoß, dachte er daran, daß jener Augenblick des Sinkens und Versinkens in Bewußtlosigkeit der letzte gewesen war, da er Waffen getragen hatte und daß er seit damals, also schon ein volles Jahr lang, ein elender Krüppel ohne Schild, Schwert, Dolch und Lanze gewesen war. Er sah die Sonne kreisen, wie sie damals gekreist hatte, heiß, hoch und unbarmherzig, und daß über seinem Elend nun schon ein volles Jahr sich gerundet hatte, ohne 86 daß ihm von irgendwoher wirksame Hilfe wäre geleistet worden, ließ ihn stöhnen und in erbärmlicher Ohnmacht die Fäuste schließen, wenn er allein in seinem elenden Gelaß saß.

An einem späten Nachmittag, da er so hoffnungslos dahinbrütete, indes die sinkende Sonne wie ein purpurner Ball zum glatten Meer niederstieg, kam die junge Lucia in seine Kammer. Sie rief gleich bei der Tür: »Wollt Ihr nicht essen kommen, Herr Peter? Die Mutter ist fertig.« Da fiel ihr Blick auf Slavatz' verzweifelte Miene und sie fragte im Nähertreten erschrocken: »Warum seid Ihr so traurig, Herr Peter? Fehlt Euch etwas?«

Slavatz wandte ihr sein Gesicht zu:

»Mir fehlt alles, meine gute Lucia«, sagte er mit einem tiefen Seufzer und nickte ein paarmal langsam mit dem Kopf.

Das Mädchen blieb beim Bettpfosten stehen, denn Slavatz saß auf seinem Lager, und fragte mit bangem Staunen:

»Alles? Euch fehlt alles? Schmeckt Euch das Essen nicht? Seid Ihr nicht gern hier auf der Insel?«

Slavatz lächelte ein wenig. »Euer Essen hier schmeckt mir wohl, Lucia. Aber es gibt noch anderes als Essen. Ich habe eine Frau und ein Söhnlein, die darf ich nicht sehen. Nach ihnen sehne ich mich.«

Lucia sah Slavatz einen Augenblick lang verstört an, dann geschah das Merkwürdige, daß sie die Hände vors Gesicht schlug und weinend aus der Stube lief.

Lucia war nun nicht mehr so munter und unbefangen, wenn sie mit Slavatz sprach, sie pflegte ihn scheu und 87 mit noch tiefer forschender Frage anzusehen als bisher, und sie sprachen nie mehr miteinander, als was die gewöhnlichen Nötigungen des Tages erforderten.

Darüber wurde es Herbst und Winter, die Wolken zogen feucht und finster über die Insel oder es pfiff die Bora kalt und blau daher, daß es die Menschen bis in die Knochen fror. Hernach kamen wieder der Frühling und der Sommer und Slavatz fuhr mit den Booten aus und half seinem Wirt Tomaso beim Fischen. In seinem Herzen hörte er jedoch noch immer nicht auf, Nachricht aus seiner Heimat, irgendeine gute Kunde und Befreiung zu erhoffen.

Um die Zeit aber, da die Unglücksschlacht sich zum zweitenmal jährte, als es wieder August war und die Hitze Tag und Nacht über der Insel brütete, fiel Slavatz in Sünde. Als Lucia einmal des Abends in sein Gelaß kam, um ihm sein Wams zu bringen, das sie ihm ausgebessert hatte – denn sein Gewand war schon mürbe und am Zerfallen – da griff er mit der Hand nach ihr und zog sie zu sich auf sein Lager, darauf er wie gewöhnlich brütend gelegen hatte, und obgleich er nie aufgehört hatte, in Sehnsucht Jelenas zu gedenken, so nahm er doch Lucias Hingabe an, die ihm ohne ein Wort der Abwehr in vollkommener Duldung und Zärtlichkeit dargebracht wurde, so, als habe das Mädchen mit großem Verlangen auf diese Stunde gewartet. Es zeigte sich, daß Lucia, die nun in ihr neunzehntes Jahr ging, Slavatz sehr lieb hatte und daß sie keinen anderen Wunsch kannte als den, ihn zu erfreuen und bei ihm zu sein. So oft sie konnte, schlüpfte sie in sein Gelaß und war ihm nahe, doch wagte sie nicht, sich vor den Inselleuten mit ihm zu zeigen. 88

Lucias Mutter aber, die sich immer demütig und schweigend verhalten hatte, wie es den Frauen zukommt, hörte Slavatz nun oft mit zorniger Stimme greinen und wenn er hinabkam, um seine Mahlzeiten zu empfangen, warf sie ihm finstere und gramvolle Blicke zu; Tomaso selbst jedoch war nie so freundlich und umgänglich gegen Slavatz gewesen wie zu dieser Zeit.

Bald zeigte es sich, daß Lucia schwanger war. Slavatz sah es mit entsetzter Verwirrung, denn wenn er auch in seiner Trostlosigkeit Lucias Liebe als einen süßen Balsam empfunden hatte, so war er sich doch seiner schweren Sünde wohl bewußt, und er sah sich keinen Rat, wie in der engen Gemeinschaft der kleinen Insel Lucias Mutterschaft verborgen werden sollte. Denn er als ein König, der auf seine Wiedereinsetzung hoffte, und als ein vermählter Mann, konnte sich nicht der Tochter eines Inselfischers ehelich verbinden. Auch wußte er nicht, ob ihm Tomasos unerklärliches erfreutes Einverständnis oder die verzweifelt-vorwurfsvolle Haltung seiner Frau widerlicher und quälender war.

