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Zweiter Teil

Was für ein Begrüßen war das! So begrüßen sich alte Freunde, mit einem wackern langen vollen Händedruck und gehemmter halber Umarmung, bei der Wiedersehensfeier rückt man in der Freiheit der Liebesbezeugung um Grade auf einmal vor. Wieder wie damals, als er von unten heraufgestiegen war, warf Christian jetzt, da er herabgekommen, seinen Ranzen auf den Tisch im Freien und rief: »Wirtschaft!« Aber die »Wirtschaft« war schon da. Gertrud sagte in künstlicher und gemachter Förmlichkeit lachend: »Welchen Wein wünscht der Herr Wanderer zu trinken? Wein mit Mineralwasser? Aus ›Mineralwasser‹, da der Herr ja von so weit her kommt?« – »Ach was, Gertrud, Fräulein Gertrud, ich freu' mich ja närrisch, daß ich wieder da bin und daß ich Sie wiederseh', schön, jung und gesund; und was meine Prahlerei von damals angeht, für die ich mich noch über ein Jahr weg schäme, so hätten Sie die mittlerweile vergessen dürfen.« – »Im Gegenteil, im Gegenteil, bei den halben Heiligen behält man mit Fleiß die kleinen Fehler, die sie doch noch zu haben, und die läßlichen Sünden, die sie schließlich zu begehen geruhen …« – »Ach, nun beschämen Sie mich erst recht, ich gehe in den Wald zurück und werde ein wilder Mann und grauslicher Sünder, Schurke und Landschad …« – »Aber vorher, Herr Landschad, erkaufen wir uns Ihre Gnade durch eine freiwillige Spende. Was belieben Eure landschädlichen Ungnaden zu fordern? Schlagen Sie auf den Tisch …« – »Ach, Wein, Gertrud, Sie wissen selbst am besten, was jemandem gut ist, der nichts gewohnt ist: ein wenig bescheidener Wein und viel gutes Wasser, Wasser vom Quell. Wir sind noch weit vom Abend, und wenn ich an das denke, was uns sicher Vater Kädrich heute abend vorsetzen wird – aber wo ist denn der Vater?« – »Er ist im Keller. Beim Zapfen. Dort darf ihn niemand stören.«

»Doch! Der gute Freund, der Herr Rußländer darf es«, rief Vater Kädrich, aus dem Keller über eine kurze Treppe am Fuße der südlichen Mauer, in die Gertruds Zimmer oben mündete, heraufkrabbelnd. »Famos, daß Sie wieder da sind! Ich hoffe, ich werde in Ihnen eine Hilfe finden gegen einen Kerl – den ich vergiften werde mit meinem schlecht'sten Wein …« – »Ich fürchte, so wie ich Sie kenne, Sie werden ihn mit Ihrem besten vergiften, Vater!« rief lachend Christian – aber Kädrich grollte weiter: »... werde ihn vergiften … auch ein Rußländer!« Und ging fürs erste fort und in den Keller zurück, etwas für den Nachmittagstrunk Geeignetes zu holen. Etwas Kleines, aber von der Art Kleines natürlich, das Vater Kädrich selbst trank.

Christian sah Gertrud fragend an. Sie antwortete dem Blick lachend: »Künstliche Erregung des Vaters! Die zwei passen gar nicht schlecht zueinander. Bin geradezu froh, daß Vater mal endlich jemand Gemäßes hat. Ich freilich kann den Menschen nicht ausstehen …« schloß sie leiser. »Da kommt übrigens Vater schon mit dem Wein. Und ich habe mich verschwatzt und Sie auf das Wasser warten lassen.«

Sie ging. Herr Kädrich setzte einen kleinen roten Aßmannshauser auf den Tisch. »So«, sagte er, »was zum Durstlöschen, beinahe für die Kälber.«

Da kam auch der Fremde aus dem Hause, er wohnte da. Die beiden Deutschrussen begrüßten sich, einander forschend und neugierig betrachtend, mit nur mäßigem Eifer. Bald erschien der Doktor, Christian mit heller Freude bewillkommnend und ihm so die Hand drückend, daß dieser einen Schmerz verbiß. Später kam auch der Pfarrer herauf. Der Lehrer, sagte er auf Christians Erkundigung hin, sei neulich jäh verstorben. Worauf man ein Weilchen stumm war.

Es war die Jahreszeit des Saftflusses der Reben. Die Winzer sagten, daß in diesen Wochen der Wein weine. Alle Arbeit in den Wingerten war getan, es war viermal gepflügt und einmal geeggt worden, man hatte gedüngt, man hatte das Unkraut gereutet, alles hatte sich wieder, wie jedes Jahr übrigens, auf den großen Fall eingerichtet. Es hätte mal wieder »ein ganz großes Jahr« kommen dürfen. Sanctus Vincentius, Herr der Reben und der Trauben, bitt für uns!

Das erfuhr der Draußengewesene und Zurückgekehrte vom Vater-Winzer, vom Pfarrer, der auch Pfarrer-Winzer war, und vom Doktor, von Gertrud, von Bruno und fast vom Hunde, denn was immer im Weinlande lebt, teilt des Weines Geschick. Ein großes Jahr für den Wein ist auch ein großes Jahr für die Menschen. Geht's uns gut, so sind wir gemeinhin besser, als wenn's uns schlecht geht; die Tugend ist mit dem Glück wenigstens um die Ecke herum vervettert.

Für heute – es war doch schon spät am Nachmittag gewesen, als Christian gekommen war – blieb es beim »Kälberwoi«, Kädrich drängte nichts auf, mitnichten, der andere »Russe« lobte den »Woi« sogar, worauf Kädrich ihn höhnisch ansah mit einem Blicke, der hieß: »Junge, da kannste aber noch was erlebe! Dir werd' ich's gebe!« Christian war von der Wanderung müde. Er brach auf. Die Nacht kam. Vor einem Stück kaltblauen Himmels saß auf einem großen nahen Rebstecken eine kleine Eule, der wie eine Puppe gewickelt erscheinende Vogel. Als Christian am Stecken vorüberging, begann es in ihren Augen zu leuchten. Die ersten Sterne funkelten auf.

Christian hatte sich vom Vater Kädrich Wohnung in Eibingen bei Rüdesheim geben lassen, obgleich er auch wohl im weitläufigen Hause an der Linde Platz gefunden hätte, in einem in Eibingen dem Wirte gehörenden Gute. Er glaubte, daß es der Freundschaft zuträglich sei, wenn die Beteiligten nicht zu nahe beieinander hausten und nicht immer miteinander seien. Der Doktor wohnte seit je drunten auf der andern Seite vom Berg in Aßmannshausen. Der aus dem Lande hinter dem Kaukasus eingetroffene Deutsche namens Weingard hatte sich kurzerhand, nach einem Blick auf die Tochter des Hauses in schneller Abmachung mit dem Vater und Wirt, im Lindenhaus eingemietet nach dem Grundsatze, daß Weltreisende geschwind im Entschlußfassen sein müssen.

*

 

Christian Heinsberg schlief sich ein paar Tage aus. Ausgeschlafensein gehörte für ihn zur Sittlichkeit. Nun war er mit reinem Gehirn heraufgekommen und hatte Gertrud Kädrich zum Vormittagsspaziergang abgeholt. Des Vormittags am Sonntag ist die Welt am schönsten.

Während sie dahergingen und Bruno sie umstrich, einem Schmetterling gleich, der Wanderer verfolgt, immer im Selbstgespräch mit sich murmelnd, bald hier einen Stein oder Vogel bewunderte, bald dort einen Baum oder ein Nest in Ordnung fand, sagte Christian, ihm mit den Augen in den Busch folgend: »Ein Junge wie mein Michel. Naturforscher wird er sicher werden.« – »Warum gleich so hoch?« spottete Gertrud. »Naturforscher, wenn einer Eier im Nest benennen kann, Prediger, wenn ein Junge mit vorgebundener Schürze gern im Faß steht, und vielleicht Offizier, wenn er leicht einen Schulhof in Reih und Glied stellt?«

»Gesunder und anständiger Wirklichkeitssinn, Fräulein Kädrich, ich danke Ihnen. Auch ich kann die kleine Büttenpredigt brauchen, wenn ich an meinen Sohn Michel denke, von dem ich immer meinen zu sollen glaubte, er müsse der Wolgadichter werden, den wir noch nicht haben.« – »Lassen Sie ihn Wolgaschiffer oder -fischer werden, und im übrigen überlassen Sie ihn sich selbst. Ich denke mir, es wird einer das ganz bestimmt, was er ist, aber mit Aufblasen kannst du ihm nur Leibweh machen. Bruno Naturforscher! Sie werden ein Beispiel haben. Bruno, komm mal her!« – »Was willst du?« – »Daß du herkommst!« – »Was soll ich?« – »Du wirst es sehen.«

»Nein!«

»Du wirst herkommen!«

»Nein, nun erst recht nicht!« rief Bruno aus der Rebenfeldgasse, wo er das lautlose, doch anscheinend höchst leidenschaftliche Tun und Treiben zweier Weinbergschnecken beobachtete.

Gertrud blieb stehen und wandte sich Bruno voll zu. »Wirst du kleiner Mann deine Schwester vor dem fremden Manne beschämen?« Da kam Bruno.

Gertrud legte ihm die Hand zufassend auf die Schulter, drehte ihn Christian zu und sagte: »Erzähl dem Onkel von der Wolga die Geschichte von deinem Bock.«

Bruno erwiderte mit der Würde und Festigkeit eines Forstergymnasiasten: » Errare humanum! Man darf sich schon mal irren, solange man noch lernen muß und wahrscheinlich noch darüber hinaus.« – »Gut gesagt, du darfst gehen, ich erzähle.« Bruno schlug sich ins Gebüsch.

»Als Bruno zehn Jahre alt war, bekam er zur Kirmeszeit zehn Mark, er durfte sich eine Ziege für sein Wägelchen kaufen. Selbständig, versteht sich; er zog durch den Wald zum Förster von Krummerrück. Der Förster machte damals grade einen Milchausschank für Ausflügler auf. Alsbald kam Bruno mit einem starken Tier herunter. Papa stürzte aus dem Haus heraus und rief: ›Was stinkt es hier? Bruno, Jong, du has jo en Bock gebraacht!‹«

»Haha! Was tat Bruno?«

»Er schämte sich. Er ging um den Bock herum und schaute ihn sich an. Dann führte er ihn nach dem Krummerrück hinauf. ›Meister Förster, de Geiß es e Bock.‹ – ›Meinswege mag es e Bock sin, wann e bloß Melch gett‹, antwortete der Förster, ›äwer der dein sieht net danach aus.‹ Bruno brachte das Tier herunter. Am andern Tage war Viehmarkt in Aulhausen. Er schwänzte die Schule, zog mit dem Bock auf den Stehplatz und wartete einen ausgelängten Tag. Am Abend, als wir ihn schon wollten ausschellen lassen, kam er und hatte kein Tier mehr, wohl aber fünfzehn Mark. Denn die falsche Ziege war ein guter Bock gewesen.« – »Haha! Ausgezeichnet!«

Sie näherten sich der schönen Aussicht, wohin alleweil ein Besucher und ein Gast von Haus, Hof und Gut – denn dem Lindenwirte gehörten hier Berg und Busch, Wein und Wald – zuerst geführt wurde.

Sie saßen auf der Aussichtskanzel. Stille lag im weiten Lande. Vater Kädrich war nach Aßmannshausen hinuntergegangen in die Messe. Er hatte mit dem Blicke Gertrud gefragt, ob sie mitgehe, und auf ihre Zurüstung gewartet – sie war nicht mitgegangen. Der Doktor war nicht heraufgekommen, er blieb gern am Sonntagmorgen unten, der Sonntag sei für einen Geistarbeiter, für den die Welt meist zu laut sei, der beste Arbeitstag, pflegte er zu sagen; werktags höre man den Lärm, sonntags die Stille. Der Kaukasier war auf der andern Seite hinuntergegangen, nach Rüdesheim, und war mit dem Zug nach Frankfurt zum Besuch einer protestantischen Kirche gefahren. Obgleich er ein Schlingel war, so schickte es sich doch für ihn, sonntags in eine Kirche zu gehen, und für einen Mann aus Asien waren sechzig Kilometer keine Entfernung. Er hatte den protestantischen Christian und selbst die katholische Gertrud vorwurfsvoll angeschaut. Doch dort am Rhein verantworteten die Leute gemächlich, was sie taten, sie lächelten, aber gaben Eiferern den guten Rat: Zerbrecht euch nicht unsern Kopf. Das hatte Bruno sogar seinem Vater zu verstehen gegeben, und der hatte ihn in Ruhe gelassen. Bruno war geblieben.

In der Nähe des Aussichtspunktes, der Rossel hieß, beschäftigte er sich mit dem Hunde. Der Knabe warf einen Stock, der Hund trug ihn herzu. Dann tat der Junge so, als würfe er, und der Hund rannte; aber bald gewahr, daß er geneckt wurde, blieb der Spitz am Platze, sprang laut atmend, aber steif wie ein aufgeblasener Sack am Orte, die Augen am Stocke, und schoß davon, wenn doch der Stab weggeflogen war. Er brachte ihn, aber er gab ihn nicht frei, selbst nicht für einen neuen Wurf, er ließ sich von Bruno am Holz in seinem Maul aufheben, so sehr war er überzeugt, daß es sein Holz sei, das er zwischen den Zähnen hatte. Und erst, als er merkte, daß das leicht das Ende des Spieles bedeuten könne, legte er den Knorren vor dem Burschen nieder, knurrte aber, als der Miene machte, danach zu greifen. Und zu alledem bellte Willy laut und begeistert.

Das Land lag geruhig da, der Himmel kuppelte sich darüber, die Burgen klebten rutschsicher an ihren Hängen, die Türme ferner Kirchen staken wie Nadeln im Kissen der Erde, ein paar Wolken hingen still im Raum. Sie gaben sich als in dieser Sonntagslandschaft zu Besuch gekommene Riesen aus weiter Welt, groß genug, selbst die Sonne für Zeiten zudecken zu können, aber auch ganz stoffbescheiden und voll Einsicht in ihr Wesen, nur Wolke zu sein. Unten aber zog der Rhein, zog unhörbar vom Gebirg zum Meer, das obere und das untere Reich aneinanderknüpfend, und noch von so kurzem Lauf, daß man sowohl Ausgang wie Ziel an jedem Punkte seines Weges empfand. Alles fügte sich zusammen, um diesen Ort groß zu machen.

Christian Heinsberg zeigte sich in den Weinbergen nach Art der Jugend an der Wolga russisch angezogen, mit weißer, hoch am Hals geschlossener riemengegürteter Bluse und in hohen Schaftstiefeln; Gertrud Kädrich trug ein leichtes buntes Kleid, das weiße Strümpfe und braune, fein beflaumte Unterarme sehen ließ. Ihre Schuhe hatten Schnallen wie die der Vorfahren in alter Zeit. Auf so geziertem Gehzeug waren die Leute einst aus diesem Lande nach Lübeck an die See gewandert, hatten sie in Peterhof am Meere auf die Kaiserin gewartet, waren sie an dem Orte an der Wolga angekommen, den sie alsdann Bellmann nannten. Vom Herzschlag wippte regelmäßig der Fuß Gertruds und der Schuh daran, sie saß, die Knie aufeinandergetürmt.

Sie sprachen nicht. Der Himmelsraum war voll eines geheimnisvollen Tönens, und die Erde horchte.

In Aßmannshausen stuckte die Glocke, stoßweis zog man sie. Denn in eben dem Augenblicke verwandelte dort in der Messe der Glaube Dingliches in Geistiges. Land und Welt sollten teilnehmen.

Alles tat es. Die Hähne stellten das Krähen ein. Die Wolken schienen stillzustehen. Im Rheine sah man kein Fließen. Man hörte keinen Wind. Bruno betrachtete seine Nägel. Der Hund hatte sich niedergetan. Gertrud Kädrich und Christian Heinsberg blickten über das Land hinaus.

Zur Glückseligkeit gehört Weite. Man stößt sich überall an Pfählen und Schranken. Hier steht ein fremdes Recht und dort ein allgemeines Gesetz, Verbote bedrängen die Lust.

Unten setzte das Wasser des Stroms seinen grünen Trennungsstrich unter das Landschaftsbild, das sich vor denen da oben entfaltete, als wollte er nach vorn hin begrenzen und abschneiden. Da lag tief drin die Klemenskapelle mit dem schönsten Friedhöfchen, auf dem ruhen zu dürfen zu vorzeitigem Sterben möchte verlocken können. Der Berg dahinter stieg auf, waldig und rot, und trug die Burgen Rheinstein und Falkenberg zur Höh'. Und darüber hinaus und vom Beschauer auf der Rossel fort verblaute hohes Land nach Westen, flach und flau gerundet, dunkel und altgelassen; aber auf den Rand der Welt sprangen Berge, spitz und vulkanisch keck. Und dahinter vertat sich die Erde in Weltdunst.

An der fernen Westlinie, unten am Himmel, hatten sich Wolken wie gebirgige ferne Länder aufgehoben. Sie blinkten so weiß und strahlten so hell, daß Christian von ihrem Schein Gertruds Nase einen Schatten auf ihre eine Wange werfen sah. Er lächelte, und sie frug ihn vergebens, warum.

Bruno widmete für Willys Ansprüche auf Aufmerksamkeit zuviel Zeit seinen Fingernägeln. Daher kam der Hund das Rundholztreppchen der Aussichtshütte herauf und legte einen Stein zum Spielen vor Christian nieder. Dabei hockte er sich zu Boden und wedelte mit der Schwanzquaste.

Christian nahm den Stein auf und schleuderte ihn zum Rhein hinunter. Der Stein, in einem Rebenfeld niedergekommen, ging über die Schrägen und Stufungen des Hanges hüpfend zu Tale. Willy stob, schlitterte, sprang, sich auch einmal überkugelnd, hinterher. Man verlor ihn aus dem Gesichte. »Wenn dem Hunde nur nichts unten auf den Bahngleisen geschieht«, sorgte sich Christian. – »Es kommt grade kein Zug«, sagte Gertrud. »Übrigens, geworfen wie David, und ohne Schleuder.« – »Ja, werfen können wir vom Bergufer der Wolga. Alle unsere Jungens üben es. Die Wiesenseiter nennen uns Bergseiter windige Gesellen und Prahlhänse, sie können aber zum Beispiel nicht so weit werfen.«

»Zum Beispiel«, wiederholte Gertrud unterstrichen, und ihre Nasenflügel spielten.

Da krachte es in den Reben, einige Stecken bewegten sich, Willy erschien aus dem Laube. Er war patschnaß und dreckig, es war klar, er hatte die Steinkugel aus dem Rhein heraufgeholt, er legte sie und sich selber vor Christians Stiefel nieder. Der Hund war ein stampfender Blasebalg, seine Zunge eine zitternde Flamme. Die zwei Menschen lobten mit bewegten Worten den kühnen Willy. Der aber sprang auf seine Pfoten, schüttelte sich mit geschlossenen Augen, daß ihm die Ohren an den Kopf klatschten und das Rheinwasser aus seinem Fell spritzte, nicht zum Vorteil von Christians blankgewichsten Wolgastiefelschäften und zum Schaden der weißen Strümpfe an Gertruds Beinen, die diese unter Lachen aufschreiend unter ihrem Kleiderrocke barg. O Willy! Aber der Hund, der da hochkeuchend lag, glaubte mit dem Holen des Steines eine sehr ernste Tat getan zu haben.

Jetzt klangen wieder die Glocken in Aßmannshausen, aber sie stuckten nicht mehr ernst und stießen die Töne nicht mehr langsam und feierlich hervor; fröhlich erklangen sie, denn der Pfarrer hatte soeben gesungen: Ite – das » Ite«, geht nach Haus, zu singen nahm freilich noch lange Zeit in Anspruch, so über Berg und Tal der Töne stieg der Sang; endlich aber kam auch er herunter und zum Ziele: » missa est!«, geht nach Haus, die Meß ist aus. Und die dienenden Chorknaben hatten sehr laut und deutlich und aus Herzensgrund, und mancher Meßbesucher leise mit ihnen, gesagt: » Deo gratias!«, Gott sei Dank! Denn die Rheinländer gehen gern in die Kirche hinein, noch lieber aber gehen sie hinaus. Und dann fingen die Glocken schallend und lustig durcheinander zu läuten an.

Sie läuteten in Aßmannshausen, sie läuteten jetzt auch rheinüber in Trechtlingshausen. In allen Rheinstädtchen, -dörfern, -winkeln und -weilern (wo hätten die frommen Leute am Rhein keine Kirche gehabt?) begann das herzliche Geläut, denn überall war das festliche lateinische lange Hochamt endlich zu Ende gegangen mit dem menschenfreundlichen Singspruch: Ite, missa est!

Das Läuten endete nicht bald. Man gab den Buben die Glocken frei, sie hängten sich an die Seile und rissen daran, sodaß mancher Tragknopf absprang und zwischen Hose und Weste das Sonntagshemd sichtbar wurde. Und die kleineren Buben wurden von Gewicht und schwingender Wucht der Glocken mitgenommen und fuhren wohl bis gegen die Holzdecke des Läuteraums hoch, durch deren befranste und berillte Löcher die Seile aus- und einglitten. Wunderbar sang das Glockengut, die harte Bronze, vom Erzklöppel am Rande geschlagen, sang in reichen Stühlen, wo Glockensätze, auf Tonarten abgestimmt, hingen, und alle Geläute zusammen machten eine großartige rheinische Landschaftsmusik. Dunkel tönte Sankt Martin in Mainz, denn selbst der strenge Herr Erzbischof hatte das Ite, missa est! singen müssen, ja man hätte mit dem Ohr des Wissens zu dieser frohen Stunde die schwersten Glocken des katholischen Deutschland, vom Kölner Dom die Kaiserglocke, die Münsterhauptglocke von Aachen und Maria gloriosa von Erfurt läuten hören können. Einem jeden in der Landschaft erfreute der hohe große Wohlklang das Herz, der hart-echte Gesang aus der himmlischen Höh', der aus den großartig hochgehobenen Tonkästen der Glockentürme zwischen den schräg abwärts gestellten Schallbrettern hindurch über die spaßlos-wirklichen Laiendächer der Menschenhausungen hinausfloß.

Also aus dieser schönen und heitern menschenfreundlichen Landschaft war er einstens weggezogen, der Heinsberg, an die großartige, ernst und schwer machende Wolga, aus einem deutschen Lande voll von Glockenklang in das Schweigen Asiens. Christian Heinsberg hatte jener Bursche geheißen, der davongegangen war – warum?

»Ah, wie schön ist es am Rhein!« rief dieser Christian Heinsberg aus, der da auf der Rossel mit der Gertrud Kädrich, Tochter eines freundlichen Wirtes, saß, war aufgesprungen und schlug die Arme wie Windmühlenflügel um sich durch die Luft. »Ah, wie schön!«

Während sie über das mutmaßliche »warum« sprachen, stellten nach und nach die Glocken in der Landschaft ihr Läuten ein und verstummten. Und als der letzte Klang verhallte, war es, als täte sich ein Brausen der Weltstille auf. Der Rhein schien unten im Gehängeausschnitt still zu stehen, als müßte er ein Weilchen nachdenken über den Sinn seines Strömens, der finstere Berg drüben überrhein in der Eifellandschaft hängte sich eine dunkle Mittagswolke wie eine bedeutende Braue an die waldlich gerunzelte Stirn, und in den Hauskammern der Rheinstädtchen unten suchte alles nach Genuß eines Mittagsschöppchens einen kleinen Schlaf.

Christian Heinsberg und Gertrud Kädrich mit Bruno Kädrich gingen zurück zu Linde und Haus. Der Junge machte hin- und herlaufend den Weg zweimal, der Hund fünfmal. Die Großen aber taten Schritt nach Schritt in genußvollem Gehen. Sie wußten den Vater viel Zeit brauchen und schnaufen den Talweg herauf und den Plattensteig her, und Gertrud hatte gute weibliche Geister in der Küche.

Während sie langsam Fuß vor Fuß setzten, sagte Christian, den Weg betrachtend: »Wie sonntags an der Wolga. Ein hoher Berg und ein Haus darauf, ein voraufspringender Junge, Sonne und Wasser, Tag und Zeit und statt des Hundes ein zahmer Kranich. Aber keine Felsen aus Schiefer, keine Burgen, keine Städtchen, keine Fahnen, keine Klöster, keine Kapellen, keine Flurmarken, keine Heiligenhäuschen, keine Germania mit flatterndem Bronzehaar auf dem Niederwald, keine Zahnradbahn von einem Rüdesheim herauf und keine Wirtshäuser zur Linde, zur Krone, zum silbernen Pfropfenzieher, zur Kette, zum Treppchen, zum Himmelreich, zur zufriedenen Ehefrau, zur goldenen Tür …«

In diesem Augenblicke kam Bruno gelaufen, die Taschen voll. Er habe gehört, man könne Weinbergschnecken rösten und essen, sie schmeckten lecker. Er frug die Schwester, ob sie sie zubereiten könne? Noch für heute mittag!

»Ich glaube ja«, sagte Gertrud, »wenn ich im Kochbuch von Herrn Rivol aus Albi nachschlagen darf. Aber ich glaube, Monsieur sagt, man müsse Burgunder dazu trinken – –?«

»Meinetwegen auch Burgunder!« rief Bruno.

 

In glücklicher Zeit in schöner Landschaft bei herrlichem Wetter aller Tage entfällt fast der Unterschied zwischen Sonn- und Werktagen. Ein heiteres Glück des lichten Glasraums der durchsonnten Luft und des blauen Himmels umspielt alles an allen Tagen, die Sonne ist ein Heide, sie kümmert sich nicht um christliche Feste. Christian hatte keinen Grund, sich die Tage, die kamen, näher anzusehen. Er war auf seiner großen Fahrt von der Wolga an den Rhein und auf der Wanderung, der Ahnensuche diesem entlang, einmal zur Ruhe gekommen, er wollte sie tief genießen, er lebte mit vollem Willen für einige Zeit in den heitern Tag hinein. Auch der Doktor hatte beschlossen, sich Ruhezeit zu gönnen. Gertrud hatte immer Zeit, wenn Zeit zu haben sich lohnte. Der Doktor war ein Frühaufsteher, Christian für gewöhnlich ein Langschläfer, der Weinreisende, der aus einem sommerheißen Südlande kam, war auf Zweimalschlafen, nachmittags und nachts, eingestellt. Gertrud hatte die Gabe, sich leicht in das Allgemeine einzufügen, Bruno war ein Junge mit noch unentschiedenen Gewohnheiten und Willy ein Tier, das zu jeder Stunde schlafen und also auch zu jeder Stunde wachen kann. Also fand sich um neun Uhr vormittags die Gesellschaft der Genannten zusammen, im Schattenraum zwischen Haus und Linde, um, wie alle Tage, irgend etwas zu unternehmen, irgend etwas, Plaudern, Wandern oder Vorlesen, irgend etwas, das doch das sehr bestimmte Ziel hatte, einen herrlichen Vormittag lang glücklich zu sein.

Wie sie da umherstanden, einander freundlich nach dem Grade der Ruhe der verbrachten Nacht ausfrugen und voll herzlicher Anteilnahme einer in des andern blanken Augen forschten und besonders die Willys gelobt wurden, war auf einmal ein Wunsch in allen da, spazierenzugehen, in allen zu gleicher Zeit, denn eine rechte Gesellschaft ist ein Wesen. Gertrud schickte Bruno nach einem Schal, den sie sich um die Schultern legte. Der Doktor meinte, seinen Hut, einen Wanderstrohhut – er hatte ihn immer im Wirtshaus hangen – holen zu sollen, den er sich auch aufsetzte. Auch der Kaukasier holte seinen Hut, aber er behielt ihn in der Hand, und im Gehen trug er ihn auf dem Rücken. Christian blieb barhaupt.

Bis zum Sammeln der Gesellschaft hatte Willy dagelegen, die schwarze feuchte Schnauze auf den graustaubigen Pfoten, schlafend, doch sozusagen nur mit einem Auge, denn abwechselnd hatte er dieses, dann jenes ein Weilchen aufgemacht, und die quastige Rute hatte ihre feine weiche Wolle leicht in der Luft geschwenkt; jetzt, bei den Zurüstungen, sprang Willy auf die Füße, schneuzte sich, bellte, bläffte, junkte, lief zu einem jeden hin, sprang seine Freunde an, leckte sogar dem Mann aus Wolgaland ins Gesicht hinein und wußte sich vor Freude darüber, daß etwas unternommen werden sollte, nicht zu lassen. Er rannte schießenden Leibes ein Stück den Plattenweg auf Aßmannshausen hinunter, er lief einige Längen gegen den Bergbusch auf der Höhe hinan, er hielt es auch für möglich, daß man den Pfad auf ebener Leiste nach Süden einschlagen würde, er verlor sich auf einen Augenblick in einem steilsinkenden Weinberggang, wo er am Gemarkungspfahl rasch ein Bein hob, und flog sogar, dem Doktor und dem Kaukasier nach, mit laut atmender Brust wie ein krachendes Maschinchen ins Haus, als habe auch er darin etwas zu holen, Hut oder Spazierstock, was herbeigebracht werden müsse, mit höchster Eile, aus Höflichkeit, um nicht warten zu lassen. Aber jetzt schmiß er sich doch an den Boden hin, kratzte sich mit scharfem Hinterfuß, was ein dumpf rupfendes Geräusch ergab, hinter dem Ohre, dessen Läppchen ihm dabei ins Gesicht schlug, und blickte währenddessen aus sehr weißem Auge erbarmungswürdig die freundlich wartenden Freunde an. Bruno aber beschloß, Willy bald wieder einmal zu flohen.

Ach, der Knabe war fast genau so jach und kurz angebunden in Eingebung und Entschluß wie der Hund, er meinte im nächsten Augenblick, sofort beginnen zu sollen. Denn der Spaziergang der Erwachsenen – mein Gott, er würde sich kaum der Mühe lohnen! Sie gingen immer so langsam und redeten dabei so viel, während man doch offenbar schnell gehen oder auch laufen und wenig reden oder gar schweigen mußte. Also stürzte er sich über den Spitz.

Aber dabei stürzte er hin, er kam zu Fall. Denn Willy hielt einen stechenden Floh hinter dem Ohr für das kleinere Übel, für ein größeres, des Geflohtwerdens wegen bleiben zu müssen, während die Leute sich auf den Weg machten – also nahm er stäubend Reißaus; und Staub erregend und sogar Funken aus seinen Schuhnägeln weckend, fiel Bruno über die Stelle, wo Willy gelegen hatte, und fuhr sogar im Schuß von Entschluß und Tat ein Endchen darüber hinaus. Die Großen lachten, Willy bellte in der Ferne.

Bruno hingen feine Hautlöckchen vom abschürfenden Fahren auf der hartkiesigen Erde am nackten Knie, seine Handballen brachten sich durch starkes Brennen in sein Bewußtsein, und es konnte sein, daß er rote Streifen im Gesichte trüge – er hatte im Dahinfahren gemeint, Feuer spritze aus seinen Augen – Aas Willy!

Obgleich ihm ein Amenlang Hören und Sehen vergangen war, ihm alle Glieder schmerzten, ihm die Knie glühten und vom Schmerz in den Ballen die Augen sich feuchteten – Teufel auch, die Großen bildeten sich wohl ein, ihn weinen zu sehen! Haha!

Ah, die erbärmlichen Großen! Er würde sie strafen! Mit Nichtbeachten!

Nein, er weinte keineswegs, aber er ging doch der Vorsicht halber noch ein Stück in der Richtung seines trockenen Schlittenfahrens auf den Kieseln, Rücken gegen die Erwachsenen, weiter. Er senkte dabei seine Hose an ihren Aufhängern etwas, wodurch die Beinstutzen vor die scheußlich aussehenden Kniescheiben zu hangen kamen, und die auch leicht hautumlockten, fürchterlich heißen Handballen kühlte er einen nach dem andern mit Speichel. Ein künftiger Erforscher Tibets wußte sich zu helfen, derlei konnte einem dort in den unabsehbaren Kieswüsten, wenn man etwa einen Wildesel verfolgte, alle Tage geschehen!

Die Großen lachten noch immer, der eklige Kaukasier hielt sich sogar den Bauch vor Lachen. Schaurig klang Bruno jetzt das Lachen, fremd, wie jeder Laut in großer Höhe klingt, im höchsten Reiche der Welt, Tibet, dem Söller Asiens, im baumleeren kieselvollen Land, in der verdünnten Luft der Höhe … Aber nein, vorausgesetzt, daß sie nicht an seiner Männlichkeit zweifelten, nahm er ihr Lachen nicht übel. Er war wirklich ungeschickt gewesen. Darf ein anständiger Mensch Unglück des Mitmenschen belachen? Nein, aber Ungeschicklichkeit hundertfältig zu verhöhnen steht jedem frei.

Er würde schon lernen! War er eine Näherin, Fädlerin, Stickerin mit siebenfach gescheiten Fingern? Flohen wollen hatte er den Willy, weiter nichts, wenn's gefällig ist!

Darüber wandte sich die peinliche und Bruno im Rücken brennende Aufmerksamkeit der Großen von ihm ab, sie schlugen den Weg nach Süden, den Leistenpfad, ein. Bruno aber trat in den Schatten des Hauses.

Als der seine Kühle und den Dunkelmantel über den Knaben legte, da begannen denn doch aus Brunos Augen die Tränen zu laufen, und Hände und Knie taten ihm, mit Verlaub zu sagen, verteufelt weh. Es war bei den jungen Leuten üblich geworden, für »verteufelt« oder auch nur für »sehr« »bärenmäßig« zu sagen; aufgebracht hatten das aber die Mädchen, die mit ihm und den Buben dieses Landes die höhere Schule in Mainz besuchten. Es war Brauch geworden, daß auch die Mädchen ein Gymnasium besuchten. Bruno Kädrich hatte eine eigene Meinung darüber, aber er sprach sie lieber nicht aus … Morgens kam der Schulzug von Sankt Goarshausen her gelaufen, hielt in Kaub und Lorch und Aßmannshausen drunten im Tal, in Rüdesheim, Geisenheim, Winkel, Hattenheim und an zwanzig Bahnhöfen und sammelte die Schüler auf. War das ein Gezwitscher und Geschrei! Ein Getue und Gekalber! Der Mädchen natürlich! Bei Buben würde Bruno mit einigen seines Alters und Geschlechtes auf Würde gehalten haben! Mit der geballten Faust gefälligst! Der Zug, mit einem erbärmlichen altmodischen, von großer Fahrt abgestellten Maschinchen bespannt, schien das Fahren nicht sehr ernst zu nehmen. Die ganze Eisenbahn im Rheintal nahm sich morgens zwischen sechs und sieben nicht ganz ernst. Dann waren die schweren, zwischen Holland und Italien laufenden Nachtzüge längst vorübergedonnert, und der große Inlandverkehr des Tages hatte noch nicht begonnen. Um die Zeit fuhr der »Schülerzug« – und was Männliches in diesem Zuge war, schämte sich über den Namen und das ganze Getriebe. Im übrigen aber »büffelte« es, »ochste« es, wenn man es europäisch bezeichnet haben wollte, »ochste es schweinemäßig«, wenn man glaubte, zwei Tiere des Ausdrückens wegen bemühen zu sollen, man stopfte in sich hinein, was hineingehen wollte, die Schuhabsätze hinter die blanke eiserne Fußstange der Holzbank gehakt, die Zungenspitze zwischen den Zähnen und die Daumen in den Ohren. Denn das Hühnervolk von Mädchen lachte, tuschelte, kicherte, es hatte – alle waren sie Streber, die Weiber, die etwas lernen dürfen! – die ganze Schulaufgabe am gestrigen schönen Herrgottsnachmittag sich eingepaukt, während ein richtiger anständiger Kerl sich im Weinberg herumtrieb oder unten bei den Bootsleuten auf dem Strom, die dem Salm auflauerten. Was ein ordentlicher Kopf ist, arbeitet überhaupt und grundsätzlich zu Hause nicht für die Schule, sondern begnügt sich mit einem schnellen Überfliegen der Sprachregeln auf dem Hinweg, in der Pause auf dem Schulhof oder auch unter der Bank in der dritten Fachstunde. Und dabei war man keineswegs unaufmerksam in der dritten – das Klassenziel mußte selbstverständlich erreicht werden – nein, man verfolgte die Lehrvorgänge der dritten Stunde und bereitete sich gleichzeitig auf die vierte vor. Hatte doch schon Cäsar drei Tätigkeiten zugleich obgelegen, er hatte Verordnungen in die Feder gesprochen, während er sich Gedichte vorlesen ließ, und hatte gleichzeitig selbst seine Senatsrede auf dem Papier entworfen. Die Weiber aber auf der andern Bänkehälfte der Schulklasse meinten schon, etwas Großes zu tun, wenn sie ihre Cäsaren-Klassengenossen, die behosten Schüler der anderen Zimmerhälfte, nicht wegen ihres unterbänklichen Doppeltuns beim Lehrer angaben. Ha, geochst, gebockt, gebüffelt hatten sie zu Hause, um dem jungen Klassenlehrer zu gefallen – pfui Teufel! Jedermann Männliches, auch den besten Cäsarenkopf der andern Seite, taten sie ausstechen in Latein und Religion, beim Aufsagen von Horazgedichten und des Hohen Liedes, das im Grunde doch eine blumig zugedeckte Geilheit war. Euch Weibern das Latein und die Religion, uns Männern die Geschichte und die Erdkunde! So belauerten, befehdeten, begifteten einander die Geschlechter im Abteil des laut prustenden Schülerfrühzugs und in der Sekunda des Gymnasiums am Forsterplatz in Mainz, die Welt, deren zwei Teile sich zwei Jahrzehnte später zusammengeschlossen und Buben und Mädels erzeugt haben werden für andere Schülerzüge, die um die Mitte des Jahrhunderts im Rheintal laufen werden auf der Mainzfahrt.

