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Eines Tages ging an Christian Heinsberg, Schulmeister im deutschen Dorfe Bellmann auf dem hohen europäischen Ufer der Wolga, der große Wunsch in Erfüllung, den fast ein jeder draußen in der Welt geborene Kolonist, wes Stammes, Standes und Volkes er sei, im tiefsten Herzen trägt; einmal das Vaterland zu sehen, das Ausgangsland, das Heimatland …
Christian Heinsberg schlenderte an einem Frühlingstage durch Petersburg, schlenderte sozusagen ungeduldig, wenn das möglich ist. Erregt schienen seine großen grauen Augen die Entgegenkommenden auf dem Newskiprospekt, Herren, Männer, Damen, Dämchen, Gymnasiasten und Beamte in Uniform, Gardeoffiziere und noch im sibirischen Edelpelz gehende Adlige zu fragen: Seht ihr mir auch an, daß ich nach Deutschland reise? Jawohl, nach Deutschland? Sie sahen nichts dem in Kniestiefeln und Tellermütze gehenden, im ganzen etwas altmodisch, bäurisch-drall gekleideten Manne aus der Provinz, offenbar einem Menschen aus ihren russischen Fremdvölkern, an. Sie hatten keine Zeit. Niemand in den großen Städten der Welt hat Zeit. Die Zeit ist überall auf das Land gegangen.
Das deutsche Schiff, die »Brunhild« von Stettin, lag am Nikolaikai fest. Christian war sofort vom Nikolaibahnhof, an dem man von Osten her ankam, hinter dem wattierten Rücken eines pelzbehaubten Droschkenkutschers den Newskiprospekt hinunter und über die Nikolaibrücke, die unterste nach dem Meere zu, zum Nikolaikai auf der Wassilewskiinsel gefahren, bis zu dem die Seedampfer herauf- und hereinkamen, und der der große Kai oder Pristan für sie war. »Kronstadtpristan« hatte er dem Iswóstschik zugerufen, und dieser hatte sein Dreigespann asiatisch durch die Stadt gegeißelt.
Petersburg war die erste Weltstadt, die Christian sah. In Städten war er schon gewesen, in Saratoff, Astrachan, Nischni Nowgorod und Orenburg. Aber das waren alles nur große Orte gewesen, langsam gewachsen aus Siedlung und Weiler wie ein Wald aus Baum und Hain, sie waren aus Asien heraus gewachsen, ländlich, binnenländisch und groß; eine europäische Stadt, eine, die herrisch gewollt war, die eines Tages dalag, wo vorher nichts gelegen hatte, wo Wasser, Sumpf und Schlick gewesen war, bis ein Mann, Peter, gekommen war und gesagt hatte: hier werde eine Stadt, eine große schöne, eine weite Weltstadt – weiß Gott, Christian hätte hier um sich zu schauen gehabt.
Doch draußen am Nikolaikai lag ein deutsches Schiff!
Christian hatte noch nie ein deutsches Schiff gesehen: Am Schwarzen Meer war er nicht gewesen, und in seine Heimatsee, die Kaspische, konnte vom Weltmeer her keins einlaufen. Freilich wußte er, daß ein Schiff ein Schiff ist, und daß ein deutscher Dampfer kaum anders aussehen konnte als ein russischer oder japanischer, gewiß, er wußte, daß auch die Deutschen ihre Schiffe noch mit der Kraft der schwarzen Kohle und nicht etwa mit einer geheimen Spannung, nachts heimlich aus den Sternen abgezogen – Teufelskerle, die sie sind! – bewegen. Aber was half alles Erwägen gegen das Erleben, daß dieses Ding da, dieses Eisen, Holz, Tau und Tuch das heimatliche, das vaterländische, das einfach echte war, echt, wie man selbst? Daß das hohle Gebäude dort, das Holzschloß, die Meerburg, dahergeschwommen war aus dem Lande, das man nach Schicksalswillen als das im letzten und höchsten eigene ansprechen muß? Die Kleider der Geliebten sind von der Schneiderin gemacht, die hundert andere macht, und doch betrachtet der Freund sie ehrfürchtig und erregt. Was uns zutiefst angeht, das ist das Eigentliche. Daß ihm und seinen Leuten, wenn des Herzens reiner Wunsch und Traum reden durften, Rußland das Uneigentliche war, fühlte der Reisende stark, das war sozusagen zu ihm in die Droschke gesprungen, die den breiten übertummelten Newskiprospekt hinuntergejagt war, als führe sie einen Großfürsten oder einen in Petersburg auf der Prinzenschule der Fremdvölker zur Erziehung befindlichen Khans- oder Häuptlingssohn; als er auf der Anitschkoffbrücke die stattliche Fontanka, auf der die vielen Holzschiffe lagen, die man mitsamt ihrer Fracht im andern großen Winter in Petersburg verheizen würde, querte; als er auf der Kasanbrücke über den Katharinenkanal und auf dem Polizeisteg über die palastumstandene Moika fuhr – großartig, aber uneigentlich!
Nicht so zu verstehen, wie der Mönch die Welt versteht: er kehrt ihr den Rücken und geht ins Kloster – nein! Aber ein Zuwanderer sah doch das Wahlland, ein Wolgadeutscher Rußland an so wie der Fromme die Erde, der Gläubige das Diesseits betrachtet: sie wissen, daß die wahre und letzte, die eigentliche Heimat anderswo ist. Sie leben in der uneigentlichen, sie tun ihre Pflicht in ihr, sie genießen die zugemessenen Freuden, sie wünschen sich im Grunde gar nicht fort vom irdischen Orte; aber in stillen Stunden fragt die Seele doch: wo find' ich die Heimat, die Ruh'? …
Und da hatte nun die »Brunhild« gelegen. Im ersten Augenblick hatte Christian das deutsche Schiff nicht einmal erkannt. Das größte am Kronstadtpristan war ein Engländer gewesen, das neueste ein Norweger. Die »Brunhild« war ein unauffälliges ordentliches sauberes Schiff gewesen, sie hatte mit weit ausschwenkenden Ladebäumen unter fürchterlichem Lärmen der Dampfwinden grün angestrichene Eisenpflüge ausgeladen.
Da, am Heck hatte die deutsche Flagge geweht! Zum erstenmal hatte er sie erblickt, ein Binnenrusse wie er hatte nie eine andere als die weißblaue russische gesehen, immer dieselbe auf ungeheure Räume hin, er mußte sie für die Flagge der Erde halten. Der ernste angenehme Dreiklang der Farben Schwarz und Weiß und Rot hatte ihm wohlgetan. Da hatte der Engländer gelegen mit seiner roten Flagge, am Stock den blauen rotgesternten Einsatz, der Norweger wieder mit einer roten, aber blauem liegendem Kreuz darin, und ein Däne mit weißem Kreuz. Sein ruhendes Auge hatte im langen Flußhafen noch andere Volk- und Staatschaften ausgemacht – er hatte sehr scheu und sehr höflich einen russischen Matrosen um gefällige Auskunft gebeten – hatte also an einem holländischen Öltanker und einem französischen Schulschiff die Farben Rot und Weiß und Blau festgestellt, hatte einen Schwefelkahn mit Grün und Weiß und Rot im Tuche als Italiener erkannt – das Schwarz im deutschen Tuche, das ernste Schwarz neben dem sachlichen unparteiischen Weiß und dem Rot des Lebens, das tat dem farbenempfindlichen Gefühl wohl und beschäftigte den Geist mit einem Sinnbild, in dem der Ernst des Politischen in der Welt sich aussprach. Denn die Flagge war nicht farbenschreiend, nicht ohne dunklen Unterton, nicht lustig bunt, nicht flach eindeutig und nicht rätselvoll, sondern schlicht, angenehm, ernst stellte sie ihr Land auf den Meeren dar, so ernst! Und dann war er die Laufbrücke hinaufgegangen.
Wenn man im Inlandshafen ein ausländisches Schiff betritt, immer fühlt man es: fremdes Land kam da herangeschwommen, in dem die Gesetze des Staates herrschen, der sich durch die entrollte Flagge ausweist – also hatte Christian Heinsberg schon im Petersburger Flußhafen den Fuß auf eine Stahlschiene gesetzt, welche »Grenze Deutschlands« bedeutete. Aber gutmütig hatte ihn der die Zugangsbrücke hütende Schiffsmann angeherrscht: Was er denn schon wolle? Man fahre erst übermorgen. Augenblicklich sei Großreinemachen – in der Tat hatten Matrosen barfüßig und die Hemdärmel aufgekrempelt mit Besen und Bürsten in Lachen von Lauge und Sodawasser gestanden. Das Schiff sei auch noch kalt, die Aufwärter hätten Landurlaub, man koche nur in der Mannschaftsküche. Man könne ihn in Gottes Namen noch nicht brauchen, er solle sich das schöne Petersburg ansehen. Sein Gepäck möge er dalassen. Danach zu urteilen scheine er ja gradezu ein russischer Großfürst zu sein. Er könne auch die Nacht schon auf dem Schiffe zubringen und die Gasthofkosten sparen, er sehe aus, als ob ihm das nicht unlieb sei; und seinet-, des Maats, wegen – der Alte, was der Käpten sei, sei nicht an Bord – möge er auch abends mit der Mannschaft essen, was die Großfürsten bekanntlich auch alle täten. Nun aber dalli!
Christian hatte seinen Reisesack und die leichte Trommel aus Birkenrinde hinübergereicht und fürs erste also die eiserne Fußschwelle Deutschlands verlassen. Er war das Brückchen, dessen Segelbespannung unter den Handleiten schwappte, zurück- und hinuntergegangen.
Nun würde er sich gern Petersburg ansehen! Nun fühlte er, daß er sich der Stadt und ihrer Wunder und Großartigkeiten würde freuen können, denn zur Freude, zum Genusse gehört Muße. Als Christian jetzt vom Hafen fort den Fluß hinauf ging, da schüttelte er lächelnd den Kopf. Warum war er denn so stürmisch? Hundertfünfzig Jahre fast hatte sein Geschlecht auf den Augenblick gewartet, Deutschland wieder betreten zu dürfen, was kam es dann auf einen Tag an? Hundertfünfzig Jahre, nur wenige fehlten daran, 1914 würden die Kolonien das Fest des Gedenkens an die Gründung vor anderthalb Jahrhunderten begehen. Das würde Zeit und Gelegenheit für Wolgaland sein, sich der Welt feierlich vorzustellen, sich ihr in Erinnerung und überhaupt ins Wissen zu bringen, den Deutschländern und auch den andern Völkern, den Engländern, den Franzosen, den Japanern und Amerikanern, nicht zuletzt den Russen. Dann würden die Flaggen wehen an hohen Masten entlang dem Ufer der Wolga, die weiße blaugekreuzte russische und die der Länder der Herkunft: die bayrische weißblaue, die württembergische schwarzrote, die badische gelbrotgelbe, die preußische schwarzweiße, die rheinische grünweiße, denn aus vielen deutschländischen Landschaften hausten Abgezogene an der Wolga, nicht zu vergessen die hessische rotweißblaue, denn Hessenland hatte doch hauptsächlich Wolgaland bevölkert – Christian kannte die Farben der Ausgangsländer, in diesem oder jenem Kolonistenhause waren die Bilder der Eltern mit alten ererbten Farbbändern umhängt. Die Kolonisten wußten nicht mehr, was grünweiß und weißblau zu bedeuten habe. Aber da war doch ein Doktor in der Kolonie gewesen, war auch in Bellmann gewesen, ein deutschländer Doktor, Christian hatte ihn auch darüber wie über manches andere, Deutschland Betreffende, ausgefragt, soweit ein Scheuer einen Kargen mit Erfolg ausfragen kann. Den Kolonisten hätte die Auskunft: Rheinland oder Bayern, Pfalz oder Hessen, nichts geholfen, das Wissen vom Orte der Länder solcher Namen war verlorengegangen, sie hätten sich unter diesen nichts vorstellen können, sie, die sich unter dem von Deutschland kaum Genaueres als Gralsburg oder Land Eden oder Paradies oder Himmelreich auf Erden dachten. Aber bei einem Schulmeister war das doch anders, selbstverständlich. Die russischen Kartenbücher waren gut. Auch war Christian allem Wissen von dieser Erde, auf der wir stehen, die uns nährt und auf der unser angewiesener Ort eben unerörterbares Schicksal ist, zugetan, und seine Frau Alexandra sagte ihm nach, daß er nie etwas einmal Aufgenommenes vergesse. Er ging fröhlich und glücklich auf dem Granitkai der Newa nach Osten. Das Unerhörte hatte sich ereignet, er war unter den vielen Tausenden seines Wolgavolkes auserkoren worden, Deutschland, Europa zu sehen! Wohl, er mußte nun die Welt nach der Breite ausschreiten, ein großer großer Wanderer in ihr werden! Und dazu viel viel viel lernen mußte er, der kleine unbekannte Schulmeister von der Wolga, der auf seinem ersten Ausgang ins große Leben war, der nach Europa hereinkam von einer Ecke her, von woher man sicher nichts Außerordentliches erwartete. Er ging mit geschwellter Brust und auf leichten Füßen an den Staatsbauten vorbei, alles gewaltigen festlich-roten Gebäuden der Kaiserin, bis zum »Spitze« genannten Orte, der, Strjelka, die große und kleine Newa wie ein Schiffsbug auseinanderteilte. Da erhob sich säulenumbaut und tempelgleich die holländische Börse, mit Schiffsschnabelwerk geschmückte Ziersäulen vor sich. Und dort stand nun er, ein glücklicher Mann, und schaute festlichen Auges östlich dem Fluß entgegen, der aus Wald und See und Dust und Ost breit daherkam. Ein glücklicher Mann! Denn wann ist einer glücklicher, als da er, noch unbeschwert und unenttäuscht, im Begriffe ist in die Welt zu gehen, rein, gesund und bescheiden alles erwartend und also im Traum straflos besitzend, ein Jüngling fast noch und schon ein Mann?
Ein frischer Wind fiel über ihn her, machte ihn erschauern und ließ ihn doch wohlig gewahr werden der Wärme seines Blutes und der Dichte seines Fleisches. Er faßte die Tellermütze mit den Fingern der einen Hand vorn am Schirm, mit der Höhle der andern hinten am Bund und zwängte sie fester auf den Kopf.
Links im Fluß auf ihrer kleinen Insel lag stumm die düstere Peterpaulsfestung, und da rechts am Ufer rauschte die rote Pracht des Winterpalastes daher. Und dort in einem Zimmer hinter einem der hohen Fenster, die hierher auf die »Spitze« schauten, stand zu dieser Stunde vielleicht der Kaiser Nikolaus, zweiter seines Namens, in Juchtenstiefeln und weißer Hausbluse und sah ihn, Christian, an der Strjelka stehen, in Rindslederstiefeln und dunklem Tuchrock, er, der Großherr aller Russen; sah ihn, einen kleinen Schulmeister von der Wolga … er, von Gottes Gnaden, Nikolaus Alexandrowitsch II., Kaiser und Selbstherrscher zu Moskau, Kiew, Wolodimir, Nowgorod, Zar zu Kasan, Zar zu Astrachan, Zar zu Sibirien, Herr zu Twer und Großfürst zu Smolensk, Fürst zu Livland, Perm und Wjatka und mehr anderen … ihn, Christian Heinsberg Michaelssohn, Michels Vater, Herrn über eine kleine Gemeinde, Dorfkönig und Vertrauensersten, Besitzer von zehn Deßjatinen Grund, zwanzig Schafen, sechs Kühen und einem Kranich, »Jungfrau« geheißen … er, Herr und Großfürst zum andern Nowgorod im niedrigen Lande am Strome, Rostoff, Charkoff, Saratoff und des ganzen Nordlandes Gebieter … ihn, Lehrer von Kindern, Berater der Jugend, Ratgeber von Ratlosen, Schlichter in Koloniestreiten … er, Grusinischer Zar und Zirkassischer Fürst und des Wolgalandes und mehr anderen Erbherr und Beherrscher …
Ja, der Großherr aller Russen, der auch über die Deutschen an der Wolga herrschte und ihr Leben und Sein in seinen Händen hielt; über die Deutschen am Schwarzmeer herrschte, Deutsche in Wolhynien, Bessarabien, Sibirien und hinter dem Kaukasus; über Tataren, Kirgisen, Kalmücken; Samojeden, Ostjaken, Burjaten, Tungusen; Kosaken, Turkestaner, Mongolen, Kamtschadalen – über Menschen vieler Völker und über den sechsten Teil der festen Oberfläche der Erde … Feierlich dachte er das. Es war eingegeben von der Größe und den Prächten des Ortes, eine geistige Dünung, Nachklang des Sturmes der Geschichte, der an diesen Newaufern und ihren von Baukunst feierlichen Küsten seinen Tummelplatz gehabt. Er schaute stromüberquer nach der Admiralität hin, die über dem Wasser neben dem weinroten Winterpalast mit dottergelben mächtigen Mauern und weißen Säulen davor lag und ihre goldene Turmnadel in den Himmel blitzte. Aber mochte in diesen Gebäuden zu dieser Stunde regiert, mochte dort angeordnet, entschieden, unterschrieben werden – daß ein deutscher Schulmeister aus einem Wolgakolonistendorf, aus der Heinsbergfamilie in Bellmann, vierter Christian der Abstammung nach, sich zurück auf den Weg machte, Mann aus einer Menschenmenge, aus der keiner jemals mehr nach Deutschland gekommen war, das war auch etwas! Das bedeutete auch etwas! Das war ganz außerordentlich für die Kolonie mit ihrer Einsamkeit und Ferne!
Die Petersburger waren die feinen Leute Rußlands, und sie ließen es sich gerne sagen. Sie waren auch höflich, doch kamen ihre Tugenden mehr aus dem Geschmack als dem Gemüte. Christian entgiftete durch seine Art, sich zu gehaben, allen Spott. »Ein Deutscher«, sagte man im Vorübergehen, doch ohne den Beiton, mit dem man in Petersburg sonst gern »Njemez« sagte. Und es war damit »einer von unseren Deutschen« gemeint, von den Deutschen, von denen »einige« in Rußland wohnten, wie auch die Russen in den russischen Schulen lernten.
Christian war ein Lehrer in Rußland und lehrte russische Geschichte. Niemand, auch der russische Schulrat nicht, verdachte es ihm, wenn er die Hauptstücke aus dem Geschichtsbuche bevorzugte, in denen russische und deutsche Geschichte für eine Strecke Weges zusammengegangen waren. Also kannte er besonders und stellte er jedes Jahr wieder dem reifgewordenen Jahrgang die Ereignisse des Jahres 1812, den russisch-preußisch-deutschen Krieg gegen Napoleon, vor und zeigte es eingehüllt in den Zeitmantel des großen Jahrzehnts von 1808 bis 1818, zwischen jenem Fürstenbegegnen in Erfurt und dem andern Königstreffen in Aachen. Die Städte Erfurt und Aachen waren Hauptorte der Welt gewesen. Der stille Hinterweltmann Christian Heinsberg liebte die Geschichte und also die Politik. Geschichte war die Politik der Vergangenheit, Politik die Geschichte der Gegenwart. Politik war immer der Schoß der Geschicke der Völker und des Jedermann.
Damals, im »heiligen Kriege«, im russisch-französischen, besiegten die Russen – mit Hilfe der Preußen und Deutschen, so lehrten die russischen Bücher – die Franzosen. Zar Alexander, Napoleons Bezwinger! Zar Alexander, mit Hilfe Gottes Obsieger des größten aller Gegner, des Welt- und Menschenfeindes, des Unglückszeugers in Europa, des Antichrists! Ohne Vorbehalt staunend, stand jetzt Christian vor dem Winterpalast, diesen im Rücken, die großartige Platznische der Gebäude des kaiserlichen Generalstabes und die ungeheuren wolkennahen Zierbogen, welche die in die Nische einmündende Morskaja-Straße übersprangen, im Gesicht und starrte die turmhohe Säule hinan, Säule aus einem einzigen Stück roten finnischen Granits, die größte Einsteinsäule, die je auf der Erde aufgerichtet und hier aufgerichtet worden war zu Ehren, verdienten Ehren des Zar-Befreiers von Rußland! Des größten Mannes des Jahrhunderts, wenn der der größte Held ist, der den größten Unhold niederwirft und ankettet! Des Erretters Rußlands aus seiner größten Gefahr des Jahres 1812, der furchtbarsten seit jenen Zeiten, als die Mongolen und Tataren über die noch ungeschützte Wolga dahergestürmt waren, Alexanders I. Paulssohn! Und er las auf dem Sockel in schönen kyrillischen Bronzebuchstaben langsam die Worte: »Alexander dem Ersten Pawlowitsch das dankbare Rußland.« Wahrhaftig, es konnte ihm dankbar sein, und Europa mit ihm, nickend schritt Christian davon unter den himmelhohen Bögen durch in die belebte Morskaja.
Es gibt Menschen, die nur dem Augenblicke pflichtig, dem Jetzt verhaftet sind und denen der Weg gleichgültig ist, auf dem alles zu sich gelangte und wir selbst zu uns; und es gibt andere, die vom Werden wissen wollen, welche die Welt, das Volk, den Menschen, sich selbst in Vorwelt und Frühtat, in Aufbau und Her-Kommen, in des Vaters Trachten und Tun kennen müssen, um zufrieden zu sein; welche Mängel des Heute mit Fehlgriffen des Gestern entschuldigen können müssen und das verpfuschte Jetzt wenigstens in Gedanken am törichten und bösen Einst rächen wollen. Christian war einer von diesen Menschen, die an der Oberfläche des Tages Lebenden nennen sie die von Geschichte Belasteten, und er war glücklich unter solcher Bürde und stolz auf diese Würde.
So schritt er also leicht erhobenen Hauptes durch die Morskaja und über die Polizeibrücke an der holländischen Kirche vorbei auf den Newskiprospekt hinaus. Schau an, so also, wie da auf dem Denkmal vor der Kasánkathedrale zu sehen, hatten sich ein Bildhauer und sein Auftraggeber, Nikolaus I. Pawlowitsch, Alexanders Bruder und Nachfolger an der Krone, den Barclay de Tolly gedacht, mager und knapp, den Mann, der im russischen Befreiungskriege die heiligen Waffen der Nachkommen Ruriks anfangs geführt hatte! Anfangs, denn er war abgelöst worden, der Fremdvölkler, deutscher Balte mit dem fremden Namen, vom Erzrussen Kutúsoff, als das russische Heer und Volk ergrimmt gewesen waren über diese deutsche Feigheit, das ewige Zurückgehen auf die Mutter Moskau und zuletzt den Brandmord an ihr; von Kutúsoff, der da Barclay gegenüber auf dem andern Denkmal stand, vom Kaiser und Künstler gedacht als ein echter Russe von altem russischem Schrot und Korn, gutmütig, platzbedürftig, schnauzbärtig, mit Schwung in den Bewegungen, Blitzen in den Augen und der Nacht ungeheurer Augenbrauen. Ach ja, der steife trockene Deutsche, der fleißig ist wie ein zerdroschenes Haustier, ein Säcke schleppender Esel des Müllers oder ein zum Wasserheben im Göpel gehendes Kamel, der Nächte hindurch rechnet und zirkelt und griesgrämig am andern Tage auch einen Erfolg erzielt, den er »anständig« nennt. Aber der Russe soff selig die Nacht hindurch und ließ die Zigeuner spielen, ließ die Deutschen im Heere zeichnen, die Schweden im Steuerwesen rechnen, einen Griechen im Auswärtigen Amte schreiben und verhandeln; doch kam die Stunde, der Augenblick der großen Gefahr, die Not des Vaterlandes, dann rieb er sich den Schlaf aus den Augen, griff hinein in die große Seele seines Landes und das weite Gemüt seines Volkes, und aus Volkes Geistkraft tat er das Wunderbare. Ah! Ja, Kutúsoff, das war ein Mann gewesen! So sah ein großer Russe aus! Saufen tat er und beten, sündigen und sich heiligen, Fehler konnte er machen und das Unvergleichliche tun, alle Schlachten verlieren, selbst die von Borodino vor den Mauern Moskaus, aber den Krieg gewinnen, während diese Deutschen alle Schlachten gewannen, doch ihre Kriege verloren. Ah, da saßen sie an ihren sauberen Tischen, Tintenfaß und Wasserglas vor sich, und kritzelten, die dünnen Lippen zusammengepreßt, mit spitzen Stiften auf blendend weißen Blättern, dachten nach und flüsterten untereinander. Und dann, als Ergebnis des langen Kritzelns, Nachdenkens und Flüsterns, befahlen sie: Immer weiter zurückgehen auf Moskau und, wenn es sein muß, nach Sibirien …
Oh, da erblaßte in Scham das echtrussische Herz!
Da hatte man dem Kaiser in den Ohren gelegen, und da hatte er mit der deutschen Großmutter, Mutter und Frau, der ewig deutschfreundliche, endlich es angehört: Daß alle edlen russischen Gemüter ergrimmt seien! Daß sie aufloderten in Zorn, alle russischen Feuerseelen! Daß er es erkennen müsse, der Zar, das Väterchen, Alexander Pawlowitsch, daß die Deutschen Rußlands Unglück seien! Und da hatte er denn die Deutschen aus dem Oberbefehl entlassen, Barclay und Wittgenstein. Und wenn es darauf mit den russischen Niederlagen nur noch schlimmer wurde, so war das fürs erste nachwirkende Folge der Tätigkeit jener teuflischen Stümper.
Waren sie nicht überhaupt bezahlt, diese Schurken, vom Feinde, vom Franzosen, ihm die heilige russische Erde in die Hände zu liefern durch ihre Kriegsschulweisheiten von »befestigten Lägern«, die man aber räumte, wenn der Feind sich nahte? Vom »getrennt Marschieren«, sodaß jener schnell Zuschlagende mit den einzelnen Heeren aufräumen konnte, dem Wittgensteins, Barclays, Titschascheffs? Vom »Raum als Waffe«, sodaß es alle russischen Städte kosten würde, Smolensk das ehrwürdige und Moskau das heilige, und wer weiß, welche folgen würden, das klöstervolle Rostoff am Don, Saratoff an der Wolga, und Astrachan, die Stadt der Schiffe und Fische? Ließen sie sich nicht Geld geben, diese Deutschen, die sich scheinheilig darüber erregten, wenn ein schlechtbezahlter russischer Beamter einmal ein Hundertrubelscheinchen als Trinkgeld annahm oder, in einer Notlage, ein Tausendrubelpapierchen der Staatskasse entnahm, sie, deren Fürsten, wie alle Welt wußte, ihre Soldaten verkauften gleich Schlachtvieh an die Fremden, an die Engländer und Holländer für Amerika und das Kap? Die sich vom französischen Kardinal hatten bestechen lassen viele Jahre, nur damit ihrem Kaiser Scherereien erwüchsen, und denen sogar ihre Länder mit allem Lebenden darin feil waren? Nieder mit den Deutschen!
Als Christian auf den Stufen des Kutusoffdenkmals saß und der Weltstadtlärm der Newskiperspektive um ihn brauste, ohne sonderlich von ihm gehört zu werden, hatte er weltfremde Gesellschaft bekommen. Er sah einen Heiligen neben sich sitzen, einen Starez oder Pilger oder Wanderer, Akim Akimytsch wie er bald wußte, aus Turuchansk in Sibirien, der hierher zu den Gebeinen des heiligen Alexander Newski gewallfahrtet war. Obgleich ein Pilger, hatte Akim Akimytsch das im Doppelsinne helle Aussehen der Sibirier, das dem der Petersburger verwandt war, aufgeschlossenes Wesen und Redefreudigkeit, auch nüchternen Sinn des russischen Großkolonisten, so wenig sich das auf den ersten Blick mit einem Pilgerleben in Einklang bringen lassen mochte. Aber pilgern auf weite Strecken, das ist Weltreisen der armen Leute, und zu allem Reisen im großen Ausmaß gehört sich Weltnüchternheit. Denn reisen geht durchaus nicht so vor sich, wie der Schwärmer es sich denkt, der bei der Erzählung eines Reisenden ausruft: Ach, wer doch auch hinauskommen könnte! Der sich nämlich denkt, der Reisende wandert immer bei schönstem Wetter und vollkommener Gesundheit wacker und fröhlich durch blühendes Land und sieht jeden andern Tag strahlenden Auges eine herrliche Stadt. Zum Wandern gehört sich Verbohrtheit, wie zu allem sportlichen Tun. Einen Großwanderer hoher Eignung sah Christian in dem Akimytsch, für alles, was Wandern war, hatte Heinsberg ein schwaches Herz. Er bot ihm reichlich an, und der fromme Sibirier nahm es ohne viel Worte entgegen, denn es war Gott gegeben. Und er erzählte von Sibirien und insbesondere vom Jenissejer Lande und von Turuchansk, wo die vielen »Politischen« verbannt leben, von Sibirien im großen, das nach seiner und überhaupt russischer Vorstellung das Nachbarland, das andere Rußland war, näher gegen Sonnenaufgang.