Eines Tages, als der Advent schon begonnen hatte und allmorgendlich die schrille, kleine Glocke von der Kapelle die Roratemesse einläutete, sah Slavatz, der an seinem Fenster stand und in die winterliche Bläue hinausstarrte, den alten Vater Hieronymus mit strengem und unwilligem Gesicht in das Haus eintreten. Er hörte, wie unten die Tür zu Tomasos Gemach geöffnet und wieder geschlossen wurde, und als er um Stunden später zu seinem Mittagmahl die Treppe hinabstieg, traf er den Mönch im Flur. Hieronymus warf 89 einen langen, tiefernsten Blick auf ihn, verließ jedoch das Haus, ohne ein Wort an ihn zu richten. Kurze Zeit später wartete Slavatz eines Morgens vergeblich auf Lucia, die sonst um die Frühstunde stets zu ihm hineinzuschlüpfen pflegte, ihn mit süßer Zärtlichkeit begrüßte und sich mit dem Ordnen seines Zimmers mehr zu schaffen machte als nötig gewesen wäre, um möglichst lang bei ihm bleiben zu können. Auch in der Küchenstube war sie nicht zu sehen. Tomasos Frau stand, steinernen Gram im Gesicht, allein am Herd und bereitete schweigend und ohne Hilfe das Mahl für Slavatz und für ein paar Knechte des Hauses, die wie stets in einer von Slavatz' gewohntem Platz entfernten Ecke saßen. Auf die Frage eines der Männer, wo denn Lucia sei, rückte sie nur stumm und bös die Schultern.

Als das Mädchen mehrere Tage lang nicht zum Vorschein gekommen war, begann Slavatz zu fürchten, es könnte erkrankt sein, denn er wußte von der Zeit her, da Jelena den kleinen Michael getragen hatte, daß die Frauen zur Zeit der Schwangerschaft anfällig sind. Als er ein paar Tage später Tomaso außerhalb der Ortschaft traf, hielt er ihn an und fragte geradezu, was mit Lucia geschehen sei.

»Sie ist nach Issa zur Großmutter«, sagte der Hausvater mit gleichmütigem, pfiffigem Gesicht.

»Nach Issa? Zur Großmutter?« Slavatz war es, als habe er abermals einen Keulenschlag erhalten. Tomaso sah ihn heiter an.

»Hier auf der Insel geht es nicht. Vater Hieronymus ist streng. Und die Weiber, was verstehen die? Sie reden und jammern. So ist sie nach Issa. Aber sie wird schon wiederkommen.« Als er sich zum Gehen 90 gewandt hatte, sagte er nochmals: »Sie wird schon wiederkommen« und stapfte seelenruhig zu den Booten.

Slavatz ging langsam seine alten Wege. Er fand es billig, daß ihn um seiner Sünde willen eine neue Prüfung heimgesucht hatte, aber er wußte nun nicht mehr, wie er in diesem Wirrsal von bösen Erinnerungen, von stets getäuschter Hoffnung und Erwartung, von bohrender Reue, von Schmach und Gram das Haupt noch aufrecht tragen sollte, da die kleine Süßigkeit von Lucias Liebe ihm nun auch genommen war. An das Kind, das sie trug, dachte er nicht. Mochte es geboren werden oder nicht, es war Lucias und Tomasos Sache und nicht die seine. Sein Sohn war Michael und gerade in diesen Wintertagen, da die Sonne wieder nach Süden zu reisen begann und Stürme das Eiland umtobten, gedachte er seines Erben noch stärker als sonst. Er mußte nun das sechste Jahr schon weit überschritten haben. Ob er noch bei Rusin war? Ob sie ihm Lehrer gaben und ihn seiner Würde als Königssohn entsprechend erzogen? Und wie es Jelena ergehen mochte? Ob sie in Rusins Burg treu auf seine Heimkehr wartete? Er vermochte nicht, es zu glauben. Jelena konnte man so wenig in Kummer und Finsternis festhalten wie einen Sonnenstrahl. Dann aber fiel ihm ein, daß auch er die Treue nicht gewahrt hatte, und er sah sich von allen Seiten von Kummer, Schmach und Reue umstellt wie von lauernden wilden Tieren.

Um diese Zeit war es, daß er zuweilen an Flucht zu denken begann; aber er mußte alsbald einsehen, daß Tomaso diese Möglichkeit wohl ins Auge gefaßt und wirksame Maßnahmen dagegen getroffen hatte. Wurden Tomasos Boote nicht benützt, so lagen sie bei Tag und 91 Nacht weit an Land hereingezogen, und es wäre Slavatz unmöglich gewesen, eines davon ohne fremde Hilfe flottzumachen. Sich mit fremden Schiffern ins Einvernehmen zu setzen, wollte ihm nach wie vor nicht gelingen, denn so freundlich und zutunlich Tomaso sich ihm gegenüber auch gab, so wachte er doch mit verbissener Strenge darüber, daß sein Gefangener nicht mit Fremden ins Gespräch kam. Auch war das Haus von Eintritt der Dunkelheit an fest versperrt und Slavatz' Schlafkammer wurde von Tomaso allabendlich von außen verriegelt, was dem König immer wieder, so sehr er sich auch daran gewöhnt hatte, mit erbitterter Scham erfüllte. So blieb ihm nichts übrig, als ungläubig und hoffnungslos immer noch auf einen glückhaften Zufall zu warten.