Ha, ja, ha, aber an den zwei Wochentagen, wenn's im Forstergymnasium Erdkunde gab! An den Morgen kannten auch die Jungens schon im Schülerzug ihre Aufgabe! Erdkunde, ha, da kannte man alles, dafür lernte und zeichnete man gern auch am schönsten Sommernachmittag, während man mit den Fischern auf den Rheinsalm lauerte! Erdkunde studieren, das war überhaupt kein Lernen, kein Arbeiten, das war ein Vergnügen! Erdkunde war die männliche Wissenschaft! Da dachte man an Zelt und Kompaß, an Schiffe und Karawanen! In den Stunden regnete es im Forstergymnasium schlechte Noten für die Mädchen, die sich zwar Lämmchen und Schäfchen auf der grünen Weide vorstellen, aber sich keine Länderbreiten, keine leeren Räume Asiens denken können, in denen der Zerfallsstaub von Alpen von einem ein Jahrtausend lang wehenden Wind in ein fernes Landtief verfrachtet und ein neues Erdreich aufgebaut wird! Und gingen ins Forstergymnasium, die Gänse und Göhren! Wußten sie überhaupt, wer Forster war? Georg Forster? Elf Jahre war er alt, da reiste er schon mit seinem Vater, Reinhold Forster, nach der Stadt Saratoff [vgl. Schreibweise a.d. Folgeseite. Gutenberg] am Strome Wolga. Dort sollten sie, die Männer, der Alte mit dem Sohne, das Kolonistenwesen beurteilen und der Kaiserin Katharina gutachtend darüber berichten. Ha, das waren Zeiten, damals vor knapp hundertfünfzig Jahren, als die Jugend noch etwas galt, man auch einem jungen Manne schon etwas zutraute, eine junge Kaiserin aus der Kraft ihrer Begnadung auch der Begabung eines – hm – Milchbartes schon Urteilsvermögen zutraute, während man in diesem überalterten vergreisten Jahrhundert einfach nicht zur Tat zugelassen wurde, bevor einem das Gebein zu schlottern begann! Elf Jahre war er alt und reiste an die Wolga als Kolonistenüberwacher, der Forster, der junge nämlich, und man selbst war schon uralt, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, und fuhr morgens den Rhein entlang im Schülerzug nach Mainz! Ah, es war zum Verzweifeln! Elf Jahre alt reiste jener an die Wolga, und dann, nur sieben Jahre später, fuhr er mit Kapitän Cook um die Welt, wo es die Eisberge gibt, schwimmende, groß wie ein ganzer Rüdesheimer Berg mit Burg Ehrenfels daran und dem Niederwalddenkmal darauf, und noch sechs solcher Teile des Eisbergs schwammen unter Wasser, wenn's gefällig ist! Für die zwei Erdkundestunden in der Woche lohnte sich der ganze Schwindel der Schule am Forsterplatz mit Latein und Religion. Ah, Latein! Dominus vobiscum! Türkisch sollte man auf der Schule lernen oder noch besser Turktatarisch, denn das wird von der Grenze der Mandschurei bis her an die Wolga über einen halben Erdteil hin von männiglich verstanden. Englisch, nun wohl, man sprach es auf den Schiffen. Aber Französisch? Wofür? Russisch zu kennen tat not! Dann brauchte man nicht dem Prschewalski mit armen Übersetzungen von Kiachta nach Peking, von Kuldscha zum Lopnor, durch die Wüste Gobi und über das Nanschangebirge zu folgen, bis er das wilde Pferd entdeckt hatte und in Karakol starb. Ak heißt weiß und kara meint schwarz, kisil bedeutet rot – in solchen türkischen Wörtern, glaubte Bruno, erschöpfe sich fürs erste die Weisheit der Welt. Da war also dieser Wolgamann! Etwas von Ferne webte um ihn, Willy roch stets an seinen Stiefeln herum, wahrscheinlich witterte die feine Nase Kameldung oder gar Abgang vom Wildesel. Auch seine Russenbluse beschnüffelte Willy immer, Bruno selbst meinte, sie röche etwas nach Salz, das in der Luft gelöst ist. Ah, und die Steppenkräuter, Thymian und Myrte, Minze und was wußte er alles! Wer solche Düfte immer geatmet hat, dem atmet sie schließlich die Haut aus. Wahrscheinlich roch auch Gertrud das. Ah, der Wolgamann! An ihn mußte man sich halten. Vielleicht war er der Finger, den das geliebte Asien Bruno Kädrich entgegenstreckte, die Brücke, ihn einmal hinüberzunehmen, denn alles will schließlich eine Gelegenheit haben. Weil man ein Gymnasium am Forsterplatz besuchte und weil der Knabe Georg Forster nach Saratoff an der Wolga gereist war, darum war man mit seiner Neigung und allen seinen Vorstellungen und Vorurteilen in Wachen und Schlafen bei Asien und hielt den Zeigefinger im Prschewalski. Man hätte auch an den Amazonas oder nach Australien, das Georg Forster als erster den fünften Erdteil genannt hatte, in Gedanken fahren und dort seine Seele verlieren können, aber man mußte sich entscheiden, gefälligst! Entscheiden! Man kann nicht sechs Ziele zugleich erreichen wollen. Also war man für die Wolga, weil sie der nächste Fluß in der Welt war von einem Maße, das sich nennen ließ (nicht der armselige Rhein hier und seinesgleichen) und von einem Namen, der groß und hohl über die Länder klang. Von dort würde man einmal nach Asien hineinfinden. Da war also dieser Mann von der Wolga gekommen und der andere vom Fuße des Berges Ararat; der Herr Doktor, der sich mit Araratstudien beschäftigte, war irgendwie Veranlassung gewesen, daß ein Weinreisender vom Ararat sich ins Haus zur Linde ob dem Rhein gefunden – gut, man würde sehen, wie die beiden Herren Asiaten sich bewähren würden, wie sie sich gebrauchen ließen. Fürs erste stillhalten, die Öhrchen spitzen, Richthofens »Führer für Forschungsreisende« studieren, wenn das Buch auch manchenorts schwer zu verstehen war, Prschewalski lesen, Türkisch lernen, die Schule schwänzen, möglichst wenig für sie arbeiten, aber selbstverständlich niemals sitzenbleiben. Sitzenbleiben, das gab es nicht! Sitzenbleiben war wider die Ehre! Außerdem würde der Vater einen sofort von der Schule nehmen und in die Lehre zum Barbier in Aßmannshausen oder zum Schreiner Heinsberg in Geisenheim geben. Der Vater spaßte nicht lange. Dadurch würde das Auskommen nach Saratoff und Kiachta sehr erschwert werden. Haltung! Zähne aufeinandergebissen! Die Schule muß abgesessen werden mitsamt Latein und Religion! Inzwischen nebenher: Russisch, Türkisch – ak-dag, der weiße Berg; kara-ssu, Schwarzwasser; kisil-göll, Rotsee – Salmfischen, Reiten beim Pferdhalter in Rüdesheim, von dessen Mähren man sich zum Niederwalddenkmal hinauftragen lassen kann … Bruno wird's schaffen!

Fürs erste aber begibt er sich zur Regenwassertonne. Sie steht auf der Nordseite des aus der schiefrigen Gebirgsgrauwacke errichteten Hauses, die ein wenig bemoost ist. Hier nähert sich verstohlen und hinterrücks der Wald, der nur Busch zu nennen ist, der Hochwald begann erst bei der Kalten Herberge. Es ist hier etwas kälter und düsterer, nordischer gleichsam. Im Winkel zwischen Gebäude und der sich hoch hinaufatmenden Steintreppe, auf der Rückseite des Hauses, welche die der Zufahrt ist, steht das Faß. Ein wenig moderig und kellerig riecht es hier, doch nicht unangenehm, man ist in einen andern Klimawinkel, in die Ecke einer neuen Pflanzenprovinz gekommen. Moose, kleine Farne, Efeu und Venushaar gibt es. Es ist heimelig und verschwiegen da. Man darf dort wahrscheinlich seinen Stimmungen nachgeben und seine Schmerzen bekennen. Der Kranz des großen Fasses fault ein bißchen, das Ende der Dauben ist schwarz, vielleicht ein wenig brüchig oder schon mulmig. Bruno steigt ein tragbares feuchtes Holztreppchen hinauf und lugt ins Faß hinunter.

Im ersten Augenblick ist es ihm, dem aus dem Licht Gekommenen, wie er da durch den Überhang von Farnen, die in der Mauer von Haus und Treppe wuchern, in die Tiefe blickt, als schaue er mittels eines Fernrohrs durch die Erde hindurch in die halbhelle Welt der Unterirdischen hinab. Als blicke er in die lichten taufeuchten lauwarmen Farnwälder von Neuseeland hinein, das er ziemlich genau unter sich weiß; in seinem spartanisch ausgestatteten Schlafzimmer (knappe eiserne Bettstelle, Strohsack, gerade starre Holzstühle ohne Sitzpfühle, der Tisch ohne Decke) steht eine große Erdkugel, Weihnachtsgeschenk des Doktors. Aber allmählich erkennt er in der Tiefe des Fasses die Wirklichkeit, ein Spiegelbild. Er muß jedoch Auge und Geist erst daran gewöhnen, daß er das selbst ist, der ihn da anschaut, so unvermutet nah und deutlich sieht er sich als Halbbild auf hellem kreisrundem Grunde in dunklem Rahmen. Doch, er ist's!

Bruno, wie siehst du aus! Himmel! Richtig wie eine Sau siehst du aus! Die rechte Backe ist verkratzt, ein Bild eines Stückes drei- oder viergleisiger Eisenbahnstrecke ohne Kreuzungen ist sie. Die Gesichtshälfte ist verschwollen und schon blau, blau und schwarz, das Auge ist wie ein von dunklen Hügeln der Backe und Stirn bedrängter kleiner See. Junge! Junge! Morgen werden die dämeligen Weiber im Schülerzug lachen, kichern, prusten, durch das Gitterchen der gespreizten Finger Bläschen spritzen, wenn sie ihn ansehen, dann die Hand vom Gesicht nehmen, den Mund langziehen und mühevoll ernst zum Abteilfenster hinausschauen; und wieder losprusten. Teufel!

Zu dämelig, sich selbst so zu verunstalten!

Natürlich, verhauen ist er worden! Prügel hat er bekommen! Von einem Stärkeren! Die Weiber würden ihm nie das Unglück mit dem Hund glauben, die dämeligen!

Bruno hat sich einen Verband gemacht. Von der Wäscheleine hat er ein Hemd seiner Schwester genommen, ein feines Hemdchen! Und hat es in drei Stücke gerissen, im Hause ob dem Rhein machte man nicht viele Umstände, alles war fürs Leben da und hatte ihm kurzerhand zu dienen. Bewahrerische Zimperlichkeiten kannte man auch nicht, Vater Kädrich hatte sich und seine Art im Hausleben auszudrücken vermocht. Bruno hat das Hemd einmal der Länge nach in zwei Hälften gerissen, eine Hälfte gab den Kopfverband her, die zwei Teile, die Viertel der andern Hälfte, lieferten eine Packung um jedes Knie. Denn auch die Knie sahen aus, daß es Gott erbarm'! Der Junge hat die Wunden gewaschen und hält die Tücher naß. Er sitzt auf dem nun verkehrt zur Tonne gestellten Treppchen so, daß seine Knie sich schräg vor und unter dem Spundloch befinden. Den Zapfen hat er gelockert, und zwei Wasserstrahlen spritzen aus dem Nabel des Fasses, jeder auf eins seiner Knie … ah, wie wohl das tut!

Am meisten schmerzt der Kopf! Donner und Doria, war ihm nicht Feuer aus den Augen gespritzt? Aber ein Strählchen auf das Kratzfeld der Wange und die Stirnbeule gibt der dumme Tonnennabel nicht her. Also legt man den Kopf aufs Knie und läßt Kopf und Knie bespritzen und abkühlen. Und wenn dann die warmen Tränen zusammen und zugleich mit dem lauen Tonnenwasser über die Wangen laufen, so sieht es niemand, man fühlt es auch selber kaum und braucht es sich nicht einzugestehen … Cäsar hat sicher auch mal geweint, als es niemand sah …

Nach einer langen Weile erhob sich Bruno und ging den Großen nach. Ging? Gott im Himmel! Die Knie waren durch die Verbände steif, das rechte Auge war in der Landschaft seines Gesichtes verschwunden, es ging ein hölzerner Mann daher … zu dämelig! Von den Händen, die in den Achselhöhlen, die rechte in der linken und umgekehrt, getragen wurden, von Brunos Händen soll gar nicht gesprochen werden … Also ging Bruno den Leistenpfad dahin, den halb verbundenen Kopf im Kinn hochgetragen, mit untergeschlagenen Armen und auf stakigen Beinen, die auf halber Höhe jedes zwei Zipfel trugen, ein Schmerzensmann, doch ein Held schlechthin, ein Mensch ohne Klage, nicht unwürdig der Ehre, zum bevorzugten Geschlecht zu gehören. Als ob er schon durch die Wüste kara kum, was »Schwarzer Sand« hieß, zöge, den zweihöckrigen dunkelwolligen baktrischen Kamelhengst am Halfter hinter sich, einsam, schweigend, wie es sich für Männer und männliche Großtiere geziemt, gleichsam auf Stöcken gehend im rutschigen Sande der Barchane oder Sicheldünen, so stakte Bruno nach der Rossel.

Doch unmöglich! Unmöglich! So konnte er sich dort nicht zeigen! Den Kopf verbunden wie eine alte Tante, die Zahnschmerzen hat, die Hände zerschunden wie ein Waldarbeiter oben aus dem Kammerforst, die Knie bezipfelt, die Hose zerrissen, die Schuhe verkratzt – unmöglich! Man würde noch mehr über ihn lachen als vorhin. Aber das Verbandszeug herunterreißen und das Blut aus offenen Wunden strömen lassen wie der und jener Held der Geschichte konnte er auch nicht, denn Quetschungen waren seine Verletzungen, und die Quetschung hat es an sich, erst einige Zeit nach dem Schlage stumpfer Gewalt das getroffene Gewebe anlaufen zu lassen, oh, zu einem scheußlichen Gemisch von Rot und Blau und Gelb durcheinander. Nein, er war nicht besonders eitel, aber das Häßliche soll man verbergen! Das Häßliche und das Lächerliche! Er kannte im Weinberg Weg und Steg, alte Fahrten und Fluchten, er konnte sich an die Rossel heranpirschen wie ein Jäger unter Ausnützung der Blätterdeckungen oder auch schleichend wie ein roter Indianer und an den bunterdigen Boden angepaßt. Dann würde man im Tempelunterbau unter den zur Ruhe gekommenen Spaziergängern sitzen, ohne daß ihn von oben einer bemerkte. Lauschen? Wieso lauschen? Wußte man nicht, daß er mit spazierengehen wollte? Daß er nur mal eben zur Tonne gegangen war, um sich die Hände zu waschen? Daß er gleich da sein werde? Hatte man nicht gelacht und also nichts aus dem kleinen Fall gemacht? Denn hätte man an einen Unfall geglaubt, so würde man sich seiner angenommen, vielleicht gar den Spaziergang aufgegeben haben, was übrigens unerträglich gewesen wäre. Aber Gertrud hatte sich beim Roten Kreuz in Koblenz als Krankenschwester ausbilden lassen, auf Einladung des Landrats und Drängen des Bürgermeisters, für den Fall eines Krieges, der übrigens in diesem Menschenalter, das wußte jedermann, nicht ausbrechen würde. Nein, sie hatte an nichts Ernstliches gedacht, nicht einmal an das kleine Maß Ernstliches, das doch immerhin eingetreten war (denn die Handballen brannten abscheulich, und nach Verlecken alles Speichels war Brunos Mund so trocken wie ein schon eine Woche dürstendes Kamelmaul im Kara-kum). Also wußte man, daß er jeden Augenblick erscheinen konnte! Und übrigens, vier, vier Köpfe, vier Menschen, kann man vier Menschen belauschen? Zweie belauscht man, und meistens hat der eine von den zweien lange Haare … nein, es war, als er endlich, nach Jäger- und Indianerart herangeschlichen, in der feuchten Felshöhle saß, doch Belauschen! Pfui Teufel! Er hustete. Und als darauf nichts erfolgte, hustete er lauter.

»Bist du da unten, Bruno?« rief Gertrud. – »Jawohl! Eben eingetroffen.« – »Komm doch herauf!« – »Danke. Möcht' lieber unten bleiben.« – »Wie du willst.«

Die Ehre war gerettet.

Durch den Ruf Gertruds war grade der Fremde aus Hinterkaukasien, aus Aserbeidschan, von wo das Aas her sein wollte, in seiner Rede unterbrochen worden, Bruno gönnte ihm jedes Mißgeschick, das heißt, nicht was ihn als Brücke nach Asien hinüber anging; denn bei Männern dürfen niemals Gefühle die Politik bestimmen, diese Bismarcksche, alle eigene Seelenschwäche aufrüttelnde Lehre hatte Bruno sich eben erst beim Lesen der Zeitungen, deren politischen Teil er täglich studierte, mit vieler Mühe und großem Herzenswiderstreben einverleibt, zu eigen gemacht. Gut! Der eklige Kerl, der »fiese Ami« – Bruno schoß den stärksten Pfeil innerer Ablehnung, den der Rheinländer in seinem seelischen Waffenvorrat hat, unbedenklich gegen den Weingard – sagte grade, und, unterbrochen, worden, wiederholte er: »Schön, hier ist die Rossel, und es singt eine Drossel, und unten fließt der Rhein, und mir krabbelt's im Gebein, von der Gicht jedoch nicht« (und dabei lachte der Unverschämte selbst, denn niemand sonst lachte), »und drüben liegt also der Hunsrück, und links hinten soll der bucklige Donnersberg zu ahnen sein, wie mein Genosse von der Wolga behauptet, und ich glaub's, denn Glauben macht selig, was ich gerne bin. Aber was ist denn schon groß bei dem Landkartenkonzert dabei? Sollen wir gleich in Verzückung geraten? Ist es nicht überall auf der Welt im Grunde gleich? Ändern sich nicht am Ende nur die Namen? Überall ist es nämlich bekleckert, wo kein Geschäft ist. Laßt die Schulmeister in den Erdkundestunden sich begeistern, die Hungerleider, die nur auf den Karten reisen können. Bei uns daheim sind wir in Helenendorf, wo wir im Herbst die deutschen Drosseln fangen und braten, unten vor uns im Tal fließt die Kurá, und im Sommer stinkt sie, und man kriegt das Fieber, wenn man einmal an ihr übernachten muß. Und drüber steht der schreckliche Kaukasus auf, und manchmal ahnen welche darin den großen Kasbek, von dessen weißem Seidenzelt am blauen Himmelsplan sie reden würden, wenn nicht unsere schöne nüchterne Kolonistenwelt die Flausenmacher und Dichter hätte aussterben lassen zugunsten der Weinerzeugungsgenossenschaft m. b. H., Concordia, einzigen in Rußland.«

Was wollte man dagegen sagen? Weingard hatte in seiner Art gewiß recht, zuerst mußte man leben, dann erst konnte man schwärmen und Gedichte machen. Und im übrigen: es nötigte Bruno Achtung ab, daß jemand von den wohl zuviel gelobten Schönheiten dieser Landschaft hier sich nicht beeindrucken ließ. Der Kaukasier hatte gewiß recht. Laßt uns mal das Maul halten von den Großartigkeiten des Rheines!

Jetzt sprach Christian Heinsberg. Er sagte: »Eine Landschaft kann mich glücklich machen. Ich glaube, daß das, was wir in einem großen und weiten Sinne Landschaft nennen, in diesem Ausmaß heute erst gesehen wird, entdeckt ist.« (Donnerwetter, der Wolgamann hatte recht!) »Es wird eine Landschaft jeder nach seinem Sinn sehen, sie ist vielleicht mehr in ihm als außer ihm …« (Oh! Oh!) »... sozusagen …« (Ja, sozusagen. Ausgezeichnet!) »... Die Natur ist nur eine Anweisung für uns, gewissermaßen eine unausgefüllte Zahlungsanweisung, es kommt ganz auf uns an, in welcher Höhe wir sie ausfüllen wollen …« (Oh, vorzüglich! Ganz vorzüglich! – freilich, ganz verstand Bruno den Herrn Heinsberg doch nicht –). »Die Wolga lob' ich mir, und die Kurá laß ich gelten – man wird nicht grade im Juli an ihr im Kamyschdschungel übernachten wollen, Herr Weingard. Aber wie man es drüben auch anfangen mag, dort hat man am Ende nur Einsamkeit. Und soviel Einsamkeit tut dem Menschen, wenigstens dem unserer Art, zuletzt gar nicht gut. Nein, ich ziehe es vor, hier zu leben. Will ich hier einsam sein, so geh' ich in den Kammerforst hinter uns, wo es den großen Wald gibt, den Wald schlechthin, bis hinauf zum Grauen Stein oder zur Hohen Wurzel, wo die Bauern und Holzfäller noch heilige Bäume verehren. Ich fürchte, unsere Auswanderung war ein großartiger Irrtum …« – »Ei! Ei!« riefen alle, auch Bruno. – »Drüben gibt es nur hartes Muß, hier hat man gefällige Wahl. Bin ich im Walde müde und matt geworden von Einsamkeit, so komme ich herunter und hervor und trete auf diesen herrlichen Länderauslug heraus und habe über hundert Ortschaften, alle voll von Menschen, vor Augen, ich kann sie zählen …«

»Uff! Woher weißt du das? Über hundert?« rief Bruno unten und wäre fast aus seinem Versteck hervorgestürzt. Der Wolgamann hatte recht! Recht hatte er! Donner und Doria! Warum reisen, wandern, fortziehen, auswandern? Ein großartiger Irrtum war das Auswandern! Auswandern von hier, wo man am besten Ort der Erdrinde war, Waldeinsamkeit auf der einen und über hundert Ortschaften auf der andern Seite hatte? Erdkundelehrer im Forstergymnasium würde man werden und die Mädchen tüchtig quälen, bis sie das Studieren sein ließen, das ihnen nicht zukam. Aber über hundert Ortschaften … von der Rossel aus …? Auch die anderen oben verwunderten sich sehr.

»Ich habe sie neulich an einem sehr klaren Tage gezählt«, sagte Christian Heinsberg.

Uff! Gezählt? Darauf wäre Bruno nicht gekommen.

»Es war ein großes Erlebnis für mich, soviel Ortschaften mit einem Blick sozusagen zu sehen, ich, der ich von der Höhe von Bellmann höchstens drei oder vier zählen kann, rechts Tscherbakoffka und links Danjiloffka, das deutsche, beide am diesseitigen hohen Ufer, und drüben über dem Wiesenufer noch Krasni Jar und vielleicht Patjomkino, wenn natürlich die Einbildung in der klaren Luft Asiens auch Orenburg zu sehen glaubt« (Bruno hörte den Mann lachen). »Es sind einfach nicht mehr Orte da. Ah, die Einbildungen! Fata Morganas! Jeder hat etliche davon im Kopfe. Er jagt ihnen nach. Ich preise ihn glücklich, wenn er auf solchen Jagden und Fahrten das Selbstverständliche entdeckt, das wunderbare Selbstverständliche sozusagen …«

Bruno staunte. Er riß Mund und Augen auf, das heißt das rechte Auge konnte er nicht aufmachen, mittlerweile war ihm die Backe zur Augenbraue hinaufgeschwollen. In dem mit Gertruds Hemd umwickelten Schädel brodelten stark die mächtig erregten Gedanken wie Wasser im Kochkessel über einer Flamme. Denn eine Ahnung, eine blasse Vorstellung … er hatte das »eigentlich« auch schon gedacht, das heißt doch nicht gedacht, seien wir ehrlich, beim Hören oder Lesen bilden wir uns oft etwas ein … Das wunderbare Selbstverständliche!

»Die Kunst hat's, scheint mir, mit dem wunderbaren Selbstverständlichen zu tun«, sagte Christian Heinsberg. »Der Feind des Wunders ist die Gewöhnung der Seele.«

»Heißt's nicht besser: die Kunst hat's mit dem Selbstverständlichen als Wunder zu tun?« frug Gertrud. – »So ist es besser«, sagten Heinsberg und Tornquist (Bruno freute sich für sein Schwesterlein), und Tornquist fuhr fort: »Auch in der Ferne ist die Welt in dortiger Art gewöhnlich und das Leben ordentlich – weh den fremden Menschen, wenn es anders wäre! – aber der Hinreisende und Hinzutretende, aus anderer Gewöhnung und Ordnung Kommende, sieht sie nicht als gewöhnlich und ordentlich, noch nicht, nicht gleich; denn bleibt er, so gewöhnt er sich. Und dann ist der Zauber hin.«

Der Doktor hatte recht, Bruno schnaubte vor Anerkenntnis.

»Darum muß man reisen …« (»Ja, Doktor!« brüllte es unten) »... und sogar viel reisen, und darf nicht allzulange an einem Orte sein …« (Ja, ja!) »... ja, muß eigentlich ewig in Bewegung bleiben …« (Ja, ja, ja! Der Doktor war ein Kerl!)

»Die Gereisten wissen am besten Bescheid auch über die Welt, aus der wir uns nie bewegten, und damit vielleicht über uns Festsitzer«, sagte nachdenklich Gertrud. – »Ja«, rief da Weingard. Gertrud aber hatte den Doktor, den Ausgereisten, und Christian, den Zugereisten, gemeint. Man klärte Weingard nicht auf.

»Wenn man reist, lebt man das außerordentliche Leben der Reise«, wehrte Christian ab. »Wenn man daheim bleibt, lebt man das gewöhnliche Leben aller Tage. Weshalb soll man sich dann plagen?«

»Es plagt sich der Kluge«, sagte Gertrud. »Weil dem Fremden das Selbstverständliche des Ortes wunderbar ist, so machen oft die Zugereisten die Fremdenführer der Einheimischen. Die Einheimischen denken immer: hat noch Zeit, und kommen derart nicht zum Kennenlernen ihres Ortes.« (Potz Blitz, derlei hatte Bruno von der Schwester noch nicht gehört. Aber man pflegte ja auch wohl seine Familie zu behandeln wie seinen Wohnort; nur wenn Besuch da ist …) »Also auf, zugereister Christian Heinsberg, Schulmeister aus Bellmann, Kanton Kamyschin an der Wolga! Sollten Sie nicht etwas Neues, Schönes, Bedeutsames von diesem unserem rheinischen Heimatlande wissen, das uns unbekannt geblieben sein möchte?«

»In der Tat, ich weiß etwas«, sagte lebhaft Christian. »Man sollte es schon wissen – ich las es in Speyer in einem Buche«, minderte er ab – »man sollte es schon wissen, es ist schön wie ein Gedicht, allein ein Rheinländer kennt es wahrscheinlich nicht. Schaut hier links hinunter am Turm von Ehrenfels vorbei« – Bruno erblickte über sich des Onkels Heinsberg ausgestreckte Hand vor dem Himmel und sah die Fingerköpfe der anderen über die Brüstung greifen – »grade dort, wo jetzt die Dohle fliegt, die den Stein im Rhein deckt, seht ihr nun den Stein?« – Sie sahen ihn eben über die Rebstecken weg, Bruno konnte ihn von seinem Platze aus nicht sehen. – »Der Rhein hat Niedrigwasser. Die Felsen, die jetzt im Rhein erscheinen, heißen sehr schön ›Die krause Aue‹. Und einer der rauhen Steine in der krausen Aue nennt sich ein wenig dumm ›Mühlstein‹. Und darin hat in silberner Kapsel ein Mann, dessen Leib in der Schloßkapelle des Johannisbergs ruht, sein Herz beisetzen lassen, sein rotes Herz in silberner Kapsel im grünen Rhein; Niklas Vogt, hieß der Treffliche, er war einst Professor für deutsche Geschichte in Mainz, später, als die Franzosen dort die Universität beseitigten, in Frankfurt, ein berühmter Mann in seinen Tagen und eine Art Auskunfts- und Ratsstelle in Sachen deutscher Nation. Die Studenten seiner Universität saßen zu seinen Füßen, aber auch die anderer hoher Schulen, von Halle und Jena zum Beispiel, zogen in den Ferien zu ihm hin, um ihn zu fragen und wenigstens einmal zu sehen …«

»Das ist schön, nichts als schön«, sagte Gertrud, »ein wenig zu schwungvoll, aber schön! Künder von deutscher Nation und Wächter am Rhein sein und sein Herz in silberner Kapsel im Rhein bestatten lassen – heute würde man etwas so Schönes nicht mehr tun.«

»In silberner Kapsel«, brummte Weingard. »Eine leere Weinflasche hätt's auch getan. Silber und Gold gehören in die Bank, in den Wirtschaftsumlauf.«

Man lachte. Christian sagte: »Aber nur eine Flasche mit dem Schildchen des Winzervereins Concordia aus Helenendorf in Aserbeidschan in Überkaukasien, die am Rhein ausgetrunken wurde, wo zwar genug Wein für den Bedarf Deutschlands wächst.« – »Warum nicht?« meinte Weingard, denn was ein richtiger Geschäftsmann, Reisender in Wein ist, wird nicht so bald erschüttert. »Warum sollen die Deutschen nicht Wein der Deutschen aus Aserbeidschan trinken, roten Wein, der es mit jedem Rotspohn aus Bordeaux aufnehmen kann, da sie trotz ihrem roten Aßmannshauser und roten Ahrwein den Rotwein ihrer Erbfeinde aus der Gironde trinken? Warum nicht den ihrer Blutsfreunde aus Aserbeidschan, aus einem Lande, gegen das Frankreich kalt ist, der Heimat des Weins überhaupt, die Rebe wächst bekanntlich im nahen Kolchis wild, es steht mittelbar schon in der Bibel zu lesen; Noahs, des ersten Winzers Ararat, findet sich doch bei uns.«

Aber Christian überhörte das, der Name Niklas Vogt hatte ihn entflammt. Er wartete das Ende der Rede Weingards ab, ging aber auf sie nicht ein, sondern sagte: »Nicht dieser Niklas Vogt«, sagte er, im Stehen an die Brüstung gelehnt, der Landschaft den Rücken zukehrend, »einer, der nicht stark genug geredet und geschrieben hat, um eine Spur im Geschichtsbuch seines Volkes zu hinterlassen, ist es, der mich seit langem beschäftigt. Es ist vielmehr ein Mann, dessen längst abgeschlossenes Leben allmählich erst berühmt wird, während das einst berühmte des Professors Vogt längst vergessen ist. Aber der mit geringerem Rechte Berühmte hat dem unverdient Unberühmten Ruhm gezollt, er war sein größter Ruhmesherold – ein ergreifendes Doppelbild der Geschichte, die zwei. Von sich fort, auf den andern hat er hingewiesen, als noch wenig Leute in Deutschland den andern sahen und erkannten. Ich spreche von jemand, der auch heute noch in Deutschland nicht ganz erkannt ist – ich hoffe euch nicht zu langweilen, aber ich bin seit Wochen voll von ihm. Die Bekanntschaft mit ihm, die ich dort unter den Büchern in Speyer machte, war eine der großen Menschenentdeckungen meines Lebens. Der Mann hatte auf der Mitternachtsseite dieses Gebirges, auf dessen Mittagsklippe wir stehen, ein Gut und sein Stammhaus stehen, Frücht heißt das eine und Stein das andere, und er selbst heißt eben vom Stein, Karl vom Stein, Freiherr vom Stein. Eine deutsche Frau könnte von ihm wie von einem Geliebten sprechen, mag er selbst auch noch so spröde in der Liebe gewesen sein. Dieser Mann wäre beinahe Deutschlands Kaiser geworden, Karl der Erste und wahrscheinlich der Große, damals, nach dem großen Kriege von 1812, den er, er, der sich mit Rußland, mit unserem Kaiser Alexander und mit unserem Ruß land, verbündet und Ruß land, das Land der Russen, das ganze gewaltige ungeheure Land gegen den mit Waffen Unbesiegbaren aufzubieten vermocht hatte, durch Klugheit und Beharrlichkeit zum großen Ende führte; zum größeren aber und größten Ende geführt hätte, wenn die Deutschen bessere Leute in Staatssachen wären. Damals, vor jetzt fast genau hundert Jahren, hätte er das große Deutschland geeint, nicht das kleine, dessen Einigung da hinten im Niederwalddenkmal gefeiert wird, und die Kriege von 1864, von 1866 und 1870 wären wahrscheinlich nicht nötig gewesen. Weitere, wer weiß, die aus jener Unterlassung und den Fehlern des Kongresses von Wien noch entspringen können, möchten sich auch erübrigen. Denn damals war Deutschland, das ganze große Deutschland, für ein Jahr geeinigt, war in einer Hand, in einer starken, wurde geführt von ihr, gehalten von der gewaltigen Rechten Karls vom Stein. Ah, Geschichte kennen – wenn auch, wie ich sie kenne, nur an einem Eck oder zwei – und in ihr träumen, es gibt nichts Großartigeres! Man berauscht sich am bißchen Wissen. Karl vom Stein war sogenannter »Generalgouverneur« der von den russischen Waffen, mit denen die preußischen verbündet waren – sehen wir einmal so, das ist in russischer Weise, die preußische Erhebung an! – eroberten deutschen Gebiete, und er hat wahrscheinlich Mühe genug gehabt, die russischen Generale in den Schranken politischer Weisheit zu halten; denn mit Truppen in Ostpreußen und in Sachsen einrücken, das bedeutet für jemanden, der Krieg nur militärisch sieht, sich darin einrichten und drin bleiben. Und den Rheinbündlern hätte er auf die Finger geklopft, Karl der Mächtige und Einzige, mit dem Dessauer, dem nächsten auf dem Wege nach Westen, fing er an. Und den Sachsen hätte er am wenigsten geschont, nichts, gar nichts wäre von dessen Herrlichkeit übriggeblieben. Und die Thüringer, der Bayer, der Württemberger, der Mecklenburger, gnad' ihnen Gott! Selbst der Oldenburger, der in letzter Stunde noch dem Rheinbund, dem Schandbund, beigetreten war, selbst der Oldenburger, verwandt mit Alexander und den russischen Romanoffs, der nicht einen Mann zum Befreiungsheere schickte, würde nichts zu lachen gehabt haben. Ein Generalgouverneur ist ein Soldat, und im Kriege spaßt man nicht und fackelt man nicht lange. Stein saß schon in Frankfurt und regierte Deutschland, das ist das heutige Deutsche Reich mit Österreich. Und alle Fürsten kuschten! Und die Völker jauchzten auf! Und eben Niklas Vogt, dessen goldenes Herz dort unten im Mühlstein in silberner Kapsel ruht, gab das große Gutachten ab und betrieb seine Annahme beim Volke und bei allen Studenten in Frankfurt und durch Abgesandte namens Fallenstein und andere an allen Universitäten: Macht den zum Kaiser, der es bereits ist, Kaiser von ganz Deutschland, Kaiser in Frankfurt! Aber die Völker Deutschlands schliefen bald ein, die Fürsten, die Schurken, machten Umtriebe, die Kaiser und Könige von Österreich, Bayern und Württemberg schlossen schnell einen Versicherungsvertrag gegen den gefährlichen Freiherrn, und Deutschland verschlief wieder einmal seine große Stunde. Und ein ganzes Jahrhundert büßte an der Versäumnis, und vielleicht noch wir.«

Christian dampfte leicht. Er tupfte sich die Stirn. Bruno hatte sich den Verband von der Stirn gerissen und war hinaufgelaufen. Aber oben beachtete man ihn nicht. Alles sah Christian an. Auch der Weinreisende hatte sich dem Eindruck der Worte nicht ganz entziehen können, er lächelte sauersüß, wie einer, der es zwar anders oder besser weiß oder das Wissen des andern für kindlich hielt, aber zu widersprechen oder abzumindern im Augenblick für untunlich erachtet. Von draußen sah sich deutsche Geschichte ein wenig anders an als von drinnen, der Wolgaer, ein Flausenkopf wie alle Wolgaer, war schon zu lange drinnen.

Auf dem Heimweg ebbte die Erregung ab. Langsam schritt man, Christian und der Doktor gingen vor, Gertrud folgte mit Weingard, mit Willy, der ordnungsmäßig neben ihr trottete im Gefühl, daß er jetzt in keiner Weise Aufmerksamkeit auf sich ziehen dürfe, und mit Bruno, der stolz neben der Schwester schritt, ein aus tausend Wunden blutender Held, denn die Verbände hatte er alle abgerissen; aber das Blut war geronnen, und auch die Wunden zogen nicht eine Aufmerksamkeit auf sich, die ihnen nicht zukam.

Ein paarmal lief die kleine Gesellschaft zu einem Stau auf, dann, wenn der Doktor stehen blieb, weil er etwas zu sagen hatte, was nach seiner bescheidenen Meinung auch der zweite Trupp hören sollte. Jetzt brachte er vor: »Es ist doch etwas Herrliches um die Geschichte! Die eigene gelebte Zeit bekommt aus ihr höheren Sinn. Vieles scheinbar Willkürliche verwandelt sich in anscheinend Notwendiges. Vollends, wenn man ein Stück der eigenen, das wichtigste der eigenen, das dürfte meistens das letzte sein, von zwei verschiedenen Blickorten, hier vom deutschen und russischen Orte zugleich aus, sieht. Das Bild wird dadurch in außerordentlicher Weise körperlich und räumlich. Derlei vermag recht natürlich nur ein Doppelwesen wie ein glücklicher Deutscher von draußen – man kann so einen Mann beneiden! – einer, der zugleich an der Wolga und am Rheine zu Hause ist. Der in Katharinenstadt und in Speyer gelernt hat …« – »Ich verdanke Speyer außerordentlich viel«, unterbrach schüchtern Christian. »In einem Orte, der durch sich selbst solch ein Stück Anschauungsunterricht für deutsche und französische Geschichte ist, ein Jahr lang nichts als Geschichte treiben, westeuropäische, so wie ich in Katharinenstadt osteuropäische getrieben habe – man müßte schon arg verholzt sein, wenn man dann geistig nicht in Saft käme. Ihr könnt mich kaum wiedererkennen. Es ist ganz und gar nicht derselbe, der vor einem Jahr nach Speyer ging und der neulich von Speyer, Heidelberg und Mannheim kam. Glaubt es mir, ihr erkennt mich kaum wieder …« Aber die Augen Gertruds sprachen es stumm aus, daß sie ihn ganz wiedererkännten, Gertruds Augen, die Brunos – von dessen Augen gegenwärtig freilich nur eines! – des Doktors und auch Willys treue Braunlichter, der es so schwer hatte, sich in die Unterhaltung zu bringen, denn seine Augen befanden sich schon dort, wo die anderen erst die Knie hatten. Doch Christian sah auch Willys Augen und legte ihm die Hand auf die Stirn, die Willy leicht der Last entgegenstemmte.

»Mir ist auch vieles aus der russischen Geschichte in Speyer klargeworden«, fuhr Christian lebhaft fort. »Ich habe auch das eine und andere vergilbte Zeugnis gefunden, Bruchstücke leider nur, Papiere aus einer untergegangenen Schrift eines Bäckers Wilhelm Willich, der in Speyer bei einem Manne namens Ulrich Reiser eingestanden war. Ulrichs Bruder, Philipp Reiser, ein Bauunternehmer, hat durch Schlauheit und Kühnheit einst die auf die Franzosen peinlich wirkende Domruine davor bewahrt, völlig abgebrochen zu werden, sein Name ist heute ein großer in Speyer. Man sammelt sorgfältig alles von ihm, was übriggeblieben, im Urkundensaal. Nun, da finden sich denn Briefe des Wilhelm Willich an Ulrich Reiser über seine Teilnahme am Feldzuge von 1812 in Rußland, und in diesen Briefen, denkt euch, ist auch von einem Michael Heinsberg die Rede, einem Wolgadeutschen, mit dem Wilhelm Willich zusammengetroffen ist, in merkwürdiger und gefährlicher Weise übrigens. Und dieser Michael Heinsberg kann niemand anders als mein Urgroßvater sein, ich habe einiges von ihm durch Vater und Großvater erzählen hören. Aber rechte Fülle und überhaupt Fleisch und Körper hat er erst in Speyer für mich angenommen, als ich da vom Teilnehmer der Abenteuer etwas hörte. Übrigens scheint er ein viel aufgeweckterer Kerl gewesen zu sein als mein Ahn, der wohl auch eine Schlafmütze gewesen ist, wie wir an der Wolga in Gottes Namen alle werden …« – »Oho!« rief widersprechend Bruno, und auch Willy widersprach bellend. – »... es liegt wahrscheinlich am Strömen unseres Flusses und der Musik der Landschaft. Es ist alles zu großartig bei uns, das erträgt man schlecht. Aber, wie gesagt, Wilhelm Willich war ein Kerl, schade, daß ich von ihm nicht mehr weiß als ich tu. Aber die beiden Berichte nebeneinandergehalten ergeben ein lediglich vollständiges Ganzes. Ich werde euch gelegentlich die Geschichte erzählen, wenn es euch nicht langweilen sollte …«

»Gelegentlich? Warum nicht jetzt?« rief Bruno, und schaute aus dem einen ihm zur Verfügung stehenden Auge den Wolgamann aufmunternd an. (Gertrud rief vorwurfsvoll: »Aber Bruno!«) »Warum nicht auf der Stelle?« rief Bruno uneingeschüchtert. » Hic Rhodus, hic salta! Man soll nichts auf morgen verschieben, was man heute tun kann, lehren uns die Philosophen, die Lehrer am Gymnasium und auch meine Schwester Gertrud, vorausgesetzt, daß es sich nicht grade um ihren geliebten Christian handelt, der etwas tun soll …« (»Aber Bruno! Unverschämter …«) »... Hier ist Rhodus, hier zeige, was du kannst, morgen kann es für uns alle zu spät sein«, rief Bruno und ließ sich mitten auf dem Leistenpfad zur Erde nieder. »Der Doktor kann von der Akademie der Wissenschaften zum Vortrag gerufen werden, weil er sie um Geld gebeten hat, Herr Heinsberg kann plötzlich an die Wolga zurückbefohlen werden, Herr Weingard kann einen Schlag bekommen, weil er zu viel Wein trinkt, und wer weiß, was alles noch geschehen kann?« schrie er aus dem Raume zwischen den Beinen der zögernd Stehenden. Willy hatte sich auch schon niedergetan. »Darum setzt euch nieder auf die heilige Erde des Vaterlandes und nun, Wolfram von Eschenbach – beginne!« sang er mit seiner Stimme, die im Brechen war.

Alle lachten, Christian sagte: meinetwegen, Gertrud setzte sich auf den Sockel eines Gemarkungspfahls und lehnte den Rücken an diesen, der Doktor fand einen Grenzstein, der Weinreisende legte sich einfach der Länge lang an die Erde, im Kaukasus nahm man es nicht genau, Staub war in Asien heilig. Und Christian hockte wie ein Asiate ohne Sitzgerät nieder auf seinen Fersen; die Knaben an der Wolga sahen die Gewohnheit, hockend zu sitzen, den Tataren ab und übten es stunden- und tagelang.

Als derart alles ordentlich niedergetan war – Willy lag auf seinem immer mitgetragenen Wollbettchen am besten – begann Christian die Erzählung von Wilhelm Leichtfuß, der auch Willich hieß und aus Treis an der Mosel stammte, und Michael, dem Rotbart, Michael Heinsberg, Michael Christianowitsch aus Bellmann an der Wolga, beide tätig in Sachen der deutschen Legion in Rußland.