Der Starez Akim aber machte sich das Wandern nicht leicht, der Fußreisende. Ah, wie schämte Christian sich, der mit dem Schnellzug gefahren war und auf seinem Schlafsack geruht hatte hoch oben auf dem dritten Liegebrett des Abteils! Akim trug eine Stahlstange mit sich, sein Hut war mit einer Steinplatte ausgelegt und die Krempe mit Eisenringen geziert. Christian wog ihn achtungsvoll in der Hand, aber der Starez sagte: Christus trug eine Dornenkrone …
Mehr sprachen die beiden nicht. Höheres wußte der Heilige vielleicht auch nicht zu sagen. »Auf Wiedersehen in Sibirien«, äußerte er nur noch so, als sei es selbstverständlich, daß jeder Mensch einmal nach Sibirien käme. Er begab sich auch gleich auf seinen beladenen Weg, die Newskiperspektive östlich hinunter nach dem heiligen Alexanderkloster, wo er nächtigen mochte. Die Lichter waren angezündet worden auf dem Prospekt, Männer in Sackgewand und Bastschuhen waren auf die Laternen geklettert, und Christian schlug die westliche Richtung ein an Katharinas Standbild vorbei – Erzbild der Großen, das Zepter der Macht in der einen Hand, in der andern den Kranz des Friedens – zurück über die Polizeibrücke auf die noch im Abendhimmel blitzende Admiralitätsnadel zu, um an seinem Platze zu nächtigen, auf dem deutschen Schiffe.
Gesättigt fast ging er über das Holzpflaster, das, noch von der Winterfeuchtigkeit gequollen, an vielen Stellen sich zu Hügeln gehoben hatte und an den Kreuzungen mulmig war vom vielen Hufschlag der Pferdchen und vom Sausen der gummibereiften Troiken. Aus vielen tausend Abendkaminen roch die Stadt nach Holzbrand, aber auch nach frischem trocknendem zuwartendem Holze, zu Burgen aufgestapelt in den Lichtschächten der Mietskasernen und in den leeren Höfen der Paläste des Adels an Fontanka und Moika. In allen Perspektiven, Straßen und Gassen lag am Abend der angenehm beizende Geruch, und die vom Newskiprospekt heimkehrenden Stutzer bliesen sich feine Aschenflöckchen von den hellen Ärmeln der samojedischen Renntierpelze.
Den andern Wartenstag verbrachte Christian Heinsberg denn keineswegs im gierigen Herumlaufen des Fremdlings in einer erreisten Stadt, er versaß ihn in warmer Frühlingssonne auf der Rotgranitstufe des Glockensockels des Denkmals der Kaiserin vor dem Alexandratheater, Katharinas der Deutschen, die aber so Russin geworden war, wie wenige haben in andern Volksleib schlüpfen können. Ihren Enkel Alexander nannte die Volkswut manchmal, der Mutter und der Frau wegen, den »Deutschen«. Aber niemals hatte und hätte man jene, die Auswanderin selbst, »Deutsche« gerufen. Christian stand von Zeit zu Zeit auf und schaute zu dem Bilde der Frau empor: königlich, kaiserlich war die Gestalt, groß und rund und großartig-leutselig, leutselig mit aller Welt, mit der ganzen Welt nämlich, mit allem was Anspruch machte auf die Auszeichnung des Menschennamens. Eine königliche Braut, eine kaiserliche Mama – in geheimer Weise für jedermann, für jeden Mann, der sich ihr fügen wollte. Und die Deutschen hatten sich gefügt, waren auf ihren Ruf vom Rhein gekommen und auf ihren Wink an die Wolga gegangen, und einzelne Männer erzählten sich dort noch in tiefer Nacht, in letzter Stunde, nachdem die Frechlinge und die Spötter und übrigens auch die Frauen alle gegangen waren: daß sie die Väter beim Durchzug empfangen und sie angelächelt habe, ehrlich und von innen heraus gelächelt habe, offenbar aus gutem Herzen … Sonst hatten die Auswanderer wahrscheinlich nichts von ihr mitbekommen und mitgenommen, die Führer keine Orden, die Frauen keine Lebensmittel und die Kinder keine Geschenke, aber ihr Lächeln hatten die Männer mitgehabt. Und mochte ihr dicker Leib längst zerfallen sein im Grabdom der Peterpaulsfestung, das Lächeln ihrer Lippen war mitgenommen worden tief ins Land hinunter nach Osten und schwebte dort noch wie heitere Dämmerung eines frohen Geschichtstags über der Wolga … Und da oben sah Christian ihr schönes Bild stehen, das Zepter der Macht in der einen Hand, in der andern den Kranz des Friedens. Und er, wenigstens er in der Stadt der Millionen, sah ihren Mund lächeln, ihren Erzmund lächeln …
Wie ein Alt- oder auch ein Fangwasser zwischen Buhnen still und glatt steht neben dem reißenden Strome – am Rande quirlt ein Wirbelchen herein, oder ein Stück Holz dreht sich ein paarmal am Ort um sich selbst, ehe es vom Wassertrieb wieder erfaßt und davongetragen wird – so lag der Alexandraplatz mit dem kunstreichen Felsen des Denkmals inmitten still neben der tosenden Newskiperspektive; ab und zu trat vom Prospekt einmal ein Fußgänger die Stufen der Anlagen herauf, schaute fast verwirrt um sich, blickte halb erstaunt den Kunstfels in der Mitte an, auf dem in Bronze ein bedeutendes Weibsbild, also wahrscheinlich unsere Jekaterina die Große, ragte und beneidete den ländlich aussehenden Provinzler, der da beim Mal der Frau stand oder saß und anscheinend – o die glücklichen Leute vom Lande und aus der Provinz! – viel Zeit hatte; plötzlich mußte er auf eine vorbeifahrende Massenfuhre springen.
Aber auch der Mann aus der Provinz beschloß auf einmal seinen Halbtagstraum dort auf dem schönen Stadtplatz, den das blau und weiße Gebäude der Kaiserlichen Bücherei, das gelb und weiße des Alexandratheaters und der lustig rote Anitschkoffpalast, den einst die Kaiserin Elisabeth dem Grafen Rasumowski erstellt hatte, breit und prächtig umstanden. Er zog jäh seine rübengroße Uhr und stellte fest, daß er, wenn er sich beeile, mit dem Umweg bis zur Abfahrt des Schiffes noch zurecht kommen werde … einen letzten Blick warf er zu Katharina hinauf, unwillkürlich rückte er auch an seiner Mütze, wobei er aber gleich innehielt, sodaß ihm das Ding etwas schief zu stehen kam; denn eine große russische Kaiserin durfte ein Mann vom Lande, ein Reisender aus der Provinz, ein Fremdvölkler im Reiche der Reußen zwar bewundern und in geheimer und besonderer sonderbarer Weise auch lieben, aber nicht grüßen. Ade, große Katharina, dachte er, Geschichtsmutter der Wolgaleute! Denn säßen wir ohne dich da unten, die Deutschen wie die Kosaken und Bulgaren, am Strome? Du bist eben doch die Mutter, Stammutter, Urmutter der Weißen und aller Blonden dort draußen zwischen den Braunhäutigen und Gelben und denen mit den schwarzen Pferdehaaren, Tataren, Kalmücken und Mongolen. Wo wohnten wir, wo wäre ich heute ohne das Gedänklein, den glücklichen Einfall, den du vielleicht einmal in einer schlaflosen Nacht im Winterpalast oder beim Rauschen der Wasser von Peterhof gehabt und am andern Morgen gleich dem Potemkin in die Feder gesprochen hast? Es beschütze uns dein Geist da drunten … jetzt wird es aber Zeit! Und wie ein alter Petersburger querte er zielsicher und straßenkundig den Prospekt in der Richtung auf die Newa, kam am Michaelstheater vorbei auf das Marsfeld und trat an den Strom hinaus und auf die Troizkibrücke hinauf, die ihn – nun blieb Strjelka mit holländischer Börse ihm links – in den Petersburgskajastadtteil führte. Peters des Großen hölzernes Haus ließ er zur Rechten, er eilte zur Linken über den Kronwerksgraben in die Peterpaulsfestung. Da stand zwischen Festungsfuhrwerk und finsterem Gebäu die Peterpaulskirche. Die Säulenhalle erhob sich einladend, die Tür stand offen, der Raum fühlte sich geschützt von Würde und Größe, kein Mensch befand sich in der Kirche. Wo die Kaiserin lag, wußte durch Rußland und Sibirien, in Archangelsk oder Wladiwostok aus dem Geschichtsbuch jedes Kind: rechts hinten in der Ecke, aber die nächste dem Altar. Da, in diesem marmornen Prunksarg also, lösten sich ihre Gebeine auf! Rechts neben ihr lag Peter III., ihr Mann, den sie hatte ermorden lassen, es machte nichts.
Die Gräber der anderen großen kaiserlichen Weiber, selbst Peters des Großen Grab, beachtete der Besucher nicht. Aber drüben, auf der andern Seite fast entsprechend, fand sich das Mal Alexanders, zwischen den Mälern der Württembergerin und Badenerin, seiner Mutter und Frau … es roch modrig im Gruftdom. Christian legte die Hand auf Alexanders Marmorsarg. Er wußte, im Volke wollte die Stimme nicht verstummen, die behauptete, dieser Sarg sei leer …
Am Abend stand Christian am Heck der sich fertigmachenden »Brunhild« und blickte zurück auf die Stadt. Im stillen zog er Vergleiche zwischen Petersburg und Bellmann, von der Kolonie, der Fremdvolkkolonie aus begriff er die Großstadt, die Hauptstadt des Staatsvolkes. Mußte sie nicht großartig sein? Hier hatten die Kaiser gebaut und die Kaiserinnen, für sich, ihre Weiber und Freundinnen, ihre Freunde und Günstlinge. Und bauten die Kaiser, so mußten die Adligen bauen, die Grafen und die Großfürsten und Großfürstinnen. Die Klöster, die Regimenter und die Pagen – ah, wer nicht will, den fragen wir, ob er umsonst vom Schweiße der Leibeigenen leben darf? Leben darf, ohne dem Volke herrliche Gebäude an seine Straßen zu stellen? Nur Lumpe sind sparsam, alle Großen haben verschwendet. Haben sich kleine Leute ins Gedächtnis der Zeiten geschrieben?
In solchem Schwung der Seele merkte Christian nicht, daß die »Brunhild« schon leicht auf der Newawelle tanzte, man hatte die hintere Vertäuung gelöst. Er war voll von der Kunst, die an der Straße stand, der Baukunst, zu der er eben hier, jetzt und sofort eine Leidenschaft gefaßt hatte. Wie sollte Kunst einem in engster von Hunger und Gefahr zusammengehaltener Menschengruppe Aufgewachsenen, der sie nie gesehen hatte, anders erscheinen denn als großer Dienst an der Erhebung und Veredelung der gemeinschaftlich lebenden Menschen? Nicht als Verzierung des Einzelseins, vielmehr als volkstümliches Werk großen Sinnes und ausgreifenden Maßes? Großes Werk, das der Gesamtheit gehörte, in dessen Schatten das kleine des Einzelnen zu stehen hatte? Christian war menschenfreundlich, aber mitnichten verwöhnte er die Menschen noch sich selbst. Er glaubte nicht, daß man das Gute und Bedeutende den Menschen nachwerfen müsse, es genügte, das Große und Ehrfurchtgebietende an die Straße zu stellen.
Aus einer Nützlichkeitssiedlung armer Teufel und Abenteurer, die kaum erst des Lebens Notdurft zu decken gelernt hatten, war ein Mann gekommen, ein hungriger Mensch; aber der Erwachsene und Reife lernte schnell. Ja, so erlebte die Welt, wer aus der Kolonie kam, Kolonie im Grasland, Kolonie aus Holz, aus einer Ansiedlung, die irgendwo stand, aus einem Dorf mit staubigen Gassen, welche die Schnur des landabsteckenden Leutnants aufs bare Erdreich gezeichnet hatte, ein Mann, aufgewachsen in all der Nüchternheit, Trockenheit, Dürftigkeit und schwunglosen Armseligkeit eines Kolonistendorfes! Alle Kolonie, wo immer in der Welt und gleichgültig bei welchem Volke oder in welcher Einsamkeit, ist hingelegt worden nach Maßen und aufgerichtet worden von kleinen Leuten. Die Großen, die befahlen, sie zu legen, wohnten wohlweislich fern von ihr, sie besuchten sie vielleicht einmal, wenn sie fertig war, die Koloniegenerale, die Könige und Kaiserinnen. Christian sah aus der Ferne und auf der Reise rückwärts blickend, aus Reichtum eines Reiches und von bedeutendem Orte der Welt aus sein Bellmann, sein armes Bellmann, die kleine Kolonie, das Nichts an der Wolga. Dort war noch alles in Sachlichkeit gehalten, in Nützlichkeit begriffen, in Ärmlichkeit gefangen – o Kolonie! Auch hier in Petersburg war auf den Boden gezeichnet und waren Maßlatten gelegt worden. Aber man hatte auch der Schönheit nicht vergessen, die den Menschen ins Göttliche hebt, man hatte nicht der einfachen Zweckhaftigkeit, die ihn stets bei sich verweilen läßt, allein gedacht. Der Glanz und die Pracht – es mögen die Rübenprediger und Apostel der ewig bedürftigen Massen sagen was sie wollen – gehören mit in Gottes Reich!
Da hatten die Granitwürfel in ihren aufeinandergerammelten Blockwuchten gelegen, an der Alexandersäule und Isaakskirche! Da hatten die Steine im errechneten Frieden des Bogenschnitts und der widerspruchslos herrschenden Regel des schönen Fugenschlusses gehangen! Da hatte der Wald von Einsteinsäulen gestanden vor dem Kasándom – sollte man wünschen, hier gäbe es weniger solcher steinernen Sinnlosigkeiten von Ziertreppen mit Stufen so hoch, daß niemand sie beschreiten, von Säulen mit offenen Hallen, die zu nichts zu gebrauchen waren, und dafür in einer Steppe da draußen mehr jener armseligen hölzernen Nützlichkeiten? Zum Herbergen armer landloser Ukrainer, Kosaken, Deutschen, Tataren? – plötzlich sah er, daß die Uferbauten weit zurückgewichen waren und leicht schwankten, die »Brunhild« trieb bereits auf der bewegten Newa.
In der Admiralität schoß eine Kanone. Alle Petersburger auf den Perspektiven, der Morskaja und den vielen Inseln des Stadtgebietes zogen die Uhren und verglichen die Zeitangaben. Auch der Kaiser Nikolai in weißer Bluse aus turkestanischer Baumwolle zog im burgunderroten Winterpalast die einfache Taschenuhr, gähnte ein bißchen und meinte zu seiner Kaiserin, die aus Darmstadt gekommen war, auf französisch, daß es wohl Zeit sei, für heute mit Regieren Feierabend zu machen. Und sein Untertan, der deutsche Schulmeister Christian Heinsberg aus Bellmann an der Wolga, der eben den langen mit Besenreisern durch die Untiefen der Newamündung abgesteckten Meerkanal auf einem Schiffe »Brunhild« hinausfuhr und sein weites Kaiserreich verließ, fiel müde gemacht von solchen übervollen Tagen ins Kojenbett.
*
Auf der Reede des düstern Kronstadt unter den Feuer-Speigatten seiner Festungsmauern lag »Brunhild«. Auch ein ausgehendes Schiff, am Heck die Flagge selbst des pünktlichen Volkes, das sein Leben lebt mit der Uhr in der Hand, hat Zeit, solange es noch in russischer Hoheit weilt, Zoll- und Hafenbeamte befehlen es. Rot leuchteten im letzten Strahl des neuen Abends vom Südufer des Finnischen Busens Peterhof und Oranienbaum. Da war es jetzt still, die Schlösser schliefen. In Peterhof war die Kaiserin gestorben, Katharina, nach amtlicher Lesart an Herzschlag, in Wirklichkeit aber an aufgeplatzten Krampfadern, weil sie zu dick war und ohne Maß zu halten lebte – auf eine schäbige Weise scheiden oft die Größten aus dieser Welt … Christian sah die roten Schlösser glühen, sah Scheiben darin im Abendschein blitzen, er wußte, da irgendwo lag auch Ropscha, das Schlößchen, in dem der Kaiserin Mann ermordet worden (»an akuter Darmkolik gestorben«) war, er wußte: Peter III. lebte nach dem Raunen der Nachbarrussen von Wolga-Tscherbakoffka auf eine geheime wunderbare Weise noch immer als fast zweihundertjähriger Starez, Greis und Heiliger irgendwo im tiefen Urwald weiter, er war gar nicht von den bösen Deutschen ermordet worden, man hatte einen ihm ähnlich sehenden langen blöden Soldaten untergeschoben, der um Gottes willen des Zars wegen das liebe Leben hatte lassen müssen. Aber die Deutschen sprachen von Katharina als der ihrigen natürlich als von der guten, der fröhlichen, der aufgeräumten: sie habe letzten Willens verfügt, daß nach ihrem Tode zwar Hoftrauer, doch nicht länger getragen werde als ein halbes Jahr, daß jedoch sogleich nach dem Begräbnis wieder getraut und gehochzeitet werden und Musik erschallen solle – ah, sie war niemals eingebildet! Ihre Papiere mit ihren Schriftstellereien hatte sie ihrem lieben Enkel Alexander, Alexander Pawlowitsch, vermacht, darin stand viel über ihr nicht andauernd und anstrengend tugendhaftes Leben; stand, daß sie ihren andern Enkel Konstantin Pawlowitsch auf den Thron von Byzanz gesetzt zu sehen wünsche; stand auch, daß sie, ach der Engel, in einem weißen Mädchenhemde bestattet werden wolle, mit einer goldenen Krone auf dem Kopfe, auf der merkwürdigerweise ihr doch weltbekannter Name eingegraben sein solle; stand noch vielerlei von ihren hundert untertanen Völkern zwischen den Halbinseln Krim und Kamtschatka und an den Großströmen Jenissei und Lena, aber nichts, was die Deutschen an der Wolga anging, die sie, Deutsche, einst in ihr Reich gerufen hatte …
Das Schiff hatte sich langsam, schüchtern und auch folgsam, im bekundeten Bewußtsein, daß es im runden Blickfeld des Fernrohrs des Hafenoffiziers stehe, mit halber Fahrt in Bewegung gesetzt. Der kaltblaue Kugelschatten, den die Erde gleich nach Sonnenuntergang nach Osten ins Weltall hinauswirft, überdeckte jetzt die weinroten Schlösser, und die Nacht, die schon über dem ferneren Rußland lag, war auch in das nähere getreten. Jetzt stand sie schwarz und groß am Ufer des Meeres.
Vor Mitternacht kam ein Matrose, den noch immer an Deck weilenden Reisenden in die Kabine zu verweisen. Taumelnd ging Christian hinunter.
Als der Europafahrer am andern Morgen, ausgeschlafen bis ins Gedärm hinab, ein neuer Mensch, aus dem Schiffsdom auf die Ebene des Deckes trat, war alles Land verschwunden. Meer ringsum.
Aber kaum erwacht aus dem schönheitsseligen Taumel, den die erste Berührung mit der westlichen Welt, der Petersburgs, in ihm, dem Halbasiaten, erregt hatte, dachte der Reisende daran, daß es ja in Deutschland noch viel schöner sein werde als in Petersburg, in Peterhof und Oranienbaum, noch schöner! Weniger zweckhaft, eindeutig und trocken, wie eben im ausgedörrten staubigen Rußland und Asien, an der Wolga und am Jaïk, alles sein mußte, alles war, das Land und das Menschenwerk, unverhüllte Lebensnotdurft überall am Tage liegend; sondern die Hülle der Kunst, der Königsmantel der Schönheit würde dort über alles Alltägliche geworfen sein. Man arbeitete auch da, gewiß! Aber ohne Hast und Haß, bieder, brav und in einer geheimen Weise so lautlos wie die Menschen auf Bildern arbeiten, auf den guten und wahrheitsgetreuen Holzschnitten eines gewissen Ludwig Richter in den Kalendern, von denen sich schon einmal einer aus Deutschland an die Wolga verirrt hatte.
Wie wohlig-lieblich rauchte dort der Kamin, unter dem die Hausfrau nach des Gatten Tagesarbeit und Müh diesem das wohlverdiente Abendessen bereitete! Wie hold läutete ein Glöcklein den Abendsegen! Wie gesund und rund waren da die Kinder, und sie spielten ohne Lärm auf weinlaubüberhangenem Austritt des Hauses! Man aß, natürlich, aber aß der Vernunft entsprechend; man trank, selbstverständlich, aber gesittet; es gab keinen Neid, weil er dumm, keinen Streit, weil er gemein, kein Übelnehmen, Übelwollen, Übelreden, kein Verdrehen und kein Verkleinern, im Gegenteil! Es erhöhten sich alle, sich und den andern, und es verklärte sich alles im Glanze der Kunst, von der man hier an der Schwelle des glücklichen Europa soeben zum ersten Male erfahren hatte. Im Zauberkleide der Schönheit würde alles Leben im sanften Abendlande schreiten, in Asien ging man in der rauhen Nacktheit der Notdurft. Alles würde irgendwie sein wie im Märchen, gut, gerade, rein, auch sanft und lärmlos – Christian kam aus dreißig Jahren Lebens an der großen stillen Wolga in einem der leeren Länderräume Asiens.
Oh, wie würde man den Wundern einer neuen Welt standhalten! Wie alles verkraften! O um die Deutschlandfahrt eines Kolonisten von der Wolga! O gesegnete gnadenvolle Reise ins Abendland!
In Deutschland! Wie hatte die alte Wees, die Antonsch, den Kindern in Bellmann und seinem Michel erzählt: In Deutschland sang das Fräulein auf der Burg am Berge dreistimmig … auf einmal natürlich! Er lächelte.
Wie genoß er die Seefahrt! Schiffe waren ihm nicht fremd, nicht die großen Feuerschiffe auf der Wolga mit ihren langen und breiten Umgängen in mehreren Stockwerken übereinander, auch nicht das Meerschiff auf der Kaspis, in das man vom Wolgaschiff umstieg draußen auf offener See über der Fünfmetertiefe, hundertfünfzig Seemeilen vom Lande, und das einen nach Petroffsk ins Daghestaner- und Tscherkessenreich brachte oder nach Bakú ins Tataren- und Deutschenland hinter dem Kaukasus. Aber das Kaspische Meer war sozusagen nicht ernst zu nehmen, mit Fahrten auf ihm verband sich die Vorstellung »binnen«, während ein rechtes Meerschiff uns das befreiende großartige Erlebnis geben muß von »hinaus« und »unendlich«. Es muß in alle Meere und das Weltmeer gehen können, das richtige Meerschiff, auf »die hohe See« hinaus, irgendwohin auf die Meere der Erde, die doch alle eines sind, großartig in einem zusammenhangend, das den allergrößten Teil der Weltkugel bedeckt. Mit Achtung schaut der Reisende die Planken eines tüchtigen erfahrenen Hochseefahrers – weiß Gott, er fahrenen – an, Planken, die ortsungebunden sein dürfen wie nichts auf der Welt, ortsungebunden und heimatlos, die herumgeführt werden in jede Richtung, gehen mit allem Wind und nicht bange sind vor irgendeinem Ziel, die alle Häfen küssen und allen Ländern untreu sind und nur die eine Treue kennen: zu diesem Stern, von dem sie nicht abrutschen werden!
Ah, zum ersten Male aus seinem Lande hinausgehen, über seine Landesgrenze hinausgebracht werden, aus dem zubestimmten, dem angewiesenen Erdstück fort! Ein gewaltiges Raumtor hatte sich vor dem inneren Menschen aufgetan, ungeheure unsichtbare Türflügel standen vor seinem inwendigen Blicke offen. O erster Tag, da ein Mensch aus Einsamkeiten von Strom und Wüste hinausging, da ein Mann hinaustrat in die Welt!
Christian liebte dieses herrliche Schiff, die »Brunhild«. Zwar war sie nicht jung mehr, »ein alter Kasten«, würde ein Seegewohnter sagen, erschien ärmlich, doch reinlich und war gut gestrichen. Sie war auch kleiner als die ihm von seinen Reisen her bekannten »Zar Alexander« auf der Wolga und »Krasnowodsk« auf der Kaspis. Aber was tat's, Liebe gebraucht kein Metermaß! Ein Matrose ging barfuß über das Deck, sich dessen Schwankungen mit schlendernden Gliedern und den weichen Bewegungen, wie sie den großen Katzen eigen sind, anpassend, sanft vor Kraft und Natur. Der Wind sauste und sang in den Wanten. Schwärme von weißen und braunen Möven folgten dem Schiffe in dichter und steifer Wolke, kaum sich rührend. Aber als das für den Reisenden bereits verschwundene Land auch für sie außer Sicht kam, kamen sie selbst allmählich außer Sicht.
Vom Lande war nichts mehr zu sehen noch zu riechen. Man glitt aus dem Meerbusen fort. Man fuhr auch unter einer Schicht grauer Wolken und wieder durch ein dunkles Tor hinaus in einen heitern Raum. Haufenwolken standen draußen am Weltrand herum wie Gebirge. Später erschien unter der Kimmung etwas wie eine Besenpappel, näher gekommen war es ein Segler, gesehen von vorn. Und so stieg der Mittag an.
Auch einen großen Teil der folgenden Nacht verbrachte Christian Heinsberg schlafsunbedürftig auf Deck und betrachtete das Herumrollen des Himmelsgewölbes und das Treiben auf dem Meere. Ein weißes Licht vorauf: Schiff auf gleichem Wege. Ob es wohl nach Deutschland ging? Ein weißes Licht und ein rotes rechts unten: entgegenkommendes Schiff, es mochte von Deutschland kommen. Die Dampfer morsten sich an mit Zeichen elektrischen Lichtes: »Hier Dampfer Brunhild, fährt nach Königsberg, wohin Sie?« Aber der andere antwortete nur: »Glückliche Reise!« – »Schafskopf«, brummte der Kapitän und brach das Morsen ab. Nun meinte Christian, der andere werde kein Deutscher gewesen sein.
Am nächsten Tage Fahrt nach Süden. Wettersäulen zogen umher, der Himmel wusch wiederholt das Fahrzeug. Niegesehen war das, für einen tief im russischen Binnenlande Wohnenden grenzte dieses Umherziehen der kleinen schwarzen Gewitter auf der Fläche der See an die Fabel. Der Wolgamann war in der glücklichen Stimmung, in der man auf einer geratenden Reise, namentlich auf guter Seereise, ist. Alles erscheint schön, bedeutend, einmalig, erhaben, und kein Mißbehagen kommt auf. Nach Süden ging es, nach Süden!
Jetzt kam von Südwesten eine lange Dünung daher, vielleicht war vor der Küste von Livland Sturm gewesen. Sie ging durch und vorbei wie ein Reisender. Am Abend sah man plötzlich Bäume aufrecht im Meere stehen, bald stellten sich auch Hausdächer, Kirchtürme, Leuchtsäulen zwischen die Pappeln, die Luft hob über die Kimmung eine Ahnung von Gotland herauf, das unsichtbar unter der Meertafel blieb. Christian saß gelöst am Bug auf dem blanken Plankenboden, die Fugen waren geteert. Rauchfahnen erschienen über dem Wasserrande, jetzt tauchten auch Masten und Schornsteine herauf, aber die Schiffe fuhren mit anderen Zielen als die »Brunhild« und verschwanden. Segler mit riesigen Vogelflügeln, tiefgehend von hochaufgepackter Ladung gelber finnischer Schnitthölzer, wurden überholt, auch sie gingen nach Deutschland. Es war ein eifriges Kommen und Gehen auf dem Meere. Und oh, der Augenblick, wenn man rufen wird: Da ist der erste Streifen deutscher Küste! Aber bis Deutschland war es noch weit, und das Schiff lief ohne Hast seine zugemessenen Knoten.