Seit der Weihnachtszeit wollte es Slavatz scheinen, als habe auch der Mönch Hieronymus die Insel verlassen, denn er sah dessen jüngeren Gefährten Nikolaus allein die Inselwege abwandern, die Leute in ihren Häusern besuchen und von dem winterlichen Klosteracker die Steine wegklauben. Doch fragte er nicht nach Hieronymus, denn es galt ihm gleich, ob er auf der Insel war oder nicht. Und als der Frühling, der trotz allem Kummer unaufhaltsam heraufgezogen war, in den Sommer übergehen wollte, und Slavatz sich hatte sagen müssen, daß Lucias schwere Stunde nun wohl schon durchlitten und vorbei war, fragte er auch nicht nach ihr, obwohl die schlaubefriedigte Miene des Tomaso und der kummervolle Blick der Hauswirtin jetzt oft so sprechend auf ihn gerichtet waren, als werde eine Frage von ihm erwartet.

Er lebte den Sommer über wie ein müdes Tier. Er 92 fuhr mit Tomaso aus, so oft es anging, das waren seine guten Stunden, oder er hockte oben im Gemach ohne Hoffnung und ohne irgendeine Freude, schwitzend, trübe und mit schweren Gliedern, und diese Stunden waren martervoll und böse. Obwohl er in seinen guten Tagen ein frommer Mann gewesen war, mit seinen Hofkaplänen über das Neue Testament disputiert und die Schriften der Kirchenväter, zumal jene des großen Johannes Chrysostomus, mit Eifer gelesen hatte, so war ihm in seinem Elend auch die Fähigkeit, sich im Gebet mit Gott zu verbinden, abhanden gekommen. Wenn er den Strand entlang humpelte, hatte er schon oftmals Quallen beobachtet, die seltsamen Meerestiere, die wie stille, durchsichtige Glocken das Meer durchschwammen, jedoch unbarmherzig von der Sonne aufgesogen wurden, wenn eine große Welle sie an Land geschwemmt hatte. Betrachtete er die schmutzig-feuchten Flecken, die einzig von den sachten Meereswanderern übrig blieben, wenn sie ihrem angestammten Element entrissen waren, so mußte er jedesmal sich selbst mit ihnen vergleichen. War sein Schicksal nicht das gleiche wie das dieser Tiere, die wie Opale schimmerten, solange die Flut sie trug und von denen auf den feindlichfremden Ufersteinen nichts blieb als schmachvoller Unrat? Er verabscheute sich selbst wegen seiner Unfähigkeit, seiner Sündhaftigkeit und Gottesferne und vermochte doch nicht zu beten, zu bereuen und einen tätigen neuen Weg zu betreten.

Eines Tages um die Herbstäquinoktie hinkte er den kleinen Binnenweg hinan, der an der Zelle der Mönche vorbeiführte. Da sah er auf dem Klosteracker den bärtigen Hieronymus, den er viele Monde lang nicht 93 erblickt hatte. Als der Mönch seiner gewahr wurde, richtete er sich von seiner Feldarbeit auf, stellte das Gerät beiseite, strich die Kutte glatt und ging dem König entgegen.

»Herr Peter«, sagte er, »wohl weiß ich, daß Ihr in Wahrheit anders heißt, doch ist es mir verboten, Euch bei Eurem wahren Namen zu nennen. Wollet ein wenig bei mir eintreten, ich habe mit Euch zu reden.«

»Wenn Ihr nicht den Mut habt, Herr Hieronymus, mir Titel und Namen zu geben, die mir zukommen, so habe ich nichts mit Euch zu schaffen und betrete Euer Haus keinesfalls«, sagte Slavatz mürrisch und es machte ihm eine kindische Freude, dem Mönch zuwiderzuhandeln und auch ihm den Vaternamen, der ihm gebührte, vorzuenthalten.

Vater Hieronymus sah sich nach allen Seiten um und da kein Mensch zu sehen war, sagte er: »Wie es Euch gefällt. Wir können auch hier unter Gottes Himmel reden, wiewohl ich glaube, daß Ihr die Botschaft, die ich Euch zu bringen habe, lieber im Schutz und Dunkel eines Hauses würdet empfangen wollen.«

Slavatz fragte blitzschnell: »Welche Botschaft? Wo seid Ihr gewesen?«

»Ich bin vor zwei Tagen von Almissa heimgekommen.« Der Mönch sprach sacht und vorsichtig, denn er ahnte wohl, was seine Nachrichten für den Gefangenen bedeuten mußten.