Begann – hallo! Erst kratzte sich Willy hinter seinem rechten Ohr so kräftig, daß sich ihm die Gesichtshaut in Falten legte, die sein rechtes Auge halb zudeckte. Sein Pelzrest rieb währenddessen am Boden, seine Rute schlug heftig in den Staub, und so kam es, daß Willy sozusagen in einer kleinen Fegung der Erde lag. Alle sahen ihm zu, die Hörenden und der Redende, aufmerksam, gutmütig, neugierig, lächelnd, liebevoll, je nach Gemütsart und dem Grade des Freundschaftsverhältnisses mit ihm. Nun hatten der Schmerz, das Leid über die Unzulänglichkeit des Lebens und die Weltverdrießlichkeit Willys Gesicht wieder verlassen, sein Kopf lag auf den Füßen, und er blinzelte der Reihe nach mit seinen nassen öligen dunkeln Augen alle von der Gesellschaft an, es hieß: Ein Kreuz, das Dasein … Dann stieß er so lang und behaglich die Atemluft hinaus, daß man fühlte: eine Krankheit war das Kratzbedürfnis gewesen, eine richtige, und davon war Willy ebenso schnell genesen, wie sie ihn überfallen hatte. Und er genoß nun sein Genesen. Ah, eine Krankheit hat es in sich, die ist nicht wie Schaum auf dem Bier, der spurlos zergeht, alleweil muß der Genesende sich ein bißchen ernst nehmen, sozusagen, schon um der Krankheit Ehre anzutun, um ihres Andenkens, ihres Nachrufs willen. Und muß ein bißchen in sich verliebt sein. Denn daraus kommt ihm Kraft, und die beschleunigt die Wiederherstellung. Und Willy schnob aus großer Tiefe die Luft hinaus, daß es zwei Wind-Staubkanälchen vor seiner Nase auf der Erde erzeugte, Willy hatte seine ganz bestimmte Meinung über die Welt.

Christian schluckte sich die Kehle frei, um nun mit Erzählen zu beginnen.

Aber da kam Geläut von Norden. Gott mochte wissen, was Kühe, was das Inwesen der Wiesen, in dieser Welt zwischen Wein und Wald zu tun hatte. Es blecherte weithin vom Halse eines zuckelig vorauflaufenden Rindes (man traute der jungen Rotznase anscheinend nicht), nun stand dieses da und stutzte auf allen vieren. Gesunder Schleim hing ihm vom blanken Nasenspiegel. Aber nun kam die Leitkuh, groß und würdig, und an ihrem Halse an armbreitem Riemen läutete es klang kling klang, klang kling klang, singendes Erz, beinahe wie aus einer Dorfkirchenglocke. Und dahinter trottete die Herde. Es half nichts, man mußte aufstehen, man mußte seine Liege- und Hockplätze räumen, auch Willy stand auf, als letzter. Er war begreiflicherweise wie alle Wesen gegen die von seiner Art am kürzesten angebunden. Man trat in die Reben, auch Willy, er nieste. Die Herde schaukelte vorüber, die roten Zitzen der weißen blaugeäderten Kuheuter schlugen im Schreiten aus dem Raume der Körper heraus. Ah, die Großen hatten es gut, für sie geschah das fast an der Erde und erregte ihnen nur ein bißchen gutmütig-heiteres Vorstellen, wobei man an Milch, Mutter und Frau überhaupt wolkenhaft-flüchtig dachte; aber dem kleinen Willy baumelte das da riesengroß vor der Nase, die Versuchung zuzuschnappen, war stark, doch er fühlte, daß sich das nicht schicke. Auch ihm mochte etwas von Milch, Mutter und Frau, ein Ahnen und Denken daran durch die Seelendämmerung gehen, er schaute hinauf zu Männlich-Seinesgleichen und traf Christians Blick, der ihm mit dem Grauen in seinem Auge zunickte. Da war Willy stolz auf sich; wenn etwas von Ordnung im gestirnten Himmel über uns und ein sittliches Gesetz eingeboren in der Menschenbrust ist, wieso ein Abglanz davon nicht in der Willys? Es war leiberwarm vorübergegangen, braune Öfen, es roch süß nach Milch, säuerlich nach Stall und Stroh und auch fade nach Abgang, den ein paar Kühe an der Stelle gelandet hatten, wo man sich niedergelassen hatte und wieder niederzulassen wahrscheinlich vorhatte.

Im Gehen entlang dem Weg fraß das Vieh mit größter Gier das ärmste Kraut, als käme es eben erst aus dem Stall ins Freie und Grüne und als wäre es nicht Abend, sondern Morgen. Es benahm sich wie die Menschen, wenn es »haben« gilt. Willy schämte sich für seine Tiere.

Die schließende Färse rupft Kettenkraut, ein kleiner Bachstelz ist ihr gefolgt. Es steht wippend, dieses Vögelchen, fein und edelgrau wie ein Kranich, an der Erde grade neben Willy und blickt aufmerksam zu dem gewaltigen Kuhtier auf – jetzt hat es auf dem Rindsschenkel eine Bremse im Fliegen und Schwirren erwischt, nach der die Färse eben treten wollte. Der Bachstelz zerhackt das hartberüstete Tier und zerlegt es auf der Straße mit Kunst und Gier. Währenddessen entfernt sich die Färse und die Herde. Als alles erledigt ist, fliegt der Bachstelz fort, seine Abendmahlzeit hat er binnen.

» Motacilla alba«, sagte freundlich-nachdenklich zuschauend der Doktor, sie hatten alle dem Vögelchen zugeschaut, dem geschickten, dem holden, dem Rindswohltäter, auch Willy. Gradezu verblüfft hatte dieser aufgepaßt, verblüfft darüber, daß der Vogel denn vor ihm nicht die mindeste Angst gehabt hatte. Die Welt gab auch Willy wie jedem andern Rätsel auf, warum sollte er sich weniger als wir den Kopf über sie zerbrechen?

Mit Erzählen war es nun nichts mehr. Aus dem Stehen geriet man ins Gehen, ins Schlendern, das Mädchen steckte sich eine Blume hinters Ohr, und der Kaukasier begann, mit einem ausgehülsten Grashalm in seinen Zähnen zu stochern, man dachte an Mittagessen oder schon Nachmittagskaffee …

*

 

Das Jahr schritt vor. Welch ein Jahr war es, dieses Jahr 1911! Die große Linde, der wissende Baum vor dem Hause, der jahrhundertalte, begann frühzeitig zu gilben. Die Blätter der Eschen am Waldrand kräuselten sich, raschelten im Wind und fielen vorzeitig ab. Vor dem Fenster des Doktors in Aßmannshausen auf der Spazierstraße am Strom standen Akazien – die Blättchen rollten sich auf und lösten sich von ihrem Sitze am Zweig. Tannen hatte man im aufsteigenden Tälchen an den Nordhang gepflanzt, in Reih und Glied standen sie wie Soldaten und starben wie Soldaten auf ihrem Platze vor Durst. Unbarmherzig strahlte und brannte alle Tage die Sonne vom Himmel herab. Solch eines Sommers erinnerten sich die ältesten Leute nicht. Das Land am Rhein schien in einen andern Wetterkreis geschoben zu sein. Die Überlieferung von heißen Sommern und großen Weinjahren sagte, daß genau vor hundert Jahren, daß das Jahr 1811 ein berühmtes Jahr der Wärme und des Weines gewesen sei. Damals solle ein ungeheuer roter Schweifstern am Himmel gestanden sein und die Menschen erschreckt haben – heuer waren ihrer drei da, doch nur mit dem Fernrohr zu sehen und also vielleicht nicht Künder eines Weltunglücks wie jener. Von anderen Ausnahmejahren wußten alte Winzer noch zu erzählen, in Weinlanden bestehen die Jahreszahlen nicht einfach aus Ziffern. Da war 1904 gewesen, als Bruno noch die Dorfschule besuchte, oder 1895, da Gertrud zur ersten heiligen Kommunion gegangen war, beides große Jahre. 1893 war kein schlechtes Jahr gewesen; daß sich von denen davor aber erst eine Erinnerung an 1868 erhalten hatte, wußte Vater Kädrich zu sagen – Vater Kädrich verjüngte sich in diesem Segensjahre. Was störte es ihn, daß die Bauern auf der Höhe gegen die Lahn hin über rotverbrannte Wiesen klagten? Daß die Förster aus dem Taunuswald, vom Kammerforst und Teufelskädrich die Kunde herunterbrachten, daß vielhundertjährige gesunde Eichen Zeichen des Kränkelns gäben? Dem Winzer, dem Winzer und Wirt, mußte es einmal gut gehen! Der Weingard hatte soviel geprahlt mit den feurigen Weinen, die daheim in Asien hinter dem Kaukasus wüchsen, gegen welche die des Rheins matte Pflanzensäftchen seien – ha, dem konnte es gegeben werden, dem Kakasier (so versprach sich Kädrich mit Fleiß), wenn der Himmel nur durchhielt, im Herbst nicht schwach wurde, aber im Winter frühen Frost auf die ausgekochten Spättrauben schicken wollte! Donnerwetter, Kakasier, Schwätzer aus einem angeblich am Ararat liegenden kleinen Deutschland, Ararier – so wandelte Kädrich das viel in den Zeitungen stehende Wort ›Agrarier‹ ab – er war schlecht zu sprechen auf die preußischen Gutsbesitzer im deutschen Osten, die, so belehrte ihn der »Winzerbote«, statt Rheinweins französischen Rotwein, den sie Rotspohn, Rotspahn, auch Rotfaß nannten, tranken. Durch Elbe und Oder von der See herein kam das französische Rotgift – ah, Kädrich war ein vaterländisch Gesinnter und übertraf im Franzosenhaß alle preußischen adligen Junker! Ha, die Schurken, die Ararier, die sich im preußischen Landtag wehrten gegen den Bau des deutschen Mittellandkanals, durch den der rheinische Wein im Kartoffelosten so billig geworden wäre wie der Bordeaux!

Aber längst nicht mehr wünschte Vater Kädrich diesen Ararier da, den Kakasier, hinter den Donnersberg fort, längst wünschte er im Gegenteil, daß er dableiben solle. Denn er brauchte doch jemanden, sich großartig daran zu ärgern, davor zu prahlen, dawider zu knottern, den alten Tag zu loben und den neuen zu schmälen, da die anderen, die Kinder usw., nicht darauf eingingen.

Und Weingard blieb. Das sei am Rhein jetzt der Wetterhimmel des Kaukasus, des Südens, wie er ihn gewohnt sei, was brauche er, wie er geplant habe, nach Algier oder Marokko zu gehen, um es richtig sommerwarm zu bekommen? Er zog den Rock aus, ging in einem feinen weißen Mullhemde aus Rumänien umher, das um Hand und Hals bunt bestickt war; aber auf dem Kopfe trug er den dickstrohigen Riesenhut der marokkanischen Bäuerinnen, er kaufte sich sein Zeug in der ganzen Welt zusammen und trug es als ein aufrechter Mann, der nach niemand und nichts frug.

Er lachte über die Schauernachrichten von den deutschen Eichen. Überhaupt, dies Deutschland … er schmatzte leer und dachte vielschweigend das seine. Im Kaukasus trugen die Eichen Korkpanzer und schützten ihren Saft, das Laub der wilden Rebe und des pontischen Rhododendron war hart und rollte sich nicht von ein bißchen angenehmer Luft auf. Was ging ihn hier diese zimperliche Welt an! Daheim im Kaukasusdeutschland dachte man nicht so altväterisch-befangen wie hier im alten Land, sondern ein bißchen asiatisch-groß. Die Perser waren gekommen, hatten Katharinenfeld niedergebrannt und deutsche Weiber in ihre Harems mitgenommen. Sollten die Nachkommen, die deutschen Männer in Aserbeidschan, nicht ein bißchen gesunde Rache dafür nehmen? Ah … bäh … in bezug auf Frauen dachte Weingard überhaupt großzügig …

Nur die Hainbuchen im Walde leisteten der Sonnenhitze Widerstand. Gräser und Blumen starben. Aber unbekanntes Unkraut und Schuttpflanzen kamen hervor. An der Stelle der vertrockneten Tannen, die man abgesägt hatte, siedelten sich Labkräuter und Heiderosen an, und Bruno suchte dort Walderdbeeren.

Der Rheinspiegel sank. Im Strome von Rüdesheim waren die Felsen der »Krausen Aue« gut sichtbar, in deren höchstem des Nikolaus Vogt Herz in silberner Kapsel bestattet war. Die sogenannten Mühl- und die Lochsteine im Binger Flußriff, das berühmt-berüchtigte »Wilde Gefährt« im Strom erschreckte von Tag zu Tage mehr die mühsam die Wasserstraße befahrenden Schiffer. Vater Kädrich auf der Höh' aber sagte feierlich den alten Spruch daher: »Ein kleiner Rhein gibt großen Wein.«

Am wunderschönen Abend eines heiß gewesenen Tages – in Brunos Gymnasium in Mainz fiel schon seit Wochen aller Nachmittagsunterricht aus – saß alles von der Familie Kädrich, der Vater, die Kinder, die Freunde, die Gäste, auf der Rossel, die Hemdenlätze vor der Brust heimlich ein wenig gegen einen köstlichen Frühnachtwind geöffnet. Im Tal erschien schon das tiefe Blau, die Sonne war gegangen, der Himmel war überstrahlt von Gelb und von Gold. Die Kirchtürme hatten den Abendsegen ausgesandt, verlorene Klänge lagen in der Luft. Sah man sie nicht, so wußte man überall die Torbänke, die Steinstufen, die Austritte der Wirtshäuser und Wohnungen von Hemdärmeln weiß, Ärmeln der Winzer und Wirte, der Bürger und Bauern, in Trechtlingshausen und Bingen, Hemdenweiß der Fürsten auf ihren Schlössern und der Prinzen auf den ausgebauten Burgen, der Metternich auf dem göttlichen Landschaftsauslug von Johannisberg, der Hohenzollern auf dem niedlichen Bürglein Rheinstein und der Herzöge von Arenberg auf Schloß Arenberg. Die Erzbischöfe von Mainz und von Trier, auch in Hemdärmeln, traten heraus auf die Ausbauten ihrer ehemaligen kurfürstlichen Schlösser, die alten Gräfinnen und Baroninnen ließen sich in die Gärten ihrer Anwesen auf Rollstühlen fahren, die Fabrikanten mit ihren Wagen an die Freitreppen ihrer Landhäuser, die Mädchen legten sich allenthalben in die Fenster und die Burschen in die Schallöcher der Kirchtürme – ah, in dieser von hohem Rot am Himmel festlichen Abendwelt.

Da, was war das? Bruno tat den Ausruf. Er starrte in die Höhe mit offenem Munde, alle folgten mit den Augen seinem Blick. Rote Vögel, rötliche Vögel, rosenrote Vögel, märchenhafte unbekannte, wie aus der Fabel, flügelten den Rheinweg daher vor dem Himmel, der sich in reines Gold verwandelt hatte, und noch von ihm angeleuchtet bogen um die Ecke bei Ehrenfels und rauschten gegen Norden fremde Vögel, rosenrote.

»Flamingos«, sagte Weingard. »Man sieht sie bei uns im Sommer im Wasser an der Kurá stehen. Unnützes Getier. Das Fleisch ist nicht eßbar.«

»Sie stehen auch manchmal vor Bellmann im Wasser«, sagte Christian.

»In Lenkoran am Kaspischen Meer, nicht weit von uns, stehen Tausende und aber Tausende entlang dem Strand«, freute sich Weingard, belehren und den Wolgaer ausstechen zu können, »und der Tiger geht zwischen ihnen spazieren. Dann schelten sie ihn sehr mit ihren häßlichen Stimmen.«

»Ah …« sagten die Deutschen.

Tief in der Ferne im Nordwesten sah man die wunderbare Erscheinung ins Abendrot eingehen …

Am andern Tage lasen sie in der Kölnischen Zeitung, daß man auch über Bamberg Flamingos habe fliegen sehen, siebenundzwanzig Stück.

»Auch bei uns unmittelbar in Aserbeidschan sind sie jeden Sommer«, sagte Weingard, »und in den Sümpfen am Ararat.« Es war unter der weitschirmenden Steinöllampe im Wirtszimmer, wo Vater Kädrich aus der Kölnischen vorlas. Weingard, selbst unempfindlich gegen Namenzauber und die Vorstellung von Länderbreiten, hatte gemerkt, daß solcherlei auf die anderen wirkte – also ließ er alle die Namen spielen: Kurá, Lenkoran, Aserbeidschan, Ararat; die Städtenamen Bakú und Batúm, die der Berge Kasbek und Karadág im Kaukasus, die Landschaftsnamen Dághestan, Imerétien und Kachétien. Brunos Mund schmatzte in Gier nach Verwirklichung der durch die Worte erweckten Wünsche.

Aber mehr noch als die Zeitungsnachricht von den Flamingos erregte Vater Kädrichs Aufmerksamkeit die, daß fremde Weinhändler im Lande erschienen, auch Ausländer. Ein erster Abschluß in Portugieser Most wurde von der Zeitung aus Büdesheim – »liegt, nicht zu verwechseln mit Rüdesheim, hinter dem Binger Rochusberg«, belehrte Kädrich, über die rostige Brille wegblickend, Weingard – gemeldet, auch der Frühburgunder der Pfalz fände schon Liebhaber … Allgemeine Teuerung der Lebensmittel, auch in Frankreich, die Zuckerrüben vertrockneten, und die Kartoffelstauden setzten keine Knollen an, die Landwirte rauften sich die Haare – ha! Vater Kädrich jubelte.

Gäste der Wirtschaft zur Linde mischten sich ins Gespräch und wußten Neuigkeiten aus dem Lande beizusteuern. Immer Sonne, Sonne, Sonne, Sonne wie in Afrika. Überall Trockenheit, die Mühlen ständen still. Der dörrste Sommer seit 1895, als alle Wiesen rot waren – »da lernte mein Martin, der jetzt in Amerika ist, grade schreiben«, greinte und grämte sich der alte Kädrich. Die Schweine würden mit Trauben gefüttert. In der Gemarkung Königsbach – das liege unten bei Deidesheim in der Pfalz, und Pfalzwein sei nichts wert, belehrte blitzenden Auges Kädrich alle Anwesenden, »Königsbacher gleich Königsbachwasser!« – in Königsbach und Deidesheim sei Wasserklemme. Das Obst falle unreif von den Bäumen, der Eimer Wasser koste eine halbe Mark, Rheinschiffe auf Bergfahrt müßten im Gebirge alle leichtern, die Viehpreise sänken, und die Bauern schlachteten.

Kädrich tief: »So war es Anno 65, da hat es den feurigsten Wein gegeben seit Jahrhunderten! Ich bekam ihn schon zu trinken. Engelspisse, sag ich euch.« Dann sprach er die Volksverse:

»Wenn der Fisch schwitzt und runzelt
und der Weinbauer schmunzelt,
wenn die Schiffer machen lange Schnuten,
dann gibt's guten!«

Als Gertrud ihr Schlafzimmer betrat, fand sie einen Busch Rosen auf ihrem Kopfkissen liegen. »Ah, Kakasier!« lachte sie.

Die Gluthitze nahm nicht ab. In den Wäldern gab es Feuersbrünste. In den Flüssen starben die Fische, lagen auf dem Ufersand und stanken. Bäume, die schon Laub abgeworfen hatten, blühten zum zweiten Male. Viele Menschen fielen von Hitzschlägen. Nachts zeigte das Glas noch zwanzig Strich. Die Leute schliefen auf Ausbauten und Fensterbänken. In Deidesheim ging ein mondsüchtiger Mensch nackt durch die Straßen und Weinberge.

Der Rhein war so gesunken, daß bei Frei-Weinheim (man konnte von der Rossel hinsehen) auf dem Flachufer, im Hessischen, Schloß Vollrads gegenüber, ein breiter Sandstrand entstanden war, auf dem der Wind Dünen aufgeworfen hatte. Die reichen und feinen Leute des Rheinlands, die sich die »guten Bürger« nennen ließen, flohen wie alle Jahre, nur diesmal früher als sonst, an »ihren« Meerstrand, das war der belgische von Ostende und Blankenberge und rekelten sich dort im Sande. Die Leute aus der Linde, die etwa zur Mittelklasse gehörten, pilgerten nach dem neuen binnenländischen Strande, sie gingen unter Sonnenschirmen über Eibingen und Geisenheim nach Winkel und setzten dort mit dem Schiffchen über. Ha, baden, schwimmen, braten, geröstet werden! O köstliche Nacktheit! Weingard aber übertrieb die Freude an der Nacktheit, sehr zum Mißvergnügen Gertruds. Bruno hatte ein Buch bei sich. Er tauchte alle Stunden einmal ins Wasser, kam herauf, steckte die Hand zum Trocknen für eine Minute in den heißen Sand, und dann faßte er das Buch an, Bücher behandelte er mit Sorgfalt. Wie ein junger Musiker nichts anderes kennt als Noten – einseitig wie ein Musiker bildete er sich schon in Knabenjahren zum Forschungsreisenden aus, las und dachte nichts, was nicht auf die Kunde von der Erde nächsten Bezug gehabt hätte. Besonders das Weite und Leere der Räume fesselte ihn, bewohnte Länder waren nicht recht nach seinem Geschmack, sie kamen ihm sozusagen von Menschen entheiligt vor. Er hatte hohe Vorstellungen von Raum und Erde in der Seele. Aus dem Jungen wird was, sagten die Lehrer im Forstergymnasium. Jetzt schoben er und Weingard sich hinter eine Düne, wo sie nackt sich Übungen im Türkischen hingaben.

Es war still in der Welt. Man sah drüben die Dinge des Bergufers in den Hitzewellen schwanken. Erbarmungslos wie alle Tage stand der hartklare Himmel über dem Lande. Vater Kädrich badete nicht, er lag den halben Tag unter einem roten Sonnenschirm in Hemd und Hose und rauchend aus der Meerschaumpfeife auf dem Rücken, ein gefällig aussehendes Menschentönnchen. Er füllte sich mit Zeitungsnachrichten an, trug stets die jüngsten Nummern der Kölnischen und Frankfurter, der Rhein und Nahe-, der Winzerfach- und der Zeitung des Beköstigungs- und Beherbergungsgewerbes sowie des katholischen Leoblättchens in der äußeren Rocktasche, aus der die Papiermasse hoch hervorstand, und wenn er von der Masse des Gelesenen voll war, gab er sie in Güssen ab: In Rußland herrschte Unheilsdürre. Um Wolga und Uralfluß »hatte das Sengen der Sonne sich zu einer verheerenden Fackel gesteigert«, wie das Blatt in abscheulichem Deutsch sich stilstark auszudrücken bemüht hatte. »Mißernte … Hungersnot …« Kädrich schaute scharf seitlich über den Brillenbügel weg Christian Heinsberg fragend an. – »Macht nichts«, sagte Christian ruhig. »Mit einer Mißernte rechnen wir jedes dritte Jahr. Die Hungersnotgefahr besteht nur in der Einbildung des deutschen Zeitungsschreibers. Dagegen haben wir die Ambare. Die Archen stehen gefüllt.« – »Ah –« – »Was hier außergewöhnlich ist, ein so trockener und heißer Sommer, ist bei uns die Regel. Alles, Erde, Pflanze, Tier und Mensch sind ihr angepaßt. Wir Deutsche drüben auch. Wahrscheinlich haben wir uns etwas verändern müssen.«

So! Dann war also alles in Ordnung! Der Tönnchenmann stürzte sich wieder in die Zeitung und füllte sich aufs neue lesend an, der Rhein kämpfte weiter um sein Dasein.

Die Sonne senkte sich gegen den Rochusberg. Das Licht wurde sanft. Die Landschaft rötete sich. Ohnehin war hier im Hessischen der Boden rot. » Kisil kum«, lehrte Weingard, das heißt: roter Sand. Den Augen war alles eine Labsal.

Von einem kreuzenden Schiffchen kam Gesang herüber: »Rheinisch leben, das heißt lustig sein …« Was Vater Kädrich veranlaßte, Zeitung und Brille von sich abzutun, aus einem im Schatten gehaltenen Sack Selterswasser und einen leichten Wein hervorzuholen und die Stoffe zu einem erfrischenden Getränk zu mischen, das er Schorlemorle nannte. Er bot Heinsberg und seiner Tochter davon an unter dem Rufe: » Toujours l'amour«, einem Rufe, den man immer beim Zutrinken mit diesem leichten Stoff ausstoße, unterrichtete er den Wolgamann.

»In Berlin flieht alles aus dem glühenden Steinhaufen an die Seen«, ließ die Kölnische durch den Mund des Lindenwirtes jetzt unvermutet wissen. »In Neuyork schläft die Bevölkerung im Freien, auf den Straßen arbeiten Duschen, jedermann, der will, kann unter sie treten, die Leute gehen ins Geschäft in der Badehose. Viele werden vor Hitze wahnsinnig, andere fallen im Schlafe von den Dächern …«

»So ist es bei uns jeden Sommer, nur daß wir dann nicht in der Badehose gehen und wahnsinnig werden«, sagte Christian. »Und überdies: Europa ist wehleidig.«

»Die Gürtel und Striche der Erde dürfen nicht verschoben werden, ohne daß alles seufzt«, belehrte sachlich und gleichsam unwillig, nur damit auf die kürzeste Weise alles klar werde, der Doktor. »Jetzt hat sich einmal das trockene Afrika auf Europa gelegt. Ein anderes Mal geht's umgekehrt, dann brechen die Palmen im Schnee.«

Bruno war herumgekommen, stand da und hörte brennend zu. Dann ging er wieder.

»Die Gletscher beginnen zu schmelzen«, sagte eine Meldung aus Innsbruck. »Die Brunnen trocknen aus, die Eisenbahnzüge fahren fast leer am Tage«, kam es aus Agram.

Bruno war wieder da. Nichts entging ihm von Artgemäßem.

»Menschen werden tobsüchtig«, verkündete jetzt Vater Kädrich mit dem Gleichmut, den das tägliche Lesen des bleichen kahlen Papiers verleiht.

Und Wieprecht tanzte frank und frei
an der Frau, an der Magd, an der Bank vorbei …

sang es von irgendwoanders her aus den Dünen. Man hörte darauf eine Stimme erzählen:

»Sie wallfahrten zum heiligen Jodókus. Den Oberrock hatten die Frauen, um ihn zu schonen, von hinten her über die Köpfe geschlagen. Plötzlich lacht ein Bengel neben der Mutter laut los. Was er hat, fragt die verärgert. ›Och, ich dät mich joh kabott lache, wänn mir hinkäme on dä heilige Jodokus wär nei doh‹.«

»Dä es e Bacharacher, dä verzehlt!« schrie Kädrich-Vater und lachte sich auch »kaputt«. Dann stand er auf und zog mit Pfeife und Schorlemorle ab in die Dünen, er fühlte das Bedürfnis, sich dankbar und freigebig zu erweisen und überhaupt, unter Menschen und seinesgleichen zu sein.

»Rheinisch leben, das heißt glücklich sein …«

»Die Politik entscheidet über Glück oder Unglück der Menschen«, sagte Christian für sich, auf dem Bauche liegend, und blies dabei in das Sandmehl, sodaß eine Spitzmuschelform darin entstand. »Darum gibt es eigentlich nur einen würdigen Beruf für den Mann …«

Man wußte nicht, was der Doktor davon meinte. War er gehemmt am Sprechen? War er zu faul zu reden? War er zu höflich, um zu wiedersprechen? Die Schweigsamen richten kein Schwätzerunheil an, aber es ist anstrengend, sich mit ihnen und auch nur vor ihnen zu unterhalten. Er war so mager, der gute Doktor, daß man in seinem Gesichte durch Haut und Fleisch hindurch die zwei Löcher im Oberkiefer sah, durch welche der Nerv an die Zähne tritt. Es war alles an ihm Nötige da, aber gleichsam zugewogen.

Weingard lehrte Bruno, daß bei den sie hinter dem Kaukasus umwohnenden Tataren und Ararattürken kara kum, schwarzer Sand oder Wüste, auch die übertragene Bedeutung von »Tod und Verhängnis« habe.

»Die Kochemer haben einst die Stadttore geschlossen, weil dem Bürgermeister sein Kanarienvogel entflogen war …« – »Haha! Haha!«

»Und die Kowelenzer rissen ihr Moseltor ein, als der neue Bürgermeister sagte, beim Herankommen sei ihm dieses von der ganzen Stadt ›ins Auge gefallen‹.« – »Huhu! Huhu!«

Rhein und Mosel bewarfen sich mit ungefährlichen weichen Pflaumen. Die ganze Landschaft schien mitzulachen.

Das östliche Bergufer des Rheines trug Abendglühen. Ein lockeres Kränzchen roter Haufenwölkchen stand im Westen. Das Rheingaugebirge und der ganze Taunus röteten sich, am meisten errötete drüben im Abendglück das schön-schlichte Schloß Johannisberg über dem regelstrengen Rebenhügel.

Die Glut auf Schloß Johannisberg war bald mattem Blau gewichen. Allein sogleich begann es auf zunächst nicht erklärliche Weise nachzuglühen, schöner zu glühen als vorher, nicht mehr geradeswegs, sondern mittelbar, feiner, geisterhafter: gelb bis fleischrot glühte es und spielte hinein in alle Feuertinten von Rot.

Der Vater erzählte, seine Stimme war die angenehm klingende rheinische und war eine Stimme am Abend: »Die Mönche drüben auf dem Johannisberg, als das Schloß einmal Kloster war, erhielten Besuch von ihrem Abt aus Fulda. ›Wollen wir gemeinsam das Brevier beten‹, sagte der Abt an der Tafel, auf der so viele Flaschen standen, daß er sich darüber verwunderte. Suchend griffen die Mönche in die Taschen, aber keiner hatte das Gebetbuch bei sich. ›Soll gelten‹, sagte der gute Abt, denn er war nicht gekommen, um Krach zu machen. ›Dann trinken wir in Gottes Namen Wein, die Himmelsgabe‹, und griff nach der Flasche, die vor ihm stand. ›Hat vielleicht jemand einen Korkzieher bei sich?‹ – da fuhren die Mönche wieder in die Taschen, und dem hohen Herrn wurden so viele Korkzieher angeboten wie Brüder in der Halle waren, man sagt dreihundertfünfzig.« …

Gertrud hatte Tränen in den Augen, obgleich sie die Geschichte sicher schon kannte, sie lachte lautlos und von innen gestoßen. Christian lachte, auf dem Rücken liegend und die Hände schwalbenschwänzig verschränkt unter dem Kopfe, in Landschaft und Himmel, die Geschichte gehörte für ihn auf irgendeine Weise zum Abendrot. Alle – mit Ausnahme natürlich von Bruno – lachten sich fünf Minuten glücklich und noch ein bißchen gesünder, als sie schon waren, denn des Wohlbefindens bis in den tiefen Leib hinunter kann man nie genug haben.

Der Rotschein auf Schloß und Berg war vergangen. Zuletzt war's noch veilchenfarben darübergehuscht, jetzt aber lagen Berg und Burg und Welt und Wald im gewöhnlichen letzten Lichte aller Tage da.

Die Sterne zogen herauf.

Nachher, im Schiffchen, waren der Männer und Frauen ein nettes Häuflein beisammen, die Gläser kreisten schnell. Die Kelche klangen vom bloßen Einschenken, jedes in einem feinen, jedes in etwas verschiedenem Ton. Aber wie klangen sie, derb-natürlich und stark wie Kuhglocken, als angestoßen wurde! Der Fährmann schrie: Sitzenbleiben! Denn auch im untiefen Rhein konnte das Kraftbötchen umschlagen, und zum Ersaufen war trotz der Dürre dieses Jahres noch genug Wasser im Fluß. Eine Papierlaterne, eine Kerze in einer Tüte, leuchtete. Der Vollmond ging im Rücken der Nachtfahrer auf über Mainz.

Am Rhein, am Rhein, da wachsen unsere Reben,
gesegnet sei der Rhein …

»Prosit!« – »Sitzenbleiben! Kotzdonner! Wille mir denn allesamt versaufe? Seid ihr Mädercher die vernünftige! Ihr seid noch e bißche nüchtern …« –

Siehst du die Mädchen so frank und die Männer so frei,
als wär es ein adlig Geschlecht,
gleich bist du mit glühender Seele dabei …

Weingard versuchte, eine Hand Gertruds, die neben ihm im Bötchen saß, zu erhaschen. Sie stieß die seine nicht fort, sie ließ ihm die ihre, bis sie sein Glas vom Tischchen inmitten genommen hatte und es ihm in die seine gab, die sie hielt. »So durstig, Herr Weingard?« rief sie lustig. »Er kann es nicht abwarten, zum Glas zu kommen, braucht dabei Hilfe! Zum Wohlsein! Der Taunus und der Kaukasus! Das ist nämlich Roteberger von Geisenheim. Aber passen Sie auf! Er hat's hinter den Ohren – wie Sie!«

Die Bacharacher wollten durchaus Schunkelwalzer machen. Alles hatte einander untergefaßt und begann im Sitzen mit dem Schaukeln. Der riesige Fährmann – die Beine angeleuchtet von dem Tütenlicht stand er im Boote, Körper und Kopf schoben sich oben durch die Sterne, man hätte ihn für ein Urgespenst der Nacht, den Tod selbst, nehmen können – der Fährmann raste. Er schwang über den Köpfen die Stoßstange, mit der er das Schifflein von den Untiefen fernhalten mußte, die jetzt bei Niedrigwasser überall drohten, und wenig fehlte, daß sie auf einen Rücken niedergegangen wäre.

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
daß ich so traurig bin …

begann der seligste Bruder, aber ein anderer schnitt kräftig den Sang ab mit

Deutschland hoch in Ehren …

Stark stieg das Lied. Alles, Mann und Weib, sang. Das Motorchen, das nur mit ganz kleiner Kraft im äußerst vorsichtig fahrenden Schiffchen lief, puffte leise den Singtakt. Des Fährmanns schwarze Stange rührte im Gewühl der Sterne.

Das Bötchen glitt an all den im Binger Hafen aufliegenden Treckbooten, Schleppkähnen und allem Zubehör der jetzt fast unbrauchbaren Rheinflotte vorbei. Wie eine Versammlung von Geisterschiffen sah das alles im Licht der Kerze aus. Da und dort lugte ein Schifferkopf über einen Bord verstört herunter; der arbeitslose Mann, der in der lauen Nacht auf dem Kahnsdeck schlief, war von der lustig-lauten Gesellschaft geweckt worden.

»Die Wacht am Rhein!«

Nun brauste der Sang wie Donnerhall hin durch die Gespensterflotte, und die bängsten Zecher fühlten ihren Mut. Aber die Bacharacher hatten es herausgebracht – Vater Kädrich hatte es verraten – daß da ein Mann von der Wolga führe. Er solle singen! Er müsse singen! Ein Lied von drüben! Einen Preis der Wolga, wie sie den Preis des Rheines gesungen hätten!

Als Christian zögerte – des Doktors Gesicht drückte Entsetzen aus in der Vorstellung, daß auch er vielleicht singen müsse; der Doktor, und singen! – sang der Anführer der Bacharacher, Kowelenzer und Kochemer als Beispiel vor, sang ihm Mut zu mit der Strophe:

»Da geht dir das Leben so lieblich ein,
da blüht dir so freudig der Mut.
Dich bezaubert der Laut, dich betört der Schein,
Nun singst du nur immer: am Rhein, am Rhein,
und kehrst nicht wieder nach Haus …

Sie singen uns jetzt ein herrliches Lied von der Wolga! Von Frühling und Liebe am Strom! Ein Wolgalied, ein stolzes und glückliches wie eins vom Rhein! Los!«

Das Schiffchen fuhr langsam im Gewirr der schwarzen toten Schiffe. Christian sträubte sich nicht länger und sang. Sang leise das Lied des Tataren im Wolgakamysch:

Wolga, Wolga, es hat noch kein Frühling
deiner Fluten so breite gekannt,
wie von Wogen des großen Volksleids
überflutet ist unser Land …

Kein Laut. Die Zecher waren still. Der Anführer hatte sein Glas frischgefüllt in der Hand gehabt, um dem Wolgasänger, wenn er geendet, zuzutrinken: jetzt saß er da, die Hand über den Bord gehängt, er drehte sie um, der Wein floß in den Rhein, der Fluß spülte in der langsamen Fahrt gegen den Strom rund durch den Kelch des Glases.

»Ich will es euch auch türkisch singen, in der Sprache der Tataren«, sagte Christian Heinsberg. Und er begann: » Etel, Etel …« Und die Schwermut des Wolgaliedes stand aus der asiatischen Sprache noch größer auf, klang noch dunkler wider von den hohlen schwarzen Schiffsrümpfen, durch deren Versammlung das Boot noch fuhr, und allen verging der Spaß.

Die Lindenleute landeten still in Rüdesheim.

*

 

Sie aßen am Sonntag gut, wie es sich gehört. Dann schliefen sie ein wenig. Willy stand zuerst auf. Er hatte, mit dem Mund auf den Füßen ruhend, einmal das linke, dann das rechte Auge geöffnet und ausgeschaut, ob sich im Hause schon etwas rege. Aber es regte sich noch nichts, und Willy hatte beide Lider wieder heruntergelassen.

Doch jetzt war es ihm genug der Faulenzerei! Er sprang von hinten nach vorn auf und stand auf den Füßen, er fühlte ein gewaltiges Bedürfnis, sich zu recken, er streckte das vordere Gehwerkzeug so von sich, daß sich die Zehen öffneten, gähnte, klatschte mit den Ohren – und war wach.

Vom Klatschen der Ohren Willys wurde Christian Heinsberg wach. Langsam im hohen Uhrholzkasten, hinter dem Glase des Einguckloches in der Mitte, bewegte sich eine pfundschwere messingene Pendelscheibe hin und her, hin und her, hin und her, mit einem tiefen dunklen alten Ton, schon hundertfünfzig Jahre lang. Die vom vielen Blankmachen greisenhaft alten Weiser zeigten auf dem von Sprüngen verrunzelt aussehenden porzellanenen Zifferblattgesicht halb drei Uhr. Christian erhob sich von der schwarzen Polsterbank der um diese Stunde leeren Wirtsstube. Seine Augen waren vom Schlafen so blank wie zwei Teelöffel geschöpften Quecksilbers.

Auch die anderen kamen allmählich herbei: der Vater, der sich als Gewohnheitsraucher nach dem Schlafen so räuspern mußte, daß man es durch das ganze Haus hin hörte, Gertrud, die braunen Augen von der Klarheit dunkler ungestörter Brunnen zur Mittagszeit, und Bruno, der nicht geschlafen, sondern in einem bedeutenden Buche gelesen hatte. Man trank Kaffee am runden Stammtisch der Vorzugsgäste, Gertrud gab noch Anweisungen an Köchin, Kellner und Helferinnen; denn daß sich am Sonntagnachmittag Wirtsleute aus ihrer Wirtschaft zum Lindenbaum über dem Rhein, Ausflugsziel und Einkehrort so vieler den Rhein heraufgekommener Bacharacher und Koblenzer, Neuwieder und vielleicht gar Bonner und Kölner, entfernten, das war etwas Außergewöhnliches. Aber auch Wirte, Zackerlot, wollen sonntags einmal frei haben!

Es war ein großer Spaziergang angesetzt. Der Doktor kam von Aßmannshausen herauf, Bergsteigen machte seinen Lungen gar nichts aus, in Rüdesheim würde man Weingard treffen, man setzte sich zu fünf in Bewegung, nein zu sechs, denn Willy zählte mit.

Willy sprang vorauf und bellte laut. An den Vorbereitungen und Zurüstungen, am Vorschlafen, Kaffeetrinken, Kleiderbürsten, Hut-, Spazierstock-, Handschuhsuchen hatte er gemerkt, daß man heute endlich einmal die Beine rühren und die Wege zu dem Zwecke gebrauchen wollte, für den sie da sind: belaufen zu werden.

Der Doktor, kaum vom Steigen schwitzend – seine »Trockenheit«, über die er unglücklich war, hatte auch ihre guten Seiten – hatte unter der Linde gewartet und erzählte, während man bei ihm zusammentrat: Im Baltenlande kannte er eine Adelsfamilie, die war so reich, zwanzig Minuten lang lief der Petersburger Schnellzug durch ihre Besitzungen hindurch. Die Leute konnten sich natürlich alles leisten. Der Baron verschwand öfter auf lange Zeit, einmal für sieben Jahre, und verlor sich in der Welt, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben. An einem Weihnachtsabend geht die Tür auf, mein Herr Baron von Löwenstern kommt herein und überreicht seiner Frau einen Strauß Vergißmeinnicht!

»Ein famoser Gatte!« lachte Gertrud. »Wurde seiner Frau nicht lästig.« – »Hatte eben die Unruhe am Leibe«, erklärte der Doktor, »oder war irgendwie nicht mit sich zufrieden.« Christian steuerte nichts bei. Kädrich meinte, daß der Mann einfach eine zweite Frau gehabt habe, in Baden-Baden oder in Wiesbaden. In Wiesbaden um die Ecke 'rum seien viele Russen, eine russische Kirche mit goldenen Kuppeln stehe dort auf dem Neroberge. Da sagte Bruno: Was ein rechter Mann sei, dürfe überhaupt nicht heiraten; die Heirat sei etwas Hühnerhofartiges; sei etwa Kant verheiratet gewesen oder Schopenhauer, oder sei es von den Jüngeren der Schwede Hedin, der jetzt in Asien so viel von sich reden mache? Dann arbeitete er, die Zunge zwischen den Zähnen, an der Zwinge seines Spazierstockes. Die Großen sahen sich hinter Brunos Rücken vielsagend und staunend an und verzogen in verdrücktem Lachen den Mund.