War es auch wirklich wahr, daß er auf diesem herrlichen Schiffe nach Deutschland fuhr? Es war nicht wahr, es war ein Traum, eine Unmöglichkeit, er phantasierte, er fieberte – nein, er fieberte nicht, es war alles höchst wirklich, seine Reise war wirklich, und das Schiff war wirklich, er fühlte es, als eine kalte Regenbö sein Gesicht wusch. Ja, aber wie hatte das sein können? Ein Wunder war geschehen, ein Wunder war geschehen! Wenn das vom Vater Schehl ihm vermachte Geld auch immer noch nicht aus Amerika gekommen war, so hatte seine Frau Alexandra sich großherzig gezeigt und hatte ihm fürs erste ihr Erbe angeboten – Alexandra, du Gute, du Treue! Und er ließ sie zurück, Alexandra und Michel, die kleine Puppe Olga und das Lerchlein in der Wiege, Bellmann und die Wolga, die großartig langweilige Wolga und die unendliche Steppe, die unendliche ermüdende Steppe, die leibliche Heimat; denn es ging ins Traumland, ins Wunschland, in die Heimat des Herzens! Und aus diesem Lande war sein Ahn dahergekommen, er hat es verlassen, ja verlassen – nun, damals in finsteren Zeiten war es vielleicht auch finster gewesen. Gut! Er aber würde es wahrscheinlich nie verlassen, er würde Alexandra und die drei Kinder rufen, sie würden nachkommen, und er würde mit ihnen glücklich im glücklichen alten Lande leben, und dort im heiligen Boden würde er auch begraben werden …
Nun singe Wind in den Wanten! Nun laß es krachen in den Spanten! » Pol dial!« (es sollte heißen: Für den Teufel! Pour le diable!) rief ein ebenfalls glücklicher Wallone, schmitzte Rotwein aus einer Flasche als Opfer an die finsteren Mächte, die einem Wiedersehen mit der Heimat Lüttich vielleicht noch etwas in den Weg legen würden, über Bord und sah Christian im Wunsche, Glück und Furcht und auch den Wein mit ihm zu teilen, an – aber der Deutsche lebte ganz in sich und seiner Traumwelt, war voll von dem, was ihm Gewaltiges bevorstand, er hatte den Ausländer und den Austausch mit ihm nicht nötig.
Die See war wie ein Teich so eben und blank. Doch als es dann neben dem Schiffe in sie hineinregnete, wurde sie grau und blind wie eine alte Fensterscheibe. Und die Regenbö zog fort.
Aber der Wind verstärkte sich und erregte das Meer. Wellen standen auf, von den Kämmen der Wasserberge blies der Sturm einen Regen von Tropfen los in die Täler hinein. Die Sonne brach immer wieder in die Wetterwelt herein, Regenböen und Regenbögen gingen und standen über der See.
Doch die Wolke überwand die Sonne. Es wurde diesig. Die See ging schwer. Nasse Wassersträhnen peitschten. Man mußte von der offenen Reling in ein Lee flüchten. Ganz langsam, träge fast, sah Christian die mächtigen Wellen heranrollen und heraufsteigen, ein breites Tal war zwischen dieser Woge und der vorigen. Schaum trieb einsam auf dem glatten, gezurrt erscheinenden Wasser des Tales. Die Täler in der Ferne sahen von Schaum wie beschneit aus.
Würde es ihn umwerfen, das Wetter, hinlegen wie den Wallonen, der in der leewärts offenen Windlaube schon erbärmlich auf der Bank würgte, während aus der umgefallenen Bordeauxflasche eine schmutzigrote Lache ausfloß? Aber der Reisende der zweiten Klasse Heinsberg stand immer unangefochten aufrecht und ging umher. Ah, wenn die Deckplanken einem entgegenkommen …! » Dial« stöhnte der belgische Kohlenmann aus den Donjezgruben. Christian lächelte.
Das Wasser in der Badewanne, der Tee im Glase, die Suppe im Teller, es war alles Wasserwaage bei den Schwankungen des Schiffes. Und die Ebene des Kaffees in der Tasse nur beobachten, machte Reisende schon krank.
Schadenfreude ist auf dem Meere kein unedles Gefühl. Der glückliche Seefeste kann sich ihrer nicht erwehren, wenn er die Unglücklichen sich winden sieht. Denn sie tragen keinen Schaden davon, keine Krankheit ist ungefährlicher als die Seekrankheit. Keine geht so gehorsam und spurlos dahin – das Schiff braucht nur stillzuliegen im Hafenwasser …
Doch der deutsche Hafen war noch fern.
Als die Schiffsleute diesen Reisenden, den einzigen von allen, immer an Deck sahen, glaubten sie, er sei ein Seefahrer, ein Meerkundiger. Aber zu ihrem Erstaunen erfuhren sie, daß er ein Erdhase war, ein Susselchen aus der Wolgasteppe, ein Binnenländer von dorther, wo das Land am binnensten ist, ein Ansiedler, Kolonist, Asiat.
Die Bäume wurzeln im Grund, und auch Tiere leben mit dem Fuß in der Erde. Aber nicht einmal alle Pflanzen sind gebunden an einen Ort, auch von ihnen treiben viele und wandern mit den Strömungen. Die Tiere gar! Hauslos sind sie, und sie wandern Tausende von Werst aus der Kaspis in die obere Wolga oder, sagte man, der Aal aus dem warmen Wasser von Mexiko in den kühlen grünen Grund des Rheins. Und die Vögel, ah, Wanderer der Lüfte, jedes Jahr Weltfahrer über Erdteilen! Aber von den Menschen gibt es solche, die mit den verwurzelten Pflanzen fühlen, mit dem seinen kleinen Kreis ausschreitenden und verteidigenden Platzhirsch und auch mit dem Haushund an der Kette, die glücklich sein können nur am zugewiesenen Orte, in den sie sich hineinleben, sich hineinlieben. Mein Haus ist die Welt, sagen sie. O Vaterhaus! O Gartengrund! O Heimatstadt! O Mutterland!
Aber: Die Welt ist mein Haus! rufen andere. Die, die auf den Straßen selig sind. Die jeden Abend unenttäuscht dem Wunder der Überraschung unbekannter Herberge entgegenwarten. Die nichts lieber hören als den Stampftakt der Eisenbahnräder. Die selig sind, auf flachem hellem Meer zu fahren und den Schatten des Schiffes über den unfruchtbaren Grund gleiten zu sehen …
Der neue Tag war ein Wunder auf dem Meere. Der Wetterwirbel war durchfahren. Als Christian morgens bei matter Frühsonne heraufkam, glitt der Schatten des Schiffes violett über die grüne See dahin.
O Einsamkeit! O weite Welt! O leeres Meer! Christian und der Lütticher lagen in Korbstühlen, der eine steuer-, der andere backbordseits. Das Schiff stampfte.
Rief da wer? Es war nur der Wind, der in einem hohlen Winkel tönte. Und doch stand Christian auf, ging hinüber und rührte den Reisegefährten an mit der Frage, ob er gerufen habe.
Und der fuhr auf aus dem Schlummer und frug: »Rief da wer –?«
Man näherte sich dem heiligen Lande. Das Meer war hier dunkel und schwärzlich, gerauht vom Winde, die Kimmung war sehr scharf und noch gezahnt von Wellen, die am Sichtrande aufsprangen.
Christian redete ein paar Worte mit dem Belgier, russisch, denn der konnte nicht deutsch, Christian nicht französisch sprechen. Es gäbe nichts Schöneres auf der Welt als Belgien, sagte jener. Welch ein Land! Klein, reich, gebildet, neutral. Ah, die tausend Steinstufen der Treppe unter der Bergkirche von Saint Pierre in Lüttich! … Nein, er werde sofort den Schnellzug nach Berlin und Aachen nehmen. Pünktlich seien die Deutschen wenigstens. Sonst könne man ihnen wenig Gutes nachsagen … Christian ließ den Schwarzhaarigen stehen.
Mit absteigendem Tage standen rund um den Rand der nassen Welt schwarze niedrige Wolkenmauern, als sei das Meer ein rings von Bergen umstellter See.
Und in diesem See war man schon in Deutschland. Kleine Taucher lagen auf dem Wasser, wie Sperlinge fast. Die Küste steckte in der Wolkenwand.
»Land!«
*
Der große Augenblick, in dem das Ziel erreicht war, in dem endlich das deutsche Land betreten wurde, verlief in Hast, Sachlichkeit und im Dienste der Befriedigung äußerer Ansprüche, die Zolldienst und Paßprüfung an den Ankommenden stellten – bei der darauf gerichteten Aufmerksamkeit wurde sich Christian, der Lehrer, still staunend nicht eigentlich dessen bewußt, daß es solche Leidigkeiten auch in Deutschland geben müsse. Beim Vorzeigen des Passes sagte er sogleich und schnell: »Wolgadeutscher … Deutscher aus den Kolonien …« – »Sie sind Russe?« frug der Beamte scharf, den Paß und ihn selbst mit einem stahlblauen Blicke durchbohrend. – »Ja gewiß, natürlich Russe … Aber doch Deutscher, sehen Sie« – schon war die halbe Erwartung, der Beamte werde ihn brüderlich ans Herz ziehen, verschwunden. – »Ihr Paß sagt: russischer Staatsangehöriger«, äußerte der Beamte noch um einen Grad schärfer – der Mann wurde ihm verdächtig. »Aus den Kolonien, sagen Sie? Kamerun oder Deutsch-Ostafrika? Davon steht nichts in Ihrem Paß. Treten Sie beiseite. Ihr Fall wird besonders geprüft.« Und Christian Heinsberg mußte zu seiner Beschämung und zur heimlichen Schadenfreude des Belgiers und der übrigen durch die Sperre Gehenden, die in ihm bereits einen von der menschenverächterischen Weisheit der Sicherheitsbehörde erwischten Paßschwindler sahen, in einem verschränkten Raume stehen und warten, bis der letzte der ordentlichen Paßinhaber durchgegangen war. Er wurde dann abgeführt und in einem Zimmer unter die Augen von vier Männern genommen. Die Diensttuer im Bürgerkleid sahen ihn an mit der unverschämten, bis in die Hosen hinabschauenden Durchdringlichkeit aller Kriminalbeamten und blickten einander stumm und doch vielsagend an in der Vertraulichkeit der Fachleute untereinander. Natürlich klärte sich der Fall sofort auf, Christian wurde entlassen, die Leute gönnten sich ein kleines Lächeln in den Mundwinkeln, denn neben gerissenen Betrügern kam auch einmal ein gutmütiger Schwärmer durch. Doch als Christian ins Freie trat und sich den Schweiß abwischte – nein, das Eingehen ins gelobte Land hatte er sich ein wenig anders gedacht! Halb betäubt schritt er durch die Königsberger lange, »Untere Vorstadt« genannte, Straße und machte am Pregel auf den Stufen der Börse halt, um das schöne Hafenbild zu genießen: da sah er einen unauffällig und ein wenig untergeordnet-schäbig gekleideten Mann in gerader Haltung und mit scharfen Augen unten stehen und dasselbe Bild betrachten; und sah ihn sich in Bewegung setzen, als er sich in Bewegung setzte; und sah ihn, als er selbst auf der Pregelbrücke stehenblieb und über die Schulter weg aus dem Augenwinkel zurückschielte, stehenbleiben – also er wurde beobachtet! Beobachtet trotz dem in Ordnung befundenen Passe! Die Paßbehörde konnte nicht wissen, vielleicht war die gewisse Deutschlandbegeisterung nur gespielt, die Gute-Jungen-Ehrlichkeit ein neuer Einfall eines ganz besonders geriebenen, sich zwischen den Völkern herumtreibenden Gauners, Christian konnte ihr die Vorsicht nicht verdenken, die Welt war ja wohl voller Halunken, und Paßbehörde und Kriminalpolizei werden wenig Veranlassung haben, den Menschen für ein von Natur aus gutes und edles Wesen zu halten. Aber er mußte Tränen zurückdrängen (vielleicht hätten Tränen neuen Argwohn erregt), und so, ganz unsicher gemacht, schlich er durch die Straßen und wagte nicht einmal, die Kupfermünzen, die er auf dem Schiff eingewechselt hatte und die er für seinen ersten Gang in eine deutsche Stadt bereithielt, an Bettler auszuteilen. Um Gottes willen! Er hatte vorgehabt, die ersten Kinder, die er treffen würde, in eine Zuckerbäckerei einzuladen und sie mit Süßigkeiten zu stopfen. Er war kinderlieb, und daheim gab es weder Zuckerbäcker noch Teehaus noch Gastwirtschaft. In Bellmann lebte man nur der Arbeit und dem nüchternsten feierlosen Dasein. Er hatte in Erinnerung an seine Kinder die Augen der Kinder leuchten sehen und hatte sich an ihrem deutschen Geplapper freuen wollen, Geplapper in gutem reinem Deutsch, wie es in deutschen Büchern gedruckt stand, er, der bisher nur in Inzucht verderbtes abscheuliches Kolonistendeutsch hatte sprechen hören. Um Gottes willen! Um Gottes willen! Der schreckliche Mann hinter ihm würde ihn sicher sofort verhaftet und abgeführt haben als einen Menschenhändler, der deutsche Mädchen nach Odessa oder gar Knaben nach Teheran verschleppen wolle. So schlich Christian bekümmert und verängstigt durch die Straßen den Burgberg hinan. Man sprach schönes gutes Deutsch in seiner Nähe, doch wagte er nicht hinzuhorchen. Er sah deutsche runde Gesichter mit blonden Haaren und blauen Augen auf der Straße, aber er erlaubte sich nicht, in die Gesichter zu schauen. Als er jedoch wie ein richtiger gebildeter Reisender (richtige Bildung macht harmlos, o die Kriminale wissen Bescheid!) das Kantmuseum im Domhof auf der Pregelinsel betrat und ähnlichen überflüssigen weltfremden Bildungs-Schnickschnack trieb – die Verdächtigen schauen nach Kasernen aus, schreiten unauffällig, mit Schritten messend, die Steige der Bahnhöfe ab, feindliche Generalstäbe wollen wissen, in wieviel Zeit Truppen verladen werden können – verlor sich der verbrecherkundige Beamte …
Bald saßen Christian im Abteil richtige deutsche Männer und Frauen gegenüber. Aber die Männer erschienen ihm wohl übertrieben hart, die Frauen anmutlos, und sie mochten auch durch ihr ganzes Wesen ein wenig zu offensichtlich ausdrücken, daß sie tugendhaft seien. In Rußland gaben sich die Menschen natürlicher, sie waren gutmütiger, auch wüster, toller und hitziger, und die Frauen hatten wohl mehr natürliche Weibesanmut und freuten sich der Prächte ihres Geschlechtes. Mochte sein, mochte sein! Wer wird denn voreilig nach den ersten sechs Menschen ein Volk beurteilen? Seinem Gegenüber wagte er sich, nach einiger Zeit des Fahrens, als er von diesem scharf gemustert wurde, vorzustellen: »Schulmeister Heinsberg … aus den Kolonien … aus den deutschen Wolgakolonien.« – »So? Von den Deutschen an der Wolga?« sagte der Herr mit dem blanken Kneifer. »Leben die auch noch?« Das stach Heinsberg ins Herz. Aber nein, wer wird denn so empfindlich sein?
»Schulmeister, sagten Sie?« nahm der Herr nach einer prüferischen Pause auf. »Komischer Titel! Den kennt man bei uns seit hundert Jahren nicht mehr. Ist durch die preußische Lehrerordnung längst abgeschafft. Kommt nur noch in Dorfgeschichten und Märchenbüchern vor.« – »Ja … ja … wir sind schon etwas zurückgeblieben, da draußen …«, stotterte Heinsberg; »so allein gelassen …«, wagte er hinzuzufügen.
»Wir machen Politik in Übersee«, sagte scharf das Gegenüber – oh, er hatte sofort den versteckten Vorwurf verstanden, der kluge Herr! – »Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser!« – »Ja, gewiß, gewiß«, begütigte Heinsberg, »wir sind auch alles in allem in Rußland nur eine und eine halbe Million.«
»Was? Eine und eine halbe Million, die Bevölkerungsstärke Norwegens?« rief der Herr und schlug auf sein Bein. »Ich dachte, ihr bewohnt ein paar Dörfer.« – »Nein, das grade nicht«, bemerkte schüchtern Heinsberg. »Wenn man unsere vielleicht fünf- oder siebenhundert zerstreuten Kolonien zusammenlegen könnte, wir würden … wir würden immerhin, sozusagen – entschuldigen Sie – unsere Kolonien würden gut und gern die Größe von Bayern, vielleicht von Süddeutschland haben.«
»Was Sie nicht sagen!« lachte da laut das ganze Abteil, und die Stimme des Fragers löste sich staunend davon ab: »So groß wie Bayern! Soviel Menschen wie die Norweger!« Und die Männer dachten: Der Schäker! und die Frauen: Der Schwindler! Heinsberg wagte nun nichts mehr zu sagen und verkroch sich in seine Holzecke.
»Schulmeister, sagten Sie?« begann der Herr ihm gegenüber. »Übrigens ich will mich vorstellen: Oberlehrer Doktor Karl Eberhard Schultze. Schulmeister? Sind Sie akademisch gebildet?«
Heinsberg, der wieder, durch die Freundlichkeit, angeredet worden zu sein, etwas Mut gefaßt hatte, flog vollends zurück in seine Ecke. »Akademisch – gebildet –?« stammelte er. »Nein, entschuldigen Sie, nein, gewiß nicht. Das, wissen Sie … das ist nur im großen Deutschland möglich.«
Das Abteil lächelte befriedigt, man wurde aufmerksam, der Abenteurer war nicht übel.
»Also Volksschullehrer!« sagte fest und zugleich etwas nachsichtig der Gymnasialoberlehrer.
»Volksschullehrer, sehr geehrter Herr Doktor? Nein, Väterchen« – er erblaßte, denn ein gewisses peinliches unwissendes Staunen zeigte sich auf dem Gesichte des Herrn und überhaupt im Abteil – »nein, entschuldigen Sie, sehr geehrter Herr Oberlehrer, wissen Sie, Volksschullehrer, das ist viel zu hoch für mich. Bei uns gibt es keine Bildungsanstalten wie in Deutschland. Wo jeder Andere ein Akademiker ist«, warf er dazu.
»Jeder Andere ein Akademiker?« rief ein Herr am andern Fenster aus, er mochte ein Geschäftsreisender sein. »Bei uns geht's auch ohne Akademie. Geld verdienen ist die Hauptsache! Wir haben genug gebildetes Proletariat!« warf er nach frischem Zeitungslesen hin und schaute über das Blatt weg lachend sein gesundes Eheweib an. »Wenn man Geld hat, kommt die Bildung von selbst. Wir können uns alles kaufen, nicht wahr, Martha? Klaviere, Perserteppiche, Goethe und Schiller in Leder und …«
»Also nicht Volksschullehrer?« frug jetzt, sich etwas vorneigend und sichtlich freundlicher, der Herr Doktor, und man fühlte deutlich, wie er zwischen sich und jenem Herrn in der andern Ecke einen kleinen Abgrund auftat und mit Heinsberg eine Geistesgemeinschaft einging. »Bitte, belieben Sie sich zu erklären«, redete er sachlich weiter und hängte das Halteschnürchen seines Kneifers übers Ohr. »Ich lerne immer gern etwas.«
In diesem Augenblicke beugte der Herr in der andern Ecke sich zu seiner Frau in der gegenüberliegenden hinüber, hielt das Börsenblatt der Berliner Zeitung zwischen sich und die übrigen Reisenden, sodaß hinter der papierenen Wand ein Abteil entstand, und flüsterte Martha laut zu: »Er wird so alt wie eine Kuh, er lernt immer noch was dazu.« Worauf Martha aufkreischte und sich den gediegenen Schenkel klatschte. Oberlehrer Doktor Karl Eberhard Schultze aber richtete an Heinsberg laut und recht scharf – doch die Schärfe ging nicht gegen ihn, das fühlte Heinsberg wohl – die neue Frage: »Nun, bitte, beliebt's Ihnen, mich über das Bildungswesen in Rußland näher zu unterrichten?«
»Gern«, sagte schüchtern und zugleich ermutigt Heinsberg. »Volksschullehrer im deutschen Sinne und mit deutschen Ansprüchen kennen wir nicht. Der Lehrer, der Schulmeister im Dorf unterrichtet, wenn nicht grade Saat- oder Erntezeit ist, also namentlich im langen russischen Winter, die Kinder, und seinen Sohn natürlich besonders. Und wenn der ein bißchen begabt ist – oh, es braucht nicht viel – dann wird er nach dem Tode des Vaters Lehrer, Schulmeister meine ich. Und so fort vom Vater auf den Sohn. Eben Schulmeister.« – »Gut. Ich bin unterrichtet«, sagte sich zurücklehnend Doktor Schultze. »Besten Dank, Herr Schul... Herr – wie war doch Ihr Name?«
»Heinsberg. Christian Heinsberg aus Bellmann an der Wolga. Christian Michailowitsch Heinsberg, dreißig Jahre alt …« Drüben kicherte man, aber Doktor Schultze zog seine Zigarrentasche und hielt sie Christian Heinsberg hin. »Bitte, nehmen Sie. Anständige Marke!« – »Ja«, rief dieser, obgleich er für gewöhnlich nicht rauchte, und suchte sich eine kleine heraus. Doch der feine Oberlehrer schob mit seinem Fingernagel Heinsbergs Finger auf eine danebenliegende große hin. »Wenn ich eine Zigarre vertragen kann«, sagte Christian. – »Bei Ihnen gibt's wohl nur Zigaretten, Herr Heinsberg?« – »Ja gewiß, sehr richtig, Zigaretten, aber auch keine wie die deutschen, sondern solche mit einem langen Papiermundstück und wenig Tabak. Papyros, sagen wir«, erklärte er und benutzte das höflich dargereichte Luntenfeuerzeug. Und sich mit der Zigarre zurücklehnend und die ersten Züge tuend, kam er sich, ganz glücklich gemacht durch die Freundlichkeit des Herrn Oberlehrers, wie ein Fürst vor.
»Ein schönes Kraut«, zischelte der Herr hinter der Berliner Zeitung Martha zu. Dann sagte er laut: »Wir wollen in die zweite Klasse steigen, Martha«, was das Paar bei der nächsten Haltestelle auch tat. »Auf Wiedersehen, Herr Christian Michelswitz Hinz- und Kunzensberger!« rief der Herr vom Stande des Geldverdienens vom Bahnsteig aus, die Türklinke in der Hand haltend, dem Abenteurer zu. »Fahren Sie so wohl als auch!« Und Marthas Lachen verscholl auf dem Bahnhof.
»Pack!« sagte der Oberlehrer und schaute Christian stark an. Dieser wollte zustimmen – aber daß ein Deutscher von Deutschen »Pack« sagte, das ging ihm durch und durch, das zerschnitt ihm die Seele. Und nun fand er vollends keinen Genuß an der Zigarre …
Man fuhr schon nach Verlassen der ostpreußischen Fluren durch weite steppenartige Heiden und näherte sich der Mark, die Landschaft wurde trocken, einförmig und mager. Daß es auch in Deutschland solche sozusagen russischen Landschaften gab, bedrückte Heinsberg, aber er sprach es nicht aus. Glücklicherweise wurde es dunkel, die Landschaft entschwand, das elektrische Licht wurde vom Schaffner angedreht, und so auf sich angewiesen und von der Welt draußen ausgeschlossen nahmen die Reisenden die in Schweigen untergegangene Unterhaltung wieder auf. Der Oberlehrer sagte, im sauberen Dritte-Klasse-Wagen herumblickend, und sprach sozusagen die Gedanken seines schüchternen Gegenübers aus: »Ja, die deutschen Eisenbahnen! Erstklassig!«
Heinsberg wollte eigentlich sagen, daß die russischen Eisenbahnwagen geräumiger, höher, mit weniger Personen in jedem Abteil besetzt seien, daß jeder Platz weit mehr Gepäckraum als hier und jeder Reisende auch der dritten Klasse in der Nacht Anspruch auf eine ausgelängte Schlafstelle habe, die ihm bereitet werde, ohne daß er dafür bezahle – nein, er wagte es nicht.
Der Oberlehrer, leutselig dem offenbar weltfremden Gegenüber Mut machend und ihm weitere Gedanken aus dem Munde nehmend, sagte jetzt, und klopfte nachlässig die Asche von seiner Zigarre ab: »Ja, Deutschland ist das erste Land der Welt!«
Heinsberg – ja, das glaubte er natürlich auch, trotz gewissen störenden Kleinigkeiten, die ihm heute begegnet waren – freilich meinte er das, aus tiefstem Herzen sogar, er war ja doch hergereist, um dieses erste Land der Welt zu sehen, und gab Alexandras dreitausend, ihm großdenkend zur Befriedigung dieser Lebenssehnsucht überlassene Rubel auf dieser Reise aus! – aber er meinte in seinem Herzen: Freilich, ja! Aber das … das Vorzügliche … darf man doch nicht von selbst … dürfen doch nur die andern sagen …
Das dachte er in seinem Gemüte. Der Oberlehrer, enttäuscht über die ausbleibende Zustimmung, fügte hinzu: »Das weiß jeder Ausländer. Das glaubt jeder von ihnen in seinem Herzen. Und wenn er es nicht auszusprechen beliebt, so ist es der Völkerneid, der ihn daran hindert. Die Engländer, unsere Erbfeinde die Franzosen …«
Nun aber sagte Heinsberg leise, doch höflich: »Meint nicht jeder von seinem Lande, daß es das beste auf der Welt sei? Die Engländer und Franzosen auch … sozusagen …? Und die Russen?«
»Ja, der nationale Hochmut!« sagte stark und völkerkundlich der Oberlehrer. »Die Franzosen und die Engländer platzen ja davon!«
Nun war es genug! Christian legte die aus Höflichkeit und nur halb gerauchte Zigarre ins Aschenbecken und sich selbst schlankweg zurück in seine Ecke, verschränkte die Arme und schloß die Augen, um zu schlafen.
Der Bahnhofsplatz in Berlin war eben ein Bahnhofsplatz – mit einem Schlage wußte er, daß alle Bahnhofsplätze in der ganzen Welt einander grausam ähnlich sind, und er entschuldigte diesen, nicht viel anders auszusehen als der in Saratoff. Lohnte es überhaupt teure und kostspielige Reisen? Aber auf dem Bahnhofsplatze gab es keine Kosakenpeitschen! Peitschen bemerkte er nur in den Händen gelangweilt aussehender Kutscher; doch als er in einer Kutsche saß, fand er darin ein Flugblatt, der Tierschutzverein bat die geehrten Fahrgäste, ihm den Peitschengebrauch der Kutscher mit überwachen zu helfen … es rührte ihn tief. Er dachte zärtlich an seine Jungfer Kranich.
An der Ecke der Köpenicker Straße hatte sich eben ein kleiner, den Wagen aufhaltender Verkehrsunfall ereignet – noch ehe die Polizisten, ohne Pljotken und Knuten übrigens, erschienen waren, hatte das Volk, in dem jedermann bereitwillig unbezahlten Polizeidienst machen zu wollen schien und wohl gern als stramm angesehen werden mochte, die Umstände des Falles ordnungsmäßig und gerichtsfertig festgestellt.
Sehr sachlich, sehr sachlich hatte man sich verhalten, streng, gerecht, unparteiisch, ganz ausgezeichnet, indessen hätte der Eindruck, den diese vortrefflichen Menschen machten, gelitten durch ein wenig … ei, Freundlichkeit in Gebärde und Ton? frug sich hin und her geworfen sein empfindungsreiches Gemüt. Ja, Christian Heinsberg wußte selbst, daß er noch einen langen Weg bis zur Weltstraßenfertigkeit vor sich habe. Er war entschlossen, ihn bis zu Ende zu gehen, alles zu lernen, was nötig war, auch mit dem Gemüte, um ein ganzer Weltmann in jedem Sinne zu werden. Machte er eine Vergnügungs-, nicht eine Bildungsreise? Er spürte, daß, wenn Alexandra ihm dreitausend Rubel dafür vorstreckte, sein Wolgaland sie ihm durch Alexandras gute Hände vorstreckte und die Erlebens- und Erfahrenszinsen davon ihm einst abverlangen würde.
Also hatte die rosenfarbene Schwarmfahrt sich rasch und unmerklich in eine taglichtnüchterne Runde zur Erkundung der Wirklichkeit verwandelt, er würde sich für die Gnade des Geschicks, auf Weltentdeckung gehen zu dürfen, nicht lumpen lassen … Sein Kütschlein rollte, ohne daß die Peitsche gebraucht worden wäre, munter die Treptower Landstraße hinaus.
Bei Tage brausen die Städte in Europa laut und in der Nacht noch leise, im Lande aber rauschen die Wasser der Wehre und die winddurchwehten Wälder …
Laut war es in Berlin, unerträglich laut! Am äußersten Ostrande der Stadt hatte der Wanderer sich nach der Wegweisung des Kutschers, dem er sich nach russischer Reisendensitte zum Unterbringen vertrauensvoll überlassen hatte, bei dessen Schwieger oder was das Weib zum Wagenlenker sein mochte, bescheiden einmieten lassen – er konnte nicht schlafen. Er stand am offenen Fenster.