»Von Almissa? – Gehen wir hinein!« sagte Slavatz zitternd und schickte sich an zu tun, was er soeben erst so trotzig verweigert hatte. Denn Almissa gehörte wie das Tal der Cetina, an dessen Mündung es liegt, zum Herrschaftsgebiet des Kačićstammes. 94

Als sie in der kahlen Mönchsstube standen, in der es außer einem rohen Kruzifix über einem Betpult, einem schweren Tisch und zwei Holzhockern nichts gab, fragte Slavatz nochmals:

»Ihr wart in Almissa? In wessen Auftrag?«

»In niemandes Auftrag. Seit kurzem hat unser Orden dort eine Abtei. Der Abt Gregorius aus Ostia ist mit mir in Rom auf der Schule gewesen und wir sind Freunde. Schon lange war es mein Verlangen, ihn wiederzusehen und eine Zeit bei ihm zu verbringen. So wurde mir gestattet hinzureisen und mein Amt hier für ein halbes Jahr dem Vater Nikolaus zu übergeben.«

»Eure Mönchsgeschichten kümmern mich nicht«, sagte Slavatz ungeduldig. »Habt Ihr mir sonst nichts zu sagen?«

»Ich weiß, daß Ihr uns nicht liebt, Herr Peter«, redete der Mönch Hieronymus weiter. In seiner Miene war keine Spur von Gekränktheit zu lesen. »Ohne Eure Unterbrechung hätte ich Euch schon gesagt, daß ich in Almissa von einer Sache erfahren habe, die Euch nahe angeht.«

»Von welcher Sache?« Slavatz mahlte vor Erregung die Kiefer gegeneinander und an seinen Schläfen spielten die Muskeln.

»Wollt Ihr Euch nicht setzen?« Hieronymus schob dem König einen Holzhocker hin und Slavatz ließ sich danklos darauf nieder. »Sprecht doch, von welcher Sache?«

Der Mönch hielt die Hände in seinen Ärmeln verborgen, wie Stjepan in Split es getan hatte, und räusperte sich ein wenig. Es war ersichtlich, daß er nicht gern mit seinen Nachrichten herausrückte: »Eure 95 Gattin hat in der Narenta auf Župan Rusins Burg gewohnt?« begann er zaudernd.

»Ja, dort hat die Königin gewohnt und wohnt noch dort, die Königin und der Königsohn. Mein Bruder hat sie in seinen Schutz genommen. Ich bin sicher, daß er sie nie verlassen wird.«

»Herr Peter«, sagte Vater Hieronymus und neigte sich ein wenig zu dem Sitzenden nieder, »Herr Peter, was ich Euch sagen muß, betrübt mich sehr.« Hier stockte er plötzlich, rieb sich die Hände, steckte sie wieder in die Ärmel und sah unglücklich in der Stube umher.

»Was ist es? Was ist es denn? Ist die Königin fort aus der Narenta?« und ganz leise: »Hat die Königin wieder geheiratet?« In Angst stieß Slavatz diese Worte hervor. Jetzt kommt es, dachte er. Jetzt werde ich hören, was ich lang gefürchtet habe.

Aber Hieronymus schüttelte betrübt den Kopf.

»Nein, Herr Peter«, sagte er. »Nein, Frau Jelena war Euch eine treue Gattin. Sie hat das Tal der Narenta nicht verlassen, bis sie im Julimonat des Vorjahres am Fieber gestorben ist.«

Die still gesprochenen Worte rannen wie eisig kaltes Wasser über Slavatz nieder. Er saß geduckt da, sein Gesicht spannte und verzerrte sich, er schwieg zuerst, dann richtete er sich auf und stieß in heiseren und gequetschten Tönen hervor:

»Jelena? Jelena gestorben? Im Vorjahr schon? Woher wißt Ihr's denn? Es ist nicht wahr. Es ist sicherlich nicht wahr. Sagt doch, woher Ihr's wißt?«

Hieronymus stand ungeschickt und traurig da. »Denkt Ihr, Herr Peter, es macht mir Freude, Euch 96 böse Nachrichten zu bringen? Von einem Priester weiß ich's, der von der Narenta zu uns nach Almissa gekommen war und der Eure gottselige Gattin selbst eingesegnet hat, bevor sie begraben wurde.«

»Daraus schon sehe ich, daß Ihr lügt«, erwiderte Slavatz, der froh war, etwas zu finden, das ihm erlaubte, an der Unglücksnachricht zu zweifeln. »Meine Gattin hat nicht Eurem römischen Papst angehangen. Sie war eine echte Kroatin. Sie ist sicherlich nicht nach römischem Ritus eingesegnet worden.«

»Ach, Herr Peter, Ihr seid lange von Kroatien fort. Ihr wißt nicht, daß jetzt dort alles anders ist. König Dimitrije Zvonimir hat das Land dem Schisma entrissen. Es gibt dort nur noch den einen einzigen lateinischen Ritus und das eine einzige römische Osterdatum.«

Als Slavatz dies hörte, verstummte er völlig. Fast traf es ihn noch härter als die Todesnachricht. Der Kopf fiel ihm auf die Brust und Tränen rannen ihm in seinen wilden Bart, wie damals im Kloster zu Split, da er aus Stjepans Munde von der Wahl des Dimitrije Zvonimir gehört hatte.