Während man sich nach Süden in Bewegung setzte, sagte der Doktor zu Bruno, der umständlich seinen neuen Spazierstock gebrauchte, daß der besagte Schopenhauer wie die Zigarre aus dem Mund so auch den Spazierstock in der Hand für lächerlich erkläre. Er spreche von Feuerfressern und Dreibeinern … Aber Bruno war ein selbständiger Geist. Bezüglich des Rauchens hatte Schopenhauer recht, der kluge Kopf, und hinsichtlich des Spazierstocks unrecht, der alte Narr. Aber das sprach Bruno nicht einmal aus. Er verteidigte sich sehr selten, er war Bruno. Die Vögel verhalten sich etwa so wie er …

Verlorene Musik war in der linden Luft. Die Rheindampfer fuhren unten in der Tiefe, wohl mit Kapellen an Bord? Aber in den Häusern sang um diese Stunde ganz gewiß die Hausfrau, die Mädchen sangen im Chor, untergefaßt die Dorfstraße beschreitend, eine einsame Liebende sang schallend im Garten, einen früchteschweren Zweig über sich zum großen Halbrund biegend, am Rhein und in den Höfen auf den gesenkten Wagendeichseln saßen die tonbegabten Jungens aus dem Volke und übten sich, in weißen Hemdärmeln, mit roten und harten Fingern im Spielen und Ziehen der Knieorgel. Selbst der gellend aufschreiende, hallend absinkende Pfiff des Schweiz-Holland-Blitzzuges, der unsichtbar durch die Taltiefe schoß, mochte heute weniger Warnung oder Zeichen im Verkehr sein als Jubellaut und Ausdruck des Behagens von Eisen und Stahl, die, wenn sie schon ihren Dienst tun mußten, im Vorbeilaufen wenigstens einen Glücksruf in die Lustlandschaft werfen wollten. Willy hörte auch den Pfiff und spielte für sich allein ein bißchen Schnellzug, indem er plötzlich die Strecke bis zur Rossel gestreckten Leibes mit wehender gerader Fahne lief. Dort angekommen, und nachdem er im Abbremsen eine Wolke erregt hatte, drehte er sich im Staubrauch um und rannte ebenso geschwind zurück. Aber plötzlich wollte er nicht einmal Bummelzug spielen, er hielt an, schnupperte am Boden und roch sich nun den Weg fort; denn er hatte eine Kaninchenspur aufgetan, folgte ihr in den Weinberg und blieb vor dem Munde des Baus stehen, bellte heiser, sprang und fiel zurück auf die Füße, bellte wieder, schaute auf und steckte den Kopf ins Loch, daß die nasse Nase dreckig herauskam, und all das Aufgeregttun nannte er wohl Sonntagsvergnügen.

An der Weggabelung, wo es schräg hinab und halb rechts nach der Rossel ging und wo es links Waldsaumweg hieß, blieb der nun von den Kaninchen losgekommene und wieder voraufgelaufene Willy wartend stehen. Er drehte sich um. Als die Leute auf halbe Entfernung gekommen waren, erhielt Willy von der Frau das Winkzeichen: halb links. Willy nieste und schlug den Waldsaumweg ein.

Rechts standen Reben, links Kiefern. In den Reben rührte sich ein Wiesel, ein Eichhörnchen saß neugierig äugend in der Fußhöhle einer Kiefer. Aber sonntags jagte Willy nicht.

Sie kamen hinunter zum Niederwalddenkmal. Es waren noch wenig Leute da. Die Ansichtskartenverkäufer klebten müd wie Winterfliegen am geschliffenen Granit des Denkmalsockels auf der Schattenseite. Sie ließen, Fliegenpest der Fremden, die Eingeborenen mattlächelnd in Ruhe. Es war, als strahle die, heute gute zehn Tagesstunden lang von der Hundstagesonne beschienene, Bronzemasse der Germania wie ein Eisenofen Glut aus.

Die Wanderer gingen den Weg, der der heraufkletternden Zahnradbahn entlang läuft, rüstig hinab. Der erste Nachmittagszug klomm an der Zahnstange herauf, in der dritten Klasse sang es stark und stolz Die Wacht am Rhein, jedoch klang es, die Hitze angesehen, bestellt.

Man hatte beim Stehen unter der Linde, als man den Marschplan beraten, verabredet, man wolle von Rüdesheim unten um den Berg, auf dem man wohnte, herum und stromab nach Aßmannshausen und Lorch spazieren. Daher ging Christian von der Stelle »Rissiger Holzgott« aus, wo man auf der Bank sitzen und ihn erwarten wollte, in das nahe Klosterhaus des Rüdesheimer Weilers Eibingen, wo er wohnte, um sich europäisch umzukleiden. Willy begleitete ihn. Bruno war das »sch...egal«, wie er sich in der herben Sprache des Forstergymnasiums ausdrückte, und begab sich auf die Suche nach Kieseln, man hatte in der Erdkundestunde »gehabt«, daß am Rüdesheimer Berg Reste von alten Flußböden hingen. Der Vater ging den Gemarkungen entlang und fühlte Behänge erreichbarer Stöcke nach Fülle und Saft ab. Gertrud und der Doktor waren allein. Sie saßen auf der Steinbank vor dem Kreuze.

Sie schwiegen still. Im hölzernen Gotte klopfte der Wurm, es war, als schlüge ein Herzchen darin …

Sie stand auf. »Christian kommt noch nicht« sagte sie. Er erhob sich auch.

»Er muß eben noch, und das dauert ein bißchen lange, im Klostergut die schöne Schaffnerin abküssen …« »... wünschen Sie sich«, lachte nach einem Augenblick Stutzens Gertrud.

»Ach, Doktor, Sie sind doch ein Knabe, und ein lieber dazu.« – »Soll ich nun heulen oder schluchzen?« frug er mit männlichem todernstem Ausdruck. – »Sie sollen hierherkommen, sich wieder mit mir hinsetzen …« – er setzte sich ohne Umstände von neuem neben sie – »... vernünftig sein und mit mir auf ihn warten, so wie wir Frauen immer auf die Rückkehr der Männer warten müssen, eines Tages beliebt es ihm wohl zurückzukehren …«

»Ich frage mich vielmehr, welches Tages es ihm wohl beliebt, weiterzugehen …« – »Pst, denken wir nicht daran …«

»Eines Tages«, sagte er, »im vorigen Jahr, im Frühling, kam ein Mann aus Rußland, ein Deutscher von da, einer von anderthalb Millionen, und wollte dem einstigen Auszug von hier nachschauen – viel kommt gewöhnlich nicht dabei heraus, wie auch in seinem Falle, kleine Leute sind geschichtslos, sie tun etwas, fertig, Aufschreiber des Schicksals bestellen sich die Leute vom Grafen an aufwärts. Aber nun hat er das wenige gefunden und sich sogar noch ein Jahr länger in der näheren und ferneren Heimat herumgetrieben, ist in Speyer gradezu ein Geschichtsprofessor und hier in Europa ein Weltmann geworden – also, Sendung erfüllt? Europareise erfolgreich beendet? Gewiß, aber jeder hütet sich, ein gewisses Wort ›Abschied‹ oder ›Weggang‹ auszusprechen, außer einem schäbigen Doktor, der übrigens auch vor dem Davongehen eines Mannes, den er wahrscheinlich seinen Freund, seinen ersten wahren Freund in dieser Welt, nennen muß, Angst hat, der aber ganz einfach eifersüchtig ist. Der nicht Alexandra Heinsbergs in Bellmann an der Wolga, die er so glücklich war, einmal seiner Tage zu sehen, großartiges Selbstgefühl besitzt, der sich einfach nicht leisten kann, nicht eifersüchtig zu sein. Der nicht eitel genug ist, um nicht eifersüchtig zu sein, nicht so eitel wie die herrliche Alexandra. Der sogar in diese Alexandra etwas verliebt ist, aber nur wie in eine Heilige, wie in ein Wesen der andern Welt, und die Wolga ist für uns schon die andere Welt. Der auch diese Heiligenliebe ruhig im Herzen haben darf, denn Alexandra wird niemals aus jener Welt in die unsrige kommen und zurückkehren, sie ist wahrhaft und für immer ausgewandert, sie denkt nicht mehr an Deutschland, wie es letzten Endes zum richtigen Auswandern ja auch gehört. Die also niemals zurückkehren wird und einen gewissen Ehefrieden stören kann, den der besagte schäbige Doktor genießen möchte mit einer Frau, die er nun keineswegs mit Heiligenliebe liebt, sondern mit Menschen- und Männerliebe, Frau in Europa …«

»Pscht, pscht« … Gertrud hat die Augen geschlossen.

»Weiß er –?« – »Ich weiß nicht, was er weiß. Was soll er wissen?« sagte sie leise. »Das Schönste ist, wenn zwei Leute auf der Rossel sitzen und von ihnen eigentlich nichts da ist als der Punkt, an dem sie sich denken. Sonst aber sind sie Land und Luft und Lautlosigkeit, Wolke, Welt und Weite … ich kann es nicht anders sagen.«

»Sie sagen es gut. Man kann neidisch werden.« Er schaute wieder zu Boden.

»Warum hab' ich ihn hergebracht?« rief der Doktor. »Denn ich bin doch letztlich der Grund dafür, daß er da ist! Warum lief ich nach Asien, nach Asien hinein an der Wolgapforte? Denn da stand er und wartete. Wäre ich nicht vorbeigekommen, so hätte er vielleicht niemals einen Mann aus Deutschland, einen Deutschländer, wie sie dort sagen, gesehen, es wäre ihm niemals der lächerliche Wunsch aufgestiegen, nach Deutschland zu kommen. Wo sollte es hin, wenn plötzlich alle Millionen Ausgewanderter zurückkommen wollten? Wir würden uns bedanken. Selbst wenn sie nur hierher reisen wollten? Was gäbe das für eine Völkerwanderung?«

»Ja, wie war das doch, als er plötzlich da war?« frug Gertrud sich und ihn. »Es war an einem Nachmittag am Tisch unter der Linde. Willy hatte leicht gemeldet, und Bruno kam herein und sagte, ein Hergelaufener, ein Zigeuner, ein Böhm' oder ein Tiroler sei da, irgendwas Fremdes, er könne aber nicht sagen was, und wünsche zu trinken. ›Du, Willy, geh hinaus und riech ihm mal an die Stiefel‹, was Willy denn auch tat. Da ging auch ich hinaus an den Tisch und schaute den Fremden an …«

»Da ist noch der andere, dritte«, sagte er ablenkend. Sie aber machte schnack mit Daumen und Mittelfinger, daß es knallte, und rief Willy, der hergelaufen kam, etwas Freundliches zu.

»Eine schöne Verwicklung«, sagte der Doktor bittersüß lachend. »Der eine will in allen Ehren, der andere will in allen Ehren nicht, der dritte möchte in Unehren. Und sie, die gewollt wird, will grade in der einen unmöglichen Richtung. Eine schöne Geschichte das!«

Schritte kamen schnell vom Klosterhaus her. Es war Christian. »Freunde, verzeiht, ich habe euch warten lassen. Aber ein Brief Alexandras lag da, den mußte ich lesen …«

 

Dort, wo die Gemarkung von Rüdesheim »Bubenstück« hieß, wurde Willy zurückgeschickt. Er ging gehorsam, doch ungern und offensichtlich leidend. Er blieb oft stehen und schaute sich um. Aber es war nichts zu machen … Da hinten gingen sie … Da unten verschwanden sie …

Sie trafen auf dem Kastanienplätzchen vor der Brömserburg in Rüdesheim Weingard, von der Kirchfahrt zurückgekehrt, an. Halb Mainz, Wiesbaden und Frankfurt war im Zuge gewesen. Die Fremden überschwemmten das Rheinstädtchen. Weingards bartumrahmtes Gesicht lachte. Er trug einen Korb in der Hand, der lebendig zu sein schien. Er hob den Deckel auf – da sprang ein weißer Hund heraus. Ein Fox. »Für Fräulein Gertrud«, sagte Konstantin Weingard.

Zuerst schüttelte sich das Tierchen, dann schaute es verloren um sich. »Es hört auf den Namen Miß«, erklärte Weingard, Gertrud beugte sich zu dem Hündchen nieder. Von der Anwesenheit der vielen Menschen erschreckt und in Heimatlosigkeit zitternd, auch noch nicht erholt von dem Grauen des Grabes, in dem es gelegen hatte, duldete es scheu die Liebkosung. Gertrud hob die Hündin auf und bettete sie an ihre Brust. Miß leckte nach ihr.

»Danke, Herr Weingard. Hunde von reiner Rasse und gutem Wesen lob' ich mir. Miß hat ein edles Köpfchen und ein feingezeichnetes Schnäuzchen. Wir wollen sie aufziehen.«

Man ging zuerst nach Westen und wandte sich dann langsam um die Ehrenfelser Bergkanzel herum nach Norden. Rüdesheim blieb zurück, auch Bingen verschwand, aber Aßmannshausen erschien und stromab auf diesem Ufer Lorch. Jeder Name war wie der einer Persönlichkeit oder verband sich mit dem einer solchen oder der Kunde von großem Geschehen. Rüdesheim und Aßmannshausen – war ein edler Wein nicht etwas wie ein großer Mensch, und waren die Ortsnamen also nicht wie die von Geschlechtern? In Lorch hatte der Freiherr vom Stein ein Weingut gehabt. Bingen hatten die Franzosen mutwillig zerstört.

Christian Heinsberg sagte plötzlich, als sie da gemächlich Fuß vor Fuß setzten, gewiß unter dem Eindruck des gelesenen Briefes: »Unwahrscheinlich ist das Leben hier. Anders als bei uns. An der Wolga geht man mit Furcht spazieren. Asien steht dort immer wie ein Berg, von dem ein Unglück gleich einer Lawine herabrollen kann. Ihr wißt nicht, wie gut ihr es hier habt. Wie in eigentümlicher Weise still es hier ist. Ihr könnt das nicht begreifen, aber mich überfällt's.«

Er griff in den Berg und pflückte ein Weinblatt; er zerrieb es zwischen den Beeren der Finger und dem Ballen der Hand, daß der Saft kam; im Weitergehen hielt er sich die Handmuschel unter die Nase und sog stark den Duft ein.

»An der Wolga sollten auch Reben wachsen«, sagte er. »Wo Wein gedeiht, möchten die Menschen besser sein. Gewiß sind sie weniger eingebildet. Weil der Gott im Glase schon mal sein Spielchen mit ihnen treibt.« – »Ja, ein Schwipschen ist gute Lehre«, sagte lachend Gertrud. – »Haben Sie schon mal eins gehabt, Fräulein?« frug Weingard. – »Und ob! Am andern Tage schämt man sich. Aber das ist heilsam.«

»Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann …« sang Vater Kädrich in die Welt hinein. Niemand sang mit. Links von ihnen floß der Strom genau so schnell wie sie gingen. Bruno stellte das fest, er warf ein Holz hinein und schritt mit ihm. Man schlenderte eine Weile dahin.

Christian sagte zu dem Fox, der vor Angst müde war – er hatte ihn Gertrud abgenommen und streichelte ihn im Gehen: »Bei uns wächst der Wein hinter dem Kaukasus in Asien. Die dortigen Deutschen bauen ihn. Darum sind sie auch alle edle Menschen, wie du an unserm Freunde Konstantin sehen kannst, Hündchen.« – »Von den Wolgadeutschen«, gab Weingard im Schreiten zurück, »sagt man bei uns, sie sind so bescheiden, daß sie nicht alle Tugenden für sich haben wollen, sondern den größten Teil davon gern den anderen überlassen.« – »Zankt euch nicht, teure Stammes- und Blutsverwandte«, rief Bruno, »sondern erzählt mir lieber, wo an der Wolga oder der Kurá eine Stelle zum Nachhelfen und Stundengeben zu haben wäre. So, daß man selbst dabei ein paar Sprachen lernt. Da ist ein Schwede namens Hedin, ich las ein schönes Buch von ihm. Er hat gleich nach seiner Pennezeit in Bakú eines reichen Mannes Sohn unterrichtet, Deutsch, Französisch, Englisch gelehrt und dabei Russisch, Türkisch, Persisch gelernt. Ich möchte es ihm nachmachen. Er ist jetzt in Asien beschäftigt. Wenn man sich nicht beeilt, tut er alles, was da noch zu tun bleibt.«

»Du willst auch weggehen, Bruno?« rief der Vater. »Er kann es gar nicht erwarten!« klagte er. Gertrud aber nahm im Gehen den Kopf des Bruders, der sich gar nicht um das Getue des Vaters kümmerte, an ihre Schulter und fuhr ihm mit der angebogenen Hand über die Haare. »Ganz feucht ist er vor Ungeduld, nach Asien zu kommen …«

Aber der Doktor sagte: »Früh krümmt sich zwar, was ein Haken werden will, aber nicht, bevor es ein ordentlicher Draht war. Laß alles mal richtig auswachsen. Mach lieber ein paar dumme Streiche, Junge.« – »Hab' keine Zeit!« rief Bruno heiß. Dabei schaute er unwillkürlich auf seine Taschenuhr. Worauf die Erwachsenen in ein grausames Lachen ausbrachen.

Christian sagte: »Ich habe einen Aufsatz gelesen, verfaßt von einem eurer rheinischen Schriftsteller, ›Rheinstrom Weltstrom‹. Nun, seht da!« Der armselige Rhein schob sich dünn und kläglich durch die Felsen seines Bettes und über Klippen und Kiesel seines Grundes.

Ein Schiffchen kam die Fahrrinne herauf, auf dem kleinen Hinterdeck stand hemdärmelig ein Gesangverein, »de Bonne Männe Gesangvejein«, denn die Bonner können wie die Chinesen kein r sprechen, und erfüllte mit seinem Sang das Tal.

Nur am Rhein, da will ich leben …
wo die Berge tragen Reben …

Der Bootsführer ließ die Maschine so laufen, daß der Auspuffstakt mit dem des Gesanges zusammenfiel, dadurch übertönt wurde und das Schiffchen ohne Gaskraft, aber von der Macht des Gesanges getrieben, gegen den Strom zu laufen schien.

Mögen tausend schöne Frauen
locken euch mit aller Pracht
in Italiens schönen Auen …

Plötzlich brach der Gesang ab. Es war aus dem Munde des Bohrlochs in der Lei der Zug geschossen, und er sauste unter Donnergepolter und kühnem fürchterlichem Massenschwung in der Krümmung, die entlang nur blicken zu können man schon ein festes Herz und fast Mut haben mußte, vorbei … man sah noch die Tücher an offenen Fenstern verflattern und Papier, hinter dem letzten Wagen heftig angesaugt, aufgeregt ein Weilchen wirbeln … der Zug verschwand, schnell kleiner werdend, hinter der Talecke, und augenblicklich war wieder Stille in der Welt.

... wollt ihr echte Lust erfahren,
ei, so reichet mir die Hand.
Nur am Rhein …

kam der Gesang wieder auf.

Aus dem dunkeln Bohrgangsloche quirlte heftig der helle Rauch hervor.

»Ordentlich erschreckt hat's mich, so plötzlich kam's«, gab Bruno einfach zu.

Sie näherten sich Aßmannshausen, und schon von ferne hörten sie fröhliches Getümmel aus der »Krone«. »Koblenzer sind da!« sagte der Doktor, der in Aßmannshausen Bescheid wußte. »›Mir Kowelenzer‹, sagen sie, ›misse onser Sonndagsspaß han, on dat is de Schieffahrt bis zom Loreleifels oder zom Nidderwald!‹ Dann macht sich sonntags alles auf. Selbst der Hausarzt, der sechs Tage lang kräftig gegen allen Weingenuß gepredigt hat, er fährt allein mit dem Schiffchen mindestens bis Boppard, ißt dort gut und trinkt nicht schlecht und kommt wieder allein heim, am Abend den Abglanz von einer oder auch zwei Flaschen in den seelenreinen Augen.« Sie nickten lächelnd. »Auch ein Bonner oder Kölner kommt mit dem Schnellschiff sonntags großartig herauf, trinkt sich eins mit Kunst und Verstand, singt ein Lied vom Rhein oder summt es mit, wenn andere es singen, und geht montags früh wieder ins Geschirr. Übrigens, Bruno, die Koblenzer und Kölner sagen, sie fahren ›hinunter‹ nach Boppard oder Aßmannshausen, und sie fahren dann am Abend ›hinauf‹ nach Koblenz oder Köln – ihr am Forstergymnasium sagt umgekehrt, was ist nun richtig, wenn du von dem unbedeutenden Flußgefälle absiehst? Wie fahren zum Beispiel die Leipziger: hinauf oder hinunter nach Berlin? Nehmen sie das ›hinauf‹ und ›hinunter‹ nicht eben nur von der Landkarte, auf der man sich gewöhnt hat, ›oben‹ im ›Norden‹ sein zu lassen? Es könnte natürlich ebensowohl in jeder andern Richtung liegen. Will mal sehen, ob du scharf denken kannst.«

Bruno dachte stark nach. Auch den anderen hatte die Frage des Doktors zu denken gegeben.

Da sagte der Bursche plötzlich entschieden: »Hinauf ist in jedem Falle falsch, hinauf von hier nach Straßburg, Hamburg oder Berlin. ›Oben‹ ist immer auf der Kugel dort, wo der Sprechende steht. Also fährt man von da immer ›hinunter‹.«

Der Doktor blieb stehen und blickte stumm einen jeden Erwachsenen an. Nun, verstand Bruno scharf zu denken oder nicht? Man konnte sich auf ihn verlassen. Keiner sagte etwas, Christian nickte nur, Bruno ging befriedigt daher, es tut dem Menschen gut, in seinem Selbstgefühl gelegentlich bestätigt zu werden.

Sie näherten sich der fröhlich von Menschen wie eine Linde von Julibienen brausenden »Krone« von Aßmannshausen.

Volltönig vollmundig schallte es dort aus den offenen Fenstern, denn die Koblenzer und alle Ausflügler, die schon am Vormittag angekommen waren und in der Wirtschaft zu Mittag gegessen hatten, waren im Heben der Nachmittagsschöppchen nicht mehr bei Nummer eins. Die bleichen Stubengesichter der Kaufleute blühten, die verdrossenen Handwerksmeister waren in Schwung, und »die ewig hungrigen Beamten«, wie die Kaufleute sagten, fühlten sich. Angestellte, auch des Staates, werden am Rhein wohl niemals in der ersten Reihe der Gesellschaft stehen. Aber der Wein hob einen Rechnungs- und Regierungsrat zur freien Würde eines Müllers empor.

Jemand rief: »Wer zom Faustekäs gebore is, wird sei Lewe keine Limborjer.« Schallendes Gelächter gab zu verstehen, daß da ein Onkel Heinrich oder Heribert es einem »hungrigen« Kronsrat aufgetischt hatte, und es erhob sich sogleich, ohne daß jemand sich dem Genuß der Schadenfreude hingegeben hätte, wie plötzlich aus Rauch die edle Flamme schlägt, aus dem Wortschwalch der Gesang. Es sang alles, Mann und Weib, Jugend und Alter, Bürgersleut' und Fremdenvolk, Erzieher und Gemaßregelter:

Dort, wo der alte Rhein mit seinen Wellen
so mancher Burg bemooste Trümmer grüßt …
dort möcht' ich sein,
bei dir, du Vater Rhein,
auf deinen Bergen möcht' ich sein.

Obgleich die Koblenzer in ihrer Stadt fast mit den Füßen im Rhein standen, so sangen sie doch das Lied von der Sehnsucht nach dem Rhein so, wie es in den rheinischen Winzerstuben in Berlin, Batavia oder Buenos Aires von den ausgewanderten Rheinländern in winterlicher Weihnachts- oder lauer Tropennacht schwerlich inniger und leidenschaftlicher aus heimwehkranken Herzen hervorbrechen und schluchzen kann:

Ach, könnt' ich dort in leichter Gondel schaukeln …
viel schön're Träume würden mich umgaukeln
als sie der Spree vermoortes Ufer sieht.

Für »Spree« sagte man draußen in der Welt an dieser Liedstelle auch Pleiße oder Isar, Hudson oder La Plata, je nachdem – es war zu glauben; in Berlin, in Leipzig, in Neuyork und Buenos Aires arbeitete man, wenn man dahin verschlagen wurde, verdiente man Geld, wenn es sein konnte, eilig sozusagen und mit einem Vorbehalt im Herzen; aber leben, nicht wahr, lieben, singen, fröhlich und von Herzen Mensch sein, tat man doch draußen eigentlich nicht. Wo ging man auch werktags spazieren? Und in schönen Kleidern? »Man müßte sich ja schämen«, sagte man schon in Westfalen. Am Flusse Spree, an der Pleiße, Oder, Weichsel, Wolga, am Hudsonriver und Rio de la Plata mußten freilich auch Leute hausen – weh den Armen!

... nur am Rhein geboren sein …

»Neue grüne Flaschen!« Sie tranken Moselwein, leichten bekömmlichen, und aßen Berge von Weißbrot dazu, daß der Magen wie ein Schwamm wird – wohl bekomm's den Fremden, die aus roten Flaschen schweren Rheinwein trinken! Nachher auf dem Schiffchen werden sie über dem Geländer hangen!

Dort, wo der grauen Vorzeit schöne Lügen
sich freundlich drängen an die Phantasie …

»Gehen wir noch etwas auf Lorch zu spazieren«, sagte Gertrud. – »Wir gehen überhaupt nicht zu den Besoffenen hinein!« schrie Bruno. Ihm und der Jugend, die er vertrat, lag das Weintrinken und Fröhlichsein durchaus nicht. Preußisch-enthaltsam und östlich-ernst mußte man leben, Mensch der »neuen strengen Zeit«, in der Kartoffeln wichtiger sein würden als Trauben; die Jungens der mittleren Klassen hatten auch eine Verschwörung auf Ehre angestiftet gegen das Rauchen, von dem sie genau wußten, daß es dem Volke jährlich eine sinnlos verpaffte halbe Milliarde koste, und mit ihren brechenden Stimmen ihren heiligen Bund »Königin Luise« genannt. ›Sonntagvormittag haben wir »Königin Luise«‹, was hieß: Wir treffen uns um elf Uhr am Drususwall. Dann ziehen wir geschlossen zum Eigelstein, und dort hält jemand eine Rede über die Verderbtheit der gegenwärtigen Zeit und die kümmerliche Weltanschauung von Vätern und Lehrern … Aber obgleich, wenigstens der reinen Forderung nach, Todesstrafe auf Ausbleiben stand, so erschien Bruno nie, als Auswärtiger von der »Königin Luise« befreit und auch vom Redehalten. Befreit war auch, wem der Vater das Herumstreifen ausdrücklich verboten hatte, denn die Jungens waren im Gegensatz zu den Vätern, den rheinischen Schwarmgeistern und Stammtischsängern, nüchterne Wirklichkeitsmenschen. Einmal die Hosen straff gezogen bekommen haben galt als voller Ersatz für Todesstrafe … also auf Lorch zu!

»Ich aber würde vorschlagen«, sagte der Doktor und sah dabei nur Gertrud an, »wir ziehen alle sieben Mann hoch auf eines Doktors und annoch Junggesellen in Aßmannshausen Bude und Fräulein Gertrud kocht uns einen Kaffee, statt daß wir in die Krone oder nach Lorch gehen. Denn der Bude Krönung und Heiligung«, flüsterte er dem Mädchen zu, »wäre es, wenn Gertrud Kädrich sie einmal beträte.« Sie sagte freundlich: »Meinetwegen.« Und der Doktor führte sie auf ein Fachwerkhaus am Rheinweg zu.

»Kaffee könnte man auch sparen«, brummte Bruno. – »Warum nicht gar das Leben sparen?« rief Gertrud.

Sie hatten eine steile Treppe hinauf ins Hochgeschoß zu steigen. Auf dem Absatz vor der ins Dach hinein ausgebauten kleinen Wohnung fand sich, ein Fenster benutzend, ein sehr großes Vogelbauer. Sie blieben davor stehen. »Man nimmt den Gefangenen freilich die Freiheit«, beantwortete der Doktor eine stumme Frage, »aber man enthebt sie des Kampfes ums Dasein. In den Bauern werden die meisten Singvögel älter als in der Natur, wo wenige des sogenannten natürlichen Todes sterben, wenn dies der von Alter und Erschöpfung und nicht der in den Klauen eines Raubvogels ist.« – »Ja doch, ja gewiß«, sagte Gertrud nachdenklich, »aber die Freiheit …« – »Ja, die Freiheit …« wiederholten alle und der Doktor insbesondere.

»Da ist der Star«, brach der Doktor ab, »unser treuester Freund. Er kommt früh, bleibt lange und geht spät. Ist er nicht oft schon da, wenn noch Schneeflocken vom Himmel wirbeln? Die Heimat nimmt ihn oft höchst unfreundlich auf.« (Christian fiel sein Erlebnis mit den Paßprüfern in Königsberg ein). »Aber«, fuhr der Doktor fort, »der Star ist nicht nachträgerisch, er hat Geduld und gute Laune. Gibt es überhaupt einen höhern menschlichen Wert als gute Laune? Ich weiß, was man sagen kann«, wandte er sich gegen Bruno, von dem ein Preis der heldischen Weltanschauung zu erwarten war, »aber ich wage es, die gute Laune hoch zu loben. Ich selber besitze sie leider nicht in genügendem Maße, aber ich frage mich (dabei nahm er Bruno heimlich beim Ohrzipfel), ob Heldensinn sich unbedingt mit übler Laune paaren muß, wie er es so häufig tut.« – »Bleiben wir beim Star«, gab Bruno das Ohrkneifen zurück. – »Also hört den lustigen Bruder pfeifen! Er liebt auch die Trauben, wie Vater Kädrich nur zu gut weiß, ein ewig munterer Geselle. Dieser hier kennt mich sehr gut, im Augenblick studiert er die vielen fremden Leute, er ist ein Menschenkenner. Übrigens ein rechter Landesvogel! Es gibt ihn auch im Winter. Dann freilich ist es der pommersche, preußische und baltische, dem es hier schon mild genug ist, der rheinische zieht nach Spanien und Marokko.« – »Welch ein reizendes Vögelchen, das kleinste!« rief Gertrud. »Aber es zerreißt sich die Flügel am Draht.« – »Es ist das Goldhähnchen, der kleinste Vogel fast, aber ein bedeutender Wanderer, auch Feuerköpfchen genannt, ein dem tiefen Osten angehöriger Laubsänger. Es gibt ihn in Turkestan am Tian-Schan, im Herbst aber huscht er fast unerkannt durch unsere Büsche, und im Winter zwitschert er fein und dünn in denen im Herzen Afrikas.« – »Dieses Zwerglein!« rief staunend und fast ungläubig Gertrud. »Kein Wunder, daß solch ein Weltwanderer im Käfig sich nicht wohl fühlt. Darf ich es fliegen lassen?« frug sie drängend. »Schenken Sie es mir!« – »Gern! Nur würde Freiheit wahrscheinlich in diesem Augenblick seinen Tod bedeuten. Kommen Sie im Herbst wieder, wenn seine Artgenossen auf dem Zuge sind …« – »... will sehen«, sagte Gertrud.

Sie schauten alle bewundernd den zierlichen wilden Sänger an, der sich irrhuschend die kleinen Schwingen am Drahtgeflecht verletzen zu wollen schien, da er nicht wußte, daß er sie bald zum Fluge von viertausend Meilen und mehr bis an den Tschadsee werde gebrauchen dürfen … – »Seht euch da das Paar Seidenschwänze an, nordische Vögel, sehr schön, stets verliebt, immer faul, und fressen tun sie täglich ihr eigenes Gewicht …« aber mittlerweile stand alles in des Doktors Stube und schaute sich um.

Der Doktor sah nur Gertrud, und auch sie blickte ihn an. »Hast mich also doch einmal in diese Stube gebracht«, sagten Gertruds braune Augen, und seine wasserhellen erwiderten: »Ja, das hab' ich. Indessen …«

Der Vater warf sich sofort in einen Sessel mit Backen, Bruno lief auf den Bücherbord zu und blätterte und schmökerte aufgeregt, Weingard studierte die Doktorurkunde an der Wand, wonach die philosophische Fakultät der Universität Bonn Herrn Wilhelm Tornquist aus Minden an der Weser auf Grund einer als »sehr gut« zu bezeichnenden Arbeit über »Die Wüste und der Vogelzug« die Würde eines Doktors verliehen habe. »Wieviel mag ihm diese Würde einbringen?« dachte Weingard; »nach großem Einkommen sieht es in der Bude nicht aus.«

Das Zimmer war sehr ordentlich gehalten, aufgeräumt war der Schreibtisch, ausgerichtet lagen da Federhalter, Bleistifte, Brieföffner, Schere, das ganze Zubehör. Gertrud, die sich zur Freude des Doktors in den Schreibtischstuhl gesetzt hatte, nahm vorsichtig einen gelben Bleistift auf und fühlte mit der Fingerbeere nach dessen Spitze, die nadelscharf war, scharf waren die Spitzen aller Stifte; und Gertrud legte den Stift wieder sorgfältig in die ausgerichtete Reihe und schaute dabei aus gesenktem Kopfe von unten her lächelnd den Doktor an. Der lächelte wieder, niemand sah es, und sein Lächeln meinte fast etwas Beschämtheit.

Dann gingen beide in die kleine Küche und bereiteten auf dem Herde den Kaffee, die Tür ließ der Doktor offen.

Hier diesseits des Binger Lochs war das Fahrwasser des Rheines ruhiger, tiefer, breiter, man sah einen weißen Dampfer namens Lohengrin heranschwanen und am tiefliegenden Ländeboot festmachen. Die Reisenden des Schiffes kamen alsbald die steilstehende Brücke herauf. An Bord spielte die Kapelle.

Beim Doktor duftete es bald aus der Küche nach Kaffee. »Junggesellenkaffee ist alleweil der beste«, sagte Gertrud, als sie die Kanne hereinbrachte. »Da wird nicht an Böhnchen gespart und auch nicht an deren Güte.« Der Doktor schloß beglückt hinter sich und der Stundenhausfrau die Küchentür. Sie schlürften den Kaffee aus schönen Täßchen (Bruno hatte sich Milch geben lassen). Weingard sprach grade vom gesunden Klima Hinterkaukasiens, wo die Deutschen wohnten. Es gebe dort viel alte Leute … Vater Kädrich meinte, das rheinische Klima sei auch berühmt, und es sei ganz recht vom Herrn Doktor, immer die Fenster offenstehen zu haben und viel Klima hereinzulassen.

»Ein rheinisches Mädchen beim rheinischen Wein …« sangen auf dem festgemachten »Lohengrin« die Schiffsleute, die Reisegesellschaft hatte der Besatzung aus der »Krone« eine Bowle geschickt.

»Spielen wir etwas«, sagte plötzlich Bruno. Man hörte erstaunt, aber nicht ungern den Vorschlag. »Was sollen wir denn spielen?« – »Frau Holle ist krank.« – »Was fehlt ihr denn?« frug Gertrud. Bruno zuckte die Achseln. Worauf die anderen durch Gebärden lebhaft bedauerten, daß die gute Frau Holle krank sei. Besonders gut spielte Konstantin Weingard, auch hinter dem Kaukasus wurde die alte Schnurre aufgeführt. Schließlich teilte Bruno mit, daß Frau Holle auf ihrem Stuhle nicht mehr ruhig sitzen könne und durch die Luft reiten wolle; worauf alle Männer rittlings mit ihren Stühlen, die Rückenlehne als Zaumzeug gebrauchend, durch die Stube hopsten.

»... das muß ja der Himmel auf Erden sein …« klang es vom Rhein herauf.

Aber Frau Holle war noch immer krank. Der Vater zeigte ihren dicken Daumen, Christian streckte ihren rechten wehen Fuß vor, Weingard ihren linken, der Doktor wackelte mit dem Kopfe, Bruno zog den Mund schief, und Gertrud, die Backen aufgeblasen, schielte grauslich.

Doch jetzt hatte Bruno genug, er erhob sich jäh. Ein geistiger Mensch darf nicht zu viel Zeit kindischen Spielen opfern, das Leben ist kurz, leicht wird die unwiederbringliche Minute versäumt, er hatte schon zu lange am Bücherbord gefehlt. Er stürzte sich auf ein Buch mit dem Titel »Turkestan« und durchblätterte es mit reizbar gekrümmten Fingern. Während die Großen sich Tränen aus den Augen wischten, zeigte Brunos Stirn eine sehr urteilsfrohe senkrechte düstre Falte. Da stand im Vorwort zu lesen, daß der Zar Alexander I. 1808 zu Erfurt dem Kaiser Napoleon, der ihn zu einem militärischen Schritt gegen das englische Indien habe verleiten wollen, gesagt habe, sein Ahn Peter der Große habe schon ein Trockental zwischen Kaspis und Aral untersuchen lassen, weil die Wolga früher durch Kaspis und Aral bis an den Fuß des Pamir gelaufen sein solle und man hoffte, eine Schiffahrt von Moskau dorthin zu eröffnen und den indischen Handel nach Rußland zu ziehen. »Ha!« rief Bruno und schmatzte. Noch zehn Jahre später, 1818 beim Fürstentreffen in Aachen, solle der Zar hinter dem Rücken des englischen Botschafters mit Metternich …

Ja, das war etwas für Brunos Wißbegierde! Wirklichkeiten, Gestalten, Ereignisse, und solche von Ausmaß! Keine heidnischen Frau-Holle-Ritte und läppischen Lieder vom rheinischen Mädchen beim rheinischen Wein! Überhaupt, der ganze Rhein war verkitscht! Wenn die, die heute noch Jungens waren, mal erst das Steuer des Staatsschiffes würden in die Faust genommen haben …! Er ging mit dem Buch zu dem Wolgaer, hielt ihm die Seite mit der großen Nachricht unter die Nase und frug kurz: »Ist das wahr?«

Christian drückte das Buch etwas hinunter, las die Stelle und sagte, beschämt lachend: »Kann sein, aber ich …«

Bruno wartete gar nicht die Mitteilung ab, daß der Wolgamensch nichts davon wisse, sondern hielt schon dem Hinterkaukasier die Zeilen vor die Augen und frug barsch: »Stimmt das?«

Weingard, der seine Augen auf Gertruds voller Gestalt ruhen gehabt hatte, mußte erst umdenken … da war Bruno bereits beim Doktor, der nach einem schnellen Blick auf die Stelle sagte: »Das Trockental des Usboi ist nie ein Flußtal gewesen.«

Solche kurzen bestimmten, nicht fackelnden Antworten liebte Bruno, er nickte kurz und ging, indem er im Vorbeistreichen einen Muffel Kuchen vom Tisch nahm und sich in den Mund stopfte, an die Bücherwand zurück. Zwar hielt er als revolutionärer Schüler nicht viel von Reife- und Staatsprüfungen, von Doktor- und anderen Titeln, aber er dachte doch: Ein Schulmeister und ein Doktor! Da sieht man, wo's steckt! Auch im neuen sozialistischen Staat wird man die akademische Bildung beibehalten müssen. »Erzählt euch etwas Hörenswertes«, rief er befehlend, indem er selbst las.

Wann endlich einmal die Geschichte vom Urgroßvater Michael Heinsberg steige? frug der Doktor. Neulich auf dem Leistenpfad habe die Bachstelze, motacilla alba, es durch ihr Dazwischentreten verhindert … Mit der Kaffeekanne umhergehend, beantwortete er dann noch schnell eine gleichzeitig mit seiner von Kädrich gestellte Frage: »Mit der Erdkundevorbereitung für eine neue Südostreise, nach dem Ararat und weiter, wäre ich fertig, doch habe ich Gründe« – in diesem Augenblicke stand er vor Gertrud, mit erhobenem Ausguß der Kanne fragend, ob er noch einmal einschenken dürfe; aber sie stark anblickend, sagte er: »– Gründe, die Abreise aufzuschieben und noch etwas dazubleiben.«

Gertrud errötete heftig.

»Gründe?« rief Kädrich. »Gründe? Das klingt gelehrt.« – »Die Gründe gehen in Männerhosen«, sagte Wilhelm Tornquist und goß, nachdem er Gertrud bedient hatte, dem Hinterkaukasier den Kaffeesatz aus der Kanne in die Tasse. Er ärgerte sich darüber, daß einem rechtschaffenen ehrlichen Manne ein Lebensspieler überhaupt über den Weg laufen dürfe. – »Danke«, sagte unwillkürlich Weingard.

