Henrik Pontoppidan
Aus jungen Tagen
Henrik Pontoppidan

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III

Zu der Zeit, von der ich erzähle, lebte hier im Lande eine absonderliche kleine Mannsperson, die überall wohl bekannt war, namentlich wohl aber in Ostjütland und auf Fünen. Er wurde mit vielen Namen genannt. »Der kleine Teufel«, »der rote Teufel«, »der Bandjude« und »Schacherjakob« waren die gewöhnlichsten. Er war ein Beschnittener, ein Heide; er sah zur Seite und verzog den Mund zum Lachen, wenn der Herr Christus genannt wurde.

Er war lächerlich von Gestalt, ein Spirrwipps, dünn und fleischlos wie eine Heuschrecke, hatte kleine, niedrige Beine und kurze Arme. Das Haar war fuchsrot und über dem ganzen Kopf dicht gekräuselt wie der Schopf bei einem Lamm von einem Sommer; das Gesicht war gelb von Sommersprossen, der Mund ein großer Spalt mit frischen Zähnen. Seine Augen waren blau, die Lider rotgerändert und geschwollen.

Er hatte keine bleibende Stätte, sondern wanderte – oder vielmehr lief – das ganze Jahr von Dorf zu Dorf mit einem großen, hölzernen Kasten an einem Riemen über dem Rücken. Die Beine gingen unter ihm wie krumme Stöcke, und ohne seine Eile zu hemmen, begrüßte er alle, die ihm begegneten, mit demselben gemütlichen Zuruf:

»Der Jakob ist wieder da! Hier sind Bänder und Litzen für klein Kjesten! Hier ist Schnupftabak für die alte Muhme! Hier ist Mandelkleie, Seife und wohlriechendes Wasser! Hier ist alles, was das Herz begehrt: Brillen, Broschen, Nadeln, Federn, Scheren, Messer . . .«

Ehe er noch die Aufzählung beendet hatte, war er auf seinen Watvogelbeinen schon die Straße entlang geschockt. Der Bauer auf dem Felde, der seinen Pflug angehalten hatte, sah ihm lächelnd nach, aber mit Sorge im Gemüt. Seine Augen folgten dem schwarzen, hölzernen Kasten, der auf dem Rücken des Männleins baumelte; er kannte den Zauber, den der auf Frauen ausübte. Er fürchtete, bei der Heimkehr einige von seinen silbernen Knöpfen oder andres altes Erbsilber gegen neumodischen Staat und unehrlichen Kram vertauscht zu sehen, in dem nicht ein Körnchen Wert steckte. Wieviel war ihm nicht schon von dem besten Familienbesitz abgeschwatzt worden! . . . Die Frauen selbst waren dem kleinen Mann gegenüber nie ganz dreist. Sie hielten sich so lange wie möglich fern von ihm; aber niemand widerstand auf die Dauer der fast märchenhaften Verlockung, die von seinem Kasten ausging.

Kam er in ein Dorf, so wählte er ohne Erlaubnis eines der größten, bequemst gelegenen Gehöfte zum Verkaufsort. Er ging in die Stube hinein, sagte kaum Guten Tag, summte eine Melodie vor sich hin, als sei er zu Hause, und fing an, seine Waren auszukramen, ohne sich an Einwendungen zu kehren. Sobald es verlautete, daß der »Bandjakob« gekommen sei, fuhr es wie ein Fieber in alle Frauensleute. Da war plötzlich so vielerlei, was rings umher in den Häusern fehlte. Die eine mußte durchaus Haaröl haben, die andre hatte Ofenputzpulver nötig, die dritte einen Brief Haken oder Knopfnadeln. Keine sprach ein Wort davon, was in Wirklichkeit ihre Unruhe hervorrief, nämlich die Broschen, Ringe, Tuchnadeln und Tondernschen Spitzen, die Jakob auch mit sich führte, lauter deutsche Waren, die über die Zollgrenze geschmuggelt waren, und für die all das andre nur als Vorwand diente.