Nach langer Pause fing er wieder zu reden an:

»Am Fieber, sagt Ihr, sei die Königin gestorben? Hat man sie denn in die Sümpfe gejagt? Oben in der Burg gab es niemals Fieber.«

»Ihr wißt, Herr Peter, daß im Julimonat stets ein großer Markt an den Ufern der Narenta stattfindet. Im Vorjahre sollen viele Leute aus Albanien zu dem Markt heruntergekommen sein und das besonders tückische Fieber mitgebracht haben, das in ihrer wilden Gegend immer herrscht. Viele von den 97 Narentanern hätten sich angesteckt, sagte man mir, und da der Sommer sehr heiß war, stieg das Fieber sogar die Berge hinan. Auf diese Weise mag das Unglück geschehen sein.«

»Und Michael? Was ist's mit meinem Sohn? Ist auch er gestorben? Und mit lateinischen Gebeten begraben worden?«

»Oh, Herr Peter«, sagte der Mönch traurig, »Ihr hasset den römischen Ritus mehr, als Ihr Eure nächsten Angehörigen liebet.«

»Was wißt Ihr von Liebe, eheloser Mönch, der Ihr seid«, sagte Slavatz finster. »Gott weiß, daß mich nichts Schlimmeres treffen konnte, als die Nachricht, daß meine Frau gestorben ist. Aber eines Mannes Werk, das, wonach er Zeit seines Lebens getrachtet hat, muß ihm freilich noch mehr wert sein als alle Liebe und Zärtlichkeit. Aber sagt mir, sagt mir doch um Gottes willen, wie es mit meinem Sohn ist?«

»Euer Sohn ist nicht gestorben, Herr Peter. In der Abtei zu Almissa wußte man, daß Euer Bruder, Župan Rusin, ihn nach Byzanz gebracht hat, wo er im kaiserlichen Palast erzogen wird.«

»So hat der Basileus sich seiner wenigstens erinnert, wenn er schon mich vergessen hat. Mein Sohn wird heranwachsen! Er wird kommen und mich erlösen!«

Lang vergessene Hoffnung, fast etwas wie Triumph erglomm in den Augen des Slavatz. Dann aber sank er wieder in sich zusammen, da er Jelenas gedachte und des Endes aller Dinge, für die er gekämpft hatte.

Plötzlich stand er so schnell auf, als seine Lahmheit es nur gestattete, er faßte den Mönch jäh beim Arm 98 und indes ein starkes Licht in seinem Blick entbrannte, fragte er flüsternd: »Vater! Vater Hieronymus! Habt Ihr in Almissa jemandem gesagt, daß ich hier bin? Habt ihr es meinen Bruder wissen lassen?«

Der Mönch schüttelte den Kopf.

»Niemandem! Niemandem habe ich es gesagt, denn es war mir unter schwerer Sünde verboten.«

Da sank dem Kačić-Sohn das Haupt auf die Brust wie eines Schächers Haupt, und er stand arm und elend da, verlorener und verlassener als je.

Der Mönch fragte ihn schüchtern:

»Ich weiß schon, Herr Peter, daß Ihr unsere lateinischen Kirchen nicht mögt. Aber wollt Ihr nicht doch ein wenig in unsere Kapelle gehen und mit Gott reden? Er versteht alle Sprachen, ihr könnt kroatisch oder griechisch zu ihm beten, er wird Euch hören und antworten.«

Da Slavatz nicht widersprach, nahm Hieronymus ihn bei der Hand, führte ihn in die kleine Kapelle und ließ ihn dort allein. Mit einem Ächzen lehnte der König sich an einen rohen Steinpfeiler und bekreuzte sich. Das steife Bild von der Mauer hinter dem Altar sah zu ihm her. Noch immer kämpfte der Knabe Placidus mit den Wellen, der Jüngling Maurus schritt eilig über die Flut und der bärtige Mönchsvater Benedikt sah mit steif gefalteten Händen durch das Fenster seiner Zelle.

Während der König dastand und völlige Stille um ihn war, begann sein Leben und sein Leiden um ihn zu kreisen wie eine langsame Wolkenflucht. Seine wilde und herrliche Jugend auf den Schiffen der 99 Kačić-Flotte und auf den festen und uneinnehmbaren Kačić-Burgen; das blitzartige, grelle Glück seiner Wahl zum König; die hoffärtig-seligen kurzen Jahre seines Herrschertums; die Unglücksschlacht, die Verwundung, die Gefangenschaft. Dabei kreuzten zwei Gedanken wie ein schwarzer und ein weißer Vogel unablässig durch seine Seele: Jelena ist tot. Aber mein Sohn, mein Sohn ist in Byzanz. Er rief Jelena aus der Ferne herbei, in die sie ihm schon lang entschwunden und die durch die Nachricht von ihrem Tod beinahe nicht größer geworden war. Er sah sie wieder, überirdisch zart und fein, eigenwillig und schelmisch, leidenschaftlich und doch stolz, er gedachte der guten Tage, da sie königlich geschmückt, an seiner Seite zu Schiffe gefahren, geritten und in feierlicher Halle auf Festen und Versammlungen die Erste gewesen war. Wie mochte sie gelebt haben, seit er sie frohgemut verlassen hatte, um das Heer in die Schlacht zu führen? War sein Bruder großmütig gegen sie gewesen oder hatte man die Frau des Ketzerkönigs gedemütigt und vernachlässigt, um den neuen Machthabern gefällig zu sein? War es für die schöne Jelena vielleicht ein Glück gewesen, daß das Fieber sie getötet hatte? Immer tiefer hing Slavatz das Haupt herab. Was hätte er einstmals demjenigen getan, womit hätte er eine Torheit als genugsam gestraft erachtet, die es gewagt hätte, zu prophezeien, für die Königin Jelena würde der Tod willkommene Erlösung von schwerem und dunklem Leben sein? Und voll furchtbarer Reue dachte er daran, daß er seine treue Gattin der Untreue für fähig gehalten, daß er ihr in der Ferne mit einem fremden Mädchen untreu gewesen war, fast zur 100 gleichen Zeit, als sie einen bösen Seuchentod erdulden mußte.

Mit kaltem Entsetzen wurde es Slavatz klar, daß sein altes Leben, an dessen Wiederbeginn er doch noch immer mit Zähigkeit geglaubt hatte, nun unwiederbringlich versunken war. Mochten sie ihn auch einmal zurückholen, mochten sie ihm huldigen und ihn wieder einsetzen – war er denn noch derselbe Mann, der er gewesen war, nun, da Jelena tot war? Und Michael? Michael hatten sie nach Byzanz gebracht. So hatten sie wohl gemeint, dort gäbe es für den Knaben noch immer bessere Hoffnungen und Möglichkeiten als in der Heimat, wo alles verspielt und vertan war? Und was ihm eben noch als trostvolle Hoffnung aufgeleuchtet hatte, daß sein Söhnlein unter dem Schutz des Basileus in Byzanz lebte, da er nun dastand und nachdachte, fühlte er es plötzlich als die äußerste Trostlosigkeit. Er sah den kleinen Knaben in fremden, goldenen Kammern, behütet von fremden Frauen, belehrt von fremden Priestern in ein unerreichbar fernes und fremdes Leben hineinwachsen, und noch nie war dem König die Bitternis seines Schicksals so heiß und brennend und seine Ohnmacht so tief und unheilbar erschienen.

Da aber war ihm im sinkenden Dämmerlicht des Nachmittags, als blicke der bärtige Heilige, der am Zellenfenster betete, ihn von seiner gemalten Wand herab eindringlich an, als senke er die steif gefalteten Hände ein wenig und bewege die Lippen. Was will er? dachte Slavatz. Will er, daß ich beten soll?

Und er betete in der römischen Kapelle um ein günstiges Schicksal für seinen Sohn am östlichen 101 Kaiserhof und für die Seelenruhe seiner Gattin, und da er wußte, daß es für Gott keine Zeit, kein Vorher und kein Nachher gibt, betete er auch mit großer Inbrunst darum, daß Jelenas Krankheit und Tod nicht allzu bitter gewesen sein möchten. Als er dann durch den sinkenden Herbstabend nach Hause hinkte, war ihm leichter ums Herz.

Wieder zog ein Winter mit Stürmen von allen Seiten, mit wilder Brandung und mit hohen, blauen, windstillen Tagen über das Eiland weg, und es war der vierte Winter, den Slavatz auf der Insel verlebte. Er ging stumm seinen lang gewohnten Weg um den Strand, sah nach Schiffen aus, die nicht kamen, und während er wanderte oder im Gelaß hockte, gedachte er fast immer der beiden, die nun so fern waren, Jelenas, die bei Gott, und des Knaben, der in Byzanz war. Mitunter auch fiel Lucia ihm ein und er sann darüber nach, was mit ihrem Kind geschehen sein mochte. Da er aber nie jemand danach fragte, hörte er nichts darüber und er vergaß es fast. Zuweilen wunderte er sich, daß der Mönch ihm niemals Vorwürfe wegen seiner Sünde mit Lucia gemacht hatte. Seit er damals im Herbst von ihm in der Zelle die Todesbotschaft empfangen hatte, war er nicht wieder in ein Gespräch mit ihm gekommen, doch war er hin und wieder in die kahle Kapelle getreten, hatte nach den drei Heiligen hingeblickt und sich angewöhnt, den Knaben Placidus zu bitten, er möge seines elternlosen Sohnes im fernen östlichen Kaiserpalast achthaben.

Der Frühling, der diesem Winter folgte, war ungewöhnlich warm und lieblich, Krokus und Veilchen und kleine blaue Traubenhyazinthen bildeten einen so 102 schönen Teppich, wie man ihn in der reichsten Königspfalz nicht gewebt finden würde, und die Myrthenbüsche, die da und dort nahe dem Strand ihr steifes, dunkelgrünes Blattwerk durch die Winterstürme ungekränkt bewahrt hatten, setzten früher als sonst viele winzige kugelrunde Knospen an.

Als Slavatz eines späten Nachmittags über den Uferpfad dahinhumpelte, sah er Tomasos größtes Boot mit schön geschwellten Segeln dem Hafen zusteuern. Er unterschied mehrere Leute auf Deck, und es schien ihm, daß eine Frau unter ihnen war, doch machte er sich keine Gedanken darüber. Er wanderte an seinem Stock zum Hafen zurück und sah dort, daß das Boot bereits eingelaufen und vom größten Teil seiner Bemannung verlassen worden war, nur zwei von Tomasos Schiffersknechten waren dabei, die Ladung an Land zu schaffen. Slavatz sah ihnen einen Augenblick lang zu, dann wandte er sich um, ging zum Haus und stieg die Treppe zu seiner Kammer hinauf.

Als er die Tür aufstieß, trat ihm jemand entgegen. Er konnte nicht sofort sehen, wer es war, denn die Gestalt stand mit dem Rücken zur Fensteröffnung, durch die die untergehende Sonne rot und grell hereinschien. Aber einen Augenblick später erkannte er Lucia, die, blühender und voller, als er sie gekannt hatte, vor ihm stand und einen drallen, dunkelhaarigen Knaben auf dem Arm sitzen hatte. Lucia hielt ihm, umloht von der Abendsonne, das Kind mit einem so strahlend glücklichen Ausdruck entgegen, daß er zu dieser Stunde allen tiefen Gram seines Lebens vergaß, das Weib umhalste und liebkoste und den Knaben auf 103 seinem Arm sitzen ließ. Lucia lachte und jubelte wie ein seliges Kind, sie lehnte sich an Slavatz, streichelte seine Hände und ließ es sich nicht genug sein an freudigem Getue. »Siehst du ihn? Siehst du ihn? Da ist er. Er schaut dir gleich!« Und sie rieb ihre Stirn fast jammernd vor Glück an Slavatz' Schulter, umarmte ihn aufs neue, jubelte »O du! O du!«, drückte das Köpfchen des Kindes in Slavatz' Bart, so daß es zu weinen anfing und sie es wieder zu sich nehmen mußte.

»Wie heißt er?«, fragte Slavatz, und Lucia antwortete ihm, daß der Knabe nach seinem Großvater, in dessen Haus er geboren war, Michael getauft worden sei.

»Michael, das ist gut«, sagte Slavatz, nun wieder still und verdunkelt, denn er dachte an seinen anderen, seinen eigentlichen Sohn. Aber er war froh, daß Lucia dem Kinde diesen Namen gegeben hatte, der ein Erbname in seinem Hause war, doch sagte er es ihr nicht.

Es wurde nicht viel geredet, aber nach wenigen Tagen traute Vater Hieronymus eines frühen Morgens das Paar in der kleinen Kapelle. Außer Tomaso und seinem Weibe war niemand zugegen. Slavatz verließ nun seine Kammer und zog mit Lucia und dem Kinde in ein gleichfalls dem Tomaso gehöriges Haus, das ein paar Schritte weiter am Hafen lag; dort lebte er, fuhr zum Fischfang aus, und sein Gram begann still zu werden.

Und nun hob ein unhörbares Kreisen und Schwingen in den Lüften an, und die Jahre waren es, Slavatz' Lebensjahre, die in Gleichförmigkeit dahinflogen, gestuft und unterteilt nur durch Gottes große, alte Maße: den Sommersonnenbrand, die Tag- und 104 Nachtgleichen, die Winterstürme und die Milde des Frühlings. Den Tag, da ein Fischer aus Apulien beim Wein erzählte, daß Papst Gregor VII., des Slavatz' einstiger Feind, in der Verbannung gestorben sei, merkte er sich gleichfalls, und ihm war, als habe sich diese Nachricht stärker in sein Leben gekerbt als Wintersturm und Sommerbrand. Wie die saftigen Bäume am Festland unaufhaltsam ihre Ringe ansetzen und unmerklich breiter und mächtiger werden, so setzte Slavatz' Leben des Verzichts und des Vergessens Ring um Ring an. Er wartete nun nicht mehr auf die Ankunft einer Flotte und auf geheime Boten. Wohl brannte sein Herz nach einer Nachricht von seinem Sohn in Byzanz, doch eine verborgene Stimme sagte ihm, eine solche Nachricht werde ihn nie erreichen, und so gab er sich darein, nichts mehr von ihm zu wissen. Im Lauf der Zeit wuchs für sein Gefühl der kleine, auf Issa geborene Michael mit seinem königlichen Sohn zusammen und wenn er jenem übers Haar strich, meinte er, es sei der ferne Knabe, den er liebkoste.

Gleich im Jahr nach ihrer Rückkehr gebar ihm Lucia einen zweiten Sohn. Sie wollte ihn Peter nennen, aber Slavatz bestimmte, daß er Andreas heißen sollte, denn so hatten in verwichenen Zeiten und bis zu den damaligen Tagen viele Kačić geheißen. Das Kind hatte helles Haar und blaue Augen, und Slavatz liebte es sehr. Einen dritten Sohn, der im übernächsten Herbst zur Welt kam, nannte er Urra, was gleichfalls ein berühmter und alter Name der Kačić-Söhne gewesen war. Als aber Slavatz am Tage der Taufe, da die Familie und der Pate um das Taufbecken versammelt standen, Vater Hieronymus den Namen nannte, sagte 105 dieser, Urra sei kein heiliger Taufname, Slavatz müsse einen anderen nennen. Da nannte Slavatz den Namen Peter, das Kind wurde aber vom ersten Tag an Urra gerufen und hieß sein Leben lang so. Ziemlich viel später, als Michael, der Älteste, schon acht Jahre zählte, wurde Lucia noch einmal schwanger und gebar einen vierten Knaben. Als sie das Kind zum erstenmal im Arm hielt, fragte sie Slavatz, wie es wohl heißen solle. Ob er noch einen Namen wisse. Vielleicht Tomaso? Slavatz aber wünschte nicht, daß einer seiner Söhne heiße wie sein Schwiegervater, der immerhin viele Jahre lang sein Kerkermeister gewesen war, und so sagte er, der Neugeborene solle Maurus heißen, wie der heilige Jüngling an der Kapellenwand, und wenn er ein Seefahrer würde, dann möge sein Patron ihn beschützen. Dabei dachte er, wenn das Kind Maurus heiße, habe es seinen Namen gewissermaßen von seiner Heimatinsel selbst, und dieser Gedanke gefiel ihm.

Lucia widersprach Slavatz niemals, sie liebte und verehrte ihn über die Maßen und ihr ganzes Dasein war von dem Streben erfüllt, ihm wohlzutun und ihn zu erfreuen. Sie war so glücklich, sein Eheweib geworden zu sein, daß sie meinte, auf der weiten Welt könne keine Frau glücklicher sein als sie, und ihre Liebe für den viel älteren, wortkargen und düsteren Mann nahm mit der verrinnenden Zeit so wenig ab wie ihre Schönheit, die durch viele Jahre unverändert blieb. Ihr Leib wurde trotz der vielen Geburten weder dick und schwammig, noch dürr und eckig, ihr edles, dunkles Gesicht behielt lange seine kindlichen Linien und ihre schwarzen Augen, mit denen sie zu der Zeit, da Slavatz auf die Insel gekommen war, mit so 106 durchdringender, ängstlicher Frage auf ihn zu blicken pflegte, sahen noch feurig zwischen langen, unversehrten Wimpern hervor, als ihr ältester Sohn schon ein großer Bursche war, der es trefflich verstand, Schafe zu scheren, Wein zu keltern und der mit zum Fischfang ausfuhr.

Mit der Zeit hatte Lucia aus ihrem Vater einiges über Slavatz' erlauchte Herkunft und über sein Unglück herausgefragt, doch sprach sie mit einer Zartheit, die für ihren schlichten Stand kaum begreiflich war, zu ihrem Gatten nie davon, sie stellte ihm keine Fragen und empfand keine Eifersucht auf dessen erste Frau und ersten Sohn, obgleich sie fühlte, daß er jene mehr geliebt hatte als sie und ihre Kinder und daß in Slavatz' Seele vielleicht Ruhe, aber kein Glück mehr eingekehrt war. So suchte sie dem Glücklosen vom Überschwang ihrer Seligkeit mitzuteilen, sie war eine vorzügliche Hauswirtin und fröhliche Gattin, ihr Angesicht hörte nicht auf, in Dankbarkeit zu erstrahlen, weil ein so überaus schönes Los ihr zugefallen war. Auch hielt sie ihre Heimatinsel für den begehrenswertesten Ort der Welt und ihre Lebensumstände für die bequemsten und auskömmlichsten, da sie keine anderen kannte. Seit Tomaso etwa zwölf Jahre nach ihrer Verheiratung eines Februartages durchnäßt von einem waghalsigen Fischfang heimgekehrt war, sich krank zu Bett gelegt und nach einigen hitzigen Fiebertagen das Zeitliche gesegnet hatte, wurden Lucia, Slavatz und ihre Söhne die Erben der Fischerboote, der Netze, der Schafherden und Weinberge, der Häuser und Ställe, und wenn Slavatz auch kein König mehr war, so war er nun doch der mächtigste Mann auf einer kleinen runden Insel im weiten Meer. 107

Es mangelte ihm nun an Zeit, den Uferweg entlang zu hinken, da er mit seiner kleinen, sechs Boote zählenden Fischerflottille auszufahren, daheim dann die Fische einzusalzen, die Herde und den Weinberg zu beaufsichtigen hatte. Er fuhr mehrmals im Jahr nach der apulischen Küste und schlug dort einen Teil seiner Beute los. Nach Osten, den dalmatinischen Inseln zuzusegeln, wagte er nicht, denn es waren Gerüchte hergedrungen, daß sich seit einigen Jahren in jenen Gewässern verwegene narentanische Seeräuber bemerkbar machten. Slavatz ahnte wohl, daß sein eigener Stamm diese Seeräuberflotten befehligen mochte, wie es vor altüberlieferten Zeiten der Fall gewesen war. Slavatz kannte aber seine wilden Stammesbrüder und wußte, daß sie mit ihm, dem Abgetanen und Verschollenen, den die Großen dieser Erde preisgegeben hatten, nichts würden zu tun haben wollen, und daß sie ihn schlimmer berauben würden als jeden anderen, daher wollte er ein Zusammentreffen mit den Narentanern vermeiden. Diese waren auch der Grund, warum nun immer seltener Leute von den Inseln oder dem dalmatinischen Festland herangesegelt kamen. So wußte man auf der Insel nichts mehr von den Dingen, die sich in Kroatien und in den dalmatinischen Küstenstädten zutrugen, und Slavatz fragte sich manchmal im stillen, ob Dimitrije Zvonimir wohl noch die Krone trage, oder ob man Stjepan doch aus dem Kloster geholt und zum König gemacht habe. Er selbst hatte in seinem Herzen auf allen Ruhm verzichtet, und es lüstete ihn nur noch wenig, von jenen Dingen zu hören. 108

 


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