»Die russische Geschichte«, meinte Christian, »wurde uns in der Lehrerschule in Katharinenstadt gründlich beigebracht, man versteht warum, ich glaube, die Regierung hat es für wichtig genug gehalten, uns den besten Geschichtslehrer zu schicken, den sie in Moskau zur Verfügung hatte. Begreiflicherweise ist das Jahr 1812 …«

»Als eines Tages mein Urgroßvater russischer Landsturmmann oder Kreuzbauer geworden war …« fing Bruno beispielhaft zu erzählen an, doch ohne im eiligen Durchblättern einer Schrift einzuhalten, vom Kreuzbauer war schon auf dem Leistenpfade die Rede gewesen. – »Lausejunge!« – »Lassen Sie den Bruder, er hat recht. Ein Erzähler soll anfangen! Als mein Urgroßvater Michael hatte Kreuzbauer werden müssen, es war 1812 …«

Der Doktor hatte allerhand schöne alte Sachen in seiner Bude stehen und hangen, Bilder, Spiegel, Stiche und Schränke, man sah ihnen seine alte Familie ab. Er hatte launig ein altes Spielwerkchen aufgezogen, und das fing in diesem Augenblicke zu spielen an:

Kaiser der Napolium
ist nach Rußland kommen.
Hat sogleich die schöne Stadt
Moskau eingenommen.
Moskau war noch nicht genug,
Petersburg daneben!
Da gab's den Champagnerwein
und ein Schatz sollt' leben.
Morgens kam ein Offizier:
Alles ist verloren!
Unsere wicks wacks jungen Leut'
sind im Schnee verfroren.

Der Doktor ließ das Merkchen fein, so fein, daß es traurig klang, singen und sagte leise die auch nicht eben gespaßigen Worte des Liedes nebenher.

Jetzt machte das Werk: (hoch) ting … (fallend) tang … (sehr tief) tong.

Das Fahrwasser war weiter gefallen, man hatte den »Lohengrin« vom oberen Pfahl der Lände durch langsames Kabellängen an den unteren gleiten lassen, wo das Schiff mehr Wasser unter sich hatte und nun fast vor des Doktors Wohnung lag.

Von der »Krone« drang, wenn dort die Türe aufgemacht wurde, so oft ein neuer Gast oder ein Gastpaar hineinging, fröhliches Geschalle her. Die Uferstraße aber zogen Mädchen, die noch zu jung für das Paariggehen waren, mit kurzen Röcken und langen Haaren, im steifgestärkten weißen Leinenkleidchen, über dem ein himmelblaues Seidenband schärpenartig getragen wurde, untergehakt auf und ab. Sie gehörten der Jungfrauenverbindung an, die unter Aufsicht des Pfarrers stand, und hatten sich verpflichtet, bis zum zwanzigsten Jahre Wirtshaus und Tanzsaal zu meiden. Aber im Singen waren sie doch ungebunden, und so erschallte es denn engelhafthell und -hoch aus ihrem Munde:

Es liegt eine Krone im tiefen Rhein …

Der Doktor hatte auch eine alte Stundenuhr auf einem krummbeinigen Schränkchen stehen, sie meldete in diesem Augenblicke silberfein, doch sehr bestimmt, daß es sechs Uhr sei.

... und wer sie erhebt aus tiefem Grund,
den krönt man zu Aachen in selbiger Stund.
Vom Rhein bis zur Donau die Lande sind sein,
dem Kaiser der Zukunft, dem Fürsten am Rhein.

Als es da vor dem Fenster mit Stimmen der Engel sang, schwieg man im Zimmer. Und als die Mädchen geendet hatten, sagte der Doktor: »Vom Rhein bis zur Donau … die Lande sollen nicht sein sein. Das erlaubt kein westlicher Staatsmann. Seit Jahrhunderten ist in deren Gehirnen der eine beherrschende Gedanke gedacht worden: Wie teilt man Land und Volk im Osten auf? So entstanden England zu Gefallen Holland und Belgien, Frankreich zu Wunsch die Schweiz und Luxemburg und das Elsaß. Und wer weiß, was für Städtchen da noch auskommen werden. Zwischen zwei großen Eisschollen mindert ein Gebröckel von kleinen die Reibung der großen. Aber natürlich soll möglichst die andere Großscholle das Sicherheitsgebröckel hergeben.«

Bruno war aufmerksam geworden und schaute von seinem Buche auf.

Es liegt eine Leier im grünen Rhein …

»Die Weiber haben wahrscheinlich ihren ganzen Hausrat im Rhein liegen«, brummte schmökernd Bruno.

... und wer sie erhebt …
dem strömen die Lieder begeistert vom Mund …

Jetzt ging Bruno ans Fenster und sang schreiend und nachäffend den ersten Vers der nächsten Liedstrophe hinunter:

Ich weiß wo ein Häuschen am grünen Rhein …

Aber war die Marienjungfrauenschaft von Aßmannshausen Brunos Fahrgesellschaft im Schülerzuge, die sich ein Vergnügen daraus machte, den Genossen zu ärgern, oder kümmerte sie sich einfach nicht um den jungen Bock, der da im Fenster blökte, die Mädchen sangen, wie es ihnen ums Herz war, und setzten fort:

... umrankt von Reblaub die Fensterlein …

Bruno ärgerte sich wie ein junger Hund, der ohnmächtig bellt. Er lief, und hatte den ersten schweren Band von Richthofens erlauchtem Chinawerk in den Händen, knurrend hin und her zwischen Büchergestell und Fenster, streckte denen da draußen die Zunge hinaus und rief, das Buch großtuerisch an die linke Brustseite gedrückt und den Abendstern anschauend, der sich eben als erster von allen Sternen am noch taglichtfahlen Himmel zeigte, den nächsten Vers hinaus:

... drin waltet ein Herz, ach, so engelgleich …

Die Marianische Jungfrauenverbindung aber hob die bloßen, noch stakigen Ärmchen in den halben Kleidärmeln hoch, legte die beiden Hände gespreizt aneinander, den Daumen der einen an den Klinkes, wie der kleine Finger hieß, der andern Hand, hob das herzige Grußgebilde an die Nasenspitze und sang darunter mit Tönen der Seraphim:

... gehörte dies Herz an dem Rheine nur mir,
ich gäbe die Krone, die Leier dafür!

Der Tag ging. Der Abend kam. Der Stern stand großblinkend und grünflammend im Himmelsausschnitt des Fensters der Stube. Christian erzählte. Und das rötliche und feierliche Licht des Abendhimmels floß zum Fenster herein und mit ihm die Zeit, die ja mit dem Lichte zu tun hat.

Bruno konnte auch den großen Druck in der stattlichen Ausgabe von Richthofens Meisterwerk nicht mehr lesen, er hatte den Band auf die Seite gelegt. Denn wie die Geschichte sich einem »Steppenkönig« namens Michael, Michael Heinsberg aus Bellmann an der Wolga, zugewandt hatte, war er auf dem Arm des grünen großen Lehnstuhls niedergehockt, in dem Gertrud saß, ließ das eine Bein baumeln, hatte einen Arm locker um den Hals der schönen Schwester gelegt und hörte dem Onkel von der Wolga gespannt zu. Die Schwester legte leicht die Hand auf das eine Knie des Bruders – da hielt das Bein im Schwingen ein. –

Warum und wieso Michael I. Heinsberg von der Wolga aufgebrochen war, wußte Christian III. Heinsberg nicht zu sagen. »Vielleicht war es eine Welle Volksheimweh, die im Ahn noch einmal hochstieg«, meinte er. »Seither ist es ja zur Ruhe gekommen. In Arbeit und Lebensgefahr, in Not und Ortssorge an der Wolga. Durch zwei weitere Menschenfolgen. Unser Volk da draußen mußte wahrscheinlich zu hart schaffen, als daß es hätte denken dürfen. Bis dann so ein Faulenzer kam wie ich, ein Träumer und Herumtreiber, der Schwielen in seinen Händen verabscheut, am liebsten auf dem Ausguck steht und über die Länder schaut, zum nachsichtigen Erstaunen der ach! viel zu guten Alexandra. Ob der Auslug nun Wolgabord oder Rossel heißt und nach Westasien oder Westeuropa blickt oder in die Geschichte beim Lesen unterrichtender Bücher oder bei der Unterhaltung mit unserem allwissenden Doktor (Wilhelm Tornquist streckte abwehrend die Hände aus und pruschte dabei). Der kann sich dann wieder Heimweh, für das die Früheren sozusagen keine Zeit gehabt haben, leisten, läßt sein Amt im Stich, macht sich auf und geht davon, um Alexandras gute Rubel nichtstuerisch und nichtsnutzig auszugeben …«

Bruno fühlte eine warme Welle über Gertrud, die er umhalst hielt, hingehen. Natürlich, dachte er, verliebt! Nicht nur er (was er einer so schönen Schwester gegenüber als in der Ordnung fand), auch sie. O die mit den langen Haaren! Denn er glaubte nach dem fast alltäglichen Erlebnis im Schülerzuge ein großer Weiberkenner zu sein. Aber die Wärmewelle im Körper der großen mütterlichen Schwester war es dann vielleicht auch, was ihn einschläferte. Gertrud zog ihn zu sich in den breiten Sessel hinunter …

Als Bruno, nach langer Zeit, schien ihm, erwachte, hörte er das Wort »Wilna«. Teufel! Da lag wahrhaftig ein Wüstenfahrer, Kamelreiter, Asienforscher, ein (vorläufig noch junger) Mann, der sich die Schneewjugas der Steppen und die Sandburane der Hochländer nicht schlecht um die Ohren wehen lassen wollte, daß er wohl würde bestehen können neben einem Marco Polo, Prschewalski, Richthofen, Hedin, in den Armen eines Mädchens, noch dazu seiner Schwester, und schlief wie ein Ratz, ein Dachs, ein Murmeltier! Pfui! Bruno schämte sich, obgleich er wohl feststellen konnte, daß niemand außer Gertrud sein Schlafen bemerkt hatte. Er erhob sich, ging und setzte sich auf die Fensterbank, mit dem Rücken gegen die Frühnacht.

Man hörte auf dem »Lohengrin« den Bowlenlöffel leerschöpfend durch die irdene Weinschüssel fahren und jemanden von den Schiffern sagen, die Hauptsache sei, daß Friede bleibe. Da stände in den Zeitungen allerhand Beunruhigendes unter der Überschrift »Marokko«. Auf den Frieden wollten sie dann anstoßen. Und man hörte die behenkelten Gläser klirren.

Christian hatte die Geschichte des Aufbruchs Michaels von Bellmann erzählt: wie der Rotbart durchs russische Land gestapft war, ein echter russischer sackleinener Wanderer und Pilger; wie er in Kursk der Wasserweihe am Strome beigewohnt hatte; wie er den Landstürmern, die einen deutschen Dolmetscher suchten, entkommen, endlich von einem russischen Obersten Löwenstern, Hamilcar von Löwenstern aus dem Baltenlande, festgehalten worden war; er hatte im Krasni Dwor, im Rothof gewohnt, in Wilna nämlich … hier war Bruno erwacht und also um die ganze Geschichte von Michaels Wanderung gekommen; er ärgerte sich schwarz.

Nun aber hatte der Doktor das Wort. Man hatte gefragt, warum denn eigentlich Michael wieder habe zurückgehen müssen, nachdem er auf seinem Westweg schon so weit gekommen sei. Er scheine in eine Lawine von Menschen geraten zu sein … Lawine sei das richtige Wort, hatte da der Doktor gerufen, der vor Glück, die geliebte Frau einmal in seiner Stube zu haben, auffallend erregt und lebhaft war. Damit war ihm dann sogleich die Führung zugefallen, und er hielt sie. Nein, Lawine sei doch nicht das Richtige, meinte er. Er dachte nach. Steppenfeuer sei besser! Wie es in den Grasländern im Spätsommer vorkomme, daß einer unvorsichtig mit dem Feuer umgehe – Menschen, viele Pferde, zahlloses aufgeschrecktes Wild, Gazellen, Trappen, Feldhühner, Wachteln kämen dann um – so habe ein ungeheurer Leichtsinniger, ein furchtbarer Unverantwortlicher, Europa angezündet gehabt. Da habe der Erdteil nach Osten hin gebrannt wie ein sich hinfressender Halbring von Steppenfeuer …

Der Erzähler gab das Bild auf, es hatte seine Schuldigkeit getan, die Sache war ja groß und einfach. In Finnland sollte Bernadotte mit den Schweden vorstoßen; in den baltischen Ländern marschierten die Preußen; dann, südlich von diesen, ritt Er selbst nach Osten, der Erreger und Beweger! Mit ihm zogen die Deutschen, untermischt mit den Franzosen. Aber es trappsten auch Holländer da, Illyrer, Italiener, Portugiesen, Schweizer, die sogenannten Dänen nicht zu vergessen, die aber gewiß Holsteiner waren. Diese hatten nach rechts Tuchfühlung mit den Polen und Sachsen und die mit den Österreichern und allem Volk der Kronländer an der Donau. Und dann, noch weiter nach rechts und halbrechts, sollte der südliche Zinken des Halbmonds dieser Aufmarschplanung an die bis nach Asien hinein aufgestellten Glieder eines Heeres stoßen, das unter dem silbernen Halbmond auf türkische Befehlssprache hörte, es war grade Krieg zwischen der Türkei und Rußland. Die Türken möchten, wie schon zu Zeiten ihrer Angriffe auf Wien, französische Bundesgenossen sein. Napoleon würde mit einer solchen Sichel das Gewächs des ganzen russischen Reiches wegmähen, wer wollte daran zweifeln? Vor vier Jahren in Erfurt in langen Oktobernachtsitzungen hatte der französische Außenminister auf Weisung seines Herrn dem Drängen des russischen, den Weg auf Konstantinopel freizugeben, unerschütterlich widerstanden. Trotzdem hatte der Zar jetzt eben mit dem Sultan Frieden gemacht, und das in Rumänien freigewordene russische Heer führte der General Tichatscheff in Eilmärschen von Südosten her herauf. Der Zinken der gewaltigen Mähsichel war abgebrochen.

Tichatscheff rückte herauf mit dem allgemeinen Ziel: Berésina, Birkenfluß. Er bedrohte die französische Flanke. Das Männervolk kam auf ungeheurem Weg herbei. Ah, was mußten da Soldaten laufen! Durch die Länder, wo der Mais mannshoch wächst, Siebenbürgen, Ungarn und das Buchenland, wir kennen sie nicht alle! Litten die Russen im Karpathengebirg weniger als die Württemberger vor Wilna? Wie warm war es unter dem Packsack! Wie oft steckte sich eine Hand zum Lüften zwischen Rücken und Leder! Wie viele Male haute sich einer Mutter Sohn bei einer kurzen Marschrast auf die Böschung des Straßengrabens hin mit dem Rufe »ich kann nicht mehr« und lag da, ohne abzuschnallen, eine Leiche! Aber du kannst noch immer, mein Jüngelchen! An die Gewehr–r–re! Abteilung – marsch! Ohne Tritt – marsch … Und Bernadotte war ein Händler aus Pau, und dieser Kronprinz in Stockholm sagte: Vorstoß aus Finnland, vielleicht, doch nur um den Preis Norwegens, und blieb fürs erste in Schweden. So war auch das andere Ende der Mähsichel schadhaft. Auf die Preußen am linken Flügel war kein Verlaß, und die Österreicher auf dem rechten machten, so hieß es, beim Marsche nicht die ordentlichen zehntausend Schritt auf die deutsche Meile, sondern erheblich mehr, aber am liebsten rückwärts.

Also war die Mähsichel nicht nur angebrochen, sondern auch noch an den Bruchenden morsch geworden; aber das Volk, kniend unter Ostra Brama in Wilna, die Männer mit langgekämmten, durch Kwas klebengemachten Haaren, die Weiber in den Tüten steifer weißer Kopftücher, betete doch vergeblich um Frieden …

»Jetzt sollte Herr Heinsberg weiter erzählen«, sagte auf einmal nüchtern, wie aus einem Rausch seines eigenen angemaßten Erzählens erwacht, der Doktor. »Da wir wieder in Wilna sind …«

»Man könnte sagen«, begann Christian denn auch gehorsam, »Gott habe den Steppenkönig in Wilna am Ärmel gefaßt. Es ist auch in der Kolonie gesagt worden. Er war der erste, der sich entfernte, und ist auch der letzte geblieben. Ungern erlaubte einem die Kolonie, davonzugehen, auch auf Zeit. Damals war man streng. Aus Deutschland auswandern war abwandern, hieß, endgültig in Neuasien sein Ziel erreicht haben, nicht spazierengehen zwischen Ländern und Erdteilen. Bleibe wo du bist, was hast du herumzulaufen! Was sollte werden, wenn alle in Bellmann dasselbe tun wollten? Man empfand dunkel, daß der Ort, wo einer grade steht, verpflichtet. Alle Orte sind zwar gleich unheilig und irdisch, sie bestehen aus Erde. Aber es scheint, als ob wir anfangen, einen fremden gemeinen Ort für unser Herz zu heiligen, wenn wir uns entschließen, länger an ihm zu verweilen. Ohne solches Vermögen könnten wir nirgendwo in der Fremde heimisch werden, und kein empfindsamer Mensch würde draußen bleiben.« – »Ob nicht das Irdische, örtlich verschieden, unterschiedliche Kraft hat?« frug der Doktor. »Wir wissen, daß die Dinge mit geheimere Kräften aufeinander wirken, ein Berg zieht eine aufgehängte Bleikugel aus dem Lote; die Menschen sollen nicht glauben, daß sie für Kräfte und Mächte nicht auch Dinge sind …«

Derlei zu hören, war natürlich nicht nach Brunos Sinne, überdies konnte er nicht mehr recht folgen, er forderte Wiederaufnehmen der Erzählung vom Ausreißer Michael. Vater Kädrich mußte leider gähnen. Weingard rauchte.

»Im Grunde sind sich alle Orte durch geheime Macht des Irdischen ähnlich; niemand braucht zu wandern und zu reisen; wer es vorzieht, zu Hause zu bleiben, ist gerechtfertigt. Ein bißchen von Enttäuschtsein ist nämlich doch im Erlebnis alles schönen Fremden und Nichtgewohnten. Wahrscheinlich ein kleines Gegengift gegen die Unnatur, einen gegebenen Ort zu verlassen … oder auch bereits etwas von Tod …« Christian hatte das gesagt.

Wie es mit dem Worte »Steppenkönig« selbst sei, brachte jetzt Gertrud kräftig die Rede an sich. Sie glaubte, es möchten alle etwas über den merkwürdigen Titel hören. – Urvater Michael war also als Neugeborener von einer Horde die Jungkolonie überfallender Eingeborener in der Steppe ausgesetzt und von seiner Mutter Barbara Heinsberg noch rechtzeitig darin aufgefunden worden. Etwas Fabelhaftes war daher um Michael. Etwas von dem in der Steppe lebenden Wachtelkönig und also von »König« war an Michael Heinsberg haften geblieben, man mochte es glauben oder nicht. Im Volk wurde, wie die Zeiten sich beruhigten und das Siedlerleben sich einspielte, das Bedürfnis mehr und mehr gefühlt, jemanden zu haben, der aus kolonistischer allgemeiner Gleichheit hervorragen möchte. Da hatte dann grade ein »Steppenkönig« dagestanden, ein Heinsberg, und den Heinsbergleuten war etwas davon bis auf den heutigen Tag geblieben. Sie hatten das annehmen und weitertragen müssen, das Volk wartet lange mit Erteilen seiner Gunst. Wenn es sich dann aber einmal für einen entschieden hat, dann muß sich dieser jede Rangverleihung und -erhöhung, die es will, gefallen lassen. Und aus dieser Erwähltheit kommen dem Manne dann auch Kräfte. Christian hatte sicher auch schon einmal unter der Linde erzählt, wie trefflich sich am Dorfeingang der Steppenkönig Michael Heinsberg vor dem Russenkaiser Nikolai Romanoff benommen hatte. Nun durften sie sich selbst offenkundige Fehler leisten, zum Beispiel die Gewalttat seines Vaters gegen den Russen-Lehrer, den jener in die Wolga geworfen hatte –, ob er das nicht auch schon erzählte? Auch einen unbedeutenden Folger in der Reihe wie ihn, Christian, konnte die Kraft der Angestammtheit noch tragen. Das Volk, das Ehren und Würden verleiht, erhebt in besonderen Zeiten dann dafür die Forderung nach Leistung. So im Jahre der Schrecken 1812. Sie mußten wissen, daß die russische Regierung damals die Fremdvölker nicht ins Landaufgebot, selbst in der höchsten Not des Jahres nicht, gerufen hatte, so genau hielt sie das Versprechen der Kaiserin, daß die Ansiedler frei sein sollten vom Dienst mit den Waffen. Aber nicht nur das französische Heer war beispiellos vernichtet worden – so wie wenn von zehn Sackfüllungen einer Weizenfuhre zehn Handvoll Körner übrigbleiben – auch die Russen hatten in jenem Jahre der Wiederkehr der sogenannten Apokalyptischen Reiter, die alle hundert Jahre einmal Mord, Pest, Tod und Verderben über die Länder bringen, furchtbar gezahlt. Sodaß eine gewisse Beschämung auch die frömmsten weltabgewandten Bibelleser an der Wolga beschleichen mochte, nicht teilgenommen zu haben an dem Versuche, den gemeinsamen ruchlosen Feind abzuwehren. Der russische Kaiser hatte zuletzt den biederen Landsturm mit dem Kreuz vor der wachstuchenen Kappe aufgerufen, dazu die Kosaken in ihren Grenzsiedlungen im Lande zwischen Don und Kaukasus, sie sogar mit Kind und Kegel, soweit solche eheliche und uneheliche Erzeugung männlich war und das fünfzehnte Lebensjahr erreicht hatte. Man hatte sich also beim heiligen Kriege auf die Arbeit von Russen für die hehre Aufgabe der Verteidigung unserer heiligen Mutter Moskau beschränkt und hatte die Möglichkeit des Mittuns von Einwanderern, Fremdstämmigen und Kolonisten nicht beachtet, vielleicht nicht geachtet. Einzelne von diesen hatte das geärgert, sie hatten geglaubt, man müsse einfach den Boden verteidigen, von dem man esse, vernunft- und anstandshalber. Ob der Ahn unter diesen wehrhaft Denkenden gewesen war, wußte Christian auf eine Frage Gertruds nicht zu sagen; genug, das deutsche Wolgaland hatte seinen Steppenkönig in den Volkskrieg geschickt! Einen Steppenkönig? Einen Strohkönig vielleicht? Ah, war denn der bunte König von Neapel mit den Pfauenfedern am Hut nicht eines Gastwirts Sohn gewesen und Marschall Lannes, Herzog von Montebello, ein Färberlehrling? Nein, man war mit dem Steppenkönig nicht schlecht vertreten gewesen in einem Welttheater, auf dem zwei Könige mitspielten, die von Neapel und von Westfalen, zahlreiche Fürsten von Pontecorvo, Benevent, Treviso, Vicenza, Neuenburg, Reggio in Calabria, einem Lande, das sehr weit entfernt sein mußte, Eckmühl, und man könnte das halbe Ortsverzeichnis Italiens und Deutschlands heranziehen. Und erst auf unserer russischen Seite, was für hohes Volk hatte es da gegeben, da doch jeder vierte Adlige in Rußland ein Fürst war und in Überkaspien gar jeder andere! Also hatte die Phantasie von Bellmann den Steppenkönig nötig gehabt, und so, aus etwas Verdienst und viel Gunst, aus Zufall und Zwang gemischt, war die Vorzugsstellung der Heinsberg in Bellmann geworden … schloß Christian Heinsberg lachend.

Sie sagten, daß das recht wahrscheinlich klinge, daß das Volk sich eben auf seine Weise seine Helden und Ersten mache, selbst Bruno stimmte aus seiner großen Welt- und Menschenkenntnis zu.

»Es ist so vieles Geschenk«, meinte Gertrud Kädrich, »das Bedeutende in Natur und Welt wohl immer und alles, letztlich angesehen. Darum schauen diejenigen nicht weit, die die Gnade leugnen wollen.« – »Zum Beispiel die Sozialisten!« schrie Vater Kädrich. »Alles soll man entlohnen können!« – Bruno erboste sich darüber kräftig, doch der weiteren Betrachtung war er in keiner Weise gewachsen. Man sprach von Staffellöhnen, von dem pesthaften Grundsatz, daß Zeit Geld und also alle Arbeit mit der Uhr in der Hand zu messen sei, wodurch die höchstwertige Arbeit unmöglich und die Kunst vernichtet werde … Bruno mußte einfach den Mund halten. Das wahre Verdienst, meinte Christian, werde gewöhnlich in der Welt nur bis zu einem gewissen Maße, wenn überhaupt, belohnt, wie auch nur die kleine Missetat maßgemäß wirklich bestraft werden könne, zum Beispiel nur eben ein Mord mit dem einen Tode. Wieviel hunderttausendmal müßte sonst ein Bonaparte sterben? Und da waren sie wieder bei ihrer Erzählung.

Vielleicht sei niemals so viel Männervolk auf dem Wege gesehen worden wie damals, hub der Doktor wieder an. Allein die Zahl französischer Marschälle und rheinbündischer Obersten und Offiziere! Deren fast soviele da waren wie gemeine Soldaten; wenigstens als alles schief ging. Denn vom Hauptmann aufwärts ist alles beritten, in den Satteltaschen hat der treue Bursche, der Peter oder Uli – auch französische Offiziere nahmen als solchen gern einen Deutschen oder Schweizer, wegen Sauberkeit und Zuverlässigkeit – etwas für den Herrn versteckt. Und war ein solch braver Kerl gar gestorben, so konnte am Ende der Herr General noch das Fleisch des Reittiers des Toten am Gewehrspieß braten, die Franzosen hatten das Pferdefressen angefangen. – Und bei »uns«, fing nun auch Christian aufs neue von der alten Sache zu sprechen an, was habe es da gegeben von entwichenen deutschländischen Herrschaften, Herzögen von Oldenburg, Herzögen von Württemberg, alles Verwandten der Zarenfamilie, Prinzen von Philippsthal und anderem »Berg und Tal«, Freiherren »vom Fels und zum Stein«, wie der russische Geschichtslehrer lachend gesagt hatte, österreichischen Grafen und Markgrafen und entlaufenen Schriftstellern!

Selbst ein Weingard beteiligte sich. Grade war es hundert Jahre her, daß die dreihundertfünfzig preußischen Offiziere von ihrem Herrn den Abschied erbeten hatten, als dieser das große die Befreiung einleitende Opfer der Bundesgenossenschaft mit dem Todfeinde brachte. Weingard hatte das aus Langeweile in der Sonntagsbeilage zur »Rhein- und Nahezeitung« in der Eisenbahn gelesen, er gab es hier umständlich, wie einer vorliest, der nicht gar viel liest, zum besten. Der unverstandene König hatte in hohem Unmut an den Rand des Gesuches geschrieben: Können gehen! Und die Offiziere waren blutenden Herzens gegangen. Daß ihrer so viele gingen, erschütterte den Bestand des nur noch kleinen preußischen Heeres. Sie waren ausgewandert. So brachte Weingard glücklich seine frische Weisheit heraus, im Schwung der Stunde stolz auf seine Beisteuer zur Unterhaltung.

Die Russen erzählen sich noch heute, nach hundert Jahren, mit Bitterkeit und Hohn von jener deutschen Masseneinwanderung feiner Leute, trug Christian bei. Denn hei, eh das alles sich mal eingerichtet, den echten Russen die Stellungen und Arbeitsplätze weggenommen und überhaupt der ganze Aufruhr sich gesetzt hatte! Massenzufluchten kleiner und großer fremder Herren sind keine Kleinigkeiten für ein Land, alle wollen sie essen und, wenn sie satt sind, etwas zu tun haben, und die Nürnberger Goldschmiede in Moskau arbeiteten mit Überschichten an Orden für Herrschaften vom Grafen aufwärts. Viele richteten sich gleich für die Dauer Bleibens ein, in Rußland ließ sich ja leben, zum Beispiel ein Herzog von Oldenburg, dessen Namen Christian vergessen hatte; aber er nannte für viele Leute vom mittleren Gesellschaftsgrad einen Stabsarzt, dessen Namen ihm grade einfiel, Roos aus Stuttgart. Von den Kleinen taten es Ansiedler, siedelnde Kriegsgefangene in den Kolonien bei Perm, in Blumenfeld am Rande der Kirgisensteppe, ein sogenannter Doktor Schrafel in der Hochuferkolonie und ein sächsischer Kapitän Mücke im Dorfe Messer ebendort. Andere Namen hatte er grade nicht bereit.

In Wilna hatte es zum ersten Male ein Atemholen im Marschieren gegeben, hinreichend wenigstens, daß die rheinbündischen Offiziere und andere Vivelamperörs Zeit gefunden hatten, nach dem Vorbild des Heerführers sich Kinn und Wange schaben zu lassen und sich von nun ab altrömisch-altmodisch zugestutzt zu zeigen. Von Wilna in neuem Anheben nach Osten marschierten nun die Europäer unter Führung der Franzosen weiter, meist in übler Laune, soweit sie nicht söldnernde Abenteurer und ruhmbegierige Leutnants waren. Wieso sollten sie auch nur in der ernsten Freude der Gefaßtheit des Mannes in Waffen, jener Gefaßtheit, die Notwendigkeit ausdrückt, marschieren, da hier doch alles nur von Willkür bewegt wurde? Was aus Hunger marschiert, aus Hunger nach Raum und Boden und dem Brote, das darauf wächst, das marschiert aus anständigem Grunde, da die Erde nicht einem gehört, auch auf die Dauer nicht dem zuerst Gekommenen, und da nicht ewige Besitzrechte auf ihr ersessen werden, sondern alle, die sie bewohnen, sich in Gottes Namen über ihre Äcker vertragen müssen. Aber wo trieb hier große blutedle Notwendigkeit? Hier war veraltete Ruhmsucht und Ruhelosigkeit eines Einzelnen, der zuviel im Cäsar gelesen hatte, der Antrieb, ungeheurer Mutwillen. Würden also die in Stockholm und auf den Schären mit den Füßen auf den Bootsrändern bereitstehenden Schweden gern marschieren? Die Schweden hatten genug Land, es mochte noch für Jahrhunderte der inneren Vermehrung reichen. Auch bei ihnen hatte einmal ein König tollbunten Zielen in derselben Wegrichtung nachgejagt, bei Poltawa wurde er vom russischen lehmigen Lande, vereint mit der russischen Kraft, gehemmt, gelähmt, erstickt. Denn nicht länger hatten die Fürsten spielerische militärische Ziele zu träumen, in der neuen erwachten Zeit setzten die Völker aus ihren Lebensnotwendigkeiten die Ziele. Die Preußen waren von den Franzosen aus Furcht mitgenommen worden, man belud sich mit den gefährlichen Bundesgenossen, damit sie nicht im Rücken Unheil stiften könnten; es würde an Gelegenheit und Örtlichkeit, zum Beispiel in der Vorhut, nicht fehlen, beachtenswerte Mengen von ihnen gründlich loszuwerden. Die Hammelherden der rheinbündischen Deutschen? Der Franzose bedachte mißtrauisch, ihre Gefolgstreue werde etwas mit den Längengraden zu tun haben, nämlich im selben Verhältnis abnehmen wie deren Zahlen östlich anstiegen. Darum schmeichelte er am meisten dem Sachsen und betörte ihn mit dem großen alten polnischen Köder und vielleicht auch noch mit jungem preußischem; und wie ein Geier stieß der Sachse auf die politisch angeluderte Falle. Aber was diesen ergebensten Fremdknecht anging, so wurde auch gleichzeitig auf Ritten und im Schlitten vom Kaiser Alexander und dem Freiherrn vom Stein erwogen, ihn einmal besonders büßen zu lassen. Nicht allein den Lausitz-Ast sollte man ihm zum Vorteil des nur gezwungen untreuen Preußen kappen, wie der Zar, sondern den ganzen Wettin-Baum absägen, wie der Freiherr wollte. Leithammel waren diese Fürsten, getrieben von Sorge um ihre wankenden Kronen, nicht um ihre Völker, und die Schmach war noch frisch, daß viele von ihnen vom fremden Zwingherrn, nicht vom deutschen Kaiser, ihre Titel sich hatten erhöhen lassen. So wie der Kronenräuber, der heute Europas Männermasse nach Neuasien hineinführte, zu diesen seinen politischen Schülern gesagt hatte: Freunde, rückt eins weiter hinauf, so würde der deutsche Kaiser, in dessen heiligen Rang bald ein einstweilen noch im russischen Land sich umhertreibender rheinischer Freiherr aus Verdienst und Gnade hineinwachsen würde, einmal zu den königlichen Buben sagen: Ihr Burschen rückt mir zwei hinunter. Daß Deutschland die Schmach von Erfurt und Dresden ein Jahrhundert lang noch immer duldete und so, als merkte es selbst sie nicht, das hatte der russische Lehrer in der Geschichtsstunde in Katharinenstadt nicht begreifen können! Ob selbst sie, eben sie, fühlten, hier in diesem wirtschaftlich und militärisch blühenden, gedankenlos glücklich dahinlebenden Kaiserreich, daß der Tag von Erfurt in Hinsicht der Schmach an den Kronen noch immer andaure? frug Christian seine Freunde. Sie schüttelten den Kopf … Sie waren mitgenießende Bürger eines Staates in der politischen Glückszeit. Ein Mann von draußen, ein herübergekommener Fremder, der gemeinsame russische und deutsche Geschichte aus den weit auseinanderliegenden Blickorten Wolga und Rhein anschaute, sah sie besser als die hier im Lande.

Bruno war still und andächtig. Ja, hier erlebte er andere Geschichtsdarstellung als im Forstergymnasium! In diesen Tagen hatten sie auf der Sekunda die sieben Geburtstage der Hohenzollernprinzen, Söhne des Kaiserpaares, auswendig gelernt!

Die armen beklagenswerten Soldaten von damals: es fehlte den meisten von ihnen der große Grund für ihr Laufen und Wagen; Ruhm ist kein großer Grund; die Eitelkeit gehört zu den Erbärmlichkeiten; es gibt nichts Großes ohne den menschlichen Zweck …

Wie schön, wenn Freunde gemeinsam sich ihr geistiges Haus und Bollwerk in dieser bösen Welt erbauen!

... Eigentlich hatten nur die Polen einen Grund, Napoleon Heerfolge zu leisten; aber der Franzose gebrauchte sie nur als Steine in seinem cäsarischen Spielbrett, er meinte es nicht ehrlich; Polen war Köder für Sachsen, für Preußen oder für Österreich, öffentlich reihum, oder für zwei, um Mißtrauen zwischen sich Nähernde zu säen, oder geheim für alle, und vollends die Preußen waren ihm nichts anderes als Spielfiguren. Den Leiter seines Generalstabes, den Freund Berthier, hatte Er angewiesen, sie kräftig einzusetzen; darum marschierten sie an der Spitze. Seine alte und junge Garde aber und überhaupt die Franzosen, die kostbaren Menschen, hatte Napoleon zu schonen befohlen. Soll man auch von den Deutschen, die sich Österreicher nannten, denen der Osten des Reiches zum Bewohnen und Behüten zugefallen war, die jetzt im Raume von Radom marschierten, etwas sagen? Marschierten die etwa gern? Vor drei Jahren waren sie gern marschiert, in den großen Tag von Aspern hinein, unter ihrem Erzherzog Karl, ja – aber dem Sonnentag von Aspern, wo auch Napoleon unglaublicherweise einmal besiegt worden war, folgte bald der finstere von Wagram. Was hatten die Tiroler erlebt? Der fremde Verzauberer und Männerbetörer hatte es fertiggebracht, ihnen die eigenen Stammesbrüder, von denen sie sich nicht einmal wie die rechte Hand von der linken unterschieden, die Bayern, auf den Hals zu hetzen, eines der schlimmsten und dümmsten Stückchen der Weltgeschichte, die je gespielt worden sind. Nein, man gierte nach anderem: als ein galizischer Bauer, einer von denen, die in weißer Leinwand gehen, das Hemd über der Hose und lange Haare bis auf die Schultern herab tragen, in der kalten russischen Winternacht so viele Sterne am Himmel blinken sah, wie er sonst, ein Winterschläfer, nie gesehen hatte, da frug er, was sie zu bedeuten hätten. Und er wußte sich selbst keine andere Antwort zu geben, als daß es – ach ja! – wohl bald Frieden geben müsse …

Waren auch nur die Franzosen gern auf dem Weg, dem ungeheuern? Natürlich waren es von ihnen die Freiwilligen, die Abenteurer aus Mut und Lebensdrang, und die Leichtsinnigen, vielleicht die Tunichtgute, Arbeitsscheuen und Arbeitslosen, die mißratenen Söhne, welche Familien und Gemeinden ins Heer gesteckt hatten, es war die einzige Art, sich ihrer zu entledigen. Aber diese Leute waren in den zwanzig Jahren fast ununterbrochenen Krieges, den Frankreich gegen Europa führte, verbraucht, verkrüppelt, verdorben, die Menschenquelle war erschöpft, es gab keinen Leichtfuß mehr im Hause und keinen Arbeitsunlustigen im Städtchen mehr, in Frankreich waren nur noch brave und fleißige junge Leute zu finden. Immer schärfer abgefaßte Aushebungsbefehle gingen an die Werbe- und Druckämter und Verfasser der Einwohnerlisten, immer tiefer bis ins Milchbartalter sank der Spiegel der Tauglichkeitsforderungen, und manche französische Mutter weinte. Manches Kind in gallischen Betten wurde nicht mehr empfangen, denn wozu gebären und aufziehen? Nach weiteren zwanzig Jahren des ewigen Krieges würde es auch von ihm heißen: mort en Espagne, en Prusse orientale, ne pas retrouvé à Santo Domingo, von den achthundert Schweizern, die in den Kolonialkrieg nach Haiti in Amerika geschickt worden waren, kehrten bloß sieben zurück: mort pour la patrie, pour la France – »Frankreich« aber war nur ein einziger ehrgeiziger Mann; mort pour la patrie – aber es gab auch schon vorzeitig erleuchtete Franzosen, die wußten, daß derart »fürs Vaterland« viele Hunderttausend durch Zwang gemachter Bundesgenossen starben, und sie empfanden Scham darüber; welche Röte aber stieg ihnen in die Wangen, wenn sie bedachten, daß viele von den fürs falsche Vaterland Sterbenden durch die Kugeln ihrer echten Blutsbrüder, gegen die sie geführt wurden, fielen, Opfer der allergrößten politischen Unsittlichkeit der Welt!

Viele von den alten Soldaten wollten ihre Wunden an der Sonne Frankreichs selbst heilen lassen. Die neuen Herzöge, ehemals Händler und kleine Leute, wünschten im Herzensgrund und am mißlichen Tag, wenn der Regen während des öden Marsches unermüdlich auf ihre Schnüre und Sterne herabfiel, ihre Titeleinkünfte auf den schönen, ihnen geschenkten Schlössern der ehemaligen Adligen vor den staunenden Augen ihrer einstigen Mithändler und Heimatdörfler verzehren dürfen. Man war des Krieges im tiefsten Herzen müde, man war auch enttäuscht, die stürmischen Worte von der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit hatten die anderen Völker nur langsam und oberflächlich erregt. Man fühlte den Zeitwind abflauen … Auch die französischen Füße fingen an, sich matt auf den Wegen der Welt dahinzuheben, mochten die Münder auch noch fest Vive l'empereur rufen.

Er selbst hatte befohlen, gelegentlich und angesichts der Russen Vive l'empereur zu schreien, auch wenn er nicht anwesend sei, das erzeuge den Eigenen Mut und den Feinden Furcht und mache an seine, Cäsars, Allgegenwart glauben. Er war im Grunde nur ein altmodischer römischer Konsul im Kriege mit Puniern und Parthern und verschmähte nicht den Gebrauch der Mittelchen indianischer Häuptlinge in amerikanischen Kämpfen.

»Es ist etwas Herrliches um die Geschichte, wenn man sie gründlich kennt!« sagte Gertrud. »In den Schulen kommen wir nie zum Gründlichkennen. Es muß viel Stoff aufgehäuft werden, ehe man etwas mit ihm anfangen kann. Die Schule kommt über das Anfahren und Aufhäufen nicht hinaus. Freilich ist es auch für die Lehrer kleinere Müh'. Weil die Schüler aber im scheinbar sinnlos Angehäuften zu ersticken meinen, deshalb schätzen sie das Geschichtelernen gering. Bei mir war's nicht anders.« – »Genau so ist es mit der Erdkunde«, sagte der Doktor. »Der Unterricht bleibt auch da meist im Aufzählen von örtlichen Gegebenheiten stecken, und es wird etwas als peinliche Gedächtnisbelastung empfunden, was beglückende Weltanschauung sein kann.« Auch der Überkaukasier, der zwar selten etwas zur Unterhaltung beitrug, aber auch nie störte und immer aufmerksam war, wußte zu sagen, man könne aus Geschichten lernen, es sei »komisch mit ihnen, eigenartig« … Was Gertrud aufnahm und deutete, indem sie sagte: »Eine richtige Geschichte ist eigentlich nie ganz vergangen. Die Umstände und das Zeitgewand werden nur gleichgültig …« – »Man fühlt sich immer getroffen!« rief Vater Kädrich, stolz auf seine Tochter. – »Ja, es geht im Grunde immer um uns, wir sehen uns selbst, nur in alten Kleidern. Ich kann es nicht genau ausdrücken …« sagte Gertrud.