»Wo die Sau ist, pflegen die Ferkel nicht fern zu sein!« schrie er mit seiner lustigen Rabenstimme, wenn die Kunden anfingen herbeizuströmen, und sein Auge lief lüstern über die vielen rundlichen Frauenkörper hin, die ihn allmählich in einer Art Wildheit umdrängten. Dann hob er mit seiner sommersprossigen Hand eine Nadel oder einen Ring aus Tombak mit einem Stück farbigem Glas darin in die Höhe, ließ das Glas im Licht spielen und rief: »Der Nachlaß einer Königin! Saphire! Rubinen! . . . Seht her! . . . Und was kostet wohl das Ganze? Ratet einmal! Fünfzig armselige Reichstaler! Nicht einen lübischen Schilling mehr! Jakob ist freilich ein Jude; aber er handelt wie ein Christ! Menschenliebe ist mein Geschäftsprinzip. Fünfzig Reichstaler für den Schmuck einer Königin! Das ist der Preis! . . . Aber wofür verkaufe ich es hier wohl? Du da, Maren, Karen, Sidse . . .« Er reichte mit einem verliebten Ausdruck den Gegenstand einem alten, fetten Frauenzimmer oder einem jungen, schüchternen kleinen Mädchen hin und fuhr fort: »Um deiner großen Molkenkruken willen . . .« oder »um deiner schönen Augen willen sollst du es für dreißig Reichstaler haben . . . nein, für zwanzig Reichstaler . . . nein, jetzt will ich ganz toll sein! . . . Ich schenke es dir . . . für zehn Reichstaler – für fünf Reichstaler. Ach, jetzt bin ich ganz und gar verrückt! (Hier raufte er wie in Verzweiflung sein rotes Haar.) Für drei Reichstaler verkauft Jakob diesen Schmuck aus Gold und Rubinen! für drei Reichstaler, sage ich! . . . Sage ich drei Reichstaler? Nein! für zwei Reichstaler und drei Mark verkaufe ich ihn um meiner großen Sünde willen . . . Für zwei Reichstaler und vier Küsterläuse verkauf ich ihn . . .«

So fuhr er fort, die Kunden mit Geschwätz zu verwirren, und setzte den Preis herab, bis sich endlich eine einbildete, einen vorteilhaften Handel machen zu können und hängen blieb. Oft war er sehr anzüglich in seinen Reden und bediente sich unanständiger Anspielungen, so daß man sich wundern mußte, wie eine ehrbare Frau dergleichen anhören wollte. Aber in dem Punkt ist die Schamhaftigkeit der Frauen von ganz eigner Art. Es ertönte beständig Greinen und Kichern um ihn her, und das alles reizte die Kauflust und steigerte überhaupt die Anziehungskraft, die von seiner Person ausging. Das war es gerade, was Jakob recht gut wußte.

Aber es gab auch solche, die sich zu Hause hielten und ihre Tür verschlossen, solange der Jude im Dorf war, und strenge Mütter hielten ein wachsames Auge über ihren Töchtern, bis sie ihn wieder sicher über die Grenze des Kirchspiels wußten. Solche Leute vermeinten nämlich, daß er auch geheime Liebesmittel in seinem Kasten verborgen habe, und daß er sie auf verbrecherische Weise den jungen Mädchen und Frauen gegenüber in Anwendung bringe, ohne daß sie selbst etwas davon wußten.

Dies mochte nun sein, wie es wollte, auf alle Fälle geschah es mehr als einmal, wenn er in einem Dorf übernachtet hatte und sich schon bei Tagesanbruch wieder auf dem Wege ins Land hinein befand, daß in einer einsamen Kammer eine arme Unglückliche verwirrt und schamerfüllt auf ihrem Bettrande saß und sich in ihrer Verzweiflung an die Stirn und in den Busen griff, ohne die finstere Zauberei fassen zu können, die sie umgarnt hatte.

Jedes Jahr um die Weihnachtszeit kam Jakob hierher in die Gegend und nahm Nachtquartier beim Krugwirt Kren. Um diese Jahreszeit konnte es wohl vorkommen, daß ein mehrtägiger anhaltender Regen die Waldwege unfahrbar machte. Sobald es verlautete, daß ein Wagen im Morast sitzen geblieben war, hörte aller fahrende Verkehr am Krug vorüber auf, bis der Frost kam und eine Brücke über die Erde schlug. Es konnte daher an solchen Tagen gar traurig und einsam in dem sonst so lebhaften Fährkrug werden. Ein paar zechende Bauern aus der Nachbarschaft, irgendein Krämer oder Wollhändler aus der innern Harde bildeten, außer dem eigenen Hausstand des Kruges, dann die ganze Gesellschaft.

Um die Zeit kam Jakob und mit ihm Leben und Lustigkeit. Obwohl er selbst nie starke Getränke anrührte, lief ihm doch der Mund den ganzen Abend, so viel hatte er zu erzählen. Ich habe selbst einmal, ich gestehe es mit Beschämung, bis tief in die Nacht dagesessen und mich an seinen abscheulichen Reden belustigt, die gar manches Mal Ellen und die andern Mädchen veranlaßten, sich mit dunkelroten Köpfen hinter ihren Spinnrädern zu verkriechen.

Doch nun genug von diesem verrückten Heiden. Er also war es, der Ellen ins Unglück gestürzt hatte. Gott verzeihe ihm die teuflischen Künste, mit denen er dies starke Mädchen dahin brachte, ihm zu Willen zu sein. Denn daß es nicht mit ihrer eigenen Zustimmung geschah, daß sie mit andern Worten überlistet und behext worden war, davon bin ich noch heutigen Tages fest überzeugt. Ich weiß nicht, ob es wirklich geheime Mittel gibt, die den Verstand umnebeln und den Menschen der Gewalt der Triebe preisgeben. Der Umstand, daß die Dichtung aller Länder und aller Zeiten sich so eifrig mit Liebestränken und dergleichen beschäftigt hat, könnte wohl darauf hindeuten. Im übrigen aber erscheint es mir keineswegs notwendig, solche vorauszusetzen, um die Willenlosigkeit des Menschenherzens in dem Umfangen der Leidenschaften zu erklären. Wahrlich! Die Liebe ist eine Besessenheit. Niemand weiß, woher sie kommt; niemand kennt ihre Wege; niemand weiß Rat für ihr Weh. Sie kommt und schwindet nach Gesetzen, die dunkel sind und rätselhaft und uns mit Grauen erfüllen. Sie ist die Lust und der Fluch unseres Lebens, unsere Seligkeit und unsere ewige Pein, unser Himmelreich und unsere Hölle.

Ich geriet ganz außer mir, als Propst Hjorts Worte über Ellens Zustand von andern bestätigt wurden und mir dadurch der Zusammenhang klar ward. Ich nahm in der folgenden Zeit mehrmals die Flinte von der Wand herunter, um mir ein Leid anzutun. Ich trug mich auch mit dem Plan, die Schule und alles im Stich zu lassen, um hinausziehen und den Verführer suchen zu können und ihn, wenn ich ihn träfe, wie einen räudigen Hund totzuschießen. Dank dem Machtspruch des Propstes beruhigte ich mich jedoch allmählich.

Ellen wollte ich aber nicht wiedersehen. Mehr als zwei Wochen hielt ich mich von dem Waldkrug fern. Dann schickte sie eines Abends nach mir; ich müsse durchaus kommen; der Vater liege in den letzten Zügen und wolle gern mit mir reden, und sie fürchte sich auch, die Nacht über mit ihm allein zu sein. Ich ging gleich hin. Ellen kam mir auf der Diele entgegen, sie hatte mich kommen hören. »Ach, Thyssen,« sagte sie nur.

Als wir in den Bereich des Lichtes traten, sah ich gleich, was andre schon längst gesehen hatten; doch ich wandte die Augen ab und ließ mir auch später nichts merken. »Warum sind Sie so lange nicht hier gewesen?« fragte sie. Aber ich konnte an dem Ton hören, daß sie den Grund kannte. Darum antwortete ich auch nicht.

Der Krugwirt Kren lag da und wimmerte leise vor sich hin. Der Propst war am Nachmittag dagewesen und hatte ihm das heilige Mahl gereicht; aber trotzdem konnte er keine rechte Ruhe finden. Er war sehr verändert; der Doktor hatte ihn am vorhergehenden Tage geschröpft, und er war so gelb im Gesicht wie die Bettücher, in denen er lag. Er versuchte, mit mir zu sprechen, aber er konnte nicht recht Luft dazu bekommen. Die Brust ging auf und nieder wie ein Orgelbalg. Endlich verstand ich, daß ich ihm etwas vorlesen sollte, und ich nahm die Bibel, die ich eigens zu dem Zweck von Hause mitgebracht hatte, und fing mit einem der Briefe Pauli an. Aber er winkte mit der Hand ab und zeigte nach dem Bord unter der Decke hinauf. Hier fand ich ein in Papier gewickeltes, altes schwäbisches Gebetbuch; und nun begriff ich, warum er gerade nach mir geschickt hatte. Er wußte nämlich, daß ich seiner Muttersprache einigermaßen mächtig war.

Damit er hören konnte, was ich las, mußte ich mich dicht an den Rand des Bettes heransetzen. Ellen stand hinter mir und hielt das Licht. Wir kamen einander dadurch so nahe, daß ich das Pochen ihres eigenen Herzens wie auch den andern Laut in ihr hören konnte. Daher hatte ich selbst gar keine Gedanken für das, was ich las. Ich hörte wohl nicht einmal meine eigenen Worte. Aber auf den armen sterbenden Mann übten sie eine wunderbare Wirkung aus. Er ward auf einmal ganz ruhig, ja es kam zuletzt etwas ganz Verklärtes über sein fahles Gesicht mit den geschlossenen Augen, während er murmelnd die fremden Worte wiederholte. Es war, als wenn der Klang dieser eigenartigen Gebete, die er wohl in seiner Kindheit aus dem Munde seiner Mutter gelernt hatte, dem großen Sünder die Pforten des Paradieses öffneten und seinem Herzen Frieden spendeten.

Um fünf Uhr morgens ward er erlöst. Wir hörten nur einen einzigen Seufzer. Ich schloß ihm die Augen und legte ihm die Knie gerade; und als es uns klar geworden war, daß wir beide jetzt allein im Hause geblieben waren, wagten wir nicht, einander anzusehen. Ich ging dann ins Dorf und in die Kirche hinauf, um die Seele in das Himmelreich hineinzuläuten.

Späterhin am Tage kehrte ich zurück, und Ellen ging mir zur Hand, als ich den Toten auf Stroh bettete. Aber plötzlich lehnte sie sich mit einem heftigen Schluchzen an meine Schulter. Ich fühlte sehr wohl, daß dies Weinen nicht dem Kummer über den Vater galt. Sie weinte über sich selbst und über unser gemeinsames verlorenes Glück.


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