In der ersten Nacht war es Pflicht der Vermieterin, ein wenig aufzupassen und zu horchen – bald stand sie neben ihm mit sachlicher Frage, warum er nicht schlafe und ob er etwa mondsüchtig sei. Der gemeine Westwind kam von der großen Stadt her, beladen mit unbestimmbarem Lärm – die Frau hörte ihn nicht und blickte den von weither gekommenen Fremden verwundert und ein wenig mißtrauisch an. Als am Tage darauf, den Christian todmüde ganz verschlafen hatte, der Wind umgeschlagen war und am Abend von Osten kam, da rief alsdann der Mieter die Frau herbei, die »jespannt war wie 'n Rejenschirm« – hör da! Hör Flüsse gehen, Wehre brausen, den Wind sausen in Bäumen, auch Schienen klingen und Brücken donnern – »det is ja – det is ja wahrhaftjen Jott – – Nu sei'n Se jerührt«, rief Frau Plettke und ging beunruhigt über »so ville Naturjeschichte« schlafen. Der »Russe« begann Muttern Plettke »unjemietlich« zu werden, um nicht zu sagen unheimlich, sie wollte mal mit Vattern Plumhaas aus dem Stehbier an der Ecke über ihn sprechen »un der vielleich mal mit 'n Herrn Plempe …«
Aber bevor Herr Plumhaas mit Herrn Plempe, was ein Schutzmann war, hatte sprechen können, war der Russe weiter nach dem Westen gereist, angeblich nach Köln.
Welch ein Mißgeschick hatte ihn hergeführt vom stillsten Fluß geradeswegs in die lauteste Stadt! Vom östlichsten Feldrain an den mittelständischsten Ort! Aus Europas Rasenmark, wo es wochenreisenlang »am Wiesenufer« hieß, in eine sich munter und begeistert aufbauende Steinwelt! Aus altem Asienlande in ein Reich, das sich seiner Jugend bewußt war, sich ihrer freute und damit prahlte! In seine Hauptstadt, in der der junge Schaffenstag wie um den babylonischen Turm froh werkelte und nachdenkliches Zuschauen schon ungern gesehen wurde, von Stirnrunzeln und warnendem Wissen und gar Weltweh ganz zu schweigen!
In dieser Stadt waren in die Stunde wahrscheinlich siebzig Minuten gepreßt, umsoviel schneller gingen die Menschen und redeten sie auch, sie bedienten sich der Anspielungen, Andeutungen und Abkürzungen reichlich. S. M., Seine Majestät, und m. w., machen wir, hatte er die vorbeieilenden Leute sagen hören, er lauschte schon auf a. w. v. m., Auf Wiedersehen vielleicht morgen! Aus der wogenden Flut des Gelaufes und Gerennes hatte er am Hauptverkehrsplatz einmal den Kopf von Owannes Abowian – er kannte natürlich den Kerzenlichthändler aus Saratoff – hochkommen und versinken zu sehen gemeint, des Armeniers, der den alten Tröpfen in Bellmann zwölftausend Rubel für Beschaffung eines sechsten und siebten Buches Mosis aus Sibirien abgeluchst hatte und wohl mit dem Gelde statt nach Jakutsk nach Berlin gereist war, um es dort behaglich zu verzehren. Da, keine Täuschung, Christian hatte den Armenier wieder auftauchen und verschwinden sehen, verschwinden in der Bahnstraße in einem der glänzenden Gasthöfe, deren großartige Namen »Eden«, »Imperial«, »Fürstenhof« ein ehrlicher Schulmeister von der Wolga fast wörtlich genommen hatte – nein, man brauchte kein Fürst zu sein, um im »Fürstenhof« wohnen zu dürfen, auch ein armenischer Schwindler konnte dort absteigen!
»Ah!« hatte Christian gerufen, als er den Abowian im großen Kriliz, dem feinen Drehtor des »Fürstenhofs«, hatte entschlüpfen sehen, höflich gegrüßt von einem gewaltigen Türsteher in brauntuchenem langem Rocke mit vielen goldenen Knöpfen darauf, und der Ausruf hatte den Ruck begleitet, unter dem in der menschlichen Seele die großen Erkenntnisse vom Leben, die Fortschritte sich zu ereignen pflegen. Ah, warum nannte man ein Haus, in das ein jeder hineingehen durfte, so aufgedonnert? Waren sie denn alle hier kleine Hochstapler? Gehörte das Hochstaplerische zum Weltmannswesen? Nein, Zeitler in Grimm an der Wolga war ehrlicher, Franz Zeitler, der dort »Zeitlers Einkehrhof in der Kamyschinergasse« führte. Dessen warme Betten und ungezählte Tassen Tee einst Michelchen Heinsberg und Arnold Krott dem Tode entrissen hatten. Das hatte Christian gedacht, als er auf dem Gang zum Potsdamer Bahnhof war, um nach Köln zu fahren.
Er hatte sich auf dem Paßamte vorstellen müssen. Er hatte zu warten gehabt und dabei die hackenabwerfende Hast der Angestellten, Beamten und Schreibdamen gesehen, mit der sie durch Zimmer und Geschäftsräume rannten – er hatte die Hand vor die schmerzenden Augen gelegt und war nach Asien versetzt gewesen: da ließ der Kirgise oder Turkmene seine Kamele auf der Seiden- und Teestraße marschieren, tausend Kilometer im Monat und vier oder fünf Monate lang; und er selbst schritt, um sie zu entlasten, daneben, und langsam und würdevoll erging er sich so das große Asien. Keine Bewegung hastig und häßlich bei Mensch und Tier! Nur nachmittags, nach der langen Mittagsrast, saß er vielleicht auf für ein Stündchen oder zwei, gut ausgewogen mit der Ware. Und hüben und drüben beim Ziele schenkte er den Tieren fünf oder sechs Monate Ruhe an der schönsten grünsten Wasserstelle, schenkte ihnen Fressen und Liegen und Gliederstrecken. Denn alles, was leistet, verbraucht sich, und wer viel fordert, muß viel einräumen.
Oh, wie hatten sie wohl gelächelt, die guten Großstädter, Hauptstädter, Weltstädter über den einfachen Mann aus dem Volke, der da durch ihre lichte und aufgeklärte Stadt gegangen war, von dem sie glauben gemocht hatten, er komme »aus der tiefsten Provinz« Deutschlands, während er weiter gereist war, als die aneinandergelegten Wege der ihn belächelnden Kaiserstädterinnen zusammen an Länge ausgemacht haben würden! Als er auf ihren schönen blanken Straßen erschienen war in derbem Zeuge, das Frau Rohleder, eine von den Jüngeren in der folgereichen Familie der Rohleder und Näherin in Bellmann an der Wolga, zu einem ausdauernden Anzuge verschneidert hatte! Und es hatten ihrer mehrere beisammen gestanden, und sie hatten unbekümmert, gutmütig und unerzogen über ihn gelacht – nun, man würde sich in Köln ein weltmännischeres Gewand anmessen lassen, als es die gute Olga Rohleder zu schneidern imstande war, ein Allerweltsgewand, und damit unauffällig im Haufen der Europäer schlendern, das war nur eine kleine Sorge. Und so hatte er warm von sich selbst und nicht unglücklich über sich und keineswegs als ein Geschlagener Berlin, das stolz darauf war, Stadt, und es ganz, die städtischste Stadt, zu sein, versinken sehen, nach der ersten Verblüffung schon sicher im Gefühle und eigentümlich gelassen.
Und nun bei der schönen Musik des Räderrollens dachte er über alles dort Erlebte nach. Auch Deutschland hatten die Götter nicht gemacht, es nicht, himmlische Kinder in Weltglanzmuße auf blauen Lichtsteppen, als reinen Bau zusammengespielt und an goldenen Strängen auf Europa hinuntergelassen unter die staunenden anderen, sondern auch Deutschland war Menschenwerk …
Vom Rheine waren die Ahnen ausgewandert! Warum war er nicht sofort auf den Gedanken gekommen, dort Deutschland zu suchen, wo die Vorderen es verloren hatten? Sieh, jetzt, da der volkstümliche Wahn, ein fremdes Land in seiner sogenannten Hauptstadt anpacken zu müssen, überwunden war, führte es, »wie von selbst«, so glaubte er zu spüren, den, der an den Ufern eines Flusses von Größe und Würde der Königin und Mutter Wolga aufgewachsen war, zu einem königlichen Strome wie dem Rheine, den die anwohnenden Menschen seit alters Vater nennen.
Vater Rhein! Mutter Wolga! Für den Lehrer, für die Deutschen an der Wolga hatten die alten Übernamen eine natürliche und frische Bedeutung. Hatte nicht der Rheinstrom aus der Fülle seiner Landschaften, dem Reichtum seiner Ufer und mit jenem Leichtsinn, der dem Männlichen in der Natur eigen ist, Menschen, Christians Ahnen und die Ahnen seiner Leute, wie Samen in die Welt gestreut? Und hatte nicht die Wolga diese irrenden Samen in die Einsamkeit ihrer Borde, in die Heimlichkeit ihrer abseitigen Welt wie in einen Schoß aufgenommen und sie, aus das Einzelne in der Weise des Mütterlichen bedacht, gehegt und aufgezogen und jene wenigen von einst bereits zu einem starken Volke werden lassen? Nein, Christian Heinsberg fühlte sich nicht als ein versprengter volkloser Abenteurer, hinter dem in der Welt nichts stand! Eine halbe Million stark waren sie da an der Wolga, und wenn man die übrigen Deutschen in Rußland, die am Schwarzen Meere und am Kaukasus, die Tochtersiedlungen in der Kirgisensteppe und auch die Aussiedlungen der Enkel und Urenkel im Steppenlande drüben an Irtysch und Ob in Sibirien hinzurechnete, machten sie schon anderthalbe aus. Gab es nicht Kleinstaaten, die auch nur eine Million Menschen zählten oder nur wenig mehr, Norwegen zum Beispiel, wie ihn der eklige Doktor belehrt hatte? Aber an einen selbständigen Staat im Raume Rußlands dachten sie Deutsche nicht, keineswegs, es gab der kleinen Selbständigkeiten im Weltstaatenhause wohl genug. Aber sie wollten auch bleiben dürfen, die sie waren, denn es ist allem Wesen zwischen Wurm und Gott gemein, sich im Grunde wohl zu fühlen in seiner Haut und sie nicht vertauschen zu wollen. Hätte das die Natur sich selbst nicht eingeboren, so könnte sie nicht sein. Nur Friede mußte zwischen Deutschland und Rußland bleiben, der Friede, der durch die hundertfünfzig Jahre angedauert hatte, seit die Deutschen an die Wolga gezogen waren, Friede und auch Freundschaft. Das war den Wolgadeutschen bis zum letzten Bauer in der Steppe nicht nur ein herzlicher Wunsch, sondern die bare Selbstverständlichkeit. So nahmen sie schweigend aus dem Sein und träumend aus der Hoffnung das Recht für ihren Ort in der Gegenwart und legten es ihrem Platz in der Zukunft unter.
Christian Heinsberg fuhr den Rhein hinauf. Der Dampfer hieß »Stolzenfels«. Er war weiß und im Zierat vergoldet. Heitere Menschen reisten auf ihm. Der Tag war schön. Heinsberg saß gelöst vom linden Wetter und allgemein glücklich auf einer Bank aus Latten am Geländer. Es standen auch Korbstühle auf Deck, gelb und weich, und vornehm sahen sie aus; aber er setzte sich nicht hinein, ihm entsprach die grün im Holz und schwarz im Eisen gestrichene Lattenbank, und wenn er den einen Arm ausgestreckt auf der Lehne ruhen ließ, so tat er schon viel des Kühnen.
Denn all dies Neue und Andersartige, das sich ihm bei jeder Elle Vorrückens in diese Welt entgegenstellte und seine Aufmerksamkeit, Bewunderung oder Kritik erregte, es wies ihn auch beständig gleichsam in seine Schranken zurück. Was in ihm von innen her schon Bescheidenheit war, das wurde verstärkt durch den Befehl von außen zur Bescheidung. Nein, es ist kein kleines Unterfangen, sich aus Einöde und Abgeschiedenheit plötzlich, nur einem blinden Sehnsuchtstriebe folgend, in den ameisenartig bevölkerten Mittelort der Welt zu begeben – still und zurückgezogen saß er an unauffälligem Platze, beobachtete und schaute.
Aber er saß doch auch lächelnd da, lächelnd im Gefühle einer kleinen Überlegenheit. Denn »Stolzenfels« war nur ein Schiffchen, wenn man an einen Stockwerkdampfer der Wolga dachte, der, eine kleine Stadt, den städtearmen Strom befuhr. Und der Rhein selbst! Das nannte sich Strom? Rheinstrom? Er war wohl kaum länger als irgendein Fluß in Rußland, von dem niemand Aufhebens machte, und von seiner Breite war es besser nicht zu reden. Es gab keine Entfernungen in Deutschland. Wie war es doch in der Eisenbahn gewesen: kaum war man eingestiegen, kaum saß man warm, so war man auch schon am Ziele, es hieß: Alles aussteigen! In Rußland aber reiste man Tage um Tage, mit seinem Teetopf und seinem Bettzeug. Nein, wie klein, wunderlich klein war Deutschland, das mußte einem Rußländer doch auffallen dürfen! Kaum haben wir Köln verlassen, da ist auch schon Bonn, in Rußland erscheint die Nachbarschaft erst am andern Tage. Aber warum vergleichen? Er durfte sich doch freuen, zwei solchen Völkern, Ländern anzugehören, zwei Herzen in der Brust zu haben, zwei Leben zu leben in einer geheimnisvollen und nicht leichten Weise.
Also laßt uns auf dem Rheine fahren und nicht mehr an die Wolga denken! Wir sind hier ebenso wie dort, auf dem Umwege über Väter, daheim. Und hier ist der Rhein! Und das gute Geschick läßt ihn uns sehen am herrlichsten Tage! Und in der Gesellschaft heiterer Menschen! Weiß gekleidet sind die Herren, in Leinen, Flanell und Seide, und die Frauen leicht und bunt, und die Kinder haben die Beinchen nackt, und ihre Strohhüte sind fast so groß wie sie selbst. Da kommen in Bonn Studenten an Bord, bunte Mützen auf den Köpfen und ein farbiges Band quer über die Schulter und die Brust, was mag es wohl bedeuten? Und sie singen bald Lieder, stramme und forsche, jedenfalls frohe und lebenbejahende, warum sollen sie nicht Lieder singen, wie es ihrer Art gemäß ist und ihre Stimmung wiedergibt? Auf der Wolga singen ja auch die Tataren nach ihrer Weise, die Mordwinen und die Kalmücken, von den russischen Bauern ganz zu schweigen, aber alle singen schwermütig. Ja, auf der Wolga sang alles, wenn es sang, schwermütig. Hier aber sang man übermütig, die Studenten sangen so, und bald stimmten auch die reisenden Herren ein und sogar die Frauen. Ein grüner Römer leuchtete auf, mit goldenem Tranke gefüllt, und der Wein tat sein Wunder. Auch in Rußland wuchs Wein, in der Krim und am Kaukasus, aber die Bauern an der Wolga hatten vergessen, daß ihre Heimat am Rhein und der Mosel berebt war. Sie tranken keinen Wein mehr, sie tranken Milch, von Kuh, Schaf und Kamel, sie tranken selbst einmal gegorene und berauschende Milch von den Pferdestuten wie die Kirgisen. Asien hatte sie leicht angehaucht. Und verschüchtert waren sie auch. Fuhren sie auf der Wolga, so sangen sie nicht, keine deutschen Lieder ertönten, nein, obwohl die Mongolen ihre mongolischen sangen, denn das Lied der Deutschen wurde seit einiger Zeit nicht mehr gern auf der Wolga gehört. Die Russen sangen ihren Kirchensprechgesang und die Räuberballade, die Kalmücken ihre Weise vom großen Lama in Tibet – alles aber melancholisch. Ach, die Menschen der Länder vor und hinter den Toren Asiens hatten wohl Grund zur Schwermut. Die Erinnerungen an schaurige Ereignisse waren immer frisch in ihren Herzen. Bald floß das Blut der Armenier von Türkenhänden, oder die Russen metzelten in den Völkerschaften des Kaukasus oder auch das chinesische Militär in Turkestan. Die Gesänge sprachen Trauer und Furcht aus, wenn die Langeweile des Reisens auf den Strömen das Lied forderte und die Schiffsmaschine den Takt anbot. Das große gewaltige Land drüben mit seinen Landschaften der Sonne war schwermütig, und das kleine hier, wo es viel regnete und der Himmel oft trübe war, übermütig und heiter, es gab zu denken …
Aber wir sind hier auf dem Rheine! Sieh an, wie Stadt und Dorf und Weiler sich reihen am Wasserbande! Wie Schloß und Dom und Fabrik und Werk sich erheben im Lande! Am Rheine gab es keine Einsamkeiten, alles war einbezogen in den Kreis menschlichen Seins. Auch der Vorzeit Wirken war sichtbar geblieben in der Anordnung der Dinge der Jetztzeit und in sprechenden überlebenden Zeugen: Mauerring und Turm, Kirche, Burg und Denkmal, der Mensch dieses Landes hatte auf schmalem Striche Landschaften rein aus seinem Tun aufgebaut. Denn die Felder im noch Flachen, wo es nicht einen Fußbreit des Ungenutzten gab, gingen sie nicht sozusagen alle jährlich einmal ganz durch des Menschen Hand? Und die Berge im schon Buckligen, hatte der Mensch ihre Vorderseite nicht gebaut? Die tausend Stufungen, die Mauern und Mäuerchen, Stege und Treppen – war in dieser Welt des Weinstocks auch nur eine Handbreit Hang am Berge, der nicht der königlichen Pflanze und also dem Menschen diente? Drüben an den Flüssen der leeren Länder herrschten die Einsamkeit, die Natur und das Schweigen, hier in dem überfüllten aber die Gemeinsamkeit, der Mensch und das Lied der Reisenden. Was dort ertrank in Weite und Raum, das hallte hier wider von tausend nahen Mauern einer kleinen Felsnatur, in die der Mensch noch die zahllosen künstlichen Felsen seiner Hauswände und Weinbergmauern hineingestellt hatte. Man mußte hier den Menschen lieben! Wie es uns gegeben ist, im eigenen Leben Leid und Schmerzen schnell zu vergessen, so übersehen wir auch in der Erinnerung unserer Rasse, der Geschichte, gern, was an Kummer und Blut an den Denkmalen und Tatzeugen kleben mag. Wir sehen schließlich nur das Schöne an ihnen. Die Geschichte ist die Überlieferung dessen, weswegen zu leben am Ende wert gewesen ist – vor einem Berge von Gram, was die Menschengeschichte überdies ist, würden wir erstarren …
Heinsberg gehörte zu den Leuten, die durch Wesen und Erscheinung anderen Menschen ohne weiteres gefallen, die nichts Schroffes und Schrilles an sich haben, vielmehr schonungsbedürftig erscheinen und dadurch auch vor freundlicher Zudringlichkeit geschützt sind. Es schlenderten auf dem Deck Männer und auch Frauen umher, die sich gern neben ihm niedergelassen hätten, und die Kinder waren, nach kurzem Blicken in seine Augen, schnell entschlossen seine Freunde. Längst hatten sich für ihn die Hunde entschieden, sie suchten durch ein kurzes Bläffen seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wedelten mit dem Schwanze, erwarteten, eine jener freundlichen und halb unsinnigen Reden zu hören, wie man sie an angenehme Köter richtet, und wünschten, ein wenig gestreichelt zu werden. Möven begleiteten das Schiff, sie bedürfen der Menschen nicht; doch selbst von diesen Wesen der Wasserwelt trippelte das ein und andere rotfüßig nahe bei ihm vorbei. An einem Tische saß ein offenbar aus Amerika herübergekommener und Deutschland wieder einmal beehrender Auswanderer, der seinen bis zum Hafen ihm entgegengereisten verschüchterten Leuten inmitten einer Burg von grünen Flaschen Staunenerregendes vom Maschinenlande erzählte und blinkende Taler springen ließ. Der Russe hätte sich an den Tisch des Amerikaners setzen, beim Weine mithalten und prahlende Reden führen dürfen, einladend genug blinzelte man zu ihm herüber. Er aber ruhte, ruhte aus nach seiner nicht kleinen Tat, sich aus seinem angestammten Leben um eines halben Wahnes willen mit einem Male davongemacht zu haben, ruhte wie ein Mann nach der Arbeit, wie der Wanderer am Ziele.
Allerhand Beispielloses, Übernatürliches hatte Christian vom Rheine und von Deutschland geträumt, das es nimmer geben konnte und von dem im Grunde auch nicht erwartet wurde, daß es das gäbe. Als aber nun diese landschaftliche Wirklichkeit da war, da war sie so reich in der Vielfalt, so eigenartig im einzelnen, so unvergleichbar in aller Gestalt, sie war, wie sie war, gänzlich unvorstellbar gewesen. Mein Gott, hatte denn jemand, der sie nie gesehen, sich solche Landschaft denken können: steil stehen die Schichten im Fels; schieferig ist er und plattig; trifft die Sonne eine Platte recht, so blitzt sie spielend auf; aber in das aufspiegelnde Licht und die ausstrahlende Wärme hat sich schon ein Weinstock gestellt, er fängt Licht und Wärme mit seinen Blättern ein und wird sie an seine Früchte weitergeben, und die werden mit süßer Reife danken. Und das Geknete der Felsen im alten Erddruck, es hat dort eine Nische ergeben, nicht größer, als daß ein Mensch in ihr sich niederlegen könnte: schon ist der Winzer hinaufgestiegen, hat die Nische abgestützt mit einem Mäuerlein, und vier oder sechs Rebstöcke stehen auf dem niedlichen Stockwerk des Berges. Und eine Steintreppe, in die Flucht des Mäuerchens zurückgelegt, führt vom Weinbergpfade hinauf, eine Steinleiter eher denn eine Treppe; sie hinan trägt der Weinbauer in hölzerner Kiepe Dung an die Wurzeln der Reben, und er wird über sie weg auch einmal den Behang der Stöcke herbsten. Sehr rührend war dieses in die alte Erde jedes Jahr wieder einmal gesetzte Vertrauen, diese Pflege der solchem Erdwinkel an sich fremden Dinge in den Augen jemandes, der bislang steile weiße wüste Flußufer sah, wo Fischadler horsten, oder die gepunktet sind von den schwarzen Öffnungen der Erdschwalbennester. Und da blitzen wieder Schieferplatten auf; aber sie stehen nicht im Zusammenhang mit dem Felsland, der Mensch hat sich zwischen sie und das Land geschoben mit seinem Hause, mit seiner Kochstätte und mit seinem kleinen dörflichen Gottesdom. Denn mit den Schiefern und Leien, mit den glatten blauschwarzen Platten sind alle Häuser gedeckt samt Kirche und Turm, und die künstlichen Höhlenberge, in denen die Leute wohnen, sind Verwandte der massigen dahinter, von deren Steinkraft die Menschen sich nähren. Die Natur ist immer auf dem Marsche, und der Bewohner dieser engen Tallande, wo jeder Zollbreit kostbar ist, zeichnet ihr den Weg vor, den der Bewegung in den gemauerten Bachbetten, den der Umwandlung durch die kleinen Kuppeln der Trauben. Und sie läßt sich alsdann, sicher und weise geleitet, zu hohen Köstlichkeiten führen. Wer würde einen Stein kochen und den Brei essen? Aber legt den Pflanzenleib der Rebe zwischen Stein und Mund, und ihr könnt entzückt an Felsen saugen.
Da lag eine Stadt, Koblenz, mit vielen Dächern und Türmen, und »zerstört von den Franzosen«, sagte der gedruckte Reiseführer. Da thronte am Berghang ein apfelsinengelbes Burgschloß, Stolzenfels hieß es, das Schiff war danach genannt, »zerstört von den Franzosen 1689«. Da hüpften wie im Bocksprung der Knaben die Bogen einer Römerbrücke über die Mosel, kurz vor ihrer Mündung, und im Mündungsfächer der Lahn stand eine altehrwürdige romanische Kirche. Vom Berge aber grüßte eine weiße Burg herab, offenbar aus Trümmern wieder errichtet und aufgebaut, und auf dem andern Ufer stand ein luftiges schönes Mauerwerk, das das Reisebuch einen Königsstuhl nannte. Und wieder lag da eine aus dem grauwackenen Stein der Berge errichtete Stadt, mit Mauern und Türmen und einer Burgruine (»zerstört von den Franzosen«), und ein im Fachwerk seiner Hauswände weiß und schwarz gegitterter Weiler mit einer steilen gotischen Kirche am Fuße seiner Weinberge. Und eine unvollendet gebliebene lichte gotische Kapelle, durch die der Wind zog und der Himmel schaute, war zu sehen und oben dann wieder die alte Burg Heimburg oder Schönburg oder Sooneck, jene zerstört von den Franzosen, diese jedoch vom Burgenbrecher Rudolf.
Das Schiff war in den mittleren Teil der Rheinschlucht gekommen, die eng und hoch ist und wo das tiefe Wasser glatt und eilig dahinstreicht. Alle Geräusche des Tales hallten stärker, zwei Schnellzüge donnerten rechts und links entlang, das Stampfen der Schiffsmaschine, das man zu überhören sich bereits gewöhnt hatte, machte sich wieder auffällig, und der Knall einer auf der Uferstraße losgeschnellten Peitsche hallte vielfältig im Felsgekammer wider. Lautlos fischten am Ufer jener hohen Lei schwarze Boote den Salm. Der Reisende schaute das alles schweigsam, staunend und wie mit Kinderaugen an, nur die Schleppzüge waren ihm etwas Altvertrautes, starke Schlepper mit drei, vier, fünf Frachtkähnen am Stahltau. Denn die gab es auch auf der Wolga, das einzige von all diesem, was auch die Wolga aufwies, Schleppzüge, hier mit Kohle von der Ruhr, dort mit Naphtha von Bakú beladen. Und hier wie dort mußten die belasteten, bis zum Laufbord tief im Wasser liegenden Kähne zu Berg geschleppt werden (manchmal eine Flotte von kleinen Booten, die fremde Kraft schmarotzten, im Achterwasser), während die leeren, mit hohem Bord aufragenden Frachtbunker dort wie hier flink und leicht zu Tal und flußab trieben und natürlich, dort wie hier, nichts im Achterwasser hatten.
Hier in der innersten Schlucht ist es so still, daß man die Stimmen der im Weinberg die Rebenzweige aufbindenden Winzer hört. Hacken erklingen. Man ist dabei, die Erde aufzulockern. Auf der Spitze der quer ins grüne Rheinwasser vorstoßenden Steinkribbe quakt eine Möve, fast wie ein Kind.
Alte Sagen weiß der Führer von Ritter und Bauer, von Brüdern, die sich bis in den Tod haßten, von Kaisern und Domherren, von unnatürlichen Töchtern, die den Vater schlugen und zur Strafe in Felsen einer Untiefe verwandelt wurden, und von Unholdinnen auf den Felskaps, welche singend Fischer betören. Was ist dagegen die eine arme Sage vom Räuber Rasin auf der Wolga! Hier lebte in der Volkserzählung ein ganzes Jahrtausend, hier war das Jahrhundert der Ritterwelt noch lebendig, bunt und vielfältig auf den Burgen, die aber waren meist von den Franzosen verbrannt und zerstört. Hier war alles Mensch, Mensch, Mensch, dort Land, Land, Land. Drüben an der Wolga gab es einsame Erde, die noch nie ein Fuß betreten hatte, hier nicht einen Geviertmeter Grund, den nicht eine Hand aufgehoben, bewegt, gebaut, verändert, genutzt hätte. Die Sonne fiel schräg in die Felsgasse – wenn die Tauben aus dem Schlage eines Liebhabers aufflogen und aus dem Schattenhang ins Lichtreich hinüberwechselten, war es, als ob ein Haufen weißer Papierschnitzel in die Luft geworfen würde. Die Telegrafendrähte neben Landstraße und Eisenbahn summten ihr technisches Lied, es sangen auf der Straße einige in Sandalen wandernde blondschopfige Burschen, der schrille Warnpfiff eines in einen Tunnel einfahrenden Schnellzuges versank jäh. Aus engen Städtchen roch es nach Schwefel, denn die Winzer reinigten die Fässer für den neuen Herbst, und von einer pappelbestandenen Au erklang Glockenton aus einer Kapelle. Auf dem Schiffe sangen wieder die Studenten, weiß gekleidete Mädchen auf einer nicht vom Schiffe benutzten Anlegestelle winkten, geschützt durch die Wasserkluft zwischen Bord und Brücke, kühn den Burschen zu, die wie toll zurückwinkten, und in der nicht vom Brecheisen der Franzosen erreichten moosigen Felsgruft schliefen der alte Ritter und sein Gemahl in den steinernen Särgen; ihre Bilder lagen, erhaben gearbeitet, auf den Deckeln, der Reisige einen Löwen und die Rittersfrau ein betroddeltes Kissen zu den Füßen. Die Boote der Salmfischer schienen ausgestorben, aber an den Fenstern der Speisewagen eilig sich folgender Züge sah man die Gesichter gepflegter Menschen. Gab es drüben an der Wolga nur eine unbestimmte allgemeine Zeit, so lebten hier mit- und durcheinander die Zeitalter, und das Technische mischte sich mit dem Natürlichen, das Hirtenlied mit dem Verkehrspfiff, das grüne Wasserreich eines Vaters und Königs Rhein mit einem Kohlenfrachtweg. Der »Stolzenfels« fuhr langsam, der Strom kam stark entgegen in der Fahrstraße zwischen den Felsen des Binger Lochs. Von den beiden Burgen, die da rechts- und linksrheinisch hingen, Ehrenfels bei Rüdesheim und Klopp über Bingen, und von dieser Stadt selbst las der reisende Nebenmann seiner Gesellschaft aus dem Baedeker vor, daß die Franzosen sie zerstört hätten. Man blickte einander schweigend und fragend an, aber dann verließ man gleich den Gegenstand, die Geschehnisse lagen so weit zurück – wann war das gewesen? 1688? 1689? Unmöglich, immer bei Adam und Eva anzufangen! Man ließ lieber das traurige Einst auf sich beruhen und dachte ans glückliche Heute. Denn man war glücklich und sorglos, man war politisch stark und fürchtete nicht im geringsten, daß die Franzosen wieder einmal an den Rhein kommen würden. Man war auch durch einen nun schon über ein Menschenalter währenden Frieden des Gedankens an Kriegsgefahr entwöhnt. Das Volk war im großen ganzen zufrieden, Not des Einzelnen behob sich bald im allgemeinen Wohlstand. Man ärgerte sich an Polizei und Heer, aber man ließ sich ihren Schutz gefallen. Man hatte die Taschen voll Geld, wie diese Studenten da, der Arbeiter nahm schaffend und genießend teil an den Geschäften auf einem ungestörten Felde der Möglichkeiten, das ganze Volk lebte stürmisch in Arbeit und Vergnügen, man wuchs, mehrte sich, sammelte Besitz, kritisierte die Behörden und sang: Deutschland über alles!
Nein, Christian sprach vorsorglich mit niemandem. Er ließ sich verzaubern. Er war leicht zu verzaubern. Lächelte ihn hold eine Frau an, tappte ein Kind zutraulich herbei, legte sich ein Hund ergeben vor ihn hin, so überzog sich für die Sicht seines Herzens die stumpfe Wirklichkeit mit einem goldenen Glanz, und ein Klang ging aus vom tauben Ding.
Wahrscheinlich konnte, wer so schnell verzaubert wurde, auch leicht verzaubern. Denn nur selbst verzaubert lächeln die Frauen dem Verzauberer hold: dann bildet sich ein kleiner Raum in der Welt, es werden Zauberer und Bezauberte mit mildem Geheimnis umschlossen, von dem die umstehenden Unbeteiligten, ohne daß sie es merken, ausgeschlossen sind.
Da berühren sich für Minuten Seelen, deren Menschen einander nicht kennen, nicht kennen werden und nicht zu kennen verlangen. Da grüßen sich heiter, nicht einmal mit einem Kopfnicken, nur mit einem Sinken der Seelen voreinander, nur mit dem strahlenden Auge, ein Mann und eine Frau, jener, obgleich er nicht bekanntgemacht zu werden wünscht, diese, weil sie weiß, daß jener nicht aufspringen und seinen Namen sagen wird. Man wird sich nie wiedersehen, nie miteinander enttäuschend sprechen, nie gar am immer irgendwie erbärmlichen Schicksal des andern teilzunehmen brauchen – und so vermählen sich im Wohlgefallen der Augen, inmitten der Gesellschaft anderer Menschen mit Rechten an und Pflichten für einen, im Gegenüber des Sitzens auf grünen Bänken lachend die nackten Herzen. Schmerzlich lachend, ei ja, denn die Zucht des Verzichtes auf auch nur Berühren durch die Schallwelle des Wortes, die Furcht vor Trennung vielleicht schon auf der nächsten Anlegestelle des Schiffes, das Weh der Gewißheit, sich für immer zu verlieren, heute noch, sogleich! sind die Sühne der zarten Sünde …
Christian Heinsberg verließ das Schiff. In dieser Gegend mußte er seiner Stammesheimat nahe sein. Jener reisende Doktor, der eines Tages in Bellmann an der Wolga aufgetaucht war, hatte sie, dem Sprechen der Leute nach, ins Hessen- oder Pfälzerland verlegt, und Christian hörte hier die Eingeborenen weich, wie man an der Wolga sprach, sprechen und sah die Leute braun, wie man an der Wolga war, einhergehen. Von hierher war sein fünfter Vorfahr ausgezogen! Das mußte man sagen: in einem herrlichen Lande hatten die Ahnen gesessen – was mochte sie getrieben haben, es zu verlassen? Wahrlich, das muß ein Grund gewesen sein, der sich sehen lassen darf, sie hätten sich sonst zu schämen vor einem späten Enkel, der einmal aus östlicher Barbarei in diesen gesegneten Gau kommt und fragt, ob der Unglücksaltvater ihn wohl bei gesunden Sinnen verlassen hat. Nun, man würde darüber Klarheit schaffen, Heinsberg hatte es nicht eilig. Es war ein starkes Fühlen in ihm, ein mächtiges Vorstellen, als er da knapp vor seinem Ziele ausbog und den wichtigen Ort fürs erste umstrich. War es Furcht vor Enttäuschung oder Angst vor Erfüllung? Man muß sich vor Augen halten, was es heißt, noch vor wenigen Monaten ein Staubkorn drüben in Asien gewesen und bald ein bestimmter Stein sein in einem Menschengebäude, ein später Enkel, ein Namensüberlieferer, ein Familienstammhalter. Nicht mehr ein in einem asiatischen Sturm willenlos Bewegtes, sondern schon ein Glied sich fühlen im Zusammenhang europäischer Geschichte, ein Stück aus einem bescheidenen Ganzen, dem möglicherweise doch eine kleine Selbstbestimmung verbleiben würde.
Geschichte fürstet den Menschen. Hier in dieser Gegend lag das nun alles verborgen, lag fremd, noch ungekannt und dunkel in dieser sonnenklaren goldhellen, bis in die fernen Winkel durchblinkten Landschaft, an deren Felsen und Bergrand er jetzt hinanstieg. Denn wie eine große Schüssel war die Landschaft, eingehegt, doch nicht bedrängt, von Bergen, frei entfaltet im angemessenen Raum unter einem freundlichen und milden Himmel, in einer leicht zugänglichen Landesgegend, nicht verloren in Weiten auf der Schwelle zweier Erdteile. Er stieg stille Weinbergpfade gegen die Ruine Ehrenfels hinauf und über diese hinaus. Warm schien die Sonne in den Gäßchen, die in sanftem Zickzack den Berg gewannen.
In dreiviertel Höhe, dem Berge gar sehr und auch noch dem Tale verbunden, lag ein Wirtshaus. Gern entdeckte es der Wanderer, der am späten Nachmittag, die wärmste Sonne grade im Rücken, in den schattenlos gehaltenen felsigen Bergbreiten stieg und, den Hut in der einen Hand, mit dem Tuche in der andern einen leichten Schweiß von der Stirne tupfte. Die Ruhe, die er wünschte, das Haus bot sie an, auch Stillung des Durstes und Kühlung im Schatten; denn eine Linde wuchs vor dem Gebäude in einem niedrig ummauerten Bering, zu dem ein paar flache Steinstufen hinaufführten und der mit unregelmäßig aneinandergepaßten Platten der Grauwacke des Berges gepflastert war. Ein eichener Tisch, alt von Jahren und grau vom Wetter, stand in der Mitte des Mauerringes, und die runde Stufung selbst war in den Wingert und die Reben geschoben, deren Blätter die Sonne spiegelten. Die Ranken und Geize schraubten sich eifrig empor und überkamen fast die rissigen Enden der toten knochenfahlen Stützstäbe.
Christian legte Hut und Stock breit von sich weg auf den Tisch und streckte sich selbst ein wenig aus auf dem Stuhle.
Im Hause hatte man es nicht eilig, ihn zu bedienen, man wußte wohl, Wanderer am heitern Tag begehrten zuerst Schatten, dann betrachteten sie die Aussicht.
So tat Christian. Erfrischt in der kühlen Baumglocke wandte er sich der Landschaft zu, suchte sich fühlend des Ortes zu bemächtigen, der sich mit Wasser und Fels, mit Häusern und Rebstöcken, mit Talweg und Weltweite gefällig entfaltete. Aus den offenstehenden Fenstern des Hauses und der gastlich geöffneten Tür – ihr Oberlicht war bereits für die Sommerzeit ausgehoben – kam leichtes Geräusch unsichtbar laufenden Haushalts heraus, ein grauer Spitz mit schwarzer feuchter Nase erschien im grünen Türrahmen, stellte ohne zu bellen die Anwesenheit eines Fremden fest und entfernte sich ohne Hast ins Innere: man würde drinnen zu verstehen geben, daß da draußen jemand sei. Ein Schulknabe kam laufend und über Felsknauer stolpernd den Weinbergpfad, am Rücken den rappelnden Ranzen, herauf, rückte vor dem Gast leicht die Mütze und verschwand, vom Spitz mit kurzem frohem Bläffen begrüßt, im Hausgang, aus dem er bald mit einer doppelten Weißbrotschnitte, die gut mit Butter gefugt war, hervorkam. Kauend betrachtete er den Gast mit halber Neugier. »Meine Schwester kommt gleich!« rief er aber, als der Gast schüchtern und leicht, mehr um zu bekunden, daß er nicht vorhabe, sich ohne Entgelt hier aufzuhalten, als ungeduldig, bedient zu werden, zu erkennen gab, daß er jemanden erwarte, der sich um ihn bekümmere. »Gertrud!« rief der Knabe ins Haus.
Die Nachmittagssonne spiegelte sich in dem glatten Schiefer der Hausdächer im Tale. Die Schwalben zwitscherten lebhaft in ihren Nestern unter dem Dachgesims des Wirtshauses.
Bald erschien die große Schwester, fünfundzwanzigjährig wohl, dunkelbraun und mäßig rund, die Haare in Flechten und die Flechten aufgesteckt, in der einfachen Schönheit der Jugend und der Würde, die geordnetes Leben und die fraglose Zugehörigkeit zu Ort und Umwelt verleihen. »Guten Tag, Herr Wanderer«, sagte sie mit angenehmer Stimme, die flachen Stufen heraufkommend. »Sie wünschen Wein mit Mineralwasser? Sie kommen wohl von weit her?« fügte sie hinzu. Aber es war klar, das sagte man gewöhnlich zu dem, der ein Wanderer und nicht bloß ein Spaziergänger war.
Da geschah etwas Sonderbares. Es lag Christian nicht, sich mit großer Reise zu brüsten, noch war er so weltunkundig nicht zu wissen, daß auf solche Frage keine Antwort erwartet wird. Aber, vielleicht – er wollte ehrlich sein – um dem schönen Mädchen sich durch Fremdartigkeit ein wenig auffällig zu machen, er nahm die Frage wörtlich und sagte: »Danke der Nachfrage! Von weit her! Denken Sie, aus einem Lande, wo es einen Ort namens Mineralwasser gibt.«
Doch mit der Eröffnung hatte er kein Glück. »Wird Amerika sein«, sagte sie, »ich habe einen Bruder dort.«
»Nun, nicht eben Amerika, sondern eine andere Kolonie, in den Kolonien ist man nüchtern.« Er schämte sich bereits.
»Wo liegt denn dieser famose Ort?« frug Gertrud, über den Tisch wischend.
»In Rußland, im Kubanschen, am Fuße des Kaukasus«, sagte Christian schnell und ablenkend.
Sie sah ihn jetzt aufmerksam an, denn ein Mann aus Rußland war viel seltener in einem Wirtshaus am Rhein als einer aus Amerika. Übrigens glaubte sie ihm. »Und dann also Wein mit Mineralwasser?« frug sie lächelnd.
»Ich bitte darum«, sagte er eilig.
Aber nicht das Mädchen, sondern der Knabe brachte den Wein und das Wasser und mischte sie. Er betrachtete aufmerksam den Gast, von dem er das Fremde wittern oder schon wissen mochte und faßte so weit Zutrauen zu ihm, daß er seinen Ranzen aus dem Hause holte und an dem eichenen Tisch sich über seine Schulaufgaben machte. Der angenehme Junge sollte Michel heißen, dachte Christian Heinsberg mit einem Gedankenwurf nach seinem Söhnchen an der Wolga. Aber er störte den Knaben nicht, der, zuerst murmelnd und bald sprechend, mit Lernen beschäftigt war. Christian, wiederhergestellt durch Trank und Kühle, schlenderte ein wenig in den Weinberg hinaus, seine Sachen ließ er da.
Die Sonne war eben über den Wäldern des Hunsrücks in Flammen untergegangen, ein Nebel bildete sich im Rheintal, genau über der Mitte des Stromes, den Krümmungen des Tales folgend, sodaß es in dem in halber Höhe heiteren Tale einen weißen Rhein über dem grünen an der engeren Sohle gab. Die Pflanzen, die Steine, der Boden selbst strahlten wohlige Wärme aus, und es war, als ob sie aus noch mehr als nur aus dem Wärmespeicher ihres Sonnentages, als ob sie auch aus ihrem dinglichen Leben etwas abgäben – das Weinland duftete nach verdunstetem Rebstocksaft; aber man konnte auch glauben, die feineren und fast unsinnlichen sparsamen Vergasungen uralter Mineralien zu riechen. Ein Hund auf der Spur eines Hasen hätte die Fährte verloren. Es war des Tages schönste Stunde, wo alles nur geben, nichts nehmen zu wollen schien. Die Dinge der Erde leuchteten noch aus aufgesaugtem Lichte, und die immer höher hinauf am Himmel flammenden Abendwolken und der gelbstrahlende selbst verbreiteten eine allgemeine farbige Helle, die nirgends Schatten warf. An den Rebstücken waren auf viereckigen, spiralig ummalten Holzpfählen die Namen der Besitzer aufgezeichnet. Kädrich nannte sich der Eigentümer der Felderlage in Wirtshausnähe. Einen solchen Namen kannte Christian.
Das Flammenrad speichig aus dem letzten Sonnenort ausstrahlender Abendwolken war vom Himmelsplan herabgerollt, die Tauben und die Menschen kehrten heim, die Hauskatzen aber gingen auf die Mäuse- und Vögeljagd aus. Als Christian zu dem Wirtshaus zurückkam, fand er unter der Linde jemanden sitzen, der den Rücken kehrte. Der Mann beteiligte sich am härtesten Teil der Schülerarbeiten des Knaben, der nicht grad ein Rechenkünstler war. Er sagte vor, sprach fast in die Feder. Als der Knabe fertig war, hüpfte er sofort davon mit dem Hunde, der das Ende der Schularbeiten ungefähr abgeschätzt hatte, herangekommen war und auf das Zuklappen des letztgebrauchten Buches gewartet hatte, Hundsgebell und die Stimme eines befreiten Jungen verloren sich in den Weinbergsteigen.
Über der Hilfe an dem Knaben hatte der Mann nicht bemerkt, daß jemand gekommen war, und spürte auch jetzt nicht, daß Christian hinter ihm saß, so leise war dessen Art.
Bald hatten Knabe und Hund die Freiheitslust ausgekostet und kehrten lärmend zurück. Der Knabe verwies den noch hüpfenden Hund zur Ruhe und trug das Buch unter dem Arme, das freigewählte, das Buch der Muße, ein Reisebuch, in dem er alsbald las, beide Arme aufgestützt, die Fäuste geballt, den Kopf in diese versenkt und die Seele ins Buch, so wie nie das Buch der Pflicht gelesen wird. Der Geist des Jungen war weit fort in einem Lande, das Kamele mit weichen Sohlen langsam und die Wildesel mit dumpf tönenden Hufen flüchtig treten.
Der neue Jemand bewegte sich unruhig auf seinem Stuhle hin und her, bis er, plötzlich zu einem Entschluß gekommen, zu dem Knaben sagte: »Du könntest mir wohl eine Ansichtskarte holen, Bruno, eine schöne, weißt du.« Während Bruno aus seinem Buche wie aus einem tiefen Brunnen auftauchte und im ersten Augenblick nicht verstand, im zweiten aber davon und ins Haus lief, den Wunsch des Helfers bei den Schulaufgaben zu erfüllen, griff dieser nach des Knaben Buch und las: »Prschewalskis Reise im Tianschan« – er nickte und legte das Buch, wie man es mit Büchern tut, die man kennt und schätzt, ohne hineinzuschauen lächelnd zurück und dem Knaben zum Lesen wieder gerecht. Er wollte den zurückkehrenden Buben fragen, wieso in aller Welt Bruno denn zu Prschewalskis Reise komme und warum er sich im Geiste gern im Lande der Sand- und Staubstürme Turkestan aufhalte. Aber die herbeigebrachte Postkarte lenkte sofort seine Aufmerksamkeit von der Angelegenheit des Knaben ab auf seine eigene, die ihn offenbar stark im Banne hielt, er begann aufmerksam und eilig zu schreiben, während der Junge im Augenblick wieder nach Kaschgar und Karakorum versetzt war.
»So«, sagte der Herr jetzt laut und zufrieden zu sich selbst, »ein Versprechen erfüllt! Ich glaube, es hat mich eine alte Verpflichtung gedrückt. Und nun die Anschrift … aber wie hieß jenes Dorf doch?« Er holte ein Merkbüchlein aus der Tasche, fand das Gesuchte und schrieb. Dann hielt er die Karte von sich ab und betrachtete sie mit Zufriedenheit – und Christian las über des andern Schulter weg, ohne es zu wollen und maßlos erstaunt: An den Herrn Christian Michailowitsch Heinsberg, Schulmeister im Dorfe Bellmann, Kamyschin-Kanton an der Wolga, deutsch und russisch.
Ja, da stand selbst ein Christian Heinsberg auf, tat einen Schritt zu dem andern hin, legte ihm sogar die Hand auf die Schulter und sagte: »Die Karte kann gleich in Empfang genommen werden, der Christian Michailowitsch bin ich.«
Der Mann, erschrocken, von hinten her, wo er niemanden vermutet hatte, angeredet zu werden, und nach einem Blicke in Christians Gesicht so heftig aufspringend, daß sein Stuhl hintüber fiel; Bruno, durch die plötzliche Aufregung, die ein Knabe an Männern nicht gewohnt ist, aus den Alpen Mittelasiens heimgeholt; der Hund, der jedes Ungewöhnliche als einen Anlaß, zu bläffen und zu bellen gern benutzte; Gertrud, die von dem Ereignis draußen auf die Türschwelle gerufen zu sein schien – das waren Spieler und Zuschauer der Szene unter dem Lindenbaum: die Männer schüttelten einander die Hand und sprachen und stammelten wohl auch, denn im Falle eines ans Wunder grenzenden unerwarteten Geschehens verlieren auch die Männer die Herrschaft über den Ausdruck, und das Unwillkürliche betätigt sich. »Herr Bellmann!« versprach sich und verbesserte sich der eine in: »Herr Heinsberg! Herr Heinsberg von der Wolga!« Und der andere rief: »Der Doktor! Der Doktor, der an die Wolga kam! Der Herr Doktor … er vergaß den Bleistift!« – »Er vergaß zu schreiben! Er ist ein Wortbrecher, ein Lump!« rief fröhlich der Doktor. – »Er versprach zu schreiben und hat es getan«, sagte zitternd vor Erregung Christian. »... er hat es getan, als Sie hinter ihm saßen und er Ihre Nähe fühlte!« schrie der andere. – »... er hat die erwartete Karte geschrieben! O Alexandra!« Und in Erinnerung an das Weh, das er nach der Karte, nach dem Erinnerungszeichen des Doktors, nach dem Gruß aus Deutschland gelitten hatte, feuchteten sich Christians Augen.
»Den Teufel auch!« schrie der Doktor. »Er hat sie geschrieben, etwas spät …« Bruno war aufgestanden, den Finger im Buche, Gertrud war herbeigekommen, und an ihrer Stelle stand in der Tür der Vater, ein goldgesticktes grünes Samtkäppchen auf dem Kopfe und eine bis fast auf den Boden reichende Pfeife im Munde, auf deren weißen Porzellankopf der bärtige Kaiser Friedrich gemalt war. Und der Spitz bellte, bellte laut.
»Ja, um alles in der Welt, wie kommen denn Sie hierher? Von der Wolga an den Rhein?« rief der Doktor. Und Christian hielt die Karte in Händen, die Ansichtskarte aus Deutschland, Ansicht einer Landschaft des Rheins, er schüttelte sie leicht, er wiederholte – und es war Bestätigung eines lange Erwarteten, Uralten, Niebezweifelten –: »Die Karte hat der Doktor geschrieben! Und hier ist sie!«
»Aber setzen wir uns doch«, rief fröhlich der Doktor, und zur Haustür hin: »Da muß der Keller nun schon vom allerbesten hergeben!« Und zu dem Mädchen: »Ach, Gertrud, das gibt einen Festschmaus! Und Sie, Herr Heinsberg, müssen unser Gast sein! Und Bruno darf aufbleiben heute abend und morgen die Schule schwänzen, nicht wahr, Herr Schulmeister aus Aßmannshausen am Rhein und nicht aus dem Dorfe an der Wolga?« Denn der Lehrer und der Pfarrer waren aus dem Städtchen den Pfad heraufgekommen und standen verwundert vor den Stufen zum Ring – »und das ist der Schulmeister Christian Heinsberg aus Wolgadeutschland«, stellte der Doktor den Wanderer Gertrud und dem Lehrer, dem Pfarrer und dem Wirte vor, »und ich bin der Doktor Tornquist, denn ich glaube, ich habe mich an der Wolga nicht einmal vorgestellt. Und ich rieche schon das Spanferkel in der Küche. Und der ewig bläffende Spitz darf heute abend auch dabei sein. Und nun erzählen Sie einmal, Herr Heinsberg, erzählen Sie um's Himmels willen, wie Sie an den Rhein kommen!«
Christian erzählte, als man sich beruhigt und Platz genommen hatte, von der Verwirrung, die des Doktors Besuch und sein Versprechen, zu schreiben, an der Wolga im Herzen und in der Familie des Schulmeisters angerichtet hatten, und wie das Wunder geschehen war, daß der Schulmeister eine große Summe Geldes erhalten sollte, wie das Geld aber doch nicht kam, wie aber Alexandra, die gute großmütige Alexandra (seine Frau nämlich, erklärte er), ihm fürs erste ihr Geld gegeben, aufgedrängt hatte, damit er seine Sehnsucht, Deutschland zu sehen, stillen könne. »Nun, haben Sie denn das Affenhaus gesehen?« rief bitterlaunig und übermütig der Doktor. Aber alsbald merkte er, daß sich eine solche vorlaute Äußerung dem Pilger gegenüber nicht passe, und um gutzumachen, sagte er: »Man kann es verstehen! Man verherrlicht das Niegesehene! Da draußen in den Einsamkeiten! Und das habe ich angerichtet? Mir stehen nachträglich die Haare zu Berge! Man macht sich auf Reisen nicht klar, welche Wirkungen man selbst, der in eine Ordnung Hereingeschneite, hinterläßt«, und dann erzählte er schnell – denn beim Wiedersehen wird alles einmal angerührt und für spätere genauere Behandlung zurückgestellt –: damals, unmittelbar nach dem Besuche von Bellmann, schon im Postorte Kamyschin, habe er den Reiseplan, nach dem er durch die kubansche Steppe ans Schwarzmeer hätte gehen und über Konstantinopel nach Deutschland gelangen sollen, umgestoßen, habe statt dessen in raschem Entschlusse sich ostwärts ins Kirgisenland gewandt und sei auf einem Ritte von drei Jahren quer durch Asien nach China gekommen und – für Bruno (der den Finger längst aus seinem Asienbuche genommen hatte) – auch in Prschewalskis, des großen russischen Reisenden, Forschungsgebiete gewesen und – für Christian – vor einigen Monaten heimgekommen. – »Durch Asien geritten? Vor einigen Monaten heimgekommen?« rief Christian. Nun also, es war alles in Ordnung, der Doktor hatte versprochen, aus Deutschland zu schreiben, und das hatte er nun getan, kurz nach der Heimkehr! Und befriedigt über die geordnete Welt lehnte er sich zurück.
Der Pfarrer und Lehrer von Aßmannshausen hatten sich, ein wenig verwundert über das Geschehen am Ziele ihres gewohnten Abendspaziergangs, schweigend verhalten. Natürlich, wie sollten sie anders vor den fremden Personen und Dingen? Darum gab ihr Blick und Gebaren den Wunsch zu erkennen, unterrichtet zu werden. Der Pfarrer wollte zum Beispiel wissen, wieso Doktor Tornquist an die Wolga und weiter nach Asien gekommen sei. Denn – mit einem Blick auf Christian Heinsberg – die Wolga, die, wie man in der Schule gelernt habe, der längste Fluß Europas sei – nicht wahr, Bruno? – in Ehren, und die Deutschen an der Wolga, von denen er, weiß Gott, zum ersten Male höre und gleich einen lebendigen sehe, in besonderen Ehren; aber am Rheine habe man doch bisher gelebt und sich um die Wolga so wenig gekümmert wie um den Amazonas, der gleich der längste Fluß der Erde sein solle. Und man sei nicht schlecht dabei gefahren. »Nichts für ungut, Herr Wolgadeutscher«, wandte er sich an Heinsberg, »aber ich glaube, daß ich ein Durchschnittsdeutscher bin in bezug auf mein Wissen, das ein Nichtwissen von Deutschen an der Wolga ist. Schließlich, die Leute sind einmal vor langer Zeit fortgezogen, freiwillig, und haben ihre Verbindung mit dem Vaterhause gelöst, man denkt nicht mehr an sie, und sie denken wahrscheinlich nicht mehr an uns.«
Aber Heinsberg sagte still und etwas traurig: »Die Deutschen in der Wolgasteppe denken immerzu an Deutschland und so, als ob es eine Gralsburg wäre fern im Westen auf hohen Alpenfelsen, umströmt von Rhein und Donau.«
»Nun«, begütigte der Pfarrer, gerührt von der kindlichen Treue jener Abgewanderten, und suchte durch anteilvolles Erkundigen seinen Taktfehler gutzumachen, »wir, die Menschen von hier, aus Aßmannshausen und Rüdesheim, welche unmittelbare Beziehungen haben wir vom Rhein denn noch zu unseren, gut, sagen wir, verlorenen Brüdern an der Wolga, dieser und jener hier und ich, der Pfarrer Bellmann …« – »Bellmann?« rief munter Christian. »Ich stamme aus dem Dorfe Bellmann auf der Wolgabergseite. Viele Dörfer wurden benannt nach den Vorstehern, welche die Gemeinschaften zur Gründungszeit hatten.«
Da war man sehr erstaunt, und der Pfarrer Bellmann sagte: »Dann … möglicherweise … sind es ja nicht nur Deutsche in der Welt, von denen wir nichts wußten, sondern Leute unseres Blutes und unserer Familien; Verwandte bloß über den dritten Vater weg, und Sie, Herr Lehrer aus Wolgarußland, sind gewiß gekommen, Ihrem Blute hier nachzuspüren. Um gutzumachen« – rief er lebhaft – »will ich Ihnen helfen! Ein Pfarrer kann das leicht, er führt die Taufbücher! Ich helfe Ihnen, Herr … entschuldigen Sie, wie war doch Ihr Name?« – »Heinsberg, Christian Michailowitsch Heinsberg.« – »Heinsberg?« rief der Pfarrer, den Aßmannshauser Lehrer fragend ansehend, und schlug dann auf den Tisch: »Heinsbergs gibt es doch in Geisenheim! Es sind die kleinen Schreiner und Totengräber!« – »Sagte ich es nicht?« rief belustigt der Doktor. – »Ich scheine hier ja gleich mitten in den Ausgang meines Wolgavolkes hineingeraten. Geisenheim, wo ist das?« frug seltsam erregt Heinsberg. – »Hier, gleich um die Ecke des Tales links. Die ersten Häuser von Rüdesheim sehen Sie noch – nun, eine halbe Stunde weiter liegt Geisenheim. Sagte ich es nicht, die ganze Welt ist nur eine Dorfstraße, gleich trifft sich, was sich sucht, und einander fremde Menschen finden sich als Halbbrüder und Vettern. Aber daß Sie, Herr Heinsberg, am allerersten Abend am Rhein, ohne eine Ahnung zu haben, wo Ihre Leute sitzen, sie gleich im Städtchen um die Bergecke des Ehrenfels ausmachen, das ist schon Glück zu nennen!« – »Ja, ich bin überhaupt, ohne es zu verdienen, ein Glückskind«, sagte lächelnd, heiter und bescheiden Christian.
Der Pfarrer Bellmann, auch der Lehrer und der Wirt, die eines Sinnes mit dem Pfarrer gewesen waren, schämten sich sehr. »Ich heiße Kädrich«, sagte der Wirt mit einer vor ständiger Heiserkeit fast tonlosen Stimme, »ich spendiere nach dem Abendessen einen Rissigen Holzgott.« – »Kädrich?« sagte Christian. »Ich kenne die Geschichte von einem Lehrer Kädrich auf der Wiesenseite der Wolga, wollen Sie sie hören?« – »Aber gewiß!« Und alle waren Ohr.
Auch Gertrud Kädrich war an den Tisch getreten, die Küche in der Hut treuer Mägde wissend, zu denen sie nur von Zeit zu Zeit auf eine Minute hineinlief. Man hörte den Abendbraten bruzzeln, und angenehme Gerüche drangen aus dem Hausinnern unter die Linde heraus. Während der Erzählung Christians deckte Gertrud den Tisch. Sie schlug die weiße Decke aus ihren Bügelfalten und warf sie wie ein sich bauschendes Segel über die Platte. Ein weißer Schein huschte davon im Dämmer des Abends über ihr Gesicht. Windlichter, Kerzen in hohen Gläsern, wurden auf das Tischtuch gestellt, und damit war es mit einem Male draußen Nacht. Aus dem Weinberg erklang der erste wie Klage tönende Ruf eines Käuzchens. Im Osten stand schon der volle Mond am Himmel.
»Unsere Kolonien«, erzählte Christian, »hatten anfangs und ziemlich lange viel von Kirgisen und Kalmücken zu leiden. Diese wilden Völker der Steppe überfielen zu wiederholten Malen die Dörfer, und übel erging es den Siedlern. Was nicht getötet wurde, nahmen die Mongolen mit.«
Gertrud, die grade einen Teller vor Christian hatte hinsetzen wollen, hielt inne und stand da, den Teller in der Hand.
»Siebzehn Kolonien haben die Kirgisen zerstört, manche so gründlich, daß man darauf verzichtete, sie wieder aufzubauen. Vier von ihnen, nämlich die Dörfer Chasselois und Zäsarsfeld am Karaman und Keller und Leitzingen am Tarlyk auf dem östlichen, dem Wiesenufer, wurden in einer Schreckensnacht alle zur gleichen Zeit überfallen, sodaß kein Dorf dem andern Hilfe bringen konnte, und in Keller war der Lehrer Kädrich, von dem ich erzählen will. Es ist ziemlich schrecklich«, sagte Christian mit einem Blick auf Gertrud, »ich hätte vielleicht nicht davon zu sprechen anfangen sollen.« – »Aber erzählen Sie«, rief alles, und Gertrud Kädrich legte Gabel und Messer neben Christians Teller zurecht. – »Man weiß ja auch nicht, ob es sich bei dem Lehrer Kädrich um jemanden Ihres Blutes handelt,« sagte Christian zum Wirte. – »Aber der Name ist selten«, meinte der Pfarrer. – »Kädrich oder nicht«, sagte Gertrud Kädrich, grade den Eßplatz des Doktors zurechtmachend, »es scheint einem Menschen recht schlecht ergangen zu sein.« – »Laß den Herrn Lehrer erzählen«, krächzte der Vater und stocherte in seiner Pfeife, wobei er, um den Kaiser-Friedrich-Kopf zu erreichen, sie so hob, daß der unsteife Teil sich im hohen Bogen über seinen Kopf wölbte.
»Damals bestand eine große Gefahr für die Kolonien«, erzählte Heinsberg. »Auch bei uns auf dem westlichen, dem Bergufer der Wolga fürchtete man wieder die Kirgisen und unterließ im nächsten Jahre das Ackern, weil man sich der Hoffnung hingegeben hatte, in weniger gefährdete Gegenden Rußlands überführt zu werden. Man hatte Kundschafter zu den damals jüngsten deutschen Kolonien im Schwarzmeergebiet und zugleich Abgeordnete an Kaiser Paul nach Moskau geschickt. Aber von jenen kam die Nachricht, daß auch in Taurien die Gefahr wilder Völker bestehe, und dieser ließ sagen, grade der wilden Völker wegen habe die Kaiserin die Deutschen an die Wolga als eine lebendige Mauer gelegt, sie sollten den Kirgisen wacker Widerstand leisten und sich und Rußland schützen. Zum Lohne für die erwartete Leistung habe man ihnen das schöne Land im voraus geschenkt. In dem Sommer brach dann natürlich, da nichts angepflanzt war, eine Hungersnot aus, der viele erlagen. Nun aber der Lehrer Kädrich! Also aus dem Dorfe Keller führte man ihn und seine zwei Kinder im Alter von zehn und zwölf Jahren fort, und die Barbaren ließen die Angehörigen nicht beieinander. Der Vater sah seine Kinder im Norden der Steppe verschwinden, ihn selbst führte man nach Südosten. Er kam zuerst nach Merw in unmenschliche Behandlung eines Grundbesitzers, für den er im Käfig eines ewigen Rades, das in der Oase Wasser hob, zu laufen hatte, der ihn aber an einen Händler in China verkaufte. Der Händler war ein guter Mann, und da Kädrich im Schreiben und Rechnen ausgebildet war, Russisch und Türkisch kannte und sich anstellig zeigte, so nahm der Händler ihn in sein Geschäft, Handel mit Kamelwolle, auf, das durch Kädrich zu einem der größten in Turkestan und Afghanistan wurde.
Eines Tages war er in Diensten seines Hauses in einem Nachbarort von Chiwa. Da sieht er auf dem Menschenmarkte seine beiden Töchter, die nun sechzehn und achtzehn Jahre alt waren, zum Verkaufe ausgeboten stehen. Die Kinder erkennen den Vater so schnell wie er sie erkennt, man fällt einander um den Hals, und Kädrich ist mit dem Sklavenhändler gleich über den Kaufpreis für die beiden Mädchen einig. Aber das Geld in seiner Gürteltasche ist doch nicht seins, sondern das seines Herrn, und es ist ihm nicht zum Ankauf von Mädchen, sondern von Kamelhaar mitgegeben worden! Er bedingt sich beim Händler das Vorkaufsrecht an den beiden Sklavinnen bis zum Abend aus, nimmt das schnellste Reitkamel und fliegt nach Chiwa. Er zweifelt nicht daran, daß sein guter Herr ihm das Geld für den Loskauf vorstrecken und ihm erlauben wird, die vorhandene Summe statt für Wolle für seine Töchter auszugeben. Er trifft auch seinen Herrn in Chiwa gleich an, der macht ihm die heftigsten Vorwürfe, daß er nicht ohne weiteres und auf eigene Verantwortung das Geld für die Befreiung seiner Kinder ausgegeben habe und jagt ihn auf einem frischen Kamele nach jenem Markte zurück. Mit Tränen des Dankes und der Freude reitet Kädrich den Weg, den er gekommen, und langt noch vor Abend und Marktschluß wieder an – der Händler mit beiden Sklavinnen ist fort! Kädrich läuft und fragt herum und weint und schreit – niemand vermag ihm zu sagen, wohin der Sklavenbesitzer seine lebendige Ware geführt hat. Ja, wenn das vor Jahren geschehen wäre, als zum ersten Male weiße Sklavinnen mit Eigesichtern, blonden Haaren und blauen Augen auf dem Markte angeboten wurden! Damals war die Ware etwas Seltenes und Neues gewesen, und jedermann, der dazu in der Lage war, hatte sich beeilt, sich eine solche Sklavin aus Germanistan und Rhenistan zuzulegen. Aber seitdem waren alle Harems versorgt, es waren auch schon längst Kinder der germanischen und rheinischen Frauen da, und man bewertete blonde Sklavinnen nicht mehr höher als die kaffeebraunen und lakritzenschwarzen. Kädrich war nahe daran, den Verstand zu verlieren. Es gelang ihm endlich, einen Mann aufzutun, der gesehen hatte, wie der Händler, unmittelbar nachdem Kädrich in Richtung Chiwa den Markt verlassen hatte, in entgegengesetzter mit den laut klagenden Mädchen davongegangen war. Der Sklavenhalter mochte befürchtet haben, der Vater der Mädchen werde statt mit Geld mit einer bewaffneten Macht wiederkehren und ihm die Beute ohne Bezahlung nehmen. Verzweifelt suchte Kädrich den Markt ab, er suchte die Märkte rund um Chiwa ab, er und sein Herr suchten Turkestan, Usbekistan, Afghanistan ab – die Töchter wurden nicht gefunden. Kädrich verfiel in Schwermut. Seine Spannkraft verlor sich, und mit seiner Tüchtigkeit im Geschäfte war es zu Ende. Da gab ihm der Kaufmann die Freiheit und schickte ihn an die Wolga zurück. Er hat noch einige Jahre halbirr in der Kolonie gelebt und ist vor Kummer und an der Auszehrung gestorben. Das Merkwürdige ist, daß er langsam den Gebrauch der Sprache verlor, genau so langsam und schrittweise, wie ein Kind ihn sich erwirbt. Das ist die Geschichte vom Lehrer Kädrich aus Keller auf der Wiesenseite, fünfzig Werst von der Wolga östlich, das Dorf steht nicht mehr.«
Als Christian geendet hatte, nahm niemand das Wort. Gertrud Kädrich hatte sich, als fühlte sie sich in den Beinen lahm geworden, auf den Mauerring gesetzt, und Herr Kädrich klopfte schweigend seinen kaltgewordenen Kaiser-Friedrich-Kopf über das Mäuerchen hin aus.
»Wir wollen festhalten«, unterbrach schließlich der Doktor das Schweigen, »daß Kädrich das Geld in der Gürteltasche hatte.« – »Solche ehrlichen Menschen gibt es heute nicht mehr wie meinen Namensvetter Kädrich«, krächzte Vater Kädrich. – »Vater!« rief Gertrud, stampfte mit dem Fuße auf und rannte, das Weinen bezwingend, ins Haus. – »Was will es Mädche denn?« sagte unwillig Herr Kädrich. »Es war doch halt net sei Geld, er mußt' doch erst frage. Man kennt stolz sin uf solche Verwandtschaft.« Und tat endlich die Pfeife beiseite, er lehnte sie an die Linde, denn die Mägde brachten die Suppe. Herr Kädrich gab einer den Schlüssel und flüsterte ihr heiser zu: »Pfaffegarte Hintertürche neunzehnhundertsibbe«– man konnte sich darauf verlassen, die Lage und das Jahr …!
Auch Gertrud war an den Tisch zurückgekehrt, aber sie rührte das Essen nur an.
»Ob man wohl da drüben von dem vielen Blute aus Germanistan und Rhenistan noch etwas merkt?« frug nach einer Weile der Pfarrer. – »Gehen Sie nach Asien«, sagte der Doktor. »Sie finden es blond und braun durchschossen. Gegen die chinesische Grenze hin beginnt das schwarze Pferdehaar zu herrschen.«
»Wissen Sie nicht eine andere Geschichte von der Wolga, Herr Heinsberg, eine lustigere?« frug Gertrud Kädrich.
»Ja, doch«, sagte aufgeräumt Christian, »sie ist sehr kurz, ein bißchen heiter, spielt in Balzer, handelt von einem Kolonisten Christian, und ich überlasse Ihnen zu entscheiden, ob die Geschichte etwa von mir handelt und in Wirklichkeit in Bellmann spielt.« Und er erzählte sie zwischen Suppe und Salm: »Christian hat einmal ein Kind über die Taufe gehalten. ›Wie soll's heißen?‹ fragt der Pfarrer. – ›Ja, des waas ich net, Herr Pastór‹, hat Christian gesagt. – ›Aber das geht doch nicht! Das Kind muß einen Namen haben! Wie heißt Ihr denn?‹ – ›Ich heiße Christian.‹ – ›Nun, wie wär's, soll es vielleicht von Euch den Namen haben?‹ – ›Jo, warum net, so lang wie ich leb', kann ich scho' ohne Name bleiwe.‹«
Da gab es ein erlösendes Gelächter, und ein heiterer Fortgang der Mahlzeit, wie es sich für die Bekömmlichkeit gehört, war gesichert.
»Weiß es Mädche net auch doriewer ze kreische?« frug Vater Kädrich Gertrud.
»Loß, Babba«, sagte die, »ich kreisch met de Erbärmliche und lach met de Lustige.«
»Wie nun, wenn es eines Tages Krieg zwischen Rußland und Deutschland gibt? Wie wird sich ein Wolgadeutscher dann verhalten, da er doch auch ohne Frage die Waffe ergreifen muß?« frug geradezu der Lehrer aus Aßmannshausen. – »Schweigen Sie! Schweigen Sie! Das gibt es nicht!« rief Christian Heinsberg laut und plötzlich ganz ernst geworden. »Das … darf es nicht geben! Nie geben! Nie …« flüsterte er schließlich.
Die heitere Stimmung war wieder verflogen. »Das darf es nicht geben!« rief Christian noch nachträglich laut aus und schlug so hart auf den Tisch, daß selbst auf dem eichenen Gebäude Gläser und Teller bebten. – »Dafür opfern wir jetzt den Rissigen Holzgott«, rief krähend der Wirt – »Jahrgang neunzehnhundertvier«, flüsterte er heiser dem aufwartenden Mädchen zu – »auf daß der Friede ewig lebe! Denn sons kenne mir Wirtsleit keine Geschäfte mache.«
»Der Friede!« Man trank den edlen Wein aus dem bevorzugten Jahr auf den Frieden. Die Augen der Tafelnden irrten vom Tische, wo nun auch die Hähnchen weggegessen waren, fort und in die Landschaft hinaus.
Fest und ruhig in des Friedens Hut lag alles da. Der Mond goß Silber auf die Schieferdächer der Häuser im Tale. Die Schlepper im Fluß, die gegen den Strom fuhren, gingen leicht vor Anker, die mit dem Strome kommenden schwer, sie hatten erst mit ihrem ganzen Kahnanhang in einem engen Flußbett zu kehren, denn der Rhein war nicht die Wolga.
Die Geräusche im Flußtal erstarben langsam, die Lichter in den Häusern von Aßmannshausen erloschen eins nach dem andern, bis nur noch das rote im Hause Gottes brannte. In der tiefen Stille des Tales donnerte laut der erste vorbeijagende Nachtschnellzug.
Von dem, was erzählt worden war, etwas nachdenklich geworden und selbst am altgewohnten Orte dem oft erlebten Zauber der heraufkommenden Mondnacht offen, schaute man in die nächtliche Landschaft hinaus, mit Ausnahme von Bruno, der ein Stückchen weiter auf dem Oasenwege von Kaschgar nach Turfan reiste. »Tja«, sagte schließlich Vater Kädrich, »am Rhein, am Rhein, da wachsen unsere Reben – aber wenn wir net bald bessere Zöll widder die französischen Weine krieche, dann planze mir Winzer Kartoffele in die Weinberche am Rhein.«
Man lachte jenes halbe Lachen, das nur ein kurzes Stoßschnauben durch die Nase ist, und kehrte aus der Welt des Silberlichts und der schlafenden Reben in die der Gesellschaft und des Gespräches zurück. Christian sagte: »Ich habe ungebührlich viel geredet – der Herr Doktor ist uns allen noch die Erzählung seiner Reise durch Asien schuldig.«
Ja, da stimmten alle lebhaft bei, und Bruno schlug den Prschewalski zu, entschlossen, rücksichtslos ihn wieder aufzuschlagen und das Stück von Turfan nach Barkul zu reisen, wenn das Gespräch der Großen seinen Ansprüchen nicht genügen würde. Man müßte sich schon anstrengen, denn es war grade in der schrecklichen Wüste Taklamakan ein großartiger Sandsturm losgebrochen, der bis auf die Oasenstraße wirkte.
Aber der Doktor sträubte sich.
»Der Herr Doktor soll erzählen!« entschied Bruno. Er war sich darüber klargeworden, daß er für das Überstehen des Sandsturms in der Taklamakanwüste doch schon zu müde sei.
»Bruno, sei artig!« rief die Schwester. – »Aber man kann doch nicht immer artig sein«, erwiderte fast weinerlich Bruno.
Gelächter gab ihm recht.
Braune flockige Nachtfalter flogen stürmisch wider die Windlichter.
»Asie is e großes Land, da hat's viel wilde Dier«, sagte der Hauswirt. »Mir sollte drum e bißche vom Mittelberch Wolfsdarm neunzehnhundertfünef drinke, dann dun de Wölf uns nix.« Nun, man ließ den Scherz als vom Vater kommend gelten, und was ihm an Geist fehlen mochte, das würde der Wolfsdarm aus dem Mittelberg aus seinem Geiste ersetzen, der Wein, den der Wirt jetzt holen ließ, das Beste aus seinem Berg und Keller, das Entzücken der Würdigen und ein Zauberer der Wonne der Nacht.
»Sie sind mir noch immer die Erklärung schuldig, Herr Doktor«, sagte Christian Heinsberg, als die erste Freude an dem Wolfsdarm 1905 der ihn in Schlückchen Genießenden sich gelegt hatte, »wie Sie eigentlich an die Wolga gekommen sind. Das war der Anfang von diesem allen!« – »Nun«, meinte Doktor Tornquist, »das ging auch nicht planvoll und geradeswegs. Ich ging nicht etwa an den Bahnhof von Köln, wo ich damals wohnte, und sagte: Bitte geben Sie mir eine Fahrkarte nach Saratoff im Gebiete der Wolgadeutschen, denn ich habe natürlich nichts von euch da draußen gewußt. Ich bin Altphilologe von Haus aus, muß man wissen, Lateiner, und ich bin natürlich nach Pompeji und Herkulanum gefahren. Aber da hat der Kaiser Augustus ja doch den bösen Dichter Ovid wegen der verderblichen Wirkung auf Frauen und Jünglinge, die man seinen Gedichten zuschrieb, an die Küste des Schwarzen Meeres verbannt, und dort in der skythischen Einsamkeit hat Ovid ergreifend geklagt. Ich hatte den dunklen Klang der Verse im Ohr:
Pace tua, si pax ulla est tua, Pontica tellus,
Finitimus rapido quam terit hostis equo …«
»Das müssen Sie uns schon übersetzen«, sagte lächelnd Christian. – »Das muß der Herr Pfarrer übersetzen«, sagte vorlaut Bruno, »Latein ist sein Fach.« – »Man bezahlt ihn dafür«, krächzte der Vater. – »Man bezahlt ihn dafür, und Latein ist sein Fach«, bestätigte der Pfarrer, sich ein wenig krauend, »aber eben doch das Latein der heiligen Väter, das nicht immer das beste ist, kein ovidisches. Und nicht wahr, Latein eines unsittlichen Schriftstellers, den sogar ein heidnischer Kaiser nach Taurien verbannen muß, das bleibe fern einem christkatholischen Pfarrer!« Seine Rede war gegen Ende, wie scherzhaft, im selben Verhältnis bestimmt geworden.
»Natürlich übersetzt das der Altphilologe, und er versucht es gleich in Versen zu tun«, sagte der Doktor. »Aber selbst wenn ihr sie nicht ohne weiteres versteht, sind sie nicht herrlich, die Klageverse:
... si pax ulla est tua, Pontica tellus –
... friedlos ist die pontische Erde,
die auf rasendem Roß stäubend durchfliegt der Barbar.
Nun, kurz und gut, ich beschloß, eine östliche Verführung schon in Ohr und Herz, nach dem pontischen Taurien zu reisen, den öden Ort der Verbannung des Dichters ausfindig zu machen und festzustellen, ob das pontische Land wirklich so gottverlassen ist wie Ovid es macht. An der Mündung des Dnjestrs gibt es die Stadt Ovidiopolis, deren Ort von Katharina, kurz entschlossen, wie die Frau auch in wissenschaftlichen Dingen vorging, als Ovids Verbannungsplatz bezeichnet wurde; sie gründete dort eine Stadt und nannte sie nach dem Dichter. Sie hat sich freilich geirrt, denn das Kurze und Entschlossene ist selten das Rechte in der Wissenschaft, aber was tut's, ich kam in die Gegend von Ovidiopolis und fand – nicht Ovid und nichts von ihm, aber Bauern aus Deutschland. Sie sprachen Deutsch, ich stand auf der hohen Steppe und hörte plötzlich unter mir auf der tieferen Stufe des Ufers jemanden sagen: ›Halt mol aa, Jaköble, mir wolle die Gäul' verschnaufe lasse und tränke.‹ Worauf eine jüngere Stimme sagte: ›Zu spät, Vatter, 's Wasser is salzig, das hätte mir obe am Brünneli tun solle!‹ Ich hörte mit dem inneren Ohre reden:
Nec tibi sunt fontes, laticis nisi paene marini,
Und du hast keine Quellen, außer fast salzigen Wassers …
Tristia per vacuos horrent absinthia campos
Bittere garstige Kräuter erfüllen die einsamen Steppen –
und mit dem äußeren Ohre hörte ich sprechen vom Süßwasser im Brünneli. Ich trat an den Rand und sah ein Gefährt und darin Vater und Sohn, und der blaugemalte Kastenwagen stand – es war Frühling – mitten in Krokus und Iris, Hyazinthen und Tulpen. Eine gelbe Wolke Blütenstaubs hing über dem Bauernwagen, von den Pferdehufen erregt. Aber Ovid hatte gesungen:
Auch den Frühling kennst du mir nicht, den blumig bekränzten,
Und du sahst wohl auch nie braunnackte Schnitter im Feld –
Nein, ich glaubte dem Dichter nicht mehr, er war ein Städter, ein Groß- und Hauptstädter, er wußte nicht, was Land und Steppe sind. Ich rief die Bauern in Deutsch an und bat sie, mich mitzunehmen – nun, in dem Augenblicke war es in mir und meinem Leben zu Ende mit Ovid und Latein und Pompeji und Herkulanum, und an deren Stelle traten Bauern meines eigenen Volkes und die Steppe und Asien und Russisch und Türkisch, Sprachen, die man in Innerasien kennen muß.
Nun war ich also im Frühjahr vor ein paar Jahren, umgesattelt auf die Erdkunde und gehörig vorbereitet mit Russisch und Türkisch, wieder dort in der südrussischen Steppe. Die Steppe war grade von der Schneeschmelze abgetrocknet, und meine deutschen Schwaben, die ich natürlich wieder aufsuchte (sie wohnten in einem Dorfe bei Odessa), gaben mich weiter an die aus dem Danziger Lande eingewanderten Mennoniten. Die sind ein biblisches Volk von mehr als hunderttausend Köpfen und sitzen an Dnjepr und Molotschna, in der Krim und bis über den Ural hinaus. Von deren Händen wurde ich freundlich bis nach Asien hinein an die Herde der Gastfreundschaft gereicht. Preußen hat übel daran getan, fromme Leute zu vertreiben, die nichts weiter wollten, als ihrem biblischen Gotte dienen, Leute, für die Preußen in seinen eigenen östlichen Landen die beste Verwendung gehabt hätte. Und die Steppe! Die Steppe! Weit wie das Meer ist sie, sozusagen ein Meer von Land, das von den Karpathen an Mitteleuropas östlichem Tor bis an das westliche Chinas reicht. › Forma maris‹, meergleich, sagte von ihr mein nun abgedankter Ovid. Und wieviele Menschenstürme sind auf diesem Meere gegen Europa herangebraust! Denen warf Rußland einen Damm von Menschenleibern entgegen, die deutsche Katharina und was ihr folgte siedelten an, siedelten an: an Dnjestr, Dnjepr und Kuban, Flüssen, die ins Schwarzmeer gehen, an Terek, Wolga und Ural, die in die Kaspis, an Tobol, Irtysch und Ob, die ins Eismeer fließen. Deutsche, wir wissen es; aber auch Griechen, die vor den Türken aus dem Peloponnes, Armenier, die aus Kleinasien flohen, Bulgaren und die ackerscheuen Juden, Tataren, die Söhne Asiens, denen man das Erobererschwert endlich entwunden hatte – allen drückte man den Pflug in die Hand und sagte: Gefälligst! Man frug in Akerman niemand, der siedeln wollte, nach Vergangenheit und Paß, und die Kosaken kamen zu Beruf und Ruf. Nun also, ich reiste mit einem Tataren durch die Steppe am Kuban. In Mineralwasser – so ulkig – und Wohldemfürst – so feudal heißen Mennonitendörfer – war ich gewesen, und der Tatar saß vor mir auf dem Bock und lenkte das Kamel. So fuhren wir viele Tage. Zwischen Sonnenauf- und -untergang stieg der Tatar sechsmal vom Wagen, kniete in die strunkigen Kräuter der Steppe und betete nach Südosten gewandt. Oft sprach er davon, wie sein Volk groß gewesen sei unter den Herren Dschingis-Khan und Timur und wie es ganz Europa viele viele Menschenalter in Atem gehalten habe. Aber das tatarische Jahrtausend sei nun offenbar vorbei, die einst die Herren auf Rossen waren, seien jetzt Kutscher der Russen und Knechte bei den Deutschen. Früher seien die Völker von Osten nach Westen unterwegs gewesen, jetzt gehe der Weg von Westen nach Osten, und Russen und Deutsche zögen an der Spitze. Für die Tataren sei nur noch Platz in den Ecken. – Wir folgten der Ferndrahtleitung, die Stangen zählten sich auf zu einer unendlichen Summe. Ganz selten einmal erschien ein Dorf, von Russen oder Kalmücken bewohnt, flach und bloß wie Lerchennester lagen die Dörfer in der Steppe. Da und dort in der Ferne standen die ewigen Wolken dieses duftigen und so leichten Staubes, daß er auch bei Windstille schwebt. O Staub der Steppe! Er düngt die Felder, und die Chinesen sagen: ›Ein unfruchtbares Jahr, es ist zu wenig Staub gefallen.‹ Der Osmane Sultan Bajesid ließ allen Staub, der sich auf seinen Kriegsfahrten gegen Europa ihm auf Schuhe und Gewand gelegt hatte, abkehren und sammeln, damit der heilige Staub der Steppe in einem Lederkissen ihm im Grabe unter die Wange gelegt werde. Wir hatten links von uns, doch unter der flachen Kimmung, den Don, aber wir sahen über den Erdrand heraufgehoben die Segler und Dampfer auf dem Strom. Und kamen an die Wolga. Und dem freundlichen höflichen und uns allen so angenehmen Lehrer Heinsberg im Dorfe Bellmann versprach ich, eine Ansichtskarte aus Deutschland zu schicken.«
»Und der Doktor war so kurz angebunden und wortkarg und beinahe barsch zu uns, wir fürchteten ihn fast. Warum nur? Denn wir sehen ihn hier mitteilsam und freundlich, wie ein Mensch sein soll.«
»Ja, warum ist man oft so unausstehlich?« frug alle und sich selbst der Doktor. »Nur wenige werden es aus richtig bösem Herzen sein, denn es ist so anstrengend, immer und folgerichtig böse zu sein. Man ist es wohl meist aus Hilflosigkeit, dann, wenn man mit sich selbst nicht zurechtkommt. Man kann es sein aus Überdruß am Gewohnten, man kann es auch sein gegenüber einem Überfluß. Dies war bei mir der Fall. Ich hatte nun doch plötzlich umgebaut, nicht wahr, in meinen Jahren ist das die Lebensentscheidung. Ich hatte etwas ergriffen, von dem ich glaubte, ich würde seiner schnell Herr werden – und sieh da, immer Neues im Neuen bietet sich an, immer andere Durchblicke und Fernsichten tun sich auf. Deutsche, Deutsche, Leute meines Volkes, überall, überall, die ganze Schwelle Asiens war von ihnen besetzt. Überall kämpften sie schwer um ihr Dasein. Da saßen sie schon seit fast tausend Jahren in Ungarn, immer wieder um den zehnten Mann vermindert von den Türken, zehntausend ausgesuchte Siebenbürger Knaben nahmen einst die Osmanen mit, und die Sklavenmärkte Anatoliens widerhallten von Klagen in unserer Sprache. In Bosnien und Rumänien saßen sie, in der Dobrudscha und in Kaukasien, gegen die Donaufieber wie gegen die kurdischen Räuber auf der Hut, und überall auch auf der Hut gegen ihre Regierungen, die ihnen nicht mehr gestatten wollten, ihre altgewohnte Sprache zu sprechen. Ich wußte nun, ich würde sie finden in Ostrußland an der Wolga, wie ich sie in Südrußland an Bug und Dnjepr gefunden hatte, finden in den Steppen von Sibirien und in den Urwäldern am Amurflusse im Fernen Osten. Aber das mochte alles recht sein, wenn sie nicht schutzlos gewesen wären, Bettler um Land bei den anderen und lebend von der Gnade anderer. Hunderttausende und Millionen unseres Volkes leben in Ländern der Fremden – warum sollen sie nicht, nicht wahr? Das ist in heutiger Welt nichts Merkwürdiges. Aber es ist in Deutschlands Falle so, wie wenn in einer Stadt eine kinderreiche Familie in einer engen Wohnung eine Anzahl Kinder zu anderen Familien aushausen muß, und der Vater und die Mutter dürfen ihre eigenen Kinder nicht kennen, wenn sie ihnen auf der Straße nur begegnen. Aber dann, was war da weiter alles, fremd und neu und groß? Da war die gewaltige wundersame Wolga! Da war das Salz in Seen, die davon steif sind! Da waren die Wüsten, da waren die Oasen, da war die Steppe! Der lange Bandstreifen Steppe, der von Europa bis an die Große Mauer Chinas reicht. Ein Kalb, das ostwärts weidend von den Karpathen ausginge, es käme als ausgewachsenes Rind an der Großen Mauer an und hätte nicht auszusetzen brauchen, von den Kräutern derselben Steppe zu weiden. Nirgends bietet sich dort dem Menschen eine abgeschlossene umstellte Heimat, daher hat er sie überall. Die Steppe ist in ihrer Gleichförmigkeit wie das Meer – es gehört allen, die es befahren. Der Einzelne betrachtet die ganze Steppe als sein Eigentum wie der Schiffer das ganze Meer. Die Menschen fühlten die Unbestimmtheit der Grenzen, nichts war ihnen also natürlicher als zu wandern. Frei und ungebunden schweiften die Hirten über die endlosen Flächen, die im ewigen hellen Wetter dalagen. Aber einmal bilden sich auf der Steppe Wolken am blauen Himmel; diesmal lösen sie sich wieder in unsichtbaren Dunst auf und verschwinden; das andere Mal aber ballen sie sich, und ein Sturm kommt verheerend dahergebraust – so auch die Völker der Hirten. Mit einer Wut der Vernichtung, wie sie die Stürme Asiens selbst lehrten. Hundert Völker brachen in zwei Jahrtausenden nacheinander ins fruchtbare China. Da standen auch die geduldigen Chinesen auf und bauten gegen diesen Nordsturm eine Mauer vom großen Meer bis hinauf an die weißen Zinnen Hochasiens. Die Hirten stutzten und ließen China für tausend Jahre in Ruhe, wandten sich aber nach Westen. Sie tauchten nacheinander in Europa auf, und jedesmal brauchte es eine Riesenschlacht und einen europäischen Helden, die asiatische Wut in Europa selbst zu brechen. Der Franke Karl warf die Awaren, und die sächsischen und schlesischen Heinriche schlugen die Magyaren und die Tataren. Aber noch im großen Jahr 1683, als die Deutschen und die Polen die Asiaten vor Wien abwiesen, nahmen selbst die Fliehenden achtzigtausend österreichische Leute für die Sklavenmärkte Asiens mit. Da endlich tat Europa, was China längst getan hatte: eine Mauer gegen die Steppenasiaten bauen. Doch nicht aus Steinen, sondern aus Menschen. Entlang der Wolga wurde die europäische Mauer gegen die Hirtengeschwader Asiens errichtet.«
Die Zeit rückte vor. Nacht und Welt wurden still und leer.
»Sie rollen da große geschichtliche Bilder auf, Herr Doktor«, sagte der Pfarrer. »Man schämt sich seiner Unwissenheit. Aber wir starren sorgenvoll immer nach Westen, zu sehr hat die Politik der Franzosen uns ihre Marken ins Fleisch gebrannt. Und besonders schäme ich mich vor Ihnen, Herr Heinsberg, und der hochmütigen Worte, die ich für Ihr Wolgavolk hatte. Die europäische Menschenmauer auf der Westseite der Steppe, auf deren Ostseite die steinerne chinesische steht – der Doktor versteht es, Weltweiten aufzureißen!«
»Ja, die Steppe!« rief Christian Heinsberg. »So ist sie! Ich erkenne sie wieder! Es muß immer von außen kommen, und man muß uns deuten, was um uns ist. Dann ist es so, als wenn die durchsichtige Luft neben uns plötzlich Körper bekäme und zu uns redete. Aber es muß eben einer die Luft ballen, und dem Herrn Doktor, der dies tat, trinke ich, mit Erlaubnis unseres Wirtes, mein Glas Wolfsdarm zu.« Da stimmten sie fröhlich ein, der Pfarrer, Lehrer, Wirt, Gertrud Kädrich und auch Bruno, der noch nicht zu Bett war und endgültig den Finger aus dem Prschewalski genommen hatte.
Herr Kädrich sagte: »Sollt leben allesamt! Aber ich sage: Daheim is daheim. Und ob das nu Sinn hat oder net, das Auswannere – mei Martin bräuchte net nach Amerika ze gehn, hier im Wingert war genug Arbeit für ihn und in der Wertschaft auch Auskomme.« Er kämpfte mit dem Schluchzen.
Aber sein jüngster Sohn Bruno, unempfindlich für die Schmerzen, die der Vater um seinen Ältesten litt, wandte sich an Doktor Tornquist und sagte: »Und wenn der Herr Doktor wieder nach Asien geht – könnte ich nicht mit, als Diener, Kameltreiber, Schuhputzer oder so was?« – »Ach, du möchtest nach Asien, Bruno? Schon so bestimmt ist dein Wunsch? Warum denn grade nach Asien?« – »Asien ist so groß, und es begegnet einem da so selten ein Mensch.«
Die Großen sahen verdutzt Bruno und darauf einander an. Ja, was sprach denn da aus dem Jungen? Und es kam denn auch zu der Ausflucht, welche die Großen zu einer bestimmten Stunde immer gegen die Kleinen üben: Bruno sollte schlafen gehen. Und Bruno tat, was die Kleinen dann immer tun: Widerstand leisten und betteln, noch eine Viertelstunde bleiben zu dürfen, woraus dann so viele Viertel werden, daß der Kleine am Tische in Schlaf fällt.
Der Mond war mittlerweile nach Süden hinübergegangen und auf die volle Höhe seines Himmelsweges gestiegen. Er spiegelte sich im Rhein gegen Bingen hin, und der Strom, dessen Fließen man nicht sah, war ein silberner See zwischen hohen Ufern. Kein Schiff verkehrte mehr. Die Schlepper lagen am Anker, das Warnlicht an der Mastspitze. Späte Kähne verliebter Leute, die, eine Papierlaterne am Kahnbug, in den Teichen zwischen den Steinkribben des Rheines an glücklichen Abenden fuhren, hatten angelegt, und die Fähre zwischen Rüdesheim und Bingen hatte ihre letzte Fahrt für heute gemacht. Seltener störten die Nachtschnellzüge die Ruhe des Tales auf und dann stets nur für wenige Augenblicke. Von den Schwalben in den Nestern unter der Haustraufe zwitscherte schrill eine auf, sie träumte von glücklicher Jagd an einem mückenreichen Abend. Die Blätter der Linde regten sich leise im Nachthauche.
Die Menschen blieben beisammen. Die Nacht war warm und würzig, der feinste Wein aus dem besten Berg hatte die schönsten Geister der Geselligkeit geweckt, und ein Gespräch war im Gange, stoffreich und erregend – wann würden sich die gleichen Bedingungen am selben Orte wieder zusammenfinden! Einzig der Pfarrer schaute von Zeit zu Zeit, und je näher einem gesetzten Zeitpunkte in desto kürzeren Abständen, auf seine goldene Uhr. Da hub unten in Aßmannshausen die Kirchenuhr an, zwölf zu schlagen. Zwölf Schläge, und von einer alten Uhr, das erfordert lange Zeit. Der Pfarrer goß sich denn auch selbst, obwohl es etwas gegen die gute Sitte verstieß, in aller Ruhe noch ein volles Glas ein und trank es auch gemächlich und in aller Ruhe, doch auf einen Zug, leer; so zwar, daß er mit dem Schlage zwölf den Glasrand von der Lippe trennte und die Lippen nicht einmal mehr mit der Zungenspitze, sondern mit dem Taschentuche der Weinspur entledigte, denn ein Priester muß von Mitternacht bis zum Meßopfer nüchtern bleiben. Nein, es war zu schwer, sitzenzubleiben und am Gespräche teilzunehmen, ohne vom Wolfsdarm zu genießen. So war es besser, sich der ganzen Gesellschaft als nur des Weines zu enthalten, und kurz und gut, der Pfarrer stand entschlossen auf. Seinem Lehrer von Aßmannshausen gönnte er aber nicht den weiteren Genuß der Nacht, er richtete an ihn die kurze Frage: »Wie wär's, Schulmeister?« Doch dieser sagte grad heraus: » Ich habe morgen keine Messe zu lesen, Hochwürden.« – »Gut«, sagte der Pfarrer, verabschiedete sich von allen und meinte zu der neuen Bekanntschaft von der Wolga, daß man sich hier unter der Linde am Rheine wohl noch öfter sehen werde. Dann ging er in den Mondschein hinaus, sein Tritt verhallte auf den Platten des Weinbergweges.
Als zeitlos werden solche Nächte erlebt, das ist ihr tiefstes Glück. Wer von der Pflicht abgerufen wird, hinterläßt kein Loch, und hinter ihm schließt sich die Nacht. Leicht knüpfen sich die Verbindungen, die Fäden des Gespräches knoten sich munter durcheinander, der Wein ist ein guter Weber. Der Wirt meinte, der Pfarrer hätte es wohl nicht so genau zu nehmen brauchen, Gott sei wahrscheinlich weniger streng als seine Nachgesetzten auf Erden. Da fiel Doktor Tornquist die Erzählung vom guten Kaiser Alexander, Katharinas Enkel, ein. »Als der Kaiser sich 1812 vom Heere entfernte, weil er den Oberbefehl im Feldzug gegen Napoleon hatte abgeben müssen, da geschah es in Livland, wo damals der russische Generalstatthalter eine wegen seiner Strenge gefürchtete Herrschaft führte, daß in einem Walde der Schlitten über einer verborgenen Baumwurzel umschlug. Der Kaiser kam aber gemächlich in den Schnee zu sitzen. Der Kutscher fiel vor dem Kaiser auf die Knie. Dieser ermunterte ihn, aufzustehen, er sehe ihm das Unglück nach, die Baumwurzel sei schuld. Doch der Kutscher stand nicht auf, wollte nicht aufstehen, bis der Kaiser ihm etwas versprochen habe. – Was denn? – Seine Majestät trage ihm das Mißgeschick nicht nach, aber da sei noch der Herr Generalstatthalter … Gut, der Kaiser versprach, dem Generalstatthalter nichts von dem Unglück zu sagen.« – »Ja«, rief unter krähendem Lachen Herr Kädrich, »die besten Herren sind die höchsten!«
»Wenn denn nun vom höchsten Herrn die Rede ist«, sagte Christian, »so weiß ich auch eine Geschichte von unserm Kaiser Alexander, die ich in meiner Schule in Bellmann oft erzählt habe« – die alle zu hören verlangten. »Als der Kaiser im Jahre 1808 nach Erfurt reiste, um sich dort mit Napoleon zu treffen, da geriet einmal sein Wagen im Walde in die Irre. Der Kaiser sah einen Mann daherkommen und rief ihn an: ›He, Muschik, komm mal her!‹ – ›Ne, mein Herr, ich bin kein Bauer. Höher hinauf!‹ – ›Nun, Amtmann, komm her!‹ – ›Höher hinauf, höher hinauf!‹ – ›Vielleicht gar der Schulze des Dorfes?‹ – ›Ihnen zu dienen, Väterchen, der Schulze des Dorfes! Was ist dem Herrn Hauptmann gefällig?‹ – ›Ne, ne, Bruder,‹ erwiderte der Kaiser, ›nicht Hauptmann. Höher hinauf!‹ – ›Vielleicht ein Herr Major oder Oberst?‹ – ›Nein, Bruder, höher hinauf!‹ – ›Wie? Doch nicht gar ein Feldmarschall? Verzeihen, Eure Exzellenz, daß ich nicht …‹ – ›Höher hinauf, immer höher hinauf, Bruder!‹ – ›Wahrhaftig, ein Herr Großfürst!‹ – ›Nur munter immer hoher hinauf!‹ – ›Mein Gott im Himmel, sehe ich recht …‹ – ›Ja, du siehst recht. Aber vielleicht denkst du doch, du bist einem Schwindler begegnet. Darum schau auf diesem Goldrubel nach, ob das Bild mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Und wo geht nun der Weg aus diesem Walde zur Brücke über den Fluß?‹«
Als man auch über diese Geschichte fröhlich lachte, sagte Christian plötzlich ernst: »Ja, der erste Alexander! Da hatten unsere Deutschen es gut in Rußland. Unter dem zweiten und dritten wurde es anders.«
Aber die Traurigkeit, auch über Volksgeschick, hatte es nicht leicht, aufzukommen in einer Nacht, in der alles Schwere aus der Natur und alles Böse aus den Menschenbeziehungen genommen zu sein schien. Eingebettet in Mulde und Tal lagen die menschlichen Siedlungen. Die Bäume der Flur, schwarze ernste Wesen im Dunkel der Nacht, schienen zusammengetreten, um den siedelnden Menschen zu dienen, und die Wälder hoch oben auf den Köpfen der Berge glichen Heeren, versammelt, um alles zu beschützen, was sich der Muschel dieser Landschaft anvertraut hatte. Die Luft ging lau, die Welt ruhte im Frieden. Das Mondlicht lag weiß, als wäre frischer Schnee gefallen, auf Pfad und Weinbergmauer, Blatt und Gescheine der Reben.
Vater Kädrich war eingeschlafen. Er schlief so unbekümmert um schönen Schein wie er lebte. Auch Bruno Kädrich hatte allem entfalteten Zauber des großen Asien zum Trotz der Stunde tiefer Nacht nachgegeben und war als eine kleine, kaum noch wandelnde Schlafleiche von der großen Schwester ins Bett geführt worden. Gertrud war zurückgekommen und saß nun allein wach zwischen den beiden Männern, denn der Lehrer von Aßmannshausen hatte sich zugleich mit seinem Schüler empfohlen. Es schlug drei Uhr. Es war, als ob aus dem Mitternachtsbrunnen der Neuzählung andere Stunden aufstiegen als die vormitternächtlichen. Sie waren, unverbraucht vom Tagesdienste, sozusagen reine Zeit.
Gertrud Kädrich schien eigens zurückgekommen zu sein, um dies zu sagen: »Mir geht den Abend das Schicksal der beiden Mädchen nicht aus dem Sinn. Wo gerieten sie hin? Wie lebten sie? Wie starben sie? Konnte nichts für sie geschehen? Sind viele auf solche Weise in Asien verschwunden?« – »Wer wagt sie zu zählen? Aber man darf wohl sagen: Zehntausende.« – »Schrecklich!«
Gertrud hatte den Arm lang von sich auf den Tisch gelegt und sagte noch einmal: »Schrecklich!«
Der Mond stand jetzt tief unten über den Hunsrückwäldern, im Osten färbte sich von der erwarteten Sonne der Himmel mit feinem Schein. Der Mond ging unter. Die Sonne kam herauf. Der Rhein, der im Mondlicht stillgestanden hatte, fing wieder an zu fließen.
Am nächsten Tage machte sich Christian auf den Weg nach Geisenheim. Allein. Gertrud Kädrich hatte sich erboten, mitzugehen, ebenfalls Bruno, der den Spitz mitnehmen wollte, auch der Doktor, selbst der Pfarrer, es hätte ein fröhlich-feierlicher Zug der ganzen Gesellschaft werden können. Aber Heinsberg zog es vor, allein an den Ort des Ausgangs seines Geschlechtes zu gehen.
Es war früh am Morgen. Der Johannisberg mit seinem gepflegten abfallenden Weingarten und seiner Krone, dem schlichten gelben Metternichschlosse, schaute über die tauige und gegen den Rhein hin noch neblige Landschaft. Pappeln in der Rheinau und auf den Inseln stachen aus dem hellen Nebel hervor, und unter der Dunstdecke hörte man die Schiffe, die dort genächtigt hatten, die Anker hochwinden. Die roten Zwillingstürme der Kirche von Geisenheim kamen näher.
Jetzt trat der Wanderer in das Weinstädtchen ein, aus den Höfen roch es nach Dung für den Berg und nach leeren Fässern. Unter der Führung des Hahns zogen die Hühner aus. Die Kinder gingen mit Ranzen, an denen ein nasses Schwämmchen baumelte, zur Schule. Nein, Außerordentliches, das Heinsberg zu finden heimlich wahrscheinlich erwartet hatte, war nicht da.
Es gingen auf dem Wege zum Berge junge Leute an Christian vorbei, Burschen in Holzschuhen und Mädchen, ein weißes Tuch um den Kopf, von dem zwei Enden unter dem Kinn geknotet waren. Sie hatten kaum einen Blick für ihn, in diesem offenen dichtbevölkerten vielbegangenen Lande war ein Reisender etwas Gewöhnliches.
Heinsberg hatte wohl daran getan, den neuen Freunden die Absicht auszureden, ihn zu begleiten, die fröhliche Gesellschaft würde kleinlaut zur Linde zurückgekehrt sein. Denn Christian Heinsberg fand zwar einen Josef Heinsberg, einen alten kauzigen Sargschreiner, aber der Mann zeigte sich wenig neugierig, etwas zu erfahren, und kaum lustig, etwas mitzuteilen. »Was kitzelt Ihr die Toten mit Eurer Nachfrage? Laßt sie ruhen, sie sind glücklich, denen tut nichts mehr weh. Der Tote im Grab, der Lebendige am Stab«, sagte der Schreiner und ließ über die schmale Seite des hochkantgestellten eingeklemmten Brettes mit großen Schüben der Arme den Langhobel laufen, aus dessen Spund ein langer Span, ein nicht abreißendes Holzband, einer bleichen Flamme gleich, emporquoll. »Allerdings, nach Rußland ist einmal ein Heinsberg gegangen, soll ein Färber gewesen sein. So so, von dem Ausreißer stammt Ihr ab? Mög's allen wohl bekommen sein, die sich damals von hier davongemacht haben, nach Rußland und Amerika, man sagt, wegen der Franzosen, die 's Land bedrängten! Ob's wohl so schlimm war? Oder ob's nur ein Vorwand war für Arbeitsscheue und Unruhige? Ich glaube, es ist besser, wir erfahren nichts von teuren Ahnen. Staat ist selten mit den Herrschaften zu machen. Reist in der Welt herum und genießt das schäbige Leben, Herr Russe, wenn Ihr's danach habt, die Hunde machen einmal keine Umstände mit unserem Hügel.« So redete der Schreiner, während er weiter an dem Brett zum Sarge arbeitete, es aus dem Bock an der Werkbank spannte und, ein Auge an der langen Kante, nachprüfte, ob sie gerade sei. Christian konnte nur noch erfahren, daß die Heinsbergs in Geisenheim gar nicht beheimatet seien, sondern wahrscheinlich aus Speyer stammten. Er empfahl sich bei dem fernen Vetter, der dem Scheidenden den Rat mitgab, nicht zu tief in der Kiste zu kramen, sonst falle ihm der Deckel auf den Kopf.
*
Speyerbürtig« hatte es beim Schreiner Josef von den Heinsbergs geheißen. Man mußte der auftauchenden Spur nachgehen, man war deswegen vom fernen Wolgaland ins Rheinische gekommen. Die schnell gewonnenen neuen Freunde, vom Aßmannshauser Pfarrer bis hin zu Willy, dem Spitz, begleiteten Christian an die Rüdesheimer Überfuhr. Dieser hatte geäußert, er traue sich zu, das Volk, dessen Landschaftssprache er schon von der Wolga her spreche, ausfragen und überhaupt im alten Heimatboden nach den Wurzeln seines Geschlechtes graben zu können.
Wahrscheinlich glauben sie mir soviel Selbständigkeit gar nicht, dachte lächelnd Christian, als der Spalt zwischen Fähre und Lände sich auftat und größer wurde und das Wasser darin zu rauschen begann. Er sah die Gestalten der neuen Freunde schnell kleiner werden. Die Wasserkluft war nicht mehr zu überspringen. Willy, der Christian mit dem kurzen Gesicht der Hunde wohl schon verloren hatte, aber zu wissen schien, daß der nach Kamelen Riechende nicht ganz zu Recht sich allein entferne, schaute bellend zwischen der Ponte und Gertrud hin und her und zu dieser auf, es hieß, was denn das eigentlich zu bedeuten habe? Er wäre doch so ein handsamer Begleiter gewesen, Willy, der jeden Hund, der ebenfalls an den kamelrüchigen Stiefeln hätte winden wollen, davongebissen hätte; und Bruno natürlich auch, wenn es bei ihm nur nicht das vertrackte Hindernis gegeben hätte, daß augenblicklich nicht Ferienzeit war. Sie trauen es mir wahrscheinlich nicht zu, dachte Christian, als die Ponte den Rheinsee schnell querte und die Gestalten im Häuflein der drüben sich langsam von der Lände entfernenden Freunde nur noch für scharfe, an Wolgaweiten gewöhnte Augen unterscheidbar waren. So sind die guten Deutschen im alten Lande! Sie trauen und muten sich alles zu, und sie leisten tatsächlich viel. Uns Davongegangene aber sehen sie als nicht ganz mündig gewordene Kinder an, obgleich wir da draußen auf noch schwierigerem Posten stehen und uns zu bewähren haben als sie an dem von Fremd- und Feindvolk umdrängten offenen Platze inmitten Europas, um den sie auch nicht zu beneiden sind.
Jetzt waren rechtsrheinisch keine Menschen mehr auszumachen, Heinsberg drehte sich auf dem Fährschiffe um und neuem Ziele zu. Es war Mittag, die Sonne stand im Süden über und hinter den Häusern des sich nach Burg Klopp, Rochus- und Scharlachberg allmählich hinauftreppenden Bingen. Die dem Rheine zugekehrten, nordwärts schauenden, in grauer Ölfarbe gestrichenen Schauseiten der Häuser, der Gasthöfe und Stapelschuppen lagen im Schatten; aber von der andern Rheinseite, von dem von praller Sommermittagssonne beschienenen Rüdesheimer Berg und dem Niederwaldhang wurden die Binger Schatten aus einem ungeheuren Spiegel im Widerlicht aufgehellt und blond erleuchtet. Berg und Hang, aus Grauwacke gebaut, die aus speckig glänzenden Schiefern und weißen Quarziten besteht, spritzten das Licht in den Raum zurück und hinaus; nicht nur die Reben auf der eigenen Rüdesheimer, auch noch die Platanen des Uferbaumgangs auf der Binger Seite schienen davon Wachstumsvorteil zu haben. Die Ponte hatte linksrheinisch angelegt, Christian schaute zurück.
Aus milchig dunstiger Ferne der Gegend von Mainz kam breit der Rhein daher, wallte, seinen Lauf verlangsamend und geräuschlos, unter dem voll strömenden Lichte her und preßte sich dann durch die Felsenenge des Lochs eilig und rauschend in die blaudämmerige Rheinschlucht hinaus. Vor Wärme, Licht und allgemeiner Heiterkeit eines göttlichen Tages wollten Landschaft und Welt sich dehnen und unruhig werden, unbändig mochte alles, Mensch und Natur, heute sich fühlen, die Germania auf dem Denkmal oben am Bergrand schien des Reiches eherne Krone vor Übermut in die Luft geworfen und die fliegende sicher wieder aufgefangen zu haben. Scharfwendige Schlepper, vor Stärke überschnell, wenn sie ledig waren, eilten hin und her durch den offenen Hafensee. Langsam und würdig kam ein Ruhrorter Schleppzug, ein aus allen Fugen Dampf zischender Schlepper und drei tiefgehende gedeckte Kohlenkähne, die mit nur wenig durchsackenden schweren Stahlseilen angehängt waren, das Loch herauf, und des Schleppschiffs Würde schien auszudrücken: drei Meter Steigung auf den einen Kilometer von Aßmannshausen bis hier, mit dieser Last – hat nichts zu sagen. Aber für die Talfahrt ordneten sich im See eilig leere Züge, die hochaufragenden Leichterkähne wurden zu zweien zusammengekoppelt. Viel Lärm von Schiffen auf dem Wasser, von Ladekähnen auf den Kais, von Aufzügen in den Stapelhäusern und vom Rollfuhrwerk auf den gepflasterten Uferstraßen; aber es pausten einmal im selben Augenblicke alle Lärmerzeuger – da fiel vom Himmel die Stille herab, und vom Rüdesheimer Berg herüber hörte Christian Willys Stimme, der den an Ehrenfels vorbei Heimschreitenden voranlief und die Krähen anbellte, die er streunend im Getrümmer aufgescheucht hatte.
Christian fand Bingen einförmig aussehend, ein wenig wie Kolonistenstädte im Osten sind, es war auch so plötzlich und auf einmal wie diese erbaut worden, wiedererbaut aus der Asche, nachdem die Franzosen davongezogen waren. Er nahm die Mainzer Straße unter die Füße und wanderte über flache hellbödige und leicht sandige Hügel fort. Er sah über durchsonnte, auf rötlichen Sandflächen stehende Kieferforsten, über deren schütteres, auf nackten Holzsäulen ruhendes Dach von Nadelkronen hinweg überstrom Winkel, Schloß Vollrads, Markobrunn und Hattenheim mit spiegelnden Schiefern funkeln, sah das Johannisberger Schloß, Hallgarten, Kiedrich und Rauenthal auf halber Berghöhe hangen zwischen ihren Reben, die in der Nachmittagssonne kochten. Einen betörenden Duft von Pflanzenschweiß, gemischt aus Rebendunst und Harzgeruch der besonnten Kiefern, wälzte ein lauer Nordost über den Wanderer hin und lähmte seine Knie leicht und angenehm. Christian kam nach Ingelheim.
Alles beherrschend stand immer noch der Rüdesheimer Berg in der Welt, strahlend, funkelnd, duftend, glühend – wahrlich, es war zu glauben, was der Pfarrer Bellmann erzählt hatte, daß Karl der Große von Säulengängen und Halbrundhöfen seiner Ingelheimer Pfalz aus den Ecksteinberg da drüben an der Wassergasse der Landschaft in der Sommersonne hatte leuchten, auf ihm zuerst schon zu Fastnacht den Schnee hatte schmelzen sehen und beschlossen hatte: den Berg soll man vom Niederwald roden und mit Traminer Reben bepflanzen, damit die Nachkommen des edelsten Weines genießen! Aber die Pfalz und den Ort hatten die Franzosen zerstört.
Allmählich verschwand über Christians linker Schulter die leuchtende Landschaft, und links blieb auch, im östlichen Dunst, gemischt aus Schönwettertagsrauch und Flußfeuchte, Mainz, das Deutschen Reiches alte Zeiten das goldene genannt hatten und dessen Namen auch die Franzosen bis auf den heutigen Tag vor allen Namen deutscher Städte zärtlich als den ihres Tores nach Deutschland hinein aussprachen, wenn sie Mayence sagten. Der helle Staub des leichten Bodens umwölkte die Schuhe des Wanderers, der da durch offene Gelände schritt, wo Stachelbeeren und auch Getreide unter den Obstbäumen reiften. Weiße Tücher um den Kopf kamen Mädchen daher, blau gekleidet, und langsam Huf für Huf und Bein um Bein schoben sich Ochsen vor Pflügen durchs hellbraune Gekrüme. Christian nächtigte wieder am Rhein, in Nierstein, er war quer über das Mainzer Flußknie gewandert. Der andere Morgen fand ihn schon früh auf der Landstraße, er war nach Süden unterwegs in die Pfalz. Zufußreisen war einem Rußländer ein ungemäßes Reisen, in Rußland fuhr man auch innerhalb einer Kolonie, wenn man nur am Dorfende zu tun hatte, und die Kinder aus den randlich gelegenen Häusern kamen zur Schule in der Koloniemitte geritten. Aber in Deutschland zufußreisen, das war doch nur im Garten spazierengehen oder dem Wolgahochborde entlang bummeln. Kaum war man eine halbe Stunde unterwegs, da lag in dieser Hessen- und Pfalzlandschaft schon wieder ein Dorf vor einem, alle Stunden konnte man sicher sein, einen Markt anzutreffen, und zweimal am Tage lief man vor einer Stadt auf. Fahren in Deutschland – nein, man wäre ja nicht zur Besinnung gekommen vor Höfen, Weilern, Flecken, Dörfern, Märkten, Städtchen und Städten! Und kein Ort glich dem andern, es müßte denn sein, daß sie reihenweise heruntergebrannt worden, Städte, Märkte, Dörfer, Flecken, Weiler, und daß sie reihenweise und gleichzeitig, behelfsmäßig und flüchtig-nüchtern wieder erstanden wären.
So erhob sich da vor dem Fremden, ein Traum von Stein und Kunst, aus einer grauen Stadt, die kolonistisch-eintönig wie Bingen war und gleich diesem aus der Asche als ein Ganzes auf einmal wiedererbaut worden war, aus Oppenheim der rote Katharinendom. In den Weinbergen stand er, ein rotes Kap im grünen Rebenblättermeere. Dem Hohen Chore klebten graue Holzgerüste an. Christians Ohren hörten Stahlmeißel im Sandstein graben, noch heute nach zweihundertzweiundzwanzig Jahren besserte man hinter Bretterverschlägen an den Schäden von einst.
O glücklicher Mensch! Gibt es Schöneres als die Wanderzeit, die Bildungsfahrt, da du, erst Lehrling, noch berufslos und aufgabenfrei durchs Land ziehen darfst, durch Vaterland und Fremde, und noch ohne Ziel und ledig aller Verantwortung zu sammeln hast, nur zu sammeln brauchst und noch nichts abgeben mußt – aber die jungen Burschen suchen diesen glücklichen Zustand sobald wie möglich zu verlieren durch Erreichen von Amt und Würde, wie die Mädchen die schöne Unschuld und das unbeschwerte Magdtum schleunigst für wissendes Frauentum und pflichtenvolle Mutterschaft eintauschen. Nein, nein – er hatte Zeit, hatte Zeit, asiatisch viel Zeit!
Wo war es schöner in der ganzen Welt, in der ganzen Welt, als im Totengarten des einsam gelegenen Katharinendoms in warmer Frühlingszeit, wenn die Steinkörner in der durchsonnten roten Wand mit Aufblitzen dem Gange des lieben Tagessternes folgten, dort zu sitzen und ein Buch auf den Knien zu halten, ein Buch Pfalzgeschichte? … Ein kindliches Mädchen mit zwei langen in die Armhöhlen abgeschobenen Zöpfen und mit Wangen so rosig und flaumig wie Pfirsiche auf ihrer Sonnenseite, des Gartenpförtners Tochter, brachte, es war vereinbart, stumm, ein bißchen knicksend und stark sich überflammend, Brot und Milch zur Mittagszeit … Smaragdene Eidechsen überhuschten die rote Mauer, jetzt beweglich wie mit einem Stückchen Blitz im Leibe ausgestattet, jetzt starr wie in grüner Bronze gegossen (nur die Halsflanken atmeten) lange am Steine klebend und die Sonne genießend, jetzt, bei einem zu lauten Atemzug des Betrachters, fortgezuckt in eine Bauspalte …
... Man schlief ein … man erwachte wieder … man las und las und schlief wieder ein … spürte sich durchsonnt bis in Ader und Gedärm … und der Blutgang klopfte so gleichmäßig und gesund, als hätte nicht nur die Brust, als hätte jedes Glied, als hätten Finger und Zehen jeder und jede ein eigenes, frisches erneuertes Blut heranspülendes Herzchen.
Da erlebte der Fremdling aus kunstleerer Koloniewelt zum ersten Male eine architektonische Mauer: die Kirchensüdwand, die Flanke des Steinschreins von Heilig-Katharina, aufgelöst in zuverlässiges Trag-, vertrauensvolles Hange- und hingespieltes Füllwerk; roter Sandstein war aufgewellt und hochgegischtet über die vernünftigen Waagerechten der Gesimse hinaus und in Ziergiebeln und Türmchen sinnreich erstarrt; noch der Schuß und Schaum zeigten sich kunstvoll erhärtet in Steinstabgebastel, Maßwerk und Krabben aus Tier- und Pflanzenleibgebilden; und toter Fels stand da als lebendiger und geistreicher Stein und sprach von seiner Schönheit jahrhundertelang …
Das Katharinen-Radfenster, das westliche, und das Rosen-Stabstrahlenfenster, das östliche der vier unteren Lichttore des Rotstein- und Buntglasgehäuses – Schönheit mochte man nicht begreifen, die in schwerem Stein und splittrigem Glas sich verspielende Unnützlichkeit und sinnreichste Zwecklosigkeit, man sollte nur von Zeit zu Zeit von der beredten Seite des geschichtevollen Bandes aufschauen und dem großartigen stummen Steinwerk entgegenstaunen …
Vielleicht saß man hier, grade hier, über den Aposteln: Als die Franzosen sich näherten, hatte man vor der Raubwut der Soldaten die zwölf Bilder der Jünger, die, in reinem Silber, auf halber Höhe an den Pfeilern von Chor und Kirche gestanden hatten, herabgenommen und in der Nähe des Bauwerkes vergraben. Die Franzosen blieben lange, die Totengräber starben, die städtischen Behörden lösten sich ab, die Feinde gingen und kamen bald und wiederholt zurück und gingen wieder – niemand kannte mehr den Bergeort der zwölf Silbernen, sie liegen noch immer vergraben. Sie sind mißtrauisch, dachte Christian, mißtrauisch wie ein Wolgabauer, die silbernen Heilandsjünger, sie lassen sich nicht finden. Denn werden die Franzosen nie wieder nach Oppenheim kommen? fragen sie sich. Und der Fremde klappte das Buch Geschichte zu und stand auf, die Sonne war gegangen und es war eine Weste kühler geworden. Das Pförtnerstöchterchen trug den weidengeflochtenen Stuhl fort, erhielt ein Geschenk, und der Reisende wanderte weiter am andern Tage.
Er wanderte durch rotes Land an Löwenzahnwiesen entlang und unter blühenden Kirsch- und Pflaumenbäumen, die die Landstraße besäumten, hin; Hauswände von Rotstein standen am Weg und steinerne Bildstöcke an den Kreuzungen – der Wanderer dachte an die östlichen Länder, die mit ihrem wenigen Volk schwer zu durchmenschen waren.
Bauern brachen mit Pferden den rötlichen Acker um – dunkelrot und mit speckig blinkenden Schollen lagen die frischgepflügten Felder da, die seit längerem schon umgetanen aber waren angebleicht und schienen im Rot verblaßt. Die Felderbahnen traten rechtwinklig an den Landweg, an der Straße angekommen stießen die Rosse am berasten Wegrand auf und weideten schnell ein bißchen am Grase. Frisch und angenehm ging ein Wind, Wind der Wanderer.
Das gab es auch an der Wolga zu sehen, wenn der Kolonist Sommer seinen ungeheuren Landlappen pflügte, einen Strich vormittags hin-, einen nachmittags herzog; aber dieser Raum war enger, das Feld kleiner, die Bahn schmäler, der Bauer da würde wohl in einem Tage mit dem Pflügen auf seinem Felde fertig werden. Das gab es an der Wolga, und doch wie anders! Aber er begann schon alles wie es hier war als bekannt und regelrecht anzusehen, man kann nicht immer erstaunt sein …
Rasch, selbst für einen Fußwanderer rasch, folgten die Ortschaften aufeinander. Zum Brote, gestrichen im einen Orte, das er gehend aß, konnte er im andern das Glas Milch trinken – an der Wolga wurden von Dorf zu Dorf die Rosse durstig. So folgten sich Alsheim, Bechtheim, Herrnsheim und Pfeddersheim mit blutroten, von unzähligen Soldatenstiefeln der Fremdvölker ausgetretenen Steinstufen, die zu den Wirtshäusern hinaufgingen, und einförmig nach demselben Muster wiederaufgebauten Kirchen, denn deren Vorwesen hatten die Franzosen durch Feuer zerstört.
Und nun lag Worms da, alt und schwarzrot inmitten der Dom, soweit der Sandstein nicht das neue naseweise Rot der Wiederherstellung zeigte, und die Stadt grau, eintönig, jung und auf einen Schlag aus Aschen aufgebaut. Und er staunte über die Tatenlust des französischen Königs.
Dann an den bunten Bergen ein Rosenkranz von leuchtenden Städtchen: Freinsheim und Dürkheim, Wachenheim und Forst, Deidesheim und Königsbach, alle umrahmt von berühmten Reben. Und von den Franzosen zerstört und von den Pfälzern wieder aufgebaut.
Jetzt trat aus Mittagsglast, Stromfeuchte und Rebendunst Speyer heraus, des Wanderers Ziel.
Christian nahm Wohnung im »Gasthaus zum Naturalisten«. Er fühlte sich schnell zuhause unter braunhaarigen und braunäugigen Leuten, welche die deutsche Sprache so sprachen, wie sie an der Wolga gesprochen wurde; er meinte bald Reinhard und Rohleder durch Speyers Breite Straße daherkommen zu sehen, so wie sie über die Dorfstraße daheim schritten; er glaubte einmal, unter dem Durchgang des Altpörtels Alexandra stehen zu finden und wollte sie schon anrufen; unterrichtete Männer halfen freundlich ihm, dem Ungelehrten, bei seinen Forschungen und beim Lesen der Urkunden, wie die Nachbarn an der Wolga ihrem Schulmeister beigesprungen waren, wenn er mit der Ernte der Arbusen und Sonnenblumen zurückgeblieben war.
*
Ein Jahr verlebte Christian Heinsberg in Speyer. Aber allmählich erhob sich eine neue Unruhe in ihm, als mahnte sie ihn daran, daß er ein Wanderer sei, dem allzu langes Verweilen nicht gegönnt werde.
Zwei Wanderziele waren in der Vorväterzeit am Blickkreis emporgetaucht und hatten Menschen gelockt, ein westliches und ein östliches, Pennsylvanien hieß das eine und das andere Wolgaland. Warum hatten die einen sich für dieses, die anderen für jenes entschieden? War die letzte Entscheidung im Herzen vielleicht gefallen, je nachdem es nicht gleichgültig ist, ob einer der Sonne nach- oder ihr entgegenwandert? Christians Ahnenschaft und also der vorauflebende Teil seiner eigenen Wesenheit hatte die östliche, die Sonne am Morgen unterlaufende Richtung gewählt.
Östlich über den Dünsten der Rheinebene vor dem dunkeln Odenwald hing Heidelberg am Berge Königstuhl. Heidelberg, das war der andere Teil der Pfalz, das war sogar ihr Herz – Dom von Speyer und Heidelberger Schloß waren Schicksalsgeschwister im Elternlande Pfalz. Christian Heinsberg verließ Speyer durch das Fischtor, schritt hinab in die Rheinau und betrat, froh wieder einmal neuen Grund unter den Füßen und ein Ziel vor den Augen zu haben, die Schiffbrücke. Wie die Holzbohlen von Fuhrwerk und vielem Verkehr in den Weichteilen zerfasert waren! Die harten Astknoten standen unverbraucht hervor. Die Bretter lagen locker auf dem Brückenrahmen und klapperten unter dem Schritt. Auch das Eisenblech der Kähne, auf denen die Brücke ruhte, klang, und wider die Kahnwände schwappte das strömende Wasser und machte sie dröhnen – unter solcher Musik zog ein Bursch hinaus.
Sogleich nahm ihn eine andere Landschaft auf. Hier war es grünschattig von Schwarzerlen, silberdämmerig von Weiden, und lange Reihen zahlloser Besenpappeln verstellten den Augen den Ausblick. Ein Nachtsturm hatte die Bäume gezaust, am Boden lagen junge Blätter und tausend frühlingsnasse Zweiglein, die aus den Bruchstellen nach weißem Pappelblut und nach Kraft und jungem Jahr herb und fast betäubend dufteten. Christian schritt die Krone eines Dammes entlang, der den pendelnden Strom in einiger Entfernung aufmerksam begleitete. Sehr besinnlich schritt er seinen Pfad auf dem gepflegten Deich dahin. Mit weiten Augen nahm er die neue Welt auf – aber er schloß auch wohl die Augen, solange blindes Gehen auf schmaler Bahn gestattet war. Dann sah er innen wieder die alte Wolgawelt. »Mutter« nannten die Russen die Wolga, sie war eifrig, ungeheure Mengen von Fischen, von Riesenstören, Welsen, Neunaugen, Plötzen und Balugen hervorzubringen und vielen armen Völkern und Stämmen, welcher Sprache auch immer, Kalmücken, Kirgisen, Russen, Kosaken, Tataren, Mordwinen, Wolgafinnen, Baschkiren und Deutschen, Nahrung, Fettwärme und Lampenlicht im Schneewinter zu gewähren. Und lang war sie, wie drei aneinandergelegte Rheine! Und sie zog bescheiden ihres weiten Weges in fremden Landen, ein Bergufer neben sich hoch und steil, und ein flaches seichtes, kaum anhebendes Wiesenufer, das zu fliehen und sich gar nicht die Mühe geben zu wollen schien, Ufer zu sein. Und so auf tausend Meilen. Während das Land in jährlich langen Dürrezeiten an ihren Borden dürstete, trocknete und platzte, mußte Wolga ohnmächtig in ihrer Wasserpracht vorüberziehen und konnte kaum helfen. Ach, sie war inmitten ihrer Steppen nicht viel besser daran als ihre Brüder-Wüstenflüsse, die Tarim, die Amu und Syr, deren Namen man gleich mit dem Worte Darja, Fluß, verband, damit niemand auf den Gedanken kommen könnte, daß sie vielleicht keine Flüsse seien. Es war eine Leistung, wenn die drei im Trockensommer ihr Wasser bis in den Zielsee und das Meer brachten. Dieser Rhein aber schien überhaupt nicht um das Wesentliche der Ströme, um Wasser, in Sorge sein zu müssen, ohne Zahl waren die Flüsse, die Bäche, Gerinne und Quellen, die ihm allenthalben zufielen. Da waren die Wiesen feucht, die Moore naß, die Altwasser voll.
Vom Damme aus überblickte Christian die Ebene. Ach, die Altwasser! Darin lag der Rhein still, sozusagen rücklings, und trug angesteckt gleichsam auf seiner Brust all das blühende Gekräute, die gelben und weißen Wasserrosen, den Knöterich und das Venushaar, das was Wasserruhe zum Gedeihen braucht. Er mochte es still-befriedigt betrachten und schien bemüht, es nicht durch heftige Bewegung zu vergrämen, wie einer, der in der Wiese schlief und erwachend einen Schmetterling auf seiner Brust ruhen sieht, den Atem anhält, um den leichten Gast der Luft nicht zu verscheuchen. Also von seinen zwei Heimatflüssen träumend stand Christian unversehens vor Schwetzingen.
Es war Sonntagmorgen. Niemand war auf Straße und Platz zu sehen. Christian betrat ein wenig verwundert die Stadt. Niemals ist ein christlicher Ort so leer wie zur Stunde des Hauptgottesdienstes. Christian sah sein Dorf Bellmann an der Wolga am Sonntagmorgen nie tot, denn zu der Zeit nahm er am Gottesdienst teil oder, wenn der Pfarrer aus dem Dorfe Holstein nicht herübergekommen war, leitete er sogar den Dienst. Jetzt trat er nur aus Neugierde, wie man wandernd in Städten und Dörfern tut, um einen Bau kennenzulernen, in die Kirche.
Wie den Deckel von dem Inhalt eines hochgefüllten Topfes, so hob er die Tür von der Menschenmasse ab. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich zwischen den Männerrücken und der Tür noch einzuquetschen; aber nun schloß die Tür nicht mehr ganz, ein entstehender Luftzug bewegte vor ihm ein paar lange Haare auf einem kahlen alten Kopfe, der die Verzahnungen der Schädelknochen zeigte.
Christian konnte vor lauter Männerrücken und -köpfen den Prediger auf der Kanzel nicht sehen, aber er hörte ihn sagen: »Ihr seid, Landsleute und Christen, an einem rechten Tage in dieses Gotteshaus gekommen. Denn heute vor zweihundertzweiundzwanzig Jahren geschah es, daß dieses Hauses Vorwesen nur ein paar Monate nach seiner Errichtung und Einweihung bis auf den Grund vernichtet wurde. Auf zehn Uhr am Sonntagmorgen, grade auf die Stunde des Gottesdienstes, war der Beginn der Zerstörungsarbeiten angesetzt worden. Aber der Pfarrer Kaspar Gumbart, in dessen Hause der französische Leutnant wohnte, hatte den Offizier vermocht, nicht vor ein Uhr mittags mit den Arbeiten beginnen zu lassen, damit die Bewohner Schwetzingens ihrem Gotteshause einen ungestörten Abschiedsbesuch machen könnten.
Schleichend, wie Leute gehen, die ins Elend verschickt werden, kamen die Schwetzinger zur Kirche. Noch blank war alles Metall in dem Gotteshause vor Neuheit, noch weiß waren die Wände, und sie rochen noch, nicht ganz ausgetrocknet, nach Kalk. Aber kaum hatte der Pfarrer die Kanzel betreten und die ersten Worte hervorgebracht – da, mit dem Tönen der Rede, tönte es dumpf aus den Mauern der Kirche. Der Leutnant hatte die Abrede nicht gehalten oder sie verschlafen, man war draußen dabei, ins Mauerwerk der Gründung die Löcher für die Sprengung zu schlagen. ›Dieses schöne Gebäude, meine Zuhörer‹, ging Gumbarts Predigt, ›das ihr noch mit euren Augen seht und in dem ihr jetzt noch steht, wird in wenigen Stunden durch die Gewalt des Pulvers über einen Haufen geworfen sein. Sagt ihm also: Vale!‹ Da erstickte seine Stimme, die Gemeinde schluchzte laut, während es dumpf im Boden hallte von Hämmern und Pochen. ›O Gott, errette uns aus unserm Elend!‹ rief die Gemeinde. – ›Gott gab diesem Lande, der schönen Pfalz‹, rief der Pfarrer Gumbart, ›vom Tau des Himmels und von der Fettigkeit der Erde und Korns und Weines die Fülle; aber der Feind über unseren Grenzen vergönnt uns nicht Gottes Gabe und unseres Eigenen Besitz, und unsere Freunde hinter unserem Rücken beeilen sich nicht, uns zu helfen.‹ In dem Augenblicke riß ein Soldat die Kirchentür auf und rief schallend ins Gewölbe:› Finissez!‹ ›So muß ich Abschied von diesem lieben Gebäude nehmen und von euch, wie ihr von ihm und mir.‹ › Finissez! Finissez!!‹ Die Soldaten fingen an, das Gestühle von den Wänden ab- und die Stücke zueinanderzurücken. Die Gemeinde drängte sich eng zusammen um die Kanzel. Der Prediger beugte sich tief über ihre Brüstung herüber, die Frauen schrien auf, die Kinder starrten entsetzt nach den wilden Männern in Eisenhüten und roten Lederwämsern, die Männer murrten finster, und ihre Zähne krachten …. › Valete, valete!!‹ rief Gumbart. ›Wir müssen scheiden von hier, wo wir gerne noch gewesen wären –.‹ ›Hört auf mit Eurem Geschwätz‹, rief ein Soldat auf deutsch, ›und kommt herab, gleich werfen wir die Kanzel um!‹ › Valete ihr, wir müssen scheiden voneinander, die wir gerne noch beieinander geblieben wären –.‹ Die Soldaten waren dabei, die Stühle zu Haufen aufeinanderzustellen, wie der Kellner in der Schenke gegen Morgen es tut, mehr als nötig ist lärmend, damit die säumigen Gäste endlich merken, was die Stunde geschlagen hat. An den Pfeifen der Orgel, die, jede in ihrem Ton, davon klangen, klopften die Hämmer, denn der Orgel war schon ein Platz in Straßburg bestimmt. – ›Gott weiß, wann wir uns wiedersehen, ob und wo … Ihr werdet euch zerstreuen. Ihr geht zu euren Leuten im Reich. Ihr wandert vielleicht auch aus in die Fremde, nach Preußen oder Amerika, denn der Feind duldet uns ja nicht in unserem eigenen Lande. Wer weiß also …‹ Aber jetzt hatten die Soldaten auch die Kanzel gefaßt und warfen sie um (kaum konnte Gumbart noch abspringen), warfen sie um und schleppten sie zu dem Haufen der Stühle, denn es galt ein ordentliches Feuer zu machen. Da standen noch zwei Hebammen mit Kindern, die getauft werden sollten, Gumbart wandte sich an die Soldaten mit der Bitte um wenige Minuten … umsonst! › Finissez!!‹ Während die Gemeinde klagend, seufzend, schluchzend, fluchend ab- und hinausströmte, während die Soldaten, nun völlig Herr der Kirche, tobend in ihr das letzte Holzwerk auf den Scheiterhaufen warfen und dumpfe Schläge der Sprengsoldaten (denn sie waren in die tiefste Gründung gekommen) zu hören waren und das ganze Gebäude bebte, dröhnte, tönte und aufzustöhnen schien, taufte der Pfarrer in allergrößter Eile im Hinausgehen rechts und links je ein Kind, im Hinausgehen, im Hinauslaufen, unter der Tür, mit zwei Worten, mit einem Kreuzzeichen …«
Tief erschüttert trat Christian Heinsberg als der erste der Hörer auf den menschenleeren sonnenweißen Platz hinaus. Ein Hund, der gekommen war, seinen Herrn an der Kirche abzuholen, sprang Christian freundlich an, ließ aber sogleich fast gekränkt von ihm. Christian aber duldete es nicht länger in der Stadt. Er setzte Fuß und Stab gen Heidelberg.
Da lagen in der Landschaft die Orte Ketsch und Hockenheim – er wußte, daß sie Speyers Feuertod mit dem ihrigen begleitet hatten. Und es entzündete sich rings im Lande für des Wandernden Geist noch einmal, was sich damals mit Speyer und Worms entzündet hatte, und er sah es brennen, brennen, überall, überall, einen Feuerwall sah er sich erheben und mit nach Osten ziehen, nach Osten sich wälzen: hinter ihm in Deidesheim, Wachenheim, Dürkheim, Grünstadt, Frankenthal, rechts von ihm in Rheinhausen, Bruchsal und Heidelsheim, links in Dörfern wie Seckenheim, Wallstatt, Käferthal, Heddesheim und in gerader Richtung vor ihm in Handschuhsheim. Es war ihm plötzlich, als schritte er dahin in einem Heere von Flammen, in einem Schwalch von Feuer, in einer Wolke von Rauch. Er brannte selbst, er rauchte auch, er schnob in Glut. Eine Feuerfront wälzte sich daher vor dem Westwind dieser Länder, von Frankreich fort, nach Deutschland hinein, und er wälzte sich darin mit fort. Lang, kilometerlang, werstlang, meilenlang, Hunderte von Meilen lang marschierten im Gliede die Flammen rechts bis gegen die Schweiz hin: in Durlach und Rastatt sich erhebend, in Baden-Baden gen Himmel leckend, in Oberkirch und Offenburg erscheinend; und links im Norden begleitete ihn die bis nach Holland reichende Linie: Feuer erhob sich aus vielen Orten, die nicht aufzuzählen sind, rittlings zum Rhein in Hessen und Pfalz; aus der Rheinschlucht abwärts bis Köln; aus Koblenz, Mayen, Ahrweiler, Bitburg an der Mosel, Heisterbach, Königswinter, Honnef und Sinzig am Mittelrhein; Metternich, Endenich, Münstereifel, Daun und Prüm in der Eifel, Malmedy, Düren, Eschweiler bei Aachen! Alle, alle die Orte, er wußte es, hatten gebrannt! Linnich bei Jülich brennt – Feuer im Land! Feuer im Land! Aber schon ist das Feuer ihm vorauf und von ihm weggesprungen, auf den Odenwald hinüber, in den Schwarzwald hinein. Es brennt jetzt auch drüben hinter dem Gebirge, im alten Deutschland, in Franken und Schwaben, in Bretten und Pforzheim, in Knittlingen, in Maulbronn, um Rothenburg ob der Tauber und am Neckar – Feuer im Land! … Ha, da brennen endlich die Rheinburgen zu Getrümmer nieder, damit der Rhein werde zur malerischen Straße der Welt, die Stahleck, Heimburg, Falkenburg, Schönburg, Ehrenfels und Rheinstein – Feuer im Land! Überall Feuer! Allerorten Fackeln aus Stein, Fackeltürme, Turmfackeln vor dem Himmel. Es war eine schauervoll großartige Pfingstwoche damals …
Und als dann die rote Feuerwelle zusammengefallen war und die schwarze Rauchwolke sich davongemacht hatte, da stand eine Welle von bleichen Menschen im Lande auf, und dicke weiße Staubwolken rauchten von den Straßen, denn die Auswanderer in fremde Welten waren auf den Wegen. Aus Worms zogen die Textor nach Frankfurt, die Herren Wißmann und Soldau nach Kölln an der Spree, Oppenheimer Juden nach Amsterdam, der Schuster Werling und andere Gewerbetreibende nach Hanau. Aus der Außengasse von Worms macht sich der Schmied Johann Peter Rockefeller auf nach Neujersey über dem Hudson, Neuyork gegenüber, und aus Waldorf Astor mit Familie, Waldorf bei Heidelberg. Der Zimmermann Kummer und der Haarschneider Fröhlich wohnen einander gegenüber am Oppenheimer Tor. Kummer, dessen Werkstatt herabgebrannt ist, will wieder wie ein Handwerksbursche wandern, aber Fröhlich beredet ihn, wenn man schon wandern wolle, gleich auszuwandern. Und da sie ein unzertrennliches Freundespaar sind, so wandern sie mitsammen aus, und Christian, der Lehrer russischer Geschichte, kennt russische Offiziere mit Namen Kummer und Fröhlich, die sich in Turkestan für den russischen Adler mit Ruhm bedeckt haben. Aber aus anderen Orten mit Feuerschicksalen wandern ins Reich und wandern auch aus Deutschland fort die Rothermel, Rohleder und Reinhard, die Balzer, Grimm und Frank – Heinsberg weiß Dörfer an der Wolga zu bezeichnen, welche solche Namen tragen. Wandert fort, wandert weg, wandert aus! Denn das Land am Rhein soll werden wie Turkestan, leer und tot! Wandert fort, wandert aus! … Ein Jahrhundert lang, wußte jetzt Christian, taten das die rheinischen Menschen, durch die kleinen und großen politischen Schrecken aus ihren Häusern und Höfen, aus Weinberg und Feldmark gedrückt. Sie pochten an die Türen in der englischen Welt. Gebt uns Land, gebt uns Raum, gebt uns einen Acker oder Weinberg, wir sind fleißige Leute und wollen euch dienen, nur Ruhe müssen wir haben vor Bedrängern! Und die Barone gaben ihnen Land und Sand auf ihren leeren Gütern in England, und die Regierung schickte sie zum Zuckerpflanzen nach der Insel Jamaika. Gebt uns gesichertes Land, gebt uns ruhigen Raum! Als aber zweihundert Familien in zwei Schiffen vor den Scillyinseln bei Cornwall erschienen, von der englischen Regierung, die mit den Landlosen nicht mehr ein noch aus wußte, geschickt, da sperrten die Inselbewohner den Strand, sie selbst hatten kaum genügend Fische. Gebt uns Land, gebt uns Raum zur Arbeit, überall wo ihr mögt in der Welt, nur fern von den Franzosen! Und die Regierungen an der Spree und an der Donau, am Sund der Ostsee und im hohen Schloß über dem Flüßchen Manzanares in Spanien hörten den Ruf: die Preußen siedelten die Landlosen an zwischen ihren Polen, Kassuben und Masuren, der Kaiser im eroberten Ungarn, der dänische König besetzte mit dreihundert Familien die leere Ahlheide in Jütland, und der siebente spanische Karl gründete am Guadalquivir Kolonien mit Menschen vom Rhein. Wie eine Austernbank im Meere war das Land des Rheines – wer Menschen brauchte, kam sie fischen …