Christian kam in Schwung: »Ganz lebendig wird die Geschichte in der Politik, die jene voraussetzt. Politik mag das im Feuer der Zeit glühend gewordene Ende des sonst starren Eisenstabes Geschichte, das man noch schmieden kann, sein« – »Nicht übel!« murmelte der Doktor. – »– was man im Ausland stärker empfindet als im Inland. Im Ausland sind die Wirklichkeiten härter, man kann sich nicht auf eine Allgemeinheit zurückziehen. Im Inland verantwortet das Ganze immer Dasein und oft Tun der Einzelnen. Ich möchte glauben, das Ausland sei die richtige Hochschule für den Inländer, kein Verantwortlicher vom Staatsmann bis zum Schriftsteller sollte wirken, ohne die besucht zu haben. Man müßte die Forderung auf alle Völker ausdehnen. Ihre Erfüllung würde dem Weltfrieden dienen.«

Alle, mit Ausnahme des Vaters, pflichteten lebhaft bei.

Christian spielte mit einem großartigen Gedanken. Er sagte: »An der Wolga wohnen Tataren und Kirgisen, beide Mohammedaner. Zu uns schallt der Festtrubel eines tatarischen Dorfes herüber, wenn im Frühsommer der Mekkapilger, geschmückt mit dem Titel Hadschi, dem Namen für Lebensdauer voranzusetzen, wenn zum Beispiel mein Freund Hadschi Ali Turschuk nach Tatarbunar über der Wolga heimkehrt. Was hält den Islam zusammen, von der Wolga bis zum Indus, vom Atlasgebirge bis zum See Lopnor in Turkestan? Vielerlei, gewiß, davon meinetwegen zuletzt, vielleicht aber auch zubest, die Vorschrift für den Mann, eine große Reise zu tun. Einmal im Leben muß der Forderung nach der Mohammedaner ins Heimatland der Seele, nach Arabien wandern, nach Mekka wallen. Ein religiöser Gedanke freilich, aber was hat das schon auf sich? Groß verstanden ist alles leidenschaftliche Wollen und Tun religiös. Nun denke man sich, es würde von jedem ausgewanderten Mann in jedem Volke eine solche Pilgerfahrt gefordert: bei den Iren, den Schweden, den Griechen in Nordamerika, den Italienern in beiden Amerika, den Japanern und Chinesen in Inselindien, den Deutschen in Rußland, in den Balkanländern, in ganz Amerika? Das gäbe ein Sichzusammen- und Einsfühlen der gegebenen Gemeinschaften vergleichbar dem großartigen der Mohammedaner. Welch ein Hinundher auf den Erdteilstraßen und Weltmeeren! Meinetwegen wäre alsdann dem Namen des Heimgereisten amtlich Hadschi vorzusetzen, Pilger – nein, stellen wir ›Pilger‹ für Bezeichnung des Reisenden mit religiösem Ziel zurück, sagen wir etwa ›Waller‹, das Wort ist noch frei genug; Waller-Heinsberg zum Beispiel, klänge das übel?«

Sie fanden lachend: nein.

»Meinetwegen auch als ein Wort: Wallerheinsberg?« Drei klatschten in die Hände. Kädrich murmelte: »Du bist verrückt …«

»Alles ist Gewohnheit, Vater Kädrich. Die Araber haben sich auch daran gewöhnt, Hadschi Ali, Hadschi Halef, Hadschi Omar zu heißen. Sie taten es, also ausgezeichnet worden, freudig.« – »Was soll das: Araber? Vom Atlantengebirge bis zum Lappensee in Türkisdingen? Italiener? Griechenländer? Warum den Ausländern nach den Augen und in die Töpfe gucken? Mir sin Daitsche.«

Bruno meinte, man solle doch den Onkel Rußländer mal ausreden lassen …

»Ja, ich phantasiere«, sagte Christian, sich entschuldigend, zum Vater – und: »Warum soll man nicht mal phantasieren?« begeistert sich zum Sohne Kädrich wendend: »Welch eine Lebensbeziehung zwischen Freund und Gastfreund gäbe das!« – »In altgriechischer Weise«, schaltete sich der Doktor ein. »Das erste Volk mit großem Volkstum im Auslande waren die Griechen. Kleinasien war für sie Rußland, Süditalien Amerika, jene Länder damals für sie so weit entlegen, wie diese für uns. Homer stellte den Griechen in die Fremde: Die Ilias spielt in Kleinasien, die Odysseia in Süditalien. In Pompeji und Marseille wohnten Griechen …« – »Dank für die Belehrung«, sagte lachend Heinsberg, »was wären wir ohne unseren Doktor? Also das ganze Reisewesen begründet auf der Beziehung Freund und Gastfreund. Ich würde zum Beispiel hier bei euch wohnen, Herr Kädrich bei mir in Bellmann an der Wolga –« – »Danke«, wehrte Vater Kädrich ab, »nur am Rhein, da will ich leben …« – »Nun, dann mein Sohn Michel hier bei euch, Ihr Sohn Bruno bei mir –«

– »Ja!« schrie Bruno. »Fein! Großartig! Wann –« – »Nicht so stürmisch, Bruno«, besänftigte Gertrud, die nun einmal eine Abneigung, nicht gegen die Ferne, aber wider die Wolga hatte. – »Großartig! An der Wolga! Nicht mehr an diesem langweiligen verkitschten Rhein! Wann kann ich fahren, Onkel Heinsberg?« – »Morgen noch nicht, mein lieber Junge …« Und fuhr fort: »Wir denken nur an geistige seelische, nicht an wirtschaftliche Vorteile, die daraus entstehen könnten …«

»Doch! Denken wir daran! Reden wir davon«, rief, dem Nebenbuhler in der Gunst zustimmend und ihn gar übertrumpfend, heftig Weingard. »Zum Beispiel unser kaukasischer Rotwein, Helenendörfer und Kachétier, mit drei Sternen …!« – »Schweig von deiner Giftbrühe, Weinmischer!« rief Kädrich. »Die braven Deutschen trinken nicht mal ihren deutschen Rhein und Mosel, und die eigenen Winzer leiden Not. Not und dunkel gefärbtes Zeug, sodaß man nicht sehen kann, was dringepanscht ist, aus Frankreich saufen sie in Hamburg …« Als der Streit sich so erhitzte, daß er für die Stimmung gefährlich wurde, mischte sich der Doktor mit dem Rechte des Hausherrn ein, er sagte betont lehrhaft zu Christian, und wies mit dem Finger auf ihn wie ein Konzertmeister auf einen Musiker, der einzusetzen hat: »Sie standen, Wallerheinsberg, noch bei 1812. Bitte fortzufahren!«

Der Scherz wirkte Frieden. Christian erzählte jetzt vom Anteil der Schweizer an 1812. Er war ein tragischer und traurigblutiger, ein lächerliches Beispiel von Opfertum, wenn es nicht ein so großartiges gewesen wäre.

1812 marschierten auch vier Regimenter Schweizer, rote Schweizer, nach der Farbe ihrer Waffenröcke so genannt, die blauen dienten noch immer zum Ärger des Franzosen beim Engländer und Spanier. Landsknechte waren sie noch wie früher, die Landsknechte waren auf den Wegen der Fremde gewesen, und sie hatten viel Schweizerblut außerhalb der Schweiz vergossen. Doch die Soldaten der Regimenter waren auf einmal keine auf dem Kalbfell abgesolderen Landsknechte mehr; daß sie echte vollwertige Schweizersöhne waren, deren Blut aus dreitausend Leibern teurer sein würde als das von Mietlingen, dafür harte Napoleon selbst gesorgt. Denn längst hatte er den mit der Schweiz geschlossenen Vertrag, wonach nur Freiwillige, Abenteurer, und Sorgenkinder bis zum Maße einer Auffüllung der Truppenkörper ihm zur Verfügung gestellt werden sollten, gebrochen, er forderte jetzt auf der Suche nach Mannwesen – er hätte auch Braune, Gelbe und Schwarze genommen – rasch und rauh durch seinen Gesandten Talleyrand die Tagsatzungen auf, alle Abgänge immer wieder durch Ausheben der vollberechtigten Landeskinder, Städter, Großbürger, Ländler, Älpler, zu ersetzen und überhaupt endlich zu begreifen …

Die Tagsatzungen hörten diesen letzten drei Worten Talleyrands noch das ungeduldige Stiefelaufstoßen des Kaisers an.

Man frug Christian, woher er das Stück aus der Schweizer Geschichte kenne, Gertrud meinte, es möchte kaum im russischen Schulgeschichtsbuch gestanden haben. – Auch im schweizerischen stehe es kaum, das Ganze sei ein bitteres Stückchen Schweizer Geschichte. Aber er sei etwas voreingenommen für die Schweizer. Vielleicht, weil sie beide, Wolgaer und Schweizer, abgewanderte Deutsche seien, jene mit den Füßen, diese mit den Herzen.

Mit den Herzen Abgewanderte! Ja, das kam allen als richtig gesagt vor. Es war lange her, daß sie gegangen waren. Deutschland hatte sie nicht zurückzurufen vermocht.

Woher er das bittere Schweizerstückchen kenne? – Aus der Beschäftigung mit jener Zeit, als Europa seinen Männern nachfrug. Als die Frauen auch in der Schweiz gleich vielen deutschen, französischen, italienischen Müttern, Schwestern und Bräuten in die Straße traten und nach Osten einem schreitenden Paar Stiefel nachschauten. Denn immer wieder zog einer davon, auch als die Hauptmasse längst abmarschiert war, ein Verspäteter, ein Genesener oder auch schon Ersatzmann für Abgang, jede deutsche östliche Stadt war Gestellungs- oder Sammelort für irgendein französisches oder ausländisches Regiment, so Magdeburg für die Garde, Glogau für die Gascogner, Jastrow für die Jäger und nun für die Schweizer Danzig. Also er habe während des Jahres Studium in Speyer, halb von Zufall, halb von Neigung geführt, auch ein militärisches schweizerisches Werk gelesen …

In diesem Augenblicke krachte eine Granate Wohlseins in der »Krone«, man horchte auf und hinaus, die Schweizer wurden vergessen. Der Abendstern hatte mittlerweile das Licht des Fensterrahmens gequert und verschwand eben grünfunkelnd am Rande.

Immer wieder lachte einer los, schallend oder inbrünstig, mitten ins Schwarze mußte der Witz getroffen haben, lachte aus dem Schweigen auf, und die abgelachten Zuhörer lachten wieder mit. Man konnte sich denken, daß dem unsichtbaren innig Lachenden die Tränen über die Backen liefen – da mußten sie auch in der Doktorstube loslachen, der blonde Doktor mit, selbst Bruno.

»Tschingdada, bumsassa …« sangen jetzt auf dem Schiffe die glücklichen Brüder an der Bowle, sie war aufgefüllt worden, in der warmen Nacht. Jetzt aber begrüßten sie laut einen leinenröckigen Kellner, der ihnen im Auftrag der Herrschaften, die »ans Futtern gegangen« seien, Würstchen, auf Weinblättern geröstet, herausbrachte und reichte. In der Tat war es in der »Krone« leidlich still geworden, man war damit beschäftigt, den Magen mit Festem zu versorgen, ihn, der Leib und Seele, wie männiglich weiß, zusammenhält, solcherart Versicherer gegen die Trunkenheit.

Das Hündchen Miß hatte sich, schnell wie gutbehandelte Haustiere das tun, einzuleben begonnen und sich als jemandes ausschließliches Eigentum zu betrachten. Es lag unter dem Stuhl der Frau und unter ihrem Rock, nur das nasse schwarze Schnäuzchen hinausgeschoben unter der breiten schwarzen Borte, mit der das helle blaugetüpfelte Sommerkleid untenherum sehr bestimmt eingefaßt war.

»Der Krieg muß einen sittlichen Grund haben«, sagte der Doktor, während er die Tassen forträumte, der sittlichste Grund ist immer die Verteidigung. Ich verstehe das gar nicht weinerlich und kann selbst ein nicht leichtfertiges Streben nach natürlichem Lebensraum für Verteidigung nehmen, denn ohne angemessenen Futterplatz setzt über kurz oder lang doch das Sterben oder Nichtgeborenwerden ein, und dann kommt es auf eins hinaus in der Todesrechnung. Aber Willkür ertragen wir nicht mehr. In dem Sinne gibt es doch einen Fortschritt bei der Menschheit. Darum kommt mir der Fall Napoleon als der große altmodische vor, und die Franzosen, die sich zu diesem Rückfall in Römerzeiten verführen ließen, sind mir das altmodische Volk.«

»Und das geschah, als in Deutschland die sogenannte, große klassische Zeit war«, rief Bruno mit halb gebrochener Stimme, »sagt unser Deutschlehrer, ein ordentlicher Kerl, die anderen sind Rösser. Und auch einige sogenannte große Klassiker …« Er krähte und griff heftig nach einem Glase Wasser.

Alle hatten Bruno angeschaut, leicht verdutzt. Aber wie verdutzt waren sie erst, als nun Bruno – es mußte endlich einmal Farbe bekannt werden! – sozusagen an sich selbst Mut bekommend, starr und stur das von niemand geforderte Bekenntnis ablegte: »Ich bin nämlich Sozialist!« Als dann aber die Bürger da, mochte auch die famose Schwester darunter sein, darüber nicht genug erschraken, vielmehr in ein schallendes Gelächter ausbrachen, warf er drauf: »Kommunist! Anarchist!«

»Anarchist, mein Lieber, nur nicht zuhause!« drohte Gertrud und faßte Bruno beim rosigen Öhrchen. – »Die ganze Prima ist Anarchist!« schrie Bruno. »Wir auf der Sekunda sind erst beim Kommunismus angekommen, wir haben zu viel Hausaufgaben zu machen. Wenn wir erst mal in Prima sitzen … Max Stirner sagt …« – »... daß es höchste Zeit ist«, nahm Gertrud die Rede an sich, »daß ein Junge, der erst beim Kommunismus angekommen ist, schlafen gehen muß, damit er sich die Kraft für den bombenwerfenden Anarchismus anschläft. Sicherlich ist in Rüdesheim in der verlassenen Brömserburg noch eine Fensterscheibe übrig, die du einschmeißen kannst. Sonst schläft der Weltstörzer wieder wie vorhin auf dem Schoße der Schwester ein.«

Da errötete Bruno und sagte: »Ich bin in der Tat müde. Vielleicht darf ich mich ein bißchen auf des Herrn Doktors Bett legen, er hat eine so herrliche Daunendecke mit Seidensteppung. So eine möch' ich auch haben, Gertrud!« – »Im Gegenteil, ich werde dir ein Riemengeflecht machen lassen, wie der heilige Franz von Assisi eins zur Abhärtung …« – »Auch gut«, sagte Bruno, sich gegen einen Wasserfall von Schlaf stemmend, »der Franz … von Assisi war … nicht übel, … ein … heiliger … Sozialist …« Er fiel im Nebenzimmer aufs Bett und schlief schon im Sichlegen. Es wäre ihm um ein Haar übel geworden vor Müdigkeit.

Marschierten aber die Russen gern? Gern und zurück? Immer zurück? Immer wieder? Zurück und marschieren, sind das nicht Widersprüche? Ah, man konnte auch, man mußte gar: krebsen sagen, und die russischen Offiziere sagten es häufig. Natürlich krebste man nur, weil man deutsche Führung hatte, ein Russe krebst nicht! Die Russen waren immer nur vorwärts gegangen und hatten sich ausgebreitet, auf die baltische See zu, gegen die Wolga hin, wo sie große Kolonien angelegt hatten, nach Polen hinein, nach Sibirien hinaus, in die Krim, in den Kaukasus, und bald würde man auf die allerheiligste Mutter Byzanz marschieren und dort in der heiligen Sofienkirche nach dem letzten Willen Katharinas ihren Enkel Konstantin krönen, nach Turkestan, wo schon General Knorring vorgearbeitet hatte, nach Asien hinaus, wer weiß, und würde am Ende die ganze Welt zur heiligen russischen Rechtgläubigkeit bekehren. Und solche großartig ruhelosen Weltdurchmesser mußten unter der Führung dieser vorsichtigen Zögerer stehen, der Deutschen! Eines Barons Stein, der hinter den Heeren befehligte, man wußte nicht wieviel! Und der Väterchen Zar beschwätzte! Die Schwätzer nannten sich Denker und Dichter! Immer war Rußland von diesen Deutschen hinters Licht geführt worden, die große gutmütige leidenschaftliche Mutter Rassija von diesen kalten schwunglosen Denkern, schon seit den Zeiten des großen Peter, Gott hab' ihn selig. Also da hatte dieser Professor der Kriegskunst, der Württemberger General Pfuhl, ein befestigtes Lager an der Düna gebaut, sich dahinein zu verziehen, wo doch das tapfere russische Heer in offener Feldschlacht sich mit dem eingedrungenen Feinde messen wollte! Und baute der eine aus dem Professorenvolke, Pfuhl, die Schanze, so bezog der andere aus dem Zögerergeschlechte, Wittgenstein, sie nicht, es fehlte ihnen sowohl an Mut wie an Einsicht. Das Lager war umsonst gebaut, zwanzigtausend Schaufeln waren vergeblich in den englischen Eisenfabriken bestellt worden. Sie richteten wohl vorsätzlich Rußland zugrunde? O heilige russische Langmut! Immer hatten sie doch Schläge bekommen, die Deutschen, von Kunersdorf angefangen. Nach fünf Jahren Sichbalgens in Deutschland wäre ihr großer König Friedrich, Fjodor Fjodorowitsch, am Ende doch der zusammengefaßten Macht der für Recht und Freiheit streitenden Verbündeten fast ganz Europas erlegen, wäre nicht im rechten Augenblicke für ihn seine schlimmste Feindin gestorben, der Kaiserin Elisabeth Majestät, die der freche Spötter eine Hure genannt hatte – vorlaut waren sie zu allem auch noch – und hätte nicht ihr unseliger verrückter Neffe Peter den Thron der Zaren bestiegen und den Krieg abgebrochen. – So gingen umständlich die Gespräche in den Offiziersmessen, besonders an den unteren Tischen, wo die Leutnants saßen, die noch ohne Feld- aber voll Schulerinnerungen waren.

Als nun aber ein Dorf nach dem andern und Stadt um Stadt in Flammen aufgingen, da erregten sich auch die hohen Offiziere, lauter große Adlige und Fürsten. Empört sahen sie ihre Sommerhäuser in Weißrußland und ihre Winterpaläste in Smolensk niederbrennen, die waren aus Holz. Jedweder, dessen Heim mit seinen französischen Behaglichkeiten und morgenländischen Kostbarkeiten grade das Brandopfer gewesen war, stürmte entsetzt zum baltischen Obergeneral. Es müßte sein, beschwichtigte dieser und vertröstete die gerecht erzürnte russische Seele, der Verlust sei nur ein vorübergehender. Und während der Knjäs oder Graf mit der Reitpeitsche die Luft schlug und frug, ob denn nicht englische Gewehre in russischen Fäusten seien, um den Franzosen das Brennen zu legen, da lächelte der Ausländer schlau und sagte, nicht mit Gewehren allein werde ein Krieg gemacht. – Womit denn sonst? Bei der heiligen Sofia von Byzanz! – Mit Stiefeln! Stiefel seien in England bestellt, hunderttausende, täglich kämen zehntausend Paar in den finnischen Häfen an, rechtzeitig, bevor diese zufrören. Da sei nämlich ein ganz neuer Feldzugsplan, ein Deutscher habe ihn mitgebracht, und nicht mal eine Militär-, sondern eine Zivilperson, ein gewesener preußischer Minister … dem mit dem Munde staunenden Knjäs blieb die Sprache fort. Und der Obergeneral rechnete, während der gesamte Generalstab, vor neuem Wissen lächelnd, noch in voller Sommersonne da im belaubten Birkenhain stand, vor ihm die möglichen Wirkungen des Frostes auf das feindliche Heer aus, wie sie nun eben, sie wüßten es, der Freiherr vom Stein in einer sehr klugen Denkschrift an den Kaiser aufgezählt und dargestellt habe. Ein steinalter baltischer Ehrenmajor von Rosenthal, der sich, hoch in den siebziger Jahren seines Lebens, für den neuen Feldzug zur Verfügung gestellt und den man zum Gefolge beim angenehm lebenden Stabe zugelassen hatte, flüsterte einem Nebenmanne zu, das sei nichts Besonderes und unerhört Neues, die Indianer täten das häufig: vor einem folgenden Feinde alle Häuser zerstören, die Fruchtfelder abbrennen und ihn derart verwirren, aushungern, zermürben, er wußte es aus eigener Erfahrung, er war in seiner Jugend in Amerika gewesen … Aber der Obergeneral hatte Gelegenheit genommen, einmal und nach deutscher Weise gründlich, vor vielen Ohren den russischen Feldzugsplan von heute zu entwickeln: Marschieren, marschieren, nach Osten, nach Osten, vom Sommer über den Herbst in den Winter und seinetwegen noch in eine fünfte schlimmere Jahreszeit hinein, wenn es eine gäbe; über Beresina, Dnjepr, Moskwa, Oká, Wolga und die anderen Flüsse, die nur noch »Fluß« » darja«, und sogar nur »Wasser«, » ssu«, heißen, alle die ak-ssu, kara-ssu, kisil-ssu, Weißwasser, Schwarzwasser, Rotwasser, denn wenn es sein müßte, ginge es bis tief nach Asien hinein. In Deutschland nicht und in Frankreich auch nicht, wohl aber in Rußland könne man sich das leisten. Und währenddessen den Feind durch kleine Schlachten an sich heften und nach sich ziehen, aber sogar nach Siegen ihn nicht verfolgen, sondern selbst nach Osten abziehen und sich scheinbar verfolgen lassen. – »Nach Siegen?« – »Jawohl!« – »Siegreich und sich verfolgen lassen – ?!« – »Immerzu, Brüderchen! Man muß etwas Außerordentliches einem außerordentlichen Feinde gegenüber tun. Den Heldentod sterben ist gewöhnlich. Ein Ungeheuer, sowohl durch Mangel an Sittlichkeit wie durch Besitz von Kraft und Geist ist vor uns aufgestanden unbesiegt, oder nur einmal gleichsam aus Versehen besiegt. Mit den schlichten Mitteln gewöhnlicher Kriegskunst, einfachen Draufgehens und gemeiner Tapferkeit ist hier nichts zu machen. Es kommt jetzt nicht allein darauf an, Helden zu sein, sondern Sieger. Gott hat einmal zugelassen, daß der Ungott – die Frommen sagen: der Satan – in der Welt herrsche; um ihn hinauszuwerfen, genügen nicht die einfachen menschlichen Künste. Man muß sich mit etwas Höherem verbünden, und da wir uns mit Gott unmittelbar nicht verbünden können, so mit seiner Erscheinungsform – das soll die Natur sein, wenn ich recht verstanden habe«, lächelte der Obergeneral über seine dünnen Lippen. »Doch so ungefähr dürfte es heute in Deutschland die Philosophie meinen, die man die romantische nennt. Der lateinische ›Geist‹, ganz zuletzt noch einmal in höchster gefährlichster Ausbildung, weil er grade mit Kanonen spielt, und die nordische ›Natur‹ sind zu einem Tanz auf Leben und Tod angetreten, wobei es nicht einmal nur um unser persönliches Leben und Sterben gehen soll, versichern die zuständigen Schriftsteller, sondern um Siegen oder Unterliegen von ganzen Kulturen, Reichen und Rassen. Der Kampf ist so verzweifelt, daß in ihm auch das scheinbar Widersinnige Sinn werden kann.« – »Den Feind zum Beispiel hinauswerfen«, schrie der Knjäs, »nicht nach Westen, woher er kommt, sondern nach Osten, wohin er zieht? Was ist das für eine verdammte deutsche Feigheitskunst!«

Der Obergeneral wandte sich ab. Er fuhr mit der flachen Hand über die leichtbeschweißte Stirn. Er hatte sich einmal vor vielen Ohren grundsätzlich aussprechen wollen, damit die Weisheit weitergetragen werde. Er selbst verstand sie ja nicht recht. Er war Soldat. Er war nicht zum Denken, er war zum Ausführen von Gedachtem und Befohlenem da. Man mußte sich, selbst Offizier und Haudegen, schon die Seele stark machen, um solche Belehrungen geben zu können und sich vom wütigen Geschrei nicht beirren, vom befohlenen Plane nicht abdrängen zu lassen.

Es half aber nicht viel, daß ein Oberfeldherr sich herbeiließ, Befehle zu begründen. Es behauptete sich die Meinung, daß die Russen mit Draufgehen und Heldenopfern, die Deutschen durch Klügelei und Generalstabswissenschaft Krieg führten – hol's der Teufel!

Welch eine starke Seele mußte erst der Kaiser haben, Zar Alexander Pawlowitsch, Katharinas Enkel! Nein, es kann kein Vergnügen sein, ein Zar, und keins, der kleinste Herrscher zu sein, zuviel Entschließungen muß er fällen, nicht eine halbe Stunde hat er Ruh', stets um seine Meinung befragt. Ah, immer auch nur eine Meinung haben müssen! Welch ein Tun, immer etwas bestimmt zu meinen! Lieber ein Pferd sein als ein Zar! Nicht ein Tag vergeht, ohne daß jemand erscheint mit gefüllter Mappe und höflich, aber bestimmt Entscheidungen abverlangt. Von rechts schreien sie – höflich, aber bestimmt – und von links schreien sie – – schließlich wurde doch der gute Kaiser schwach, obgleich gestützt vom Stein wie von einem Fels, und er fiel um. Durch ganz Rußland scholl der Ruf, aus Stadt und Land, aus Heer und Volk: Wir wollen einen andern Feldherrn!

Heil Kutúsoff, einäugiger alter Türkenlöwe! Als Katharina mit den Moslems kämpfte, zwang er den Sieg herbei, regierte die eroberte Krim und hatte jetzt eben wider sieggekrönten Frieden mit den Türken geschlossen. Heil Kutusoff!

Aber als dieser Michail Ilarionowitsch zum Oberbefehlshaber, zum Fürsten ernannt worden war und Barclay sich ihm freudigen Willens untergeordnet hatte, da fand auch er, daß dieser Krieg seiner Natur nach sicherer nicht mit dem Gewehr aufsatz, sondern mit dem Stiefel absatz, nicht durch Eisen, sondern durch Leder gewonnen werde. Die Stiefel, die Stiefel! Für Gewehre und Patronen sorgen die Engländer! Gute Stiefel vor allem braucht der russische Soldat! Arbeitet, Schuster, in Tula, Orel und von Moskau bis Petersburg allüberall, wir brauchen Schuhzeug, die Engländer schicken zu langsam! Freßt, Kühe, in der Ukraine, am Don und entlang der Wolga, freßt, werdet groß und dick und laßt eure Häute beschleunigt wachsen und festwerden, Rußland ruft nach Rindsleder! Wachst, Eichen, an der Düna und in den Schluchten an der oberen Wolga, und opfert euch für Rußland, man braucht eure Rinde zum Gerben! Leder! Stiefel! Es geht zu langsam …

Bevor der Kaiser Alexander in Wilna vom Oberbefehl gewichen war, da hatte er sich noch einmal die Freude bereiten lassen, die Reiterei an sich vorbeimarschieren zu sehen. Er hatte hohe steife Reiterstiefel, wie er selbst sie an seinen Beinen mit Vorliebe trug, rotgefüttert, bei ihr einzuführen befohlen. Die Engländer hatten zwar rechtzeitig die nötige Zahl, jedoch versehentlich nur rechte Stiefel geliefert. Alexander konnte leicht in Unmut geraten und war überhaupt, wie Künstler und Frauen, Stimmungen unterworfen – also hatte Barclay den Kaiser von der Nordseite des nach Osten gehenden Weges mit List weggebracht und ihn auf die Südseite gestellt; und so trabte denn an Seiner Majestät die nur am rechten Bein mit dem hohen Reiterstiefel, am linken aber mit dem abgedankten Leinenwickel bekleidete Reiterei vorbei.

Leder! Brandsohlen! Schnürsenkel! Ösen oder Krampen! … Die Schuster hatten große Zeit.

Da bekam auch Michael Heinsberg, Michael Christianowitsch aus Bellmann an der Wolga, die schönsten Stiefel, kein englisches Fabrikzeug, gute russische Handwerkerarbeit, Juchtenstiefel. In Rußland wußte man Schuhzeug von je zu schätzen. Michaels Stiefel rochen stark und köstlich nach vielfältig eingeriebenem Birkenöl. Der russische Oberst baltischen Stammes Hamilcar von Löwenstern, Hamilcar Fjodorowitsch, nahm ihn zu sich – er war derjenige gewesen, der ihn in Wilna am Ärmel gefaßt hatte – nahm ihn zu sich, um jemanden besonders zu verwenden, der Deutsch und genügend Russisch sprach. Und als Hamilcar Fjodorowitsch Helferoffizier beim Oberfeldherrn wurde, da sah Michael Christianowitsch Michael Ilarionowitsch aus der Nähe.

Kutúsoff saß grade im Freien auf einem Nachtstuhl, der im Troß mitgeführt wurde. Ein alter Mann mit Leibesbeschwerde, mußte er täglich sehr lange darauf sitzen. Er sprach seinen hohen Offizieren die Befehle für den Abmarsch des nächsten Tages in die Feder. Er stöhnte stark. Seine Kenntnis des Landes war bewunderungswürdig. Was das Wissen um Brücken anging, so war dieses freilich ein einfaches, man konnte fast stets annehmen, daß keine da seien. Nur ab und zu mußte ihm ein Generalstäbler das Kartenblatt hergeben, das er dann nahe an sein einziges linkes Auge führte, und ab und zu reichte ihm ein hochgewachsener Kosak mit ernster Gebärde ein Blatt von einem Päckchen in Vierecke geschnittenen Papiers hinüber. In seinen Vortrag hinein schrie Michael Zlarionowitsch oft: Ha! oder auch: Feste! Druck drauf! je nachdem, und endlich: Hurra!

»Die Kosaken unter Fügner sollen an sich halten! Der Feind wird nicht angegriffen, sondern nur gekitzelt! Das dritte Garderegiment marschiert sofort auf Dorogobúsh und das sechste stracks nach Moskau … Feste! Druck drauf! … Die Parteigänger Kutascheff und Dawidoff mit ihren Kreuzbauern und Kosaken sollen sich gefälligst an meine Befehle halten und die Herren Franzosen nicht zu sehr belästigen … Ha! … Die Nase zeigt richtig den Weg an, wenn sie auf Moskau und den Morgen zeigt! Der Soldat wird fürs erste mal tapfer dem Feinde den Rücken sehen lassen, so will es die neue russische Kriegführung, und im übrigen das Maul halten, bis der Feldherr sprach … Ha! Oh! Sieg! …Die deutsche Legion soll sich auch fertig machen, ich will sie über Moskau hinausschicken, um die von der Fahrnis des Bauernpacks verrotteten Brücken instand zu setzen und neue zu bauen, für alle Fälle … Hurra!«

Die deutsche Legion nämlich, das war Michael Heinsbergs Sache. Deretwegen war er aufgelesen worden. Die Legion sollte aus den gefangenen Franzosen deutscher Herkunft gebildet werden.

Kutusoff frug den Oberst Löwenstern: »Hamilcar Fjodorowitsch, hast du einen Mann, geeignet, ihn ins feindliche Heer zu schicken und dort die Deutschen aufzuwiegeln?«

Ja, hätte Löwenstern sagen müssen, aber »Nein, Euer Exzellenz«, sagte er, Kutusoff war endlich aufgestanden und knöpfte die zahllosen Silbernüßchen seines Dienstanzuges ein. Obgleich er vom Geschützwesen herkam, so trug er doch mit Vorliebe Tscherkessengewand.

Über dem Knöpfen vergaß er seine eigene Frage. Er rief, als er endlich von der Tragbühne des Nachtstuhls jugendlich-kräftig heruntersprang: »Vor Moskau aber stellen wir uns! Bei Borodinó bieten wir dem Feinde die Schlacht an! Bis dahin kein Gefecht!«

»Da hab' ich dich mal gerettet!« sagte der Oberst zu Michael. »Dich mitten ins Franzosenheer schicken? Halt' dich an die Gefangenen oder mach meinetwegen welche und überrede sie dann, dann tust du genug für die deutsche Legion. Aber erst wollen wir uns was Ordentliches zu Gemüte führen. Beim Barclay gab's nur schmale Bissen, da haben wir genug spartanische Feldsuppen gelöffelt, der Fürst aber soll eine schwelgerische Tafel halten. Warum auch nicht? An Lebensmitteln kommt genug von der Wolga und an Wein und Früchten aus der Krim an. Laß dir's auch gut sein am Soldatentisch. Und sollte die Herrentafel alles wegfressen, so beschwerst du dich bei mir, verstanden? Das Weitere wird sich finden.« Damit ging der prächtige Oberst Löwenstern ins wohlgebaute Stabszelt, von dem die blauweißen Fähnchen lustig flattern. Aus dem Raume hinter den Zelten her duftete es gar lieblich von den Feldküchen und offenen Feuern her.

Auch der Feldherr freute sich auf eine ordentliche Mahlzeit, und seine weißen buschigen Brauen strahlten Behagen und Zufriedenheit mit aller Welt aus, als auch er ins Tafelzelt ging. Man hörte drinnen schon die Champagnerpfropfen knallen …

»Was kann das schlechte Leben helfen«, rief, immer es wiederholend und sich Mut machend, ein vorbeigehender Zecher auf der Rheinstraße von Aßmannshausen. Er übte das Sprüchlein, das er seiner zuhause gebliebenen Alten beim Türöffnen an den Kopf werfen würde.

In diesem Augenblicke hörte man es brausend aus der »Krone« singen: Rheinisch leben, das heißt lustig sein … denn dort war das den Leib und die Seele zusammenhaltende Mahl zu Ende, die Säule der Trinkfestigkeit war neu gegründet. Und bei den Klängen fuhr der alte Kädrig in der stimmungsvollen Doktorstube auf.

Vater Kädrich, ebenso rücksichtslos wie sein Söhnchen, hatte längst die Wirte- und Winzerzeitung hervorgezogen, sich die Kerze vom Nachttische des Doktors geholt und bei deren Licht in einer Ecke zu lesen begonnen. Als es draußen endlich lustig sang, seufzte er kutusoffisch auf und erhob sich. Er ging und nahm den Überkaukasier, der sich auch zu langweilen anfing, mit. Er nahm ihn mit, den Geschäfteverderber, warum nicht? Er war gewohnt, nach der Art eines Hundes etwa, sofort das auszuführen, was ihm im Augenblick als Einfall oder Begierde gekommen war und was verlockte. »Gehen wir in die ›Krone‹, Kataster, Weinpanscher, sehen wir, was de Kowelenzer un de Kölsche do dun!«

Die Zurückgebliebenen hörten die zwei Weltgerechten die knarrende Treppe hinuntergehen.

»Schade, daß ich nichts Genaues von der deutschen Legion weiß«, sagte Christian. »Unseren Leuten war das Stück gleichgültig …«

Aber der Doktor unterbrach ihn, sich erhebend: »Jetzt, da unser guter Vater und großer Weinmann fort ist, wage ich es, der ich natürlich vom Wein nichts versteh', einen hervorzuholen.« Er tat es und entkorkte mit soviel behandelnden Umständen, daß auch Vater Kädrich daran Freude gehabt hätte, eine rotglasige Flasche mit rotem Lackkopf. »Bacharacher Bergpfad Spätlese neunzehnhundertsieben«, murmelte er, während er sorgfältig in drei Römer mit rotem Bauch und milchweißem Fuß ausgoß, »kein schlechtes, aber doch ein gewöhnliches Jahr, ›gut und viel‹ sagt von ihm die Geschichtsschreibung der Weinjahre.«

Nachdem er also vorsichtig seine Gabe entwertet und die Begierde nahe an den Nullpunkt der Erwartung geführt, nachdem er auch Weißbrot auf den Tisch gestellt hatte, gab er als Wirt die Spannung frei. Es kam die für den Gastfreund stets furchtbare Stille des Prüfens – da lobte Gertrud Kädrich den Wein über die Maßen. Und zwar nicht nur als Wirts- und Winzerstochter, nein; aus dem unbekannten Grunde, der im Geheimnis der Säfte und chemischen Körperstoffe ruht, erklärte sie, daß der Wein ihr in hohem Grade munde. Darüber war der Doktor unbändig glücklich, er errötete bis zum Beflammtsein. Auch ihm hatte der Wein auf einer Schiffchenfahrt von Bacharach her aus der Maßen gemundet, auch sein Zellsaft und Körperstoff nahmen die chemische Art grade dieses Weines höchst willig und durstig an. Er trank sein ganzes Glas zwar langsam, doch auf einen Zug, aus und genoß dabei im Blute das Erlebnis der Ähnlichkeit seines Zellsaftes mit dem des Mädchens.

Aber er setzte entschlossen sein Glas hin und sagte: »Die deutsche Legion! Darüber kann ich etwas berichten. Ein guter Zufall, daß ich darüber größere Auskunft geben kann, als euch vielleicht lieb sein wird. Ich hatte für die Doktorprüfung in Bonn neben dem Hauptfach Erdkunde die Nebenfächer Geschichte und deutsches Schrifttum gewählt und sie natürlich auch ein bißchen betrieben. Also da hat kein Geringerer als Ernst Moritz Arndt von der deutschen Legion gehandelt, in Bonn übrigens, wo er Professor gewesen ist bis erst vor fünfzig Jahren. In Bonn, auf dem Bollwerk am Rhein, dem ›alten Zoll‹, steht ja eine Büste. Jeder Bonner Student kennt Bollwerk und Denkmal. Und Arndt hat ausgezeichnet über sich und das Schicksal seines Lebens, das war seine Freundschaft mit dem Freiherrn vom Stein, und das große ihm widerfahrene Glück, einem solchen Manne haben dienen zu dürfen, geschrieben. Man sollte das Büchlein kennen. Arndt war Rügener, als solcher zur Zeit seiner Geburt also staatspolitisch Schwede, auch von schwedischer Herkunft. Also über Arndt bin ich in der Prüfung gründlich ausgefragt worden. Eine große Gestalt fürwahr, dieser Ernst Moritz! Ein Redner, ein Schreiber, ein Walter des Worts, ein gewaltiger! Am größten in der Zeit seiner Auswanderung nach Rußland. Auch er war den Franzosen in Berlin ein Stein des Anstoßes wie jener große Stein. Stein rief Arndt zu sich nach Petersburg, so wie der Kaiser ihn gerufen hatte. Und Arndt gehorchte, so wie Stein gehorcht hatte. Er hatte bereits den heißen Boden Berlins verlassen, damals suchten ja viele die verschiedenen Straßen auf, die nach Rußland führten, ehe sie ihnen gesperrt würden, der Graf Chazot zum Beispiel, einer von den verabschiedeten dreihundertfünfzig preußischen Offizieren. Der hatte Arndt in seinem Wagen nach Breslau mitgenommen, von wo der Graf nach Rußland entfloh. Aber Napoleon rückte schon nach Dresden vor und bestellte die deutsche Fürstenschar dorthin zu sich. Die gefährliche Hitze des politischen Ofens Dresden strahlte bis nach Breslau – Arndt ging wie Stein ins Ausland nach Prag, er hatte sich in Berlin einen österreichischen Paß auf die böhmischen Bäder besorgt. In dem Augenblicke rief aus Rußland Stein.

Arndt hatte keinen russischen Paß. Aber es fand sich ein kleiner Kaufmann, geborener Wiener von östlicher Herkunft, ein Jude mit dem sinnigen Namen Leiser Bauchgedanke, lausige und leichtfertige Gabe eines österreichischen Feldwebel-Schreibers zu Josefs Zeiten ohne Zweifel, und der glückliche Träger war gewohnt, die Wege über die Karpathen zwischen Böhmen, Schlesien, Ungarn und Polen hin und her zu fahren. Dieser wollte nach Brody im östlichen Galizien reisen. Wenn Arndt die Kosten der Reise für den Herrn tragen wollte, dann durfte er als dessen Diener reisen, durfte sein Name neben dem des Juden auf dem Paß stehen. Das Geschäft war ein schlechtes, aber das einzig mögliche, man wurde handelseinig.

Es war keine Zeit zu verlieren, die Reisewege möchten durch Kriegsgetümmel gesperrt sein. Aber der ›Herr‹ nutzte es aus, daß der ›Diener‹ ihn freihielt. Auf jedem Posthalt mußte gestanden, gesessen, gegessen, getrunken werden. Indessen: Dukaten verschwenden, wenn auch hellerweis' im Schriftstellerdienst zeilenzählend erschriebene, gut. Aber die Zeit? Zeit war kostbar, nicht Gold! Und schon wieder fuhr man, in Olmütz im Mährischen, bei einem prächtigen Gasthof vor, der Schwager auf dem Bock war offenbar vom ›Herrn‹ bestochen. Ach, du mein Jüdchen! ›Es könnte verdächtig sein und für uns beide gefährlich und die Fälschung verraten‹, sagte Leiser Bauchgedanke zu Arndt, ›wenn Sie mit zu Tisch säßen. Machen Sie sich draußen am Wagen zu schaffen.‹ Und futterte gut und trank nicht schlecht, guten starken Ungarwein, saß da anderthalb Stunden, während Arndt im Regen beim Wagen vor dem ›Goldenen Posthorn‹ stand, sich die Beine in den Leib stand und sich schwarz ärgerte. An den nächsten Halten war der Herr gnädiger, er ließ sich Speis und Trank in den Wagen hereinreichen. Aber hier war das Huhn alt und dort der Wein schlecht, er kegelte wie ein vornehmer Freiherr oder ein verwöhnter Student Geflügel und Geflasche zum Wagenfenster hinaus. Und der Diener zahlte.

Endlich am zehnten Tage kamen die Reisenden nach Brody und dem Grenzort Radziwiloff. Da warf der Diener den Herrn zum Wagen hinaus. Der aber lief ihm noch nach und versuchte, ihm fünf Dukaten abzuschwätzen, es sei nötig, die am Schlagbaum stehenden Grenzkosaken zu bestechen. ›Ich kenn' die Kerl', man muß sich kaufen hinüber‹, flüsterte er.

Aber wie erstaunte der Herr, als sich vor seinem Diener sofort der Schlagbaum mit seinem weißblauroten Farbwickel hob, der Haufen Kosaken sich in eine Grußgasse ordnete – der Kaiser selbst hatte auf Veranlassung Steins den Fürsten Lieven angewiesen, dem Schriftsteller Arndt einen kaiserlichen Paß bis an die Grenze entgegenzusenden.

Leiser Bauchgedanke, auf österreichischem Staatsboden zurückgeblieben, riß Mund und Nase auf. Arndt aber ging ins russische Zollamtshaus und erfuhr, seines riesigen, am Zolle lagernden Passes wegen von dem Vorstand, dem Kurländer Giese mit der größten Ehrfurcht begrüßt, daß hier auch Seine Exzellenz, der berühmte preußische Minister Freiherr vom Stein, der österreichische Oberst Graf Tettenborn, der Markgraf von Pallavicini, ein Rittmeister Mäurer aus Wienerneustadt und noch viele andere österreichische Männer durchgekommen seien. Denn auch aus Österreich hatte eine Wanderung nach Rußland eingesetzt, auch da hatten viele Männer, die bei Aspern Napoleon besiegt hatten und bei Wagram von ihm besiegt worden waren, ein gewisses allzu Schweres nicht übers Herz bringen können.

Der Kurländer erwartete jetzt die Wiener russische Botschaft, der der österreichische Kaiser, Schwiegervater Napoleons und Bundesgenosse des französischen Kaisers, wohl oder übel hatte die Pässe zustellen müssen. Es kam auch gleich der Botschafter Prinz Kurakin an und ging nach kurzem Aufenthalt durch. Der Schriftsteller wurde dem Botschafter vorgestellt, der Prinz fand Gefallen an Arndt und lud ihn ein, mit ihm zu reisen. Sie fuhren durch ein Land, in dem Baumstämme als Bienenstöcke genutzt wurden, und kamen vor die heilige Stadt Kiew. Der Deutsche staunte das prangende Baubild der vielkuppeligen starkdurchtürmten Stadt an und verwunderte sich darüber, wie alles Dach grün und golden funkelte.

Sie fuhren durch die Schitomirstraße ein und sahen ohne auszusteigen Altheilig-Sofia an, eine Kirche, weiß und grün und gold inmitten heilig-stiller Höfe. Sie hörten da drinnen einen Diakon-Baßsänger mit seiner Stimme gewaltig orgeln. Góspody pomílui … man flehte das Erbarmen Gottes herab auf die russischen Waffen. Ein Frauenchor sang vielstimmig und himmlisch, sehr hoch und etwas kreischend dadrinnen in der alten Nacht der Kirche: Góspodu pomólimsja … es war wie ein stürmisches Anklopfen an die Himmelsfeste. Und wie Gott Sohn selbst, den hehren Vater hinweisend auf die russische Gerechtigkeit und einen heiligen Krieg, sang der junge Diakon ruhig rollend, gewölbedurchwallend und gewährungsgewiß: Góspody pomílui … Trotz Flucht und Krieg, der Schriftsteller hätte stundenlang zuhören können; aber niemand auf der Welt hatte es eiliger als ein Botschafter, der beim Ausbruch von Feindseligkeiten ausgewiesen und voll von letzten Nachrichten für seine Regierung war – man fuhr nach nur drei Minuten Haltens weiter auf Tschernigoff. Sie nahmen bereitstehende neue Pferde, das Wechseln dauerte eine Minute, sie ließen im Weiterfahren die Altstadt links liegen, stiegen die Schlucht zwischen ihr und der Höhlenstadt rechts an ›Sankt Nikolaus im Birkenhain‹ vorbei und nieder zum Flusse und rollten auf die Holzbrücke hinauf. Genau siebenhundertsiebenundsiebzig Klafter solle die weiße Brücke lang sein, versicherte der neue Iswostschik, sich umdrehend auf dem Bocke, denn der Verkehr stockte gleich. Allzuviel wälzte sich aus der Stadt des Südens nach Norden in den Krieg. Zu rauchen war auf der Brücke verboten.

Da schauten sie den gelben trüben Dnjepr hinab und das Bergufer hinauf, auf dessen, wie Kurakin Arndt leise unterrichtete, vom Jahrtausend durchwühltem und mit heiligen Mönchsleichen angefülltem Katakombenberg Lawra, das heiligste Großkloster, lag und mit Dachzwiebeln, Doppelkreuzen und Halteketten unter der Vormittagssonne in Gold und Herrlichkeit strahlte.

Plötzlich – so plötzlich, daß ihnen der Nacken weh tat – ruckte der Wagen an, die Rosse jagten über die auf einmal leer daliegende Brücke. Es polterten die Bohlen. Es ächzte das Gebälke. Es krachten die Pfähle. Es donnerte der Bau. Wachen warnten auf der Brücke, erschrocken und drohend. Aber der Iswosischrik war besessen und seine Rosse nicht minder. Die lose liegenden Bohlen hüpften hinter den Rädern auf. Die Reisenden hielten sich angestrengt fest, und als sie die Hände loszulassen und den Blick zurückzuwenden wagten und Gespann und Gefährt im mahlenden Sande des Wiesenufers schlichen, da war Hochheilig-Lawra verschwunden, ein Wald von schirmenden Kiefern verstellte den Blick. Und sie gelangten in das elende Dörfchen Djernewitza, wo es stark nach Schnittholz und Harz roch; man baute dort große Baracken, Archen und Ambare, um die unermeßlichen Vorräte aufzunehmen, die den Dnjepr herauf aus dem Süden, für den Krieg im Norden bestimmt, in Kiew am Niedrigufer an kamen.

So eilig seine Reise war, der Prinz mußte sich darin ergeben, daß der Wagen alle Viertelstunden fünf und auch zehn Minuten stand, es ging durch ein wildes Heerlager und mitten zwischen Reiter-, Kosaken-, Kreuzbauern- und Kanonenzügen hin. Drei oder vier Marschsäulen schoben sich auf der Straße nebeneinander her. Streckenweise legte ein Zug eine neue Fahrbahn durchs Feld. Schwarzer Staub stand in der Luft, man konnte kaum das Gewimmel, die Troß- und Heereswalze vom Wagen aus überblicken. Die Reisenden husteten und räusperten sich, sie rieben sich die Augen und schütterten mit flacher Hand über die Haare hin, um sie zu entstauben. Der Prinz hatte sich in Kiew beim Pferdewechsel Staubmäntel mit Kappen reichen lassen, in denen sie nun wie Kapuziner eingehüllt saßen, vor dem Gesicht eine Maske mit Atem- und Sehlöchern – es hatte nichts geholfen, sie waren eingestaubt.

»Ein merkwürdiger Krieg«, sagte der Prinz Kurakin. »Nicht einer wie der Peters des Großen mit Karl von Schweden, wie der Katharinas und auch Unserer Majestät des Zaren Alexander mit dem Sultan. Dieser feindliche Aufmarsch ist nur zu vergleichen den Mongoleneinfällen und Barbarenzügen auf Moskau, nur daß diesmal die Massen aus dem Westen kommen. Aber welch eine Leistung, rein als Tun, meine ich, solche Massen erst zu erregen und dann zu bewegen! Ein außerordentlicher Mann! Man muß ihn bewundern, bestaunen! Schon in Erfurt – ich saß der neunte links vom Kaiser um den Hufeisenwinkel herum zwischen dem Rheinbund-Zwergfürstchen von der Leyen, dem Napoleonsscherz, und des Kaisers Freunde Berthier, Fürsten von Neuenburg – er hat uns Fremde alle bezaubert! Jamais prince … aber sprechen wir nicht französisch. Auch Seine Majestät der Zar war bezaubert, wenn er es auch nicht wahrhaben wollte. ›Il est charmant comme le diable, étant de bonne humeur le jour des grands péchés …‹« – »Ja, so ein Großteufelsfest von Erfurt!« grollte Arndt. – »Mais charmant, monsieur Arndt, charmant … que de fêtes dans la petite ville allemande! J'en ai encore le bourdonnement dans les oreilles … Ah! Erfurt!« schloß Kurakin schnalzend (er sprach auf französische Weise aus: Ärfürrt). »Kaiser, Könige, Großfürsten, Großherzöge, Herzöge und so weiter hinunter! In Dresden soll es noch großartiger gewesen sein, ich war nicht dort, da hat sich zu den anderen, die wiedererschienen, noch der Kaiser von Österreich bequemt und der König von Preußen eingefunden. Jamais prince couronné … Unsere Majestät sagte von ihm: Niemals hat ein Fürst mit so kurzen Beinen so lange Wege gemacht, von Paris nach Wien, von Madrid nach Danzig, eins, zwei, drei … un bonmot, vous save … ah, damals ahnte der Zar nicht und ahnten wir nicht, daß er in nicht längerer Zeit mit seinen kurzen Beinen noch längere Wege machen könnte, von Madrid nach Wilna, und ich fürchte … entre nous … nach Smolensk. Mais il faut s'y opposer …« Da ritt ein Offizier von der Berésinabrückenwache an den Kutschenschlag heran und meldete – nach Einblicknehmen in die Pässe – es habe keinen Zweck mehr, berésinalängs zu fahren nach Borisoff oder Wilna, der Feind sei weit östlich vorgestoßen, seine Vorhut möchte bereits nach Orscha oder Witewsk vorgefühlt haben. Er fürchte (er beugte sich vom Pferde etwas in die Öffnung des Kutschentürrahmens hinein und sprach leise), noch weiter. … Wenn sie Glück hätten, nur wenn sie Glück hätten, könnten sie vielleicht das Hauptquartier noch in Smolensk treffen … Nirgendwo gebe es ernstlichen Widerstand … Es scheine allgemeiner Rückzug auf Moskau befohlen … Auch hier breche man ab, die Brücke werde in den Fluß geworfen …

Und neues Getümmel der Kriegswirtschaft umbrauste die Reisenden. Tausende von Wagen mit Lebensmitteln, Zehntausende von Ochsen auf Weg hinter die Linie, Massen von Jungeingezogenen noch in Bürger- und Bauernkleidung, Züge von Ulanen, Kosaken und Bauernlandsturm mit dem Kreuz vor der Mütze aus gewachster Leinwand, alles bestrebt, aus der Nordrichtung nach Nordost oder Ost einzuschwenken, ein strudelndes tosendes Gewimmel. Wagenpferde für Reisende waren nicht aufzutreiben, aber Kurákin, kaiserlicher Botschafter, befahl und erhielt ihrer zwölf, die ihn, zu sechs abwechselnd, durch den Sand zogen. Das Land war schon ausgegessen, der letzte Hahn abgefedert; doch Kurakin, russischer Fürst, bekam von den Adligen auf den abseitigen Schlössern aus den versteckten Vorräten was er brauchte. Und also der Schriftsteller Arndt mit ihm.

»Ob das auch alles beim Schriftsteller Arndt zu lesen steht?« frug Gertrud Kädrich. – »Alles? Man weiß es nicht genau. Lassen Sie mir ein bißchen Erzählungsfreiheit.« Gertrud nickte lächelnd.

Und die Reisenden kamen nach Mohileff. Und sie hatten kein Glück und kamen nicht mehr rechtzeitig nach Smolensk. Und sie kamen rechtzeitig nach Borodinó vor Moskau.

... wo Burg und Kloster sich aus Nebel heben
und jedes bringt die alten Wunder mit …

sang es drüben auf dem »Lohengrin«, sehr schleppend und fast gelallt. Man hörte darauf den Löffel im irdenen Topf nicht mehr klingen, sondern im Bowlengemüse matschen.

»Schweigt, Besoffene!« rief der Doktor, sprang auf und lief ans Fenster, der reizend ungeschickte Junge, rief aber nichts hinaus, sondern setzte sich wieder nieder. Und Gertrud lächelte. Ach, sie war ihm gut, dem Gutmütigen, Hochgemuten! Das Hemd zöge er für einen aus und gäbe es her, aber die Sanftmut war ihm nicht gegeben. Alte Vorfahrenschaft war vielleicht über Rügen dahergekommen, mit oder vor dem Arndt, streng und eckig und ein bißchen behindert – Gertrud lächelte ganz warm und auch ein wenig überlegen.

Doch die Besoffenen mochten nicht schweigen, sie sangen, sie gröhlten und greinten. »Wie war es also, Doktor, in Borodinó?«

»Waht noch ene Augebleck, Pitter, ich moß dr noch ebbes verzehle! De Schloßstroß Han se grad beschitt. Do soht ich: ›Gott helf eich, ihr Männer.‹ Do hot mr eine zohgeroffe: ›Net niedig, mir arbeide em Daglohn.‹«

Auch der magere Doktor Wilhelm Tornquist lachte, feuchtete sein sprödes Wesen an in seinem Wein und erzählte weiter, während er die Flasche Bacharacher Bergpfad vor Christian zum gefälligen Selbstbedienen hinstellte: »Also Arndt war in Borodinó …«

»Wie war es nun aber mit der Deutschen Legion, bei der ich den Michael Heinsberg vermute?« frug da Christian Heinsberg.

Da strahlte der Doktor übers ganze hagere Knochengesicht und sagte, während er doch plötzlich selbst dem Christian eingoß, sehr leise und warm: »Ich danke euch, ihr seid geduldig …«

»In dem Arndt aus Rügen haben Sie etwas von sich selbst erkannt, Doktor, und deshalb so lange bei ihm verweilt«, meinte Gertrud. – »Und ich brenne darauf, meinen Ahn endlich in der Legion auftauchen zu sehen!« rief Christian. »Vielleicht bin ich aber nur begierig, selbst mal wieder dranzukommen«, lachte er.

Der Doktor streckte seinen dürren Arm gegen ihn aus und drückte ihm mit seiner außerordentlich großen knochigen Hand die kleine. Alles geschah stoßweise und so eckig, wie die Preußen es lieben. Aber es war einfach ein Liebesbekenntnis. Und er sagte dabei nichts.

»Also denn jetzt: Deutsche Legion antreten!« rief scherzhaft der Doktor. »Vorläufig aber bestand sie noch gar nicht, und es stellte sich heraus, daß Arndt natürlich zu früh eingetroffen war. Ein Deutscher hatte wieder einmal seinen Auftrag für russische Verhältnisse zu wörtlich genommen.«

Die Besoffenen lallten jetzt herzerfrischende Sinnlosigkeiten: Fallerah; und dann im Hinblick auf einen von ihnen, den Spohn (der den höchsten Grad unter den Anwesenden hatte, da der Schiffsbaas mit in der »Krone« war), den Rudermann, sangen sie in Frage- und Antwortchor:

Was hat der Spohn?
      Hat Hosen an!
Was tut der Spohn?
      Sich Kummer an!

»Nein!« schrie der Spohn aus Longerich (das liegt bei Köln). Da sagt eine einzelne helle Stimme in der stillen Nacht: »Dan sal hei ä löstig Stöckelche verzälle.«

Spohn war in der Lage, ein lustiges, ein bedeutendes, ein geschichtliches Stückelchen zu verzählen! Es hing mit seinem Namen zusammen. Der Dichter Simrock hatte es in Verse, die Spohn freilich nicht mehr genau auswendig kannte, gefaßt. »Hat ein Dichter eine Geschichte auf deinen Namen gemacht, Schmitz?« frug er den Anrufer. – »Nein«, sagte der Schmitz kleinlaut. – »Dan hal de Muhl zoo än de Uhre op!« Und er sang:

Man kennt in Koblenz und im Tal
noch Spohn, den großen Korporal.

Was tat der Spohn, daß man ihn kennt
und man ihn Kaisers Retter nennt?

Der hatt' in der Smolensker Schlacht
sich unbedacht zu weit gewagt.

Da, plötzlich ein Kosakentroß!
Der Kaiser flieht auf seinem Roß.

Doch die Kosaken reiten mit.
Der Kaiser ist sein Leben quitt.

Das sah der Spohn, der war nicht faul.
Herr Kaiser, rief er, mir den Gaul!

Mir Euren grauen eckigen Hut!
Flieht! Eure Rolle spiel' ich gut.

Da sprengt und jauchzt der Feind heran.
Sie fangen einen andern Mann.

Der Kaiser kommt zu seinem Hauf',
hat einen Korporalshut auf.

Von dieser Zeit, hört' ich einmal,
hieß Er der kleine Korporal!

»Der hat's gut gemacht, drum wird er auch nicht ausgelacht«, sang es jetzt studentisch auf dem Lohengrin. »Prosit Spohn! Sollst leben!« – »Ja, wenn ich nur die fünfhundert Franken hätt'!« – »Welche?« – »Die der Kaiser dem Ahn als Rente bestimmte.« – »Täte mir et Johr über versaufe«, rief einer. – »Vielleicht kannste se bei der Internationale Gerichtshof em Haag einklage?« – »Jo, kost' tausend.« Sie lachten.

»Wenn's nur ein anderer gewesen wär' als der Franzos!« sagte aber jetzt eine ernste Stimme. Und der Nachkomme antwortete ernst: »Danach fragt man in solchen Augenblicken wohl nicht viel.« – »Besser se hätten em jekrigt un der Kopp af.« – »Jo, dan wär Friede gewäs«, sagte der Schmitz.

Man nickte sich allgemein in des Doktors Stube Einverständnis und nickte auch im besonderen dem Doktor zu, was hieß: anfangen!

»Auch den Russen, wenigstens den gebildeten, den Offizieren und der Heeresleitung, konnte es nicht verborgen bleiben, daß ein gutes Drittel des französischen Heeres Deutsche waren, und rechnete man einmal Holländer, Schweizer, die Nachbarn-Skandinavier und andere Deutsch- und Germanischsprechende dazu, dann kam man bald auf die Hälfte. Und mehr als die Hälfte machten alle Fremden zusammengenommen aus. Dieser altmodische Napoleon, obgleich selbst aus einer Volksbewegung hervorgegangen, unterschätzte und mißachtete alle volkhafte Verbundenheit. Wie sollten also die Russen diese Schwäche eines sogenannt französischen buntgescheckten Heeres nicht ausnutzen? Man mußte dieses auflösen, zerstören; dazu gehörten beherzte, der europäischen Sprachen, besonders des Deutschen, kundige Männer und die Verführung des Handzettels. Da kamen natürlich die vielen Deutschen im russischen Reich, die man sonst nicht beachtete, den Regierenden in den Sinn, aber auch die Nachkommen der italienischen Bauleute in Moskau, die den Kreml im Ziegelstil von Villafranka bei Verona oder Citadella bei Mantua erbaut hatten, die Französischlehrer in den Städten, die schwedischen Kaufleute in Finnland und die griechischen Gärtner an den Schwarzmeerküsten, die man hinter die Korfioten, Soldaten von Korfu, und – Griechen sprechen viele Sprachen – hinter die Illyrer und Kroaten schicken konnte.

Zumeist rechnete man auf die Westfalen, die Tiroler und Illyrer, die nicht mehr ihren angestammten Fürstenhäusern angehörten und besonders schlecht behandelt worden waren, und auf die Preußen, die in ihrem Hasse gegen Napoleon alle anderen übertrafen. Aber andererseits war grade bei diesen durchgebildeten Truppen voll Manneszucht und Ordnungsliebe das Pflichtgefühl so stark und der Einfluß tüchtiger Offiziere so groß, daß die Mannschaft einen außerordentlichen Schritt wie das Verlassen der Fahnen ohne deren Beispiel nicht tat. Vergebens mühte sich an ihnen Stein ab, vor kurzem noch ihr Minister. Die Sendungen von Majoren wie eines Tiedemann waren erfolglos. Man beschimpfte diese, und die deutsch-russischen Handzettelverteiler im preußischen Heere setzte man fest. Es war viel, daß man sie nicht erschoß.

Trotzdem wurde als Sammelstadt für die ausgerissenen und übergegangenen Deutschen Riga bestimmt, für die Preußen und überhaupt die Deutschen, und für die Österreicher Kiew. Die Sachsen aber ließen sich lieber nach Kiew und, wenn sie dort nicht russischen Legionsdienst nehmen wollten, an die Wolga und nach Sibirien abführen, als in preußischen Verbänden und Diensten gegen Napoleon zu kämpfen. Die Nation muß damals in vielen Punkten verdreht gewesen sein.«

»Wie sah die Legion aus? Wie kleidete man sie?« frug Gertrud. »Damit man sich einen Mann davon vorstellen kann.« – »Genau dieselbe Frage hat mir in der Prüfung im Nebenfach Geschichte der Herr Professor in Bonn gestellt«, lachte der Doktor, »und da ich sie nicht beantworten konnte, hat er sie beantwortet und mich umständlich belehrt. Fest angestellte Professoren haben Zeit. Er hat mich belehrt, und ich weiß es also, denn nichts behält man besser, als was man in einer Prüfung gelernt hat: Russisch grüne Grundfarbe, das Lederzeug vortreffliches schwarzes Juchtenleder, die Gewehre englisch, die Gewehrspieße immer aufgesetzt getragen, sodaß die Legion in der Nacht den eigenen Meldereitern gefährlich war. Und ein furchtbar derber Ton herrschte in ihr, denn die Offiziere waren meistens recht jung. Diese wurden zu den Vorposten gestellt, die deutschen Truppen gegenüberstanden, und sie hatten Handzettelverteiler bei sich. Man kennt den Wortlaut eines solchen Zettels, mit General Barclay unterschrieben. Er lautete ungefähr: Soldaten Deutschlands! Verlaßt die Fahnen der Knechtschaft und der Unehre! Sammelt euch unter denen des Vaterlandes, der Freiheit und der Ehre! Die deutsche Sache ist augenblicklich in russischen Händen und darin wohlgeborgen. Des Kaisers Alexander Majestät hat mir den Auftrag erteilt, allen auswandernden deutschen Offizieren und Soldaten die Anstellung in einer deutschen Legion anzubieten. Ist der Erfolg aber nicht ganz glücklich, so versichert hierdurch mein Kaiser, daß er diesen braven Männern Wohnsitze und eine Freistatt unter dem schönen sonnigen Himmel Südrußlands oder an dem großen Flusse Wolga bei dort schon sitzenden Landsleuten geben werde.«

»Ein beredter Aufruf! Wer mag ihn verfaßt haben?« – »Arndt!« – »Ah« –

»Arndt war nämlich mittlerweile auf dem Umweg über Moskau zu Stein und dem Kaiser gestoßen. Stein wußte eines Künstlers Wortgewalt zu schätzen und politisch zu verwerten. In der Folge tat Arndt nichts als Aufrufe, Sendschreiben, Offene Briefe, Beschwörungen, erregende und erschütternde Gewissensanrufungen verfassen. In russischen Pressen wurden sie gedruckt. Mutigen Burschen wurden sie in die Habersäcke gesteckt. Michael Heinsberg scheint ein solcher Habersackträger gewesen zu sein …«

»Ah, Michael Heinsberg!«

In diesem Augenblick stand – Gertrud schaute Christian an, aber dieser blickte auf die Schlafzimmertür – stand Bruno im Türrahmen. »Ausgeschlafen?« rief ihn Christian an. – »Ihr schreit so sehr«, sagte Bruno, sank auf einen Stuhl neben der Tür nieder, wo er, von einem ersten Schlaf nur halb erfrischt, kraftlos wie eine stoffene Gliederpuppe saß oder hing, und gähnte gewaltig.

»Du legst keinen Wert darauf, den Herren gute Erziehung vorzuspielen«, tadelte streng und zornrot bis unter ihren Nackenflaum die Schwester. »Freilich, die Mutter früh tot, der Vater … nun ja, und die ältere Schwester ohne Willenskraft und also ohne Ansehen …« setzte sie zur Entlastung Brunos hinzu.

Teufel! Nein, das ertrug Bruno nicht. Er raffte sich zusammen und ging, fürs erste steif, doch aufrecht, wie eine hölzerne Gliederpuppe, durch die Tür zurück. Man hörte Wasser fließen und sah bald einen wohlerzogenen großen Jungen frisch und hell zurückkommen. Er setzte sich neben die Schwester und sagte leise zu ihr: »Es hätte, weiß Gott, dicker kommen dürfen …« Sie aber strich ihm übers Haar.

Es war still. Von draußen schien der Mond herein. Man hatte kein Licht angezündet.

Da hörte man schnarchen, gewaltig schnarchen. Gewiß schliefen die Schiffsleute auf dem Lohengrin in der warmen Nacht ihren Tiefschlaf, welchen Tag, Pflichterfüllung und Bowle ihnen gemischt hatten. Irgendwo rasselte es. Es rasselte im Schnarchtakt. Man frug, was denn rassele auf dem schlafenden Schiffe? Bruno wußte es: es rasselte auf dem vom Schnarchen erschütterten Bootsdeck lose hangendes Eisenzeug, eine Kette oder … Sie lachten laut in der Doktorstube.

»Wieviel Uhr wird es sein?« frug schließlich jemand. – »Nach dem Mondstand kaum zwölf«, sagte Bruno mit einem Blick nach dem Fenster hin. Die Schwester nickte ihm wie in mütterlichem Stolze zu.

»Was es in der ›Krone‹ nur still ist!« verwunderte sich Christian. – »Sollen wir hinübergehen und Radau machen?« rief leidenschaftlich Bruno. »Mit einer Ratsche oder … ich kann auch auf den Fingern pfeifen wie Geheimpolizisten …«

Da hörten sie durch die Nacht eine gewaltige, bis in große Tontiefen absinkende Baßstimme kommen, die des Vaters. Sie lächelten.

Im tie– Kel– sitz' ich hier
–fen –ler
auf ei– eine– em Faß voll Re–
-ben.
Bin hochgemut und lasse mir
vom allerbesten geben …

»Da ist er an seinem Platze, der Vater«, sagte zärtlich Gertrud zu Bruno. »Da sitzt er gut, wir können ihm dahinauf nicht immer folgen. Er fühlt, wie fremd wir ihm oft sind, und meint, wir verachten ihn. Stören wir also nicht sein Glück und gehen noch nicht hinüber. Bleiben wir noch etwas hier … das heißt«, sagte sie in einer gewissen Richtung aufsehend, »wenn es dem Herrn Doktor Tornquist recht ist?«

Der machte mit seinen stakigen Armen eine Glückseligkeitsgebärde, lief ans Fenster und rief: »Sterne, halt! Mond, wandle nicht weiter! Zeit, steh still!« Dann wandte er sich in die Stube zurück und rief: »Die Gläser leer und an die Wand mit ihnen! Niemals nach dieser glücklichen Nacht soll ein anderer daraus trinken!«

Gertrud aber legte ihm ihr Hand auf den zitternden Arm: »Sollten wir nicht erst die richtige Geschichte von Michael Heinsberg hören? Vielleicht werden wir dann ihm zu Ehren die Gläser an die Wand …«

Der Doktor nickte lächelnd. Es gab eine Stimme in der Welt, die konnte ihn, wenn er sich wie ein Löwe hatte, zahm machen wie ein Hündchen. Er wollte ergeben den Arm um Gertrud legen. Doch er legte ihn um Bruno. Der aber merkte, daß er nicht gemeint sei, wich aus und kam dadurch Christian nahe. Und dieser frug in dieser Stunde, wo man sich allgemein und mit gelöstem Zungenbande Freundliches sagte: »Möchtest du zu mir in die Schule kommen, in Bellmann an der Wolga, Bruno?« – »Ach ja, Onkel Heinsberg …« – »Aber ich könnte dich kaum etwas lehren. Junge, du weißt schon so viel …«

Gertrud hüstelte ein wenig. Sie liebte es nicht, daß ohne Not von Bellmann an der Wolga gesprochen werde. Sie sagte: »Sind wir nicht am Rhein, Bruno, was geht uns« – und dabei blickte sie stark Christian an – »uns jetzt die Wolga an …?« – »Ach, Schwesterchen«, sagte Bruno plötzlich zärtlich und langte nach ihrer Hand, »du bist ja bloß eifersüchtig.«

... und la– a– sse– e– mir
vom a– a– lle– e– rbesten geben …

Gertrud saß im Dunkel, sodaß niemand ihr Erröten sah, sie selbst fühlte es nur als Warmwerden. Der Vollmond war schon über den Mitternachtskreis auf die Westhälfte des Himmels hinübergegangen und begann durchs Fenster hereinzuscheinen. Christian saß jetzt in einem Keil Mondlicht.

...Der Küfer zieht den Heber vor,
gehorsam meinem Winke.
Er füllt das Glas, ich heb's empor
und trinke …

»Also laßt uns auch noch eins trinken, hoppla, Küfermeister-Doktor!« scherzte derb und studentisch Gertrud, sodaß der Küfermeister, der Brunos Worte überhört hatte, glücklich aufsprang und nach Wein lief, ganz aus dem Häuschen. Denn hätte er je es sich träumen lassen, daß seiner Bude die Ehre erwiesen würde, die lange währende ihrer Anwesenheit, die unendliche …? Der Mond stand still über dem Rheintal!

Er kam zurück. Er hatte beide Hände voll Flaschen, zwischen je zwei Fingern eine, schmutzige bestaubte Flaschen. »Wie wär's mit Rüdesheimer Rottland? Oder Bubenstück? Mit Hallgartener Schönhelle?«

»Welch eine Erdkunde!« rief Christian und hielt sich die Ohren zu. »So lehrt sie der Teufel!« – »Winkeler Hasensprung«, drängte der Doktor noch näher, leiser, heißer, »Ostricher Eisenweg, Rauenthaler Pfaffenberg, Geisenheimer Mäuerchen, ist alles Erdkunde im Spind …« – »Hebe dich hinweg von mir, Satan im Weinlaub l« schrie Christian, »sonst sage ich dir einmal meine Wolgaerdkunde her: Holsteiner Schneewasser, Bellmanner Dorftrog, Tscherbakoffker Brunnenrand, Schwaber Eimergewächs, Danjiloffker Schöpfrädchen, ist alles in der Pumpe …«

Aber der Doktor, vollends besessen, goß ihm seine Worte fast wie Öl ins Ohr: »Und die Jahre entsprechend 1907, 1905, 1904, 1900. ›Gut und viel‹, das ist mein Neunzehnhundertsiebener da, davon haben wir bisher getrunken. Von ›schlecht und viel‹ und gar ›schlecht und wenig‹ und den schwarzen Jahren 1910 und 1909 haben wir natürlich gar nichts. Aber im Jahre 1907 war ich an der Wolga und lernte dich lieben Menschen kennen.« Und er umarmte ihn, bepackt wie er war, und hängte ihm sozusagen den klingenden Glasmantel seiner Faustbehänge um Schultern und Hals.

»Jetzt müßt ihr du zueinander sagen!« schrie Bruno.

Aber Gertrud sah Christians Verlegenheit und rettete ihn. »Doktor, habt Ihr nichts von der Mosel? Allzulange für Rheinländer tranken wir Rheinwein. Ein gut Möselche …?«

Der Doktor triumphierte! Er gab schweigend zuerst einmal die Flaschen aus den weiß und fast starr gewordenen Fingern frei und stellte sie auf den Tisch. Aber eine ergriff er wieder, hob sie auf den Fingerkranz einer Hand hinauf, führte das Schildchen ins Mondlicht, blies darauf und flüsterte wichtig, bedeutend und laut über den Tisch hinüber Gertrud zu: »Bernkasteler Badstube, Spät- und Auslese, Jahr ›sehr gut und wenig‹, 1900, Wachstum weiß ich nicht mehr und kann ich nicht lesen«, fügte er höchst sachlich und geschäftsmäßig hinzu, »sagen wir: Winzerverein oder Kirchenstück, in keinem von beiden Fällen fahren wir schlecht«, rief er lachend, setzte sich und fuhr im gewöhnlichen Tone fort: »Die Wahrheit zu sagen: ich habe geprahlt, aber ich trinke Wein nur in Gesellschaft. Ich habe meinen ganzen zusammengesuchten Reichtum vorgezeigt, außer dem Bacharacher und Bernkasteler ist nichts im Spind.« – »Bravo!« rief Bruno dem Herrn Fachgenossen, an dem er fast irre geworden wäre, zu und stieß mit ihm mit einem Weißen an, den er »Aßmannshauser Pumpenschwengel, Frühgeschöpfe, Wachstum Bergquelle, Jahrmarkt ›sehr gesund und beliebig viel‹« nannte. – »Aber die Weinnamen darfst du doch, wie ich, auswendig lernen, es steckt wirklich viel feine Erdkunde darin«, sagte der Doktor.

Währenddessen stand Gertrud auf, ging an ein Glasschränkchen in Lütticher Rokoko, das dreieckig eine Zimmerecke füllte, und nahm wie eine Hausfrau dieser Wohnung drei grüne Römer heraus. Der Doktor sah es und schloß vor Glück die Augen. Er setzte sich ans Fenster. Christian schob den Tisch in den Mondkeil und öffnete behutsam die »Badstube«. Dann goß er ebenso behutsam aus. Sie klingelten miteinander schweigend an. Sie sogen behaglich und vorsichtig, nicht mehr als einen Teelöffel voll, Wein ist Medizin der Gesunden. Und dann saßen sie still im Mondlicht.

Michael Heinsberg war vergessen.

Die Stunden sind auf einmal nicht Leitern mehr, auf denen man andauernd steigen muß, weil hinter einem auf der Sprosse etwas steht und einen drängt, voranzumachen. Sondern sie sind blaugläserne Räume, Kästen von Zeit sozusagen, der Mond baut sie, und der Wein hält sie gespannt, große schöne Seifenblasen von Zeit …

 

Man ging ein Haus weiter, man ging in die »Krone«.

 

Der kurze Weg führte am Pfarrhaus vorbei. Im Mondlicht lag es da, die Rautenrahmen der Fenster wie mit Silberplatten verglast. Still, stumm und scheinbar tot. Darin schlief wohl schon Pfarrer Bellmann, er ging nie zum Sitzen und Weintrinken in ein Wirtshaus. Das Wirtshaus in der Stadt nannte der Strenge ein Lusthaus, auch Teufelshaus, Männerklatschhaus und Giftbude, aber das in der Landschaft war durch die Natur geheiligt, dort kehrte der Wanderer ein, ruhte der Müde, trank der Durstige; und wenn am Frühlingsabend oder in der Sommermondnacht Schwärmer für schöne Stimmungen und Anbeter des Weingottes unter dem heiligen Landschaftsbaum saßen, so regierte dort eine gedichtähnliche Macht, nicht der Klatsch und die Trunksucht.

»Ein feiner Kerl, der Pfarrer«, sagte Christian im Gehen zu Gertrud. – »Ich kann ihm nicht verzeihen, daß er nichts von euch draußen gewußt hat. Ich freilich wußte auch nichts. Und übrigens ein Gesetz der Wirtsleute: Abends nach neun Uhr sag' ich grundsätzlich nichts mehr über Menschen.« – »Gertrud, Sie sollten böser sein«, sagte er andringend in der dunklen Gasse, Tornquist und Bruno gingen vor. – Gertrud lachte. »Eine Frage ist frei, hat einer gesagt: Alte, bist du eine Hex'?« – »Sie sollten wirklich böse, dumm, häßlich sein!« flüsterte er heiß. – »Still …« wisperte sie.

Der Brunnen auf dem engen, hochgieblich umdrängten Stadtplätzchen hinter dem Pfarrhaus rauschte stark in der Nachtstille. Ein Balken Mondlicht stand schräg darin. Sie gingen am schlafenden Hause vorbei durch die finstere Gasse, in der von ihren Tritten erschüttert das goldene Becken im Gewerbeschilde des Bartscherers zart klirrte.

 

Die »Krone« war ein Fachwerkhaus und krachte im Gesperre. Vom Gelaufe, Gedröhn, Getu. Der Wirt rief, die Kellner flogen, die Mägde stoben, die Pfropfen knallten; in der Küche tanzte rappelnd der Topfdeckel auf dem brodelnden Wasser, die Suppe sod, die Tunken dufteten, auf den Pfannen bruzzelten die Braten. Doktor Tornquist war kurzsichtig, aber die Eitelkeit verbot ihm, Gläser zu tragen. Doch beim Eintritt in den Saal mußte er sie hervorholen, er hätte ohne sie keinen Menschen erkannt. Sie beschlugen ihm aber sofort.

Das war ein schöner Grund, die Notwendigkeit, sie benützen zu müssen, verleugnen zu können, und er ließ sich von Bruno, vor dem als einem angehenden Fachgenossen er sich am ehesten gehen ließ, aus dem nachtkühlen Windfang durch den dampfwarmen, menschenvollen, weinfeuchten Saal steuern. Und es klangen die Lieder. Und es bog sich das Haus.

Gertrud trug ihr neues Hündchen ins Schultertuch gewickelt auf dem Arm. Es war so müde, daß es in all dem Menschenlärm nur einmal das eine, einmal das andere Auge auftat, auch die Naslöcher nacheinander und jedes für sich bewegte, und weiterschlief.

Mit lärmender Freude begrüßte Papa Kädrich seine Tochter, deren auch nur unausdrückliche Zustimmung und Billigung zu erhalten ihm stets eine nicht eingestandene Freude war. Alle Köpfe glühten. Alle Münder sprühten. Vielen Leuten fiel auch etwas Witziges ein und oftmals etwas Neues, einige Männer waren unerschöpflich.

Die Frauen beschränkten sich auf das Zuhören. Und dabei schütterten sommerbloße Schultern, mancher Busen stieg hoch und sank wieder hold ab in quellklingendem Lachen, das Lacher und Hörer erquickte. Hier sprach von den Männern, wem Gott es gegeben hatte und wem der Schnabel beredt gewachsen war. Und wem es nicht geschenkt war, der hielt den Mund, aber nicht auf eine saure Weise; er diente bescheiden in Chor und Schar, er hielt dem Stockenden manchmal mit eigenem kleinem Einfall den Steigbügel, in den der mit erkenntlichem Augennicken trat; und hatte der Ritter vom Geist dann den Ger des Gedankens in das Schwarze geworfen, in den Nabel des Witzes, dann gab der Scharmann das dankbare Beispiel, er lachte, daß ihm die Schultern hüpften, die Backen wackelten, die Tränen quollen, lachte, daß er weinte vor Lust. Und alle die Trockenen, Traurigen und Tröpfe, die Dumpfen, die Dummen, die Lauen und Langsamen wurden angesteckt, wenn sie nicht schon entzündet waren. Eines armen Knechts Geist, so er ihm gegeben, durfte unangefochten und anerkannt leuchten vor allen Vorrechten und Angestammtheiten des Herrn. Das Lachen erlöste, und wer am meisten lachte, der merkte, wie seine Wangen davon müde wurden, seine geschüttelten Eingeweide aber sich behaglich fühlten.

Auch die Freunde waren fröhlich trunken. Nichts anderes als das Jetzt gab es. Was geht uns Vorgestern und Ehemals an, was Kalender und Geschichte, was Urvater, Altvater und dunkles Geschlecht, Vorelternschicksal, Ahnenschaft und Blutsuche in saecula saeculorum, amen!

Die »Krone« war berühmt den Rhein hinauf und hinunter. Hier, auf halbem Wege zueinander, trafen sich die Studenten von Bonn und Heidelberg. Im Herrenstübchen, in dem der Lindenwirt saß und in das die späten Besucher geführt worden waren, zeigten sich die Wände vollgehängt mit Zeugnissen von glücklichen Stunden, welche hier heute alte Herren in seligen Jugendjahren verbracht hatten. Die Urkunden darüber hatten sie gemeinsam aufgesetzt und unterschrieben, und der Kronenwirt hatte sie hinter Glas und Rahmen gebracht. Da redeten von der Wand Denksprüche, Lobpreisungen, Klagen, Gedichte. Die bedeutendsten stellten schlicht fest: Wir waren glücklich. Glück der Stunde im Vaterland! – Man war vorsichtig im Trinken. Christian las das Wort ›Vaterland‹ mit anderer Bedeutung als die Verfasser, auch als die Freunde. Der Reiche spricht vom Besitz, der Gesunde vom Wohlbefinden, der Heimbürger vom Vaterland. Wie anders aber klingt's, wenn der Arme ›Besitz‹ sagt, der Kranke ›Gesundheit‹, der Auswanderer ›Vaterland‹! Es gibt gar nichts so Vornehmes wie die Gesundheit, nichts hält sich so zurück und im Hintergrunde und ist das Allanwesende im Körper bis in die letzte Borste der Braue über dem Auge, soll sie dir nicht weh tun; die Krankheit aber drängt sich vor. Wie bei uns Ausgewanderten die Frage ›Vaterland‹! Aber die Dagebliebenen wissen nicht um den gesunden Besitz. Es ist gerecht eingerichtet in der Welt, daß, wer etwas hat, kein Bewußtsein davon habe. Jugend – und um das Jungsein wissen? Reichtum – und nicht ein bißchen leer sich fühlen müssen? Schönheit – und sich an der eigenen erfreuen dürfen? Zuviel verlangt!

Das dachte Christian für sich, und er kam sich angenehm einsam dabei vor. Denn so sehr wir unseren Gedanken Verbreitung wünschen und sie selbst, um gültig zu sein, nach der Anerkennung durch andere gieren, wir halten sie doch gern am Eigentumsschnürchen, und die Einsamkeitsklage tröstet der Stolz. Aber da fing Christian Gertruds Blick ab, die dem Gang seiner Augen gefolgt war; mochte sie auch nicht genau wissen, was er dachte, so war doch bekundet, daß sie aufmerksam war und mit ihm denken wollte. Und hei der Stolz auf die Einsamkeit! – er erlebte es, daß wir nichts lieber tun als ihn hingeben, und der größte einsame Denker hat sich über die spurauf sich riechende Treue seines Hündchens gefreut oder über ein Kinderhändchen, das sich in seine vom Schreiben müde, von Enttäuschung schlaff hangende Rechte schob. Und es überlief ihn.

Vaterland! Da schrieben »alte Herren« Ansichtskarten aus Neuyork. Man sah Häuser, acht und auch wohl zehn Stock hoch, man las über einem von ihnen German Saving Bank, der deutsche Herr Sparbankleiter, alter Heidelberger Deltaner, schickte zu Pfingsten oder an einem Tage, als es auch in Neuyork mailich wehte, aus seiner Villa in Bronx über dem East River eine Karte mit der Ansicht seines Bankgebäudes – man sollte auch sehen, wie weit er's gebracht hatte – in die »Krone« von Aßmannshausen, wo er vor zwanzig Jahren einmal glücklich gewesen zu sein versicherte. Und es waren Karten da aus San Franzisko an der breiten Bucht, aus Puerto Montt in Südchile, wo der schneebehaubte Vulkan Osorno in die grünfeuchte, deutschbäuerlich besetzte Seelandschaft Llanquihue herniederblickt; der Feldvermesser der Bauern, ihr Arzt oder ein Kaufmann hatte sie geschickt. Es fehlte nicht die in Tsumeb im Ovambohochlande geschriebene des Werkmeisters einer Kupfermine, des Bonner Geologen, wie die von adligen Leuten, ehemals Krefelder Husarenoffizieren, jetzt Züchtern in Patagonien, wo ihnen auf den Pampas zwanzigtausend Schafe rupfend gingen. Und Karten aus Odessa, Hawai, Colombo und Schanghai, aus Helsingfors, Santiago de Cuba und Manjáos drinnen im ungeheuren gefährlichen Amazonasurwaldlande.

Aber von der Wolga war keine da.

Die »Krone« war bekannt in Deutschland. Es gab die deutsche Kaiserkrone; doch als aus Neuseeland eine Karte kam: ›An die »Krone« in Germany‹ da wurde sie in Aßmannshausen abgegeben.

Aber von der Wolga keine.

Und dorthin war nicht ein Heidelberger Mediziner oder Bonner Bundesbruder oder Aachener Markscheidestudent ausgewandert, ein einzelner Wagemutiger, Abenteurer oder Versprengter, sondern ein ganzes Volk, Leute von hier, aus den Orten hinter dem Berge, um die Ehrenfelser Ecke herum, aus Geisenheim, dem protestantischen Speyer und der Frankfurter Wetterau und der ganzen Pfalz und aus Hessen. Aber es war schon lange her, seit die Auswanderer sich auf dem Rheinsee versammelt hatten, zusammengekarrt von Osten, Norden und Süden, Hessen, Schweizer und Odenwälder, und schließlich, des allzu langen Wartens auf das Öffnen der Rheinsperre müde, den Verlockungen der russischen Werber folgend nach Lübeck abgezogen waren und sich dort nach Petersburg eingeschifft hatten. Es war lange her, das Tor Rußlands war hinter ihnen zugefallen, und sie waren in Deutschland vergessen worden. Und es mußte eines Tages ein Doktor aus Deutschland, ein guter Doktor, kommen, und er mußte sie dahinten, da draußen in Neuasien, wohin die Schar gezogen war, im fremden Land, am Rande unserer Welt, über den hinaus niemand dachte, erst entdecken, ehe Deutschland wieder etwas von ihnen hörte …

Ans Vaterland dachten alle die Fortgezogenen, wie die Schriftmale am Getäfelbord bezeugten, dachten oftmals trauernd daran, diejenigen, die sechs Himmelsdrehstunden weiter westlich in Neuyork, wo es um diese Nachmitternachtsstunde Abend wurde, wohnten, oder die zehn Sternstunden entfernten in San Franzisko, die sich um eben diese Zeit erst zum Nachmittagsteetrinken niedersetzten, die Ärzte, die Techniker, die Kaufleute oder Lehrlinge in Ausfuhrhäusern. Alle Abgezogenen litten Heimweh, besonders im zweiten Jahr, wenn sich die Fremde mächtig erhob und verlangte, angeeignet zu werden, und nachdem der erste Neuigkeitsreiz stumpf geworden war. Das stand da zu lesen auf Karten und in entfalteten Briefen. Aber dann habe sich das gegeben, man sei stiller geworden und habe sich abgefunden oder habe sich auch das Heimatbild aus dem Kopfe geschlagen, oder es sei einem entfallen. Bis plötzlich dem Schreiber in San Franzisko das Heimweh wieder übermächtig aufgestanden war im siebten Jahr, und dann noch einmal im siebzehnten, wie ein abzutötender Nerv im Zahnkanal von Zeit zu Zeit aufbegehrt, ehe er endgültig Ruhe gibt …

Gertrud winkte Christian von der Urkundenwand fort und zu sich heran, er solle mithören. Sie ließ sich erzählen von ihren Nachbarn, dem Ehepaar von Hawai. Zweiunddreißig Jahre lebten sie schon auf der Insel Kauai; sie waren eineinhalbes Tausend stark gewesen, der Trupp, als sie gekommen waren, ein Vierteljahr auf See und um Kap Hoorn herum, meist Leute von der Weser, sie aber Rheinländer, die sich angeschlossen hatten, auf einem Auswandererschiffe namens Ehrenfels; und fünfunddreißig Kinder waren auf der Reise an einer Masernseuche gestorben und in den Ozean begraben worden. Viele von den mehr als tausend verkamen, verschwanden, starben oder wanderten weiter. Sie selbst aber pflanzten Ananas und verkauften die pine apples mit immer steigendem Gewinn nach Frisko – so nannten sie kürzend San Franzisko – und auf die kalifornischen Goldsucherfelder. Und seien reich geworden. Aber auch alt; und da hatten sie sich dann mit ihrer einzigen Tochter aufgemacht, ostwärts, über zwei Meere und zwei Festländer, um in der alten lieben Heimat einen Eidam suchen zu gehen, der die schöne Ananaspflanzung einst übernehmen und großartig führen solle. Aber auf dem Schiff, im Atlantischen, während sie ihr Mittagsschläfchen hielten, habe sich ihre blonde Anneliese in einen schwarzhaarigen, geleckt aussehenden Amerikanerflegel – sie hießen den Burschen Yankeeschnösel – verliebt, sich mit ihm verlobt und fast verheiratet, einem Bengel, der nur amerikanisch wäugele – so nannten sie das Mundverzerren beim Englischsprechen – sechs Worte Französisch lispele und vom Deutschen nicht wisse, daß es auf der Welt gesprochen werde –. Ja, die zwei seien jetzt verheiratet, und sie reisten nun noch ein bißchen umher, um Deutschland zum letztenmal zu sehen, ehe sie heimführen. Ach, die Kinder! Oh, wären sie doch nicht auf den schlechten Gedanken gekommen, nach Deutschland zu fahren! Auf Hawai würde sich auch noch ein leidlicher Deutscher gesunden haben. Ach, die Kinder! Die Frau weinte, und der Vater gab Gertrud kurzerhand den Rat, sich keine anzuschaffen …

Wie es ihnen denn in der Heimat gefalle, nach dreißig Jahren? frug Gertrud. – Soweit sei alles all right, nicht wahr, Mann? Sie stammten aus dem nahen Lorch. Aber das alte Land – die Frau sagte: das old country – sei nun eben doch nicht so schön, wie sie sich das dreißig Jahre hindurch gedacht hatten. Nicht wahr, Mann? Der Mann seufzte zu allem ja. Sie wollten noch nach Wiesbaden gehen, Dampferplätze für Neuyork belegen. Ja, seufzte der Mann. Sie würden bald heimkehren nach Hawai …

Nach Hause, nach Hause, nach Hause geh'n wir nicht,
bis daß der Tag anbricht,
nach Hause geh'n wir nicht …

O Erleben der Zeitlosigkeit in durchzechter Nacht! Dessetwegen bleiben am Ende auch die Frauen sitzen, in denen doch die Uhr der Natur schärfer zu gehen pflegt als in den Männern.

Der Tabaksrauch machte die Nachtwelt blau. Miß, dem Hündchen, aber war übel vom Rauch. Es nieste ein paarmal, dann ergab es sich in die ihm unverständlichen Vergnügungen der Menschen und versuchte zu schlafen.

... nach Hause geh'n wir nicht …

Ein Mann spielte mit seinem beweglichen Gesichte. Stumm, aber er verstand, es in Falten zu legen, es zu mißformen und wieder zu glätten und im Nu todernst und vernünftig auszusehen – die Frauen in seiner Nähe lachten sich krumm.

Wenn ein Ungeschickter sogar ein ansehnliches Schildbürgerstückchen erzählte: daß die Kochemer in Kriegszeiten ihr Geläut in der Mosel versenkten und die Stellen durch Schiffe bezeichneten, die sie dann aber weiter benutzten – so lachte allein seine Frau. Wenn jedoch ein Begabter nur ›Ofen‹ sagte, so kreischte bereits alles; sagte er aber ›Affe‹, so barsten die Wände.

Und die Bäckelchen der Frauen waren rotprangende Äpfelchen geworden, das Herz ging allen Schwärmern leicht, das Blut spülte gut, das Leibesbinnen und alles Unsichtbare erholte sich im allgemeinen Wohlsein, und den Ärzten würde es in den nächsten Wochen etwas schlechter gehen, denn der beste Arzt ist die Lust.

»Wie Napolium seinen Mann fand. Napolium kommt nach Kleve. Da sitzt ein Bauer vor seinem Hof am Rhein. Der Kaiser lüftet den Hut, der Bauer auch, steht aber nicht auf. 'n Tag, Bauer, ich bin der Kaiser. Du? Ja, ich! Na, 'n Tag denn ooch, ich bün der Bauer. Ich will dein Glück machen! Danke, ich brauche nichts. Hast du Töchter? Ja. Wie viele? Zwei. Ich will sie verheiraten! Danke, duh ich sülwst. Der Kaiser stutzt so, daß ihm der Hut vom Kopfe fällt. Aber er hat stets jemanden bei sich, der ihn ihm aufhebt. Oller Döskopp! schreit er, legt die Hände auf den Rücken und stiefelt nach Rußland. Dort bekam er kalte Füß!«

Die Rede kam auf die Freundschaft. Jemand, den die Nachbarn einen Philosophen nannten, ein kahlgeschorener eisgrauer Kluger, unterrichtete Gertrud: »So wie die Nuß der eßbare Teil des Haselholzes ist – und ein Mundvoll Nüsse kaut sich noch lang und schwer – so ist für den höheren Menschen vom holzigen Leben auch nur ein Teil genießbar und verdaulich. Unter dem Anruf der Ähnlichkeit finden sich diejenigen, die Gleiches aufnehmen und Dasselbe verkraften. Man nennt sie Freunde. Die Freundschaft ist ein Himmelsgeschenk in den ungeheuren Einsamkeiten aller Wesen, jedoch sollte sie von der Art sein, daß ihr Aufhören nicht als Verlust empfunden wird. Freundschaft sei ein umglänzter Berg, aber sie verlieren heiße nicht, ein dunkles Tal aufgerissen sehen müssen, sondern ihr Ende stelle die allgemeine Ebene des platten armen Lebens wieder her. Was der eine Teilnehmer Enttäuschung und selbst Untreue nennt, heißt der andere vielleicht nur Veränderung und lügt nicht. Zwei Menschen gehen im Gedränge des Lebens nebeneinander, sie machen genau den gleichen Schritt, ihre Hände berühren sich unabsichtlich – was Wunder, wenn sie dann nacheinander greifen und nun engverbunden gehen Hand in Hand, ein schönes Gehen. Aber die Träger der Hände müssen im gleichen Schrittmaß bleiben! Werden die Gehtakte ungleich, so gibt es bald Gleiten und Greifen, Haschen und Sichentwinden, von Zerren ganz zu schweigen – wer erlebte nicht Zerfallen von Freundschaften? Der Einsichtige wird es vorziehen, die widerspenstige oder entgleitende Hand …« Einer schrie einem, der vom Nebentische her sich über die zugekehrte Schulter am Gespräche über die Freundschaft beteiligte, zu, sie sei mit dem Vorteil verknüpft und lebe so lange wie dieser. Ein dritter rief im Lärm, und das Gegenüber horchte zu, die Ohrmuschel mit der Hand vergrößernd: »Wir können alle gute Freunde sein, nur müssen wir uns aus dem Geldbeutel bleiben.« – Ein Westfale sagte würdig: »Dei Frünne häbben will, dei mott sei sik maken.« – »Freunde in der Not wiegen fünfzig noch kein Lot«, wußte einer. – »'n goden Frönk es besser als Geld en der Täsch«, äußerte treuherzig ein Kölner.

Falsche Freunde sind wie die Katzen,
vorn lecken sie, und hinten gehen sie kratzen.

Man konnte sein eigenes Wort kaum noch verstehen.

Aber der Gegenstand vermochte ein Weilchen zu fesseln. Viele hatten Erfahrungen, und jeder hatte Wünsche. »Viel Feind, viel Glück und Ehre!« schrie jemand das alte aufprotzende Sprichwort.

So schrien sie sich zarte und bittere Weisheiten, allgemeine und persönliche Erfahrungen zu. Auch Christian mußte recht laut rufen, als er seine Ansicht zum besten gab. »Freundschaft ist ein Bewußtsein«, brachte er an, »braucht sich oft nicht einmal durch Anwesenheit zu betätigen.« Schon widersprach jemand mir dem geprägten Ausdruck vom »Glück der Nähe«. Aber der Doktor pflichtete im Getöse schreiend dem Freunde Christian bei: »Freundschaft und Zuneigung«, schrie er, »die von Mann und Weib ausgenommen – ja, ausgenommen! … bedürfen des gemeinsamen Raumes nicht. Goethe hat sechzehn Jahre seine Mutter nicht gesehen …« – » Wieviel?« brüllte der Kölner. – »Sechzehn!« brüllte Tornquist dawider. – »Sechzig?« – »Sechzehn!« – »Aah! Sechse! Lange Zeit!« – »... nicht gesehen, obgleich doch Weimar nur einen Katzensprung von Frankfurt entfernt war. Und Gottfried Keller hat der seinen während zehn Jahren nicht geschrieben. Haben sie ihre Mütter nicht geliebt?« – » Was haben sie nicht –?« – »Ob sie sie nicht geliebt haben?« … Brausen und Tosen …

Das Volk hat das Wort »Liebe« in seiner Sprache nicht, es kommt nur in Briefen, Gedichten und in der Religion vor. Darum schnitt das ungeschickte Wort Tornquists denn auch sofort die gebrüllte Unterhaltung und Auseinandersetzung ab, die überhaupt viel zu hoch gestochen war.

Auf der von Bürste und Sand weißen Tischplatte stand eine Lache von Wein, von ziemlichem Umfang, ein Tischsee. Die Rede von Freundschaft, Zuneigung und Liebe und die Belehrung, daß ein gewisser Gottfried Heller oder Geller oder Köller, dem man die Hucke vollhauen sollte, seiner Mutter zehn Jahre nicht geschrieben habe und hier noch verteidigt wurde, hatte Vater Kädrichs Gedanken wieder auf seinen ausgerissenen Sohn Martin gelenkt, der auch nie schrieb und das Vaterherz sich verzehren ließ. Man wußte von ihm nur, daß er nach Amerika ausgewandert war. Das hatte der Bengel aber auch nicht geschrieben, sondern durch Gesellen in Aßmannshausen verbreiten lassen. »Ach, warum kann mein Martin nicht hier sitzen, mit uns trinken und glücklich sein?« greinte der Vater. »Und hatte eine so schöne Stelle!« (Aber Martin hatte einen kleinen Griff in die Gemeindekasse, bei der er als Schreiber angestellt war, getan, man hatte es dem Vater verheimlicht). »Hatte eine so schöne Stelle und geht übers Wasser!« jammerte Kädrich und leitete dabei von dem Tischsee durch bloße Berührung der mit gewulstetem Rande stehenden Weinflut mit dem Finger einen Fluß auf sich zu nach der Tischkante. Der Wein tropfte auf den Boden. »Ach, mein Martin …«

Der Kaukasier hatte sich still verhalten, obgleich er mit Auge und Ohr bei jeder Sache war. Ihm war das Treiben fremd genug, aber es behagte ihm sehr. Daheim in Helenendorf in Aserbeidschan kannte man solche Hingegebenheit nicht, obgleich man da auch Wein baute und um Wein allein lebte. Er rauchte, rauchte immerzu, Zigarren, er, der in Rußland nur die schlechten Zigaretten bekommen hatte. Ah, deutsche Zigarren! Jedes Volk hat seine Werte: In England wohnt, in Frankreich ißt, in Amerika reist, in Deutschland raucht man am besten! Die Deutschen wußten zu leben! Ließen sich das gute Leben etwas kosten! Er neigte sich gegen Gertrud vor, schnalzte mit den Fingern und blies die in ihrem Schoße liegende, auf das Locken hin den Kopf erhebende Hündin mit einer festen Puste Rauch an.

Pfui Teufel! Oh, pfui Teufel! dachte Miß. Von allen unangenehmen Gerüchen der Menschen und der Menschennähe – nur Hunde rochen gut – wie dem von Schweiß und Wein war der von Tabak dem Hunde der unerträglichste. Außerdem war es eine Gemeinheit, einen unter Vorspiegelung guter Absicht aus der Höhle des seidenen Schultertuches auf dem Frauenschoße hervorzuködern und mit dem scheußlichen Qualm anzublasen. Überhaupt hatte Miß ihr Urteil über den Mann mit dem dunklen Bart schon fertig. Der sollte ihr nur gefälligst vom Leibe bleiben! Man hatte scharfe Zähnchen …

»Ach, mein guter Martin! Und in dem unmenschlich fernen Amerika!« greinte weinschwer Kädrich.

»Aber er ist doch nach Afrika gegangen!« schrie der Doktor, ärgerlich gemacht durch das Verhalten und angewidert von dem weinerlichen Ton des Alten. – »Nach Afrika?« – »In den französischen Kolonialkrieg!« – »In – den – Kolonial- –?« – »Ja, Kolonialkrieg!« schrie der Doktor Tornquist im Lärm, und seine Stimme überschlug sich.

Das Wort fiel grade in eine Niederung des Getöses. Der Doktor hätte nicht zu schreien brauchen. Er schrie nur, weil er einmal im Zuge war. Und weil schwache Stimmen schwerer zu beherrschen sind als starke. Und aus Wut.

»Krieg –?« Der Alte sprach das furchtbare Wort aus und sackte wie unter einem Gewichte zusammen.

Da sagte Christian Heinsberg: »Wie wär's, wenn wir gingen und ihn herausholten –?«

Man schaute ihn verständnislos an.

Ihm war der Gedanke in eben diesem Augenblicke sozusagen auf die Zehennägel gesprungen. In diesem Punkte der Zeit drängte sich vieles bei ihm zusammen. War er nicht, um zu reisen auf die Reise gegangen? Und lag schon fest? War schon fast seßhaft an der ersten Halte auf dem Wege? Wie, wollte er sich hier verliegen? Und dem Alten gäbe man seinen Sohn wieder! Man würde einen Jungen befreien, einen dummen Jungen, aus Verhältnissen, die dem Grunde nicht ähnlich sahen, aus dem er hineingeraten war! Aus unverhältnismäßigen Verhältnissen! Ein Lausejungenstreich und Soldatenknechtschaft! Ihn befreien und zurückführen ins Vaterland! Eine feine Tat! Längst war eine für Christian fällig. Jeder Kolonist hatte eine getan in früheren wilderen Verhältnissen, der Altvater Christian hatte sich selbst befreit aus kirgisischer Knechtschaft, verschleppt schon bis an die Grenze des chinesischen Reiches, der Urahn Michael war 1812 dabei, zuletzt hatte noch Vater Michael den Utschitjel in die Wolga geworfen, den jammernden. Das Leben war zu friedlich geworden an der Wolga und auch am Rhein, man mußte ritterlich ausfahren von dort und von hier, um draußen etwas Ansehnliches zu tun.

Das war es! Ein Mann verlangte im Schwung der Stunde und befeuert durch reichlich genossenen Wein einmal nach Bewährung in Tat und Gefahr, nicht in einer leeren Übung, in einer sinnlosen Unternehmung, sondern in einem Versuch, der einen jungen Kerl, der Menschen hier lieb war, aus der Sklaverei befreien würde.

Als Christian Heinsberg gesagt hatte: Martin herausholen – da hatte es im Auge des ihm gegenübersitzenden Doktors aufgeleuchtet … Auch er war reif! Auch er war in Gefahr, sich zu versitzen! Alle Teufel, man war doch ein Erderkunder, ein Erdkünder – man hätte sich schon lange mal wieder auf den Weg machen sollen in das geliebte Bereich der Steppen und Wüsten, der trockenen Länder. Marokko war das Rechte! Und Martin, Gertruds Bruder, befreien, etwas Tüchtiges! Fliehen wollte der Bursche gewiß, das wollten sie alle dort, aber sie stellten es ungeschickt an, sie kannten nicht Weg und Steg und nicht die Natur der durstigen Länder. Sie hätten alle, bevor sie gingen, Erdkunde treiben sollen, im Hinblick auf die Flucht, die sie bald versuchen würden, Erdkunde der Trockenräume. So machten sie Dummheiten, sie wurden bald eingefangen, und dann wurde nicht gespaßt … Und wenn Christian ging, dann ging auch er. Den dritten der Rittergesellschaft, den zurückbleibenden Kaukasier, fürchtete er nicht.

Er und Christian waren Freunde. Man hatte es sich nicht ausgesprochen, Männer sind oft scheu im Ausdruck ihrer Empfindungen, besonders gegen Männer. Wahre Freundschaft ist nur zwischen Menschen einigermaßen gleichen Ranges möglich. Freunde müssen auf einer Ebene stehen. Aber dann – o um die richtige Freundschaft zwischen Männern! Es geht wenig darüber! Doch mancher muß, um sie zu finden, erst bitter erfahren, wo er sie nicht suchen darf …

Marokko! Er hätte das Land schon lange kennen sollen. Er, Doktor Wilhelm Tornquist, der nach Jahren des Sichtens und Sammelns, des holden Herumtreibens in der Welt, antreten und sich niederlassen wollte als Hochschullehrer zunächst mit einem Lehrauftrag für das Landschaftsfach: Wüste und Steppe. Ah, die Erdwissenschaft! Wer wollte sie aus Büchern betreiben! Unter freiem Himmel war ihre Studierstube, ihr Feld war im reinsten Sinne die Welt, ihre Werke wurden mit den Beinen geschrieben. Sie forderte nicht allein Betriebsamkeit des Kopfes, sie rief nicht nur die Kräfte des Gehirns auf, sie verlangte vom Träger auch Kraft, Mut, Welttüchtigkeit und Einsatzbereitschaft. Ein Philosoph konnte ein Mißwuchs, ein schwachbrüstiger Immanuel sein, ein Mathematiker ein Buckelträger, ein Staatsmann wie Talleyrand ein Klumpfüßiger, ein Sankt Ignaz ein Lahmer, der Sendling Paulus ein Mann mit verkrümmtem Rückgrat, Byron ein Dichter mit geschlepptem Bein. So mochte es armlose Geschichtsschreiber und schwindsüchtige Lyriker geben – die Männer von der Erdkunde aber mußten nicht nur körperlich vollständig ausgerüstete Leute, sie mußten auch in Regelrechtheit ansehnliche, vielleicht schöne Menschen sein. Denn sie traten auf in fernem Land bei fremdem Volk, ausfragend und Auskünfte heischend, um die Darreichung von Mitteln zum Leben und zum Decken der Notdurft bittend und das Gewähren oft erzwingend, fast immer waffenlos, an der Spitze der Karawane – das wilde Volk oder der Naturstamm würde einen Humpelmeier, Krummrückler oder Hohlbrustmann auslachen! So wie die Kirche für die Zulassung zum Altardienst einwandfreie Leiblichkeit vorschrieb, so verlangte die Erdkunde körperliche Fehlerlosigkeit von dem, der sich ihr widmen wollte – eine adlige Wissenschaft!

Und nun wollten sie etwas Gewagtes unternehmen, etwas Tapferes, etwas, das für des Doktors Empfinden schon lange fällig war. Darum stimmte er sofort bedenkenlos zu. Martin Kädrich herausführen! Dieses guten, famosen, weinerlichen, geschwätzigen Vaters Kädrich Sohn befreien! Dem Prahlhans vom Rhein vielleicht ein rheinisches Prahlhänschen zurückgeben, er kannte Martin nicht, Martin war grade verduftet gewesen, als der Doktor von seiner Vorderasienfahrt heimgekommen war und sich, heimlos, ohne Verwandte und Freunde zu haben, eben im kleinen stillen Aßmannshausen zum Ausarbeiten der Ergebnisse der letzten, zum Vorbereiten einer neuen Reise niedergelassen hatte. Aah, wieder jeden Morgen früh und pünktlich von der zwischen Feldbettstangen gespannten Leinwand aufgeflogen und vors Zelt getreten, wenn eben die Kamele anfangen zu grunzen, denn so kündet sich in Kasakstan und Turkestan der Tag an! Aah …!

Und Marokko! Oh! In Marokko begann überhaupt das, was man Wüste nannte, was alsdann über Ägypten und Arabien und die Salzlandschaften von Iran und Belutschistan nach dem Osten zog, Kasakstan und die Grasländer an Jaïk und Wolga mitnahm, sich in den Sicheldünen von Chinesisch-Turkestan in Schönheit vollendete und in der Gobi und den Sanden der Mongolei und Mandschurei beendete. Eine Kette von Halbringgliedern der Sanddünen, ein Kranz von Felsenbergen roten und schwarzen Gesteins schlang sich da rund um den Leib der Erde herum, mit toten Tonwüsten und weißen Salzebenen, mondblaß und mondleer. Der Mensch hatte wenig in den Erdgürtel hineingefunden, sich hineingewagt, die Weideplätze darin waren Kostbarkeiten und die Wasserstellen Heiligtümer. Selten querte die Landschaften ein Kamel mit lang ausgeworfenen Beinen, und darauf saß ein dürrer Doktor, seine Seele so trocken wie der Magen des großen Durstmeisters unter ihm, saß und sah und beobachtete und schrieb auf und sehnte sich nach Menschen …

Und den Durstgürtel aus Sand und Salz und Fels und öder Flur begleiteten die Grasländer, die baumfreien, die kräutervollen, ob sie nun in Afrika auf spanisch Savannen hießen oder ob man sie anderswo mit einem russischen Worte Steppen nannte, in der Walachei und in Bessarabien, im Cherson und Donland und an der Wolga bis nach Sibirien hinein und hinaus, und Rumänien, Türken, Bulgaren, Griechen, Juden, Levantiner, Kosaken, Kalmücken, Tataren, Kirgisen, Baschkiren sie bewohnten und jedesmal zwischen zwei von diesen eingezwängt, eingeklemmt, eingesprengt die Deutschen!

Marokko! Weiß Gott, es war die höchste Zeit, daß man die dem Rheine nächste Wüste schleunigst aufsuchte, auch ohne einen so triftigen Grund wie Martin Kädrichs Befreiung, wenn man nun mal mit Geistesstrenge, Seelenknappheit, magerem Körper, geringem Zellendurst und einer Vorstellungsvorliebe für das Helle, Scharfe, Nackte und Heiße, für die Herrlichkeit der Wüste ausgestattet war. »Ausgezeichnet«, rief der Doktor, kaum daß Christian den Vorschlag gemacht hatte, ohne zu überlegen, »ausgezeichnet!«

Da sagte sich Weingard aus Hinter-dem-Kaukasus, obgleich nicht von ihm die Rede war, daß er ziehen müsse. Keiner von den beiden Fortgehenden würde ihm die längerwährende Gesellschaft des Teufelsweibes gönnen. Und im übrigen glaubte er sie bald so weit wie er wollte zu haben. Heute namentlich, da er auf den famosen Gedanken gekommen war, ihr einen feinen Hund zu schenken und sie es geduldet hatte, daß er den Köter angeblasen. Marokko? Nein, da wurde geschossen. Man könnte ein Loch ins Fell kriegen. Aber erst mal das schöne Männerziel erreichen und sich nicht oft, nein nur einmal seiner freuen; denn nicht aus Begierde stellte man Frauen nach, sondern aus Eitelkeit. Und dann nach Spanien fahren, wo es noch lange warm blieb, während hier bald der kalte Herbst einkehren würde, und einmal seinen Sieg in Feuerwein feiern. Ganz allein, Weingard war kein Prahler! Ihm genügte das Wissen um Erfolge und seinen Wert. Xerez de la Frontera, ganz unten bei Cadiz, sollte eine von Weinkellern unterhöhlte Stadt sein. Da lag in Schatten und Kühle des unterirdischen Raumes die Sonne des Südens von Spanien, in Trauben aufgefangen, umgewandelt in Wein, und die Engländer nannten das Sherry. Würde man auch einmal ein Weltwort für den Wein erfinden, der hinter dem Kaukasus wuchs? Sodaß sie dort endlich gute Geschäfte machten? Hinter dem Kaukasus, in dessen Wäldern der Wein wild wuchs, wo harte Rebschnüre mit doppelhandgroßen Blättern die Bäume von Kolchis aneinanderhäkelten? Was verstanden die hier vom Wein, hier, wo der Rebstock gepäppelt werden mußte wie eine Gartenpflanze und wo sie mit deutschen Liedern viel verliebten Schnickschnack um ihn machten, eine Pflanze, an der man ganz einfach Geld verdiente? Ah, die Deutschen! dachte Weingard. Schwärmen und sich dabei bedeutend aufdonnern! Väterbrüdersöhne, Blutsgenossen – was gebe ich um ihre geschwollenen Worte von den deutschen Vettern über Land und Meer, wenn sie diesen nichts abkaufen? › Einer Sprache, eines Blutes, uns verbunden immerdar‹, singen sie von uns, aber obgleich ein guter Deutscher angeblich keinen Franzmann leiden kann, seine Weine trinkt er gern. ›Rotspohn ist so billig, die Fracht nach Hamburg kostet nichts, Bordeaux liegt am Meere und liegt im Frachtpreissinne uns näher als Köln.‹ Aber auch Batúm liegt am Meere, am selben Meere hinten im Schwarzmeerwinkel, liegt in dem Sinne auch nicht weiter. Also keine Ausreden, meine Herren Deutschen!

Plötzlich stand man auf.

Miß glitt jäh vom Schoße Gertruds herunter. Aus dem Schlafe geweckt, schüttelte sie sich.

Michael Heinsberg? Die deutsche Legion? Wilhelm Willich? Ein andermal!

Die kleine Miß gähnte.

Auf einmal war alles schal. Es roch sauer im Raum. Die Gesichter waren übernächtig. Rechnung begleichen, Sachen zusammensuchen – auch ein Trinkfest ist eine irdische Angelegenheit mit peinlicher Rückseite. Starke Nerven braucht man auf der Welt.

Der Schifferbaas machte sich auf seinen »Lohengrin« und weckte seine Leute. Auch die Kölner und Koblenzer gingen aufs Schiff, man hörte Stimmen in der Nacht und verworrene Laute. Bruno war es sauübel. Nicht, weil er zuviel getrunken hätte – er hatte ja gar nichts getrunken – sondern, trotz dem Schlafe auf des Doktors Bett, vor Übernächtigkeit. Scheußlich! Man fühlt die Verbrauchsgifte im Körper, man erlebt seinen Zerfall, man ist eine wache lebende Leiche.

Bruno steckte seinen Kopf unter den Strahl des ewigen Brunnens auf dem Stadtplätzchen. Wie er taten alle Männer.

Dann gingen sie das Tälchen hinauf, der Doktor mit, und zwar nicht den alsbald abzweigenden und zickzackenden Richtweg am Talhang, sondern die Fahrstraße nach Aulhausen, bequem wollten sie gehen, sie fühlten Gewicht in den Beinen.

Der Mond stand nun ganz im Westen, er war vielleicht noch ein wenig bleicher, als ein Mond zu sein hat, es mochte schon Taglicht in der Luft sein.

Der Schifferbaas machte seinen »Lohengrin« klar. Geräusche gingen durch die Nacht. Es war Rochustag. Die Kölner wollten noch nach Bingen fahren, aber es war ungewiß, ob es dem »Lohengrin« gelingen würde, durch das Loch hinaufzukommen. Der Schiffer machte ihnen wenig Hoffnung. Dann mußten die Kölner – freilich, sie pilgerten gern, jedoch ungern zu Fuß und mit staubigen Schuhen, am liebsten wurden sie sozusagen von einem schönen Dampfschiffchen an den Wallfahrtsort gepilgert, eine Flasche Wein vor sich, Weißbrot und Zigarren daneben. Es war doch eine Plackerei mit dem Leben, immer mußte man auf Weg sein, immer die Beine rühren, die Füße setzen, eigentlich konnten nur die Schuster an der Erfindung, Menschenleben genannt, Spaß haben.

Auch die zu Berg Steigenden hatte der große Unmut angefallen. Was sollte am Ende alle Anstrengung wert sein, warum lief man immer wieder nach neuen Zielen in der Welt und der Doktor gar überflüssigerweise nach Aulhausen und den Berg hinauf? Ach, am Ende war doch alles sinnlos, man würde sich froh an einem Abend, am großen Abend, zum letztenmal in die Bettlade legen, die Lade …

Auch der Himmel schien mißmutig. Plötzlich hatte er sich bezogen. Wo war der Mond? Es war sogar eine dunkle Decke über die Welt gespannt. Als die Nachtgänger auf die Hochfläche hinaufkamen, blickten sie weit gegen Morgen. Im tiefen Osten unter einem schweren Wolkenhimmel, der dick-dunkelblau lastete, war ein roter Streif oder Strich zu sehen, von furchtbarem brennendem blutigem Rot – unheimlich.

»Es gibt Regen«, sagte Kädrich. »Abendrot, morgen gut, Morgenrot regnen tut, die Schönwetterzeit ist zu Ende.«

Vor Aulhausen bei der Mühle verabschiedete sich doch der Doktor. Im Dorfe war es schon lebendig. Man hörte Morgengeräusche aus Schlafkammer, Stall und Stube. Es war, als ob in nachtfeuchter schwerer Luft die Laute mit größerem Druck im Ohre ankämen, sonderbar lautumstellt war die Morgenwelt.

Da sah man auch den Grund des Dorflärms. Aulhausener liefen vorbei mit noch eingerollten Fahnen, Pilger für den Rochusberg. Man wollte beizeiten am Ziele sein. Nie kommt ein Bauer zu spät, lieber wartet er drei Stunden vor der Tür. Die Aulhausener stürzten das Tälchen hinunter. Hinter ihnen fiel auch der Doktor auf seinen langen Beinen hinab, die Lindenleute nahmen den Kehrweg. Alle waren auf einmal todmüde. Christian würde noch nach seinem Eibingen hinunterlaufen müssen. Warum war er mit über den Berg gestiegen?

Als sie nun bei vollem Lichte den Plattenpfad daherkamen, erhob sich mitten aus dem Wege vor dem Hause Willy. Hier hatte er die ganze Nacht gewartet. Er hatte dagelegen bald mit dem Gesicht gegen Süden zum Leisten-, bald gegen Norden zum Plattenweg hin, denn es war ganz ungewiß, woher sie kommen würden. Nach Süden waren sie zwar gegangen, aber der Hund war recht gewitzigt, die sprangen kräftig mit den Himmelsgegenden um. Die ganze Nacht gewartet, die Lauscher oft spitz aufgerichtet! Jedes kleine Geräusch der Nacht hatte ihn erregt. Aber er hatte scharf geschieden zwischen den Vorgängen, die seiner Aufmerksamkeit würdig sein möchten oder nicht. Das Feldmäuschen ließ er diesmal huschen. Sonst streunte Willy gern ein bißchen, ging ein wenig auf die Jagd, nachts und vor Tag, wenn niemand vom Hause es sah. Eine schlechte Eigenschaft, ganz gewiß, aber nur gute Eigenschaften haben nicht einmal die Menschen, kein Mensch – so ergab sich Willy darein, diesen Charakterfehler zu haben. Aber mit dem einen war es auch genug! Ha, wie würde er sonst dem kecken Mäuschen gekommen sein!

So wartete er die ganze Nacht. Er war bereit, die Zurücksetzung zu vergessen, das Verweisen auf den Heimweg, zu vergessen in seinem großen Hundeherzen. Was für einen Sinn hat das Nachtragen! Am Ende weiß der Beleidiger gar nicht mehr, was ihm nachgetragen wird. Auch entstehen aus kleinen Nachträgereien oft die großen Zerwürfnisse. Die Auseinandersetzung von Leuten, die sich einmal liebten, schafft manchmal erst die Gründe des Zerfalls der Freundschaft. Solche Erwägungen stellte Willy selbstverständlich nicht an, aber wir würden uns sehr täuschen, wenn wir das Erleben der kleineren engeren dunkleren Seele als ein im Vergleich mit der unsern andersartiges ansehen wollten, es ist nur ein andersgradiges.

Willy hatte ohne Rest verziehen.

Jetzt kam man …! Schritte auf dem Plattenpfad, Stimmen in der Früh … man erschien zwischen den Reben! Ob sie's waren, wußte er freilich noch nicht, zu oft schon war er während der langen Nacht von Nachtbummlern, so dem Pfarrer Bellmann, der dem Aßmannshauser Ortstaumel aus dem Wege gegangen war, getäuscht worden, wie auch von Heimkommern, dem Förster von Krummerrück, der kurz vor Tag mit ein paar frechen Dackeln … Willy stand aufrecht auf den Läufen, lauschte, äugte und windete.

Das Lauschen half nichts, die Nacht gab nichts mehr her, das Augen auch nicht, das Hundegesicht ist schwach, das Winden nach Norden erst recht nichts, der Frühwind kam von Osten.

Da hatte er eine klare Stimme gehört, die der Herrin! Aber sie konnte es doch nicht sein, ein Ton aus Hundemund hatte ihr geantwortet … Willy tat sich also wieder nieder, doch tat nur die Läufe nieder, nicht Hals und Kopf. Er lauschte und äugte angestrengt. Der Morgenwind blies von der Seite seinen Pelz weißlich auf.

Sie waren es nicht, ein weißer Hund lief vor ihnen her.

Schon wollte sich Willy erheben, sich den weißen Hund anzusehen und Schweiß- und Ausscheidungswitterung von ihm zu nehmen, denn was ein ordentlicher Hund ist, muß, gleich dem Indianer, wissen, was von seiner Art im Gelände ist …

Sie waren es doch! Er erkannte sie! Sie waren ganz nah! Sie kamen heran, mit einem fremden Hund …

Bruno schnalzte mit zwei Fingern und rief schlaftrunken: »Ah, Willy!« Und der angenehme Fremde sagte: »Willy ist schon munter, wir sollten uns schämen.« Aber sehr ernst gemeint war das nicht, die Sehnsucht nach dem Bett klang hindurch.

Sie hatten einen andern Hund mitgebracht! Während er gewacht und gewartet hatte, waren sie hingegangen und hatten einen fremden Hund geholt! Während er ihnen das Nachhauseschicken verziehen und wieder in frischer Liebe an sie gedacht hatte, hatten sie an einen neuen Hund gedacht!

Willy trottete halbtot vor Enttäuschung in seine Wohnung, das halbe Gewölbe, das die Steinstufen des Haustreppchens trug. Oben beachtete man es nicht. Man verabschiedete sich von dem Angenehmen, der nach Süden fortging. Man schritt, die Herrin, der alte Herr, der junