Henrik Pontoppidan
Aus jungen Tagen
Henrik Pontoppidan

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II

Jetzt müssen ein paar Blätter dieses meines Erinnerungskranzes der Tochter des Krugwirtes gewidmet werden. Sie hieß Ellen und war zu jener Zeit, da ich als junger Hilfslehrer dort in die Gegend kam, ein Mädchen von neunzehn oder vielleicht zwanzig Jahren. Sie war groß und handfest von Gestalt, hatte nußbraune Augen und dunkles Haar. Der Krugwirt Kren war nämlich aus fremdländischem Geschlecht, stammte von den durch Friedrich den Fünften eingeführten sogenannten »Kartoffeldeutschen« ab. Er machte sich übrigens nicht viel daraus, seine Herkunft anzuerkennen; aber als ich an seinem Sterbebett stand und ihm der Todesschweiß aus der Stirn sprang, hörte ich ihn deutsche Gebete murmeln.

Ellen war ein stilles Mädchen, schweigsam und in sich gekehrt, ein wenig schläfrig von Natur vielleicht und mit einem recht mäßigen Verstand. Nachdem die Brücke gebaut war und man keine Verwendung mehr für Mamsell oder Schenkmädchen hatte, besorgte sie die Bedienung allein. Nie aber redete sie mit einem fremden Gast, wie sehr er auch seine Worte überzuckern mochte. Stets war sie jeglicher Zudringlichkeit gegenüber auf ihrem Posten. Sie hatte während ihres Heranwachsens hier zwischen den Mädchen im Kruge wohl mehr von der Art gesehen, als für ihre Kindlichkeit gut war. Ihre eigene, früh gereifte Körperfülle hat ihr, vermute ich, unter diesen Verhältnissen wohl auch Erfahrungen eingebracht, die in ihr Mißtrauen zu der Gesinnung des männlichen Geschlechts wachgerufen hatten. Es konnte etwas Kaltes und Feindliches in ihren Blick kommen. Selbst ihre Freunde waren nie ganz sicher bei ihr.

Ich hatte im geheimen, fast von dem ersten Augenblick, wo ich sie sah, Liebe zu diesem großen, schönen Mädchen gehegt. Unter dem Vorwand, daß ich um ihres Vaters willen, der schon damals vom Tode gezeichnet war, dahin komme, besuchte ich den Krug oft, obwohl mich meine Vorgesetzten wiederholt davor warnten, mir einen Schein von Leichtfertigkeit zuzuziehen.

Von dem Krugwirt Kren will ich nur noch erzählen, daß er der dickste Mann war, den ich jemals gesehen habe. In seinen letzten Jahren saß er fast unbeweglich in einem Lehnstuhl am Ofen und schlief beinahe immer. Er hatte gelbe, lederne Ärmel in seiner Weste und eine Kapuze von Hundewolle auf dem Kopf. An den Füßen hatte er große Binsenschuhe, und darunter lagen zwei im Ofen gewärmte Mauersteine, die beständig gewechselt werden mußten. Trotzdem zitterte er immer vor Kälte. Der ungestalte Fettkörper bebte wie vor Frost. Neben seinem Stuhl stand ein Tisch mit einer Branntweinflasche und Gläsern. Jedesmal, wenn er erwachte, schenkte er sich einen Schluck ein. Dann sah er sich in der Stube um, und wenn in dem Augenblick gerade niemand da war, mit dem er eine Unterhaltung machen konnte, schlief er weiter.

Er war zu jener Zeit noch ganz geistesfrisch und hatte eigentlich keine Schmerzen, litt nur hin und wieder an Atemnot. Sobald Fremde zugegen waren, ward er munter und redselig. Trotz seiner Unförmigkeit, die sich auch auf das Gesicht erstreckte, schossen Leben und verschmitzte Lustigkeit aus den Winkeln des Mundes und den dunklen Augen. Es stimmte sehr wohl, was oft von ihm gesagt wurde, daß er ebenso voll von Geschichten sei wie von Schnaps.

Was seinen Mangel an Mäßigkeit betrifft, so habe ich ausgerechnet, daß er noch in seinen letzten Jahren, obwohl das kalte Fieber ihn arg mitnahm, täglich ungefähr anderthalb Pott Branntwein trank, bei besonderen Gelegenheiten beträchtlich mehr. Trotzdem habe ich ihn niemals auch nur im geringsten bezecht gesehen. Auch nicht in anderer Weise drückte ihm die Trunkenheit ihren Stempel auf. Sein Gesicht war bis zuletzt glatt und hübsch weiß. Selbst seine Beleibtheit hatte ihren Grund mehr in Trägheit als in Völlerei. Er hatte sich nie sonderlich über seine Schenkstube hinaus bewegt, und über seine Gemütsruhe und sein Gleichgewicht wurden viele ergötzliche Geschichten erzählt. Als zum Beispiel einmal einem Mann bei einer der wilden Prügeleien, die in früheren Zeiten hier so allgemein waren, der Kopf von einem Knüttel gespalten worden war, so daß er tot zur Erde fiel, soll des Krugwirts Kren erstes Wort die Frage an das Schenkmädchen gewesen sein, ob er seinen Punsch bezahlt habe.

Über seinen Leibesumfang habe ich in meinem Tagebuch folgende Maße gefunden: Wadenumfang 28¾ Zoll, Schenkelumfang, mit der Handspanne über dem Knie gemessen, 39 Zoll, um die Taille, in der Nabellinie, 66½ Zoll, der Oberarm 23 Zoll, der Hals (über dem Adamsapfel) 32¼ Zoll. – Ich schulde es jedoch der Wahrheit, zu gestehen, daß diese Maße zu einem Zeitpunkt genommen sind, wo die Wassersucht, an der er schließlich starb, schon stark vorgeschritten war. Er trieb damals selber noch Scherz mit seiner Beleibtheit und war stets bereit, auf die geringste Aufforderung hin seine Formen zu zeigen.

Seine Frau war ein Jahr, ehe ich hierher in die Gegend kam, gestorben, und Ellen war sein einziges Kind. Sie pflegte ihn in seiner Unbehilflichkeit mit einer unermüdlichen Sorgfalt, die schön anzusehen war und die bewirkte, daß ich noch mehr von ihrer Person eingenommen wurde.

Über mein Verhältnis zu diesem Mädchen will ich jetzt mitteilen, was zum Verständnis meines Lebensganges erforderlich ist.

Als Hilfslehrer an der Staruper Schule hatte ich den vorhin erwähnten Propst Hjort in Lihme als obersten Vorgesetzten, und eines Tages erhielt ich einen Brief von ihm mit der Aufforderung, mich am folgenden Morgen bei ihm einzufinden. Der Ton des Briefes machte mir die Ohren heiß; ich ahnte, daß es sich hier wieder um meine Besuche im Waldkrug handelte. Mein Kollege an der Schule und im Kirchspiel, Herr Anton Kristian Frederik Ovesen, hatte am Sonntag, als wir uns in der Kirche begegneten, die Augen niedergeschlagen und auf eine süßliche Weise gelispelt, die sogleich mein Mißtrauen wachrief, daß er wieder Böses gegen mich im Schilde führe.

Ich entsinne mich des Tages so genau, als läge er nicht einen Monat in der Zeit zurück. Es war ein klarer Frosttag zu Anfang März. In den Ackerfurchen lag ein wenig schmutziger Schnee, aber der Erdboden war sonst unbedeckt. Ich hatte gehört, daß am vorhergehenden Tage im Gehölz hinter dem Bastruper Moor eine Schnepfe geschossen war, und um die starke Seelenspannung, in die ich hineingekommen war, zu betäuben, nahm ich meine treue Flinte und ging hinaus.

Es ist seit alter Zeit bekannt, daß sich die frühesten Schnepfen des Jahres oft in dieser Gegend zeigen. Als Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung will ich folgendes anführen. Es ist ja eine feststehende Sitte überall im Lande, daß die erste geschossene Schnepfe, »die Königsschnepfe«, wie sie genannt wird, an die Küche Seiner Majestät geschickt wird, der dann den glücklichen Schützen mit einer Summe belohnt, die sich zu meiner Zeit auf fünf Reichstaler belief. Diese Prämie ist in den letzten fünfzig Jahren nicht weniger als dreizehnmal Männern aus Lihme und den zunächst gelegenen Kirchspielen zugefallen, einmal mir selber. Das war im Jahre 1859. Es ist dies, ich kann es wohl sagen, das einzige Mal, daß mir das Schicksal seine Gunst gezeigt hat.

An jenem Märztage, von dem ich jetzt rede, ging ich verzagten Sinnes an den Waldrändern entlang, bis es dämmerte, ohne daß ich auch nur eine Feder zum Trost in die Jagdtasche bekam. Schließlich schlenderte ich widerstandslos in der Richtung auf den Krug zu. Ich konnte nicht nach Hause gehen, ohne Ellen gesehen zu haben.

Von außen her konnte ich durch das Fenster sehen, daß sie allein in der Stube war. Sie saß hinter dem Tisch bei einem Licht und besserte einige Kleidungsstücke aus. Der Stuhl des Vaters am Ofen stand leer. Der Alte war schon im Bettschrank zur Ruhe gebracht.

Es waren ein paar Stücke Torf in den Ofen gelegt; die erleuchteten den Fußboden traulich, und mir schlug gleich beim Eintritt in die Tür eine behagliche Wärme entgegen. Ellen machte mir einen Schluck Kaffee warm, und lange saßen wir einander am Tische gegenüber und plauderten, so wie wir es zu tun pflegten. Von dem Brief des Propstes oder von meiner Ahnung sagte ich nichts. Hinter der Wand des Bettschrankes ertönten die keuchenden Atemzüge des Alten, hin und wieder unterbrochen von einem leisen Klagen oder Stöhnen. Die Wassersucht war ihm in der letzten Zeit bis in die Brust hinaufgestiegen. Man konnte nicht länger darüber im Zweifel sein, daß der arme Mann den Tod im Herzen trug.

Ich hatte mir meine Gefühle für Ellen niemals geradeheraus merken lassen; aber trotzdem glaubte ich doch, daß sie sie kennen müsse und auch, daß sie etwas für mich übrig habe. Dergleichen spürt man ja an mehr als einem Wort. So entsinne ich mich zum Beispiel eines Abends, als wir in der Einsamkeit auf dieselbe Weise mit dem Licht zwischen uns saßen. Als Ellen es putzen wollte, vergaß sie, die Finger feucht zu machen, und verbrannte sich. »Pfui Teufel!« sagte sie und sah im selben Augenblick mit einem eigenen Lächeln zu mir hinüber – sie schämte sich. Ein andres Mal stieß sie unversehens laut auf. Da lachte sie und wurde dunkelrot. Ich weiß nicht warum, aber in dem Augenblick war es mir, als wenn sie mir sagte, daß sie mich liebe. Auch aus der Art und Weise, wie sie mir ein Schälchen Kaffee einschenkte, meinte ich entnehmen zu können, daß ihr Herz mir zugewandt war. Nicht nur schenkte sie immer sehr reichlich ein, sondern sie ließ sich auch Zeit bei der Sache, freilich wohl, ohne selbst darüber nachzudenken. Aber das zeigte ja doch, daß sie nichts dagegen hatte, so nahe neben mir zu stehen.

Wenn ich trotzdem nie den Mut gehabt hatte, mich meinen Gefühlen hinzugeben, so waren daran die Leute schuld. Ich war ja ein junger Mann und war noch empfindlich in bezug auf das Urteil des lieben Nächsten. Ach, hätte ich doch damals den Verstand meines Alters gehabt, in bezug auf das, was die Reputation wert ist! Der Waldkrug mitsamt seinen Bewohnern erfreute sich keines guten Rufes bei den Leuten in der Umgegend. Sprach man über das Haus, so geschah es, um die Skandalgeschichten zu verurteilen, die noch hin und wieder von dort aus ruchbar wurden, oder um alte Gerüchte aufzufrischen, die von Mord und Totschlag aus früheren Zeiten erzählten, und von der Unzucht, die damals unter den Schenkmädchen herrschte, und von ähnlichem mehr, über den Krugwirt Kren selber konnte man sich wohl belustigen, aber alle sahen doch auf ihn herab, um seiner fremden Abstammung willen. Es fehlte nicht viel daran, daß man ihn und seine Tochter mit Leuten aus dem Geschlecht der Henker über einen Kamm schor.

An jenem Abend saß mir das Herz im Halse; es ward mir oft schwer, zu sagen, was ich sagen wollte und durfte. Wir redeten von der Krankheit ihres Vaters und dergleichen, und auf diese Weise verging die Zeit, ohne daß wir es eigentlich merkten. Ich konnte es Ellen ansehen, daß sie nicht mit ihren Gedanken bei den Worten war und auch nicht bei ihrer Arbeit, so fleißig sie auch die Stopfnadel handhabte. Es war überhaupt in der letzten Zeit etwas wie eine große Angst über sie gekommen. Jedesmal, wenn eine Ratte über die Decke der Stube hinpolterte, oder wenn nur der Ofen ein wenig heulte, fuhr sie zusammen. Sie sah auch elend aus, aber wenn ich sie fragte, ob sie krank sei, antwortete sie immer mit einem kurzen Nein. Ich hatte deswegen nicht weiter acht darauf gegeben. Es war ja auch kein Wunder, wenn die Pflege des Vaters mit allen den Nachtwachen und all der Peinlichkeit schließlich an ihren Kräften zehrte, so stark sie auch war.

Wir mochten wohl eine Stunde beieinander gesessen haben, als ein paar Wollkrämer vom Wege hereinkamen und unter großem Gepolter von Holzschuhen und Stöcken ihre Bündel hinwarfen und Nachtlogis begehrten. Ellen legte schweigend ihre Stopfarbeit beiseite und zündete einen Kienspan an dem Feuer im Ofen an, um die beiden Männer in eine der Kammern am andern Ende des Hauses hinüberzuführen. Der Krugwirt Kren war infolge des Spektakels erwacht. Er schob die Bettlade zurück, fragte, wer gekommen sei, und verlangte einen Schluck.

Ich stand auf, um mich nach Hause in meine Einsamkeit zu begeben. Indem ich mich vom Stuhl erhob, dachte ich bei mir selbst, wann ich wohl wieder dort sitzen und mich glücklich fühlen dürfte. Ich sah auf Ellen nieder, die vor dem Feuer kauerte und in den Kohlen stocherte. Der Schein fiel auf ihre ganze Gestalt; sie saß wie in einem goldenen Gewand da. Es war wie ein Gesicht, wie eine Offenbarung. Ich dachte an das Märchen vom Aschenbrödel und träumte in dem Seligkeitsrausch einer Sekunde, daß sie eine verzauberte Prinzessin sei.

Als ich durch die Stube auf die Tür zuging, sah ich, daß die beiden Krämer, die sich noch immer mit ihren Warenbündeln zu schaffen machten, mit jenem Lächeln zu mir hinübersahen, mit dem man einen Betrunkenen betrachtet. Im selben Augenblick merkte ich selbst, daß ich schwankte. Zum erstenmal in meinem Leben fühlte ich mich in der Gewalt der großen Lebensmächte. Ich mußte die Wahrheit des Wortes von dem Feuer anerkennen, das als flüchtiger Phosphorschein beginnt, aber in einem Nu zur verzehrenden Flamme wird.

Während ich an dem sternhellen Abend nach Hause ging, rechnete ich mit mir selbst ab. Ich sagte: es nützt nicht, gegen sein Schicksal anzukämpfen. Ich wußte ganz genau, daß ich meine Ehre preisgab, wenn ich mich mit der Tochter des Krugwirtes Kren verheiratete. Ich war mir klar darüber, daß ich sogar meine Stellung als Lehrer und Kirchendiener aufs Spiel setzte, und ich dachte, daß wohl gerade das der Grund sei, weswegen mich Propst Hjort jetzt warnen wollte. Aber hier half kein Überreden – das fühlte ich im voraus. Ich war wie besessen von den Dämonen der Liebe. Es verlangte mich, dieses große, starke Weib zu umfangen, und ich war gewillt zu bezahlen, was es auch kosten mochte, um den Durst des Blutes zu stillen. Ich glaube, wenn man an jenem Abend meiner Seele ewige Seligkeit dafür gefordert hätte, ich würde sie gern geopfert haben.

Am folgenden Tage, gleich nach der Schulzeit, kleidete ich mich um und machte mich auf den Weg nach Lihme. Aber ehe ich mitteile, was das Ergebnis meiner Begegnung mit Propst Hjort wurde, muß ich ein wenig von diesem Manne erzählen, den ich trotz seiner großen menschlichen Schwäche geachtet und geliebt habe wie nur wenige andre.

Zuerst ein paar Worte über sein Äußeres. Er war, wenn auch nicht gerade von Riesengröße, so doch eine ansehnliche Erscheinung, schulterbreit, korpulent und so blutreich, daß er mehrmals im Jahr geschröpft werden mußte. Sicher war er einmal sehr hübsch gewesen. In seinen älteren Tagen hatte er ein großes, ein wenig fettiges und glühendes Gesicht mit einer bläulich gefärbten Nase und einem ungeheuren Kinnbeutel. Er war bartlos, und der Scheitel war kahl und so blank wie ein Stück Kupfergerät. Hinten hingen die Überreste des seidenweichen und lockigen Haares ihm ganz bis auf die Schultern herab. Was aber am meisten auffiel, waren seine kleinen Augen, von denen das eine ein klein wenig nach innen zu schielte, die aber beide von Leben und Munterkeit sprühten.

Er war wohlhabend verheiratet und hatte nur ein einziges Kind, so daß er nach Belieben des Kopfes und des Herzens handeln konnte. Er war noch immer Jäger und überhaupt eine wahrhaft poetische Natur. Namentlich hatte er viel Interesse für alles, was Theater und Musik betraf. Er selber hatte eine schöne Singstimme, und es wurde erzählt, er habe in seiner Jugend daran gedacht, zur Bühne zu gehen. Wenn in dem Provinzstädtchen Schauspieler oder Sänger auftraten, pflegte er sie zu sich nach dem Pfarrhof hinaus zu laden und bewirtete sie dann so, daß sie zuweilen in mit Stroh gefüllten Erntewagen zurückgefahren werden mußten.

Hier berühre ich eine Schwäche von ihm, die ich der Wahrheit halber nicht verhüllen darf. Er war ein großer Liebhaber der Freuden der Tafel. Es hieß, daß er den besten Weinkeller im Regierungsbezirk habe, und er trank jeden Tag mehrere Gläser reinsten Traubenweins zu seinem Mittagessen. Aber bei Hochzeitsfesten und Kindtaufen bei den Bauern schlug er deswegen keineswegs die einfacheren Waren aus, die man ihm dort zu bieten vermochte; er trank Schnaps und süßen Likör und Kaffeepunsch, nicht selten leider sogar im Übermaß. Im täglichen Leben war er ein sehr gebieterischer Mann, der seinen Pfarrkindern, geschweige denn seinen Untergebenen, nie mehr als zwei Finger reichte: aber bei solchen Gelegenheiten büßte er alle Würde ein. Er konnte sogar zudringlich gegen Frauen werden und trank zuweilen, bis er von Sinn und Verstand war. Mehr als einmal habe ich die Laterne getragen, während vier Männer ihn in einer Decke nach Hause schafften und ihn gleich neben dem Tor auf ein Bett in einer kleinen Stallkammer legten, die eigens zu diesem Zweck eingerichtet war. Aber da ich dies hier mitgeteilt habe, so muß auch gesagt werden, daß er am Tage darauf als wahrer Streiter Gottes auf der Kanzel in der Kirche stehen konnte, geläutert in Gebet und aufrichtiger Reue; dann redete er so warm und herzergreifend, daß die ganze Gemeinde erbaut von dannen ging.

Vielleicht, weil ich es mir hinterher niemals merken ließ, wenn ich ihn in seiner Entwürdigung gesehen hatte, war er immer so freundlich gegen mich gestimmt. Wir hatten ja außerdem in der Jagd und in der Musik ein Gebiet, auf dem wir uns in Verständnis begegnen konnten, und er lobte oft meinen Gesang in der Kirche. Meinen Kollegen, Herrn Ovesen, hingegen konnte er kaum vor Augen sehen. Sein Unwille gegen ihn äußerte sich mir gegenüber freilich niemals in Worten, aber er verriet sich in seinen Mienen und in seinem Ton wie auch in einzelnen Andeutungen, so zum Beispiel einmal, als er mit herrlicher Verachtung von Menschen sprach, die förmlich vor »Frömmigkeit stänken«.

Als ich an jenem Nachmittag in den Pfarrhof kam, stand er draußen auf der Treppe und warf seinen Tauben Erbsen hin. »Nun, sind Sie da?« sagte er und forderte mich auf, ihm in das Studierzimmer zu folgen. Ich merkte gleich, daß der Prälat in ihm die Oberhand hatte. Sein Ton war barsch, und er stopfte seine Pfeife und machte sich einen Fidibus, ohne mir einen Stuhl anzubieten. Erst als er selbst Platz vor dem Schreibtisch genommen hatte, sagte er: »Setzen Sie sich!«

Und dann fing er an loszubullern. Es sei abermals Klage über meinen moralischen Wandel eingelaufen, sagte er. Mein Verhältnis zu der Familie in der Waldschenke müsse ich aufgeben; es errege Ärgernis in der Gemeinde. Falls ich es fortsetze, sei er genötigt, meinen Abschied vorzuschlagen.

Ich hatte ganz still dagesessen und dieses angehört. Als er fertig war, sagte ich mit schuldiger Untertänigkeit, daß ich dann wohl auch keine Gnade zu erwarten habe, falls ich die Tochter des Krugwirtes Kren heiratete.

Er war nicht annähernd so überrascht, wie ich gedacht hatte. Er paffte mehrmals stark aus seiner Pfeife und sagte dann: »So sind Sie also wirklich der Vater des Kindes, das sie haben soll?«

Ich werde nie ein einziges von diesen Wörtern vergessen. Mit allen ihren Betonungen klingen sie mir noch in den Ohren, als seien sie in diesem Augenblick gesagt. Ich erinnere mich auch noch ganz genau des ersten Eindrucks, den sie auf mich machten. Ich mußte lächeln. Aber dann ward ich erbost und fing an, den Propst zur Rechenschaft zu ziehen, weil er lose Reden über das Mädchen führte, das ich lieb hatte. Ich geriet so völlig außer mir, daß ich vor ihm auf den Tisch schlug und ihn einen Verleumder nannte, bis mir plötzlich Ellens bleiches Aussehen am vorhergehenden Abend und ihr ganzes sonderbares Wesen in der letzten Zeit einfiel, so unruhig und gleichsam angsterfüllt. Da ward ich unsicher und schwieg. Kalter Schweiß rann mir über die Stirn, ich war nahe daran, umzusinken.

Der Propst hatte sich erhoben. Er verstand wohl, was in mir vorging, denn er wurde im selben Augenblick ein ganz andrer. Er kam hin und legte mir die Hand auf die Schulter, und es war nicht mehr mein strenger Vorgesetzter, kein eifernder Prälat, der vor mir stand, sondern ein warmherziger und mitfühlender Mensch.

»Thyssen,« sagte er, »Sie sind ein großes Kind! Aber jetzt sollen Sie sich als Mann zeigen!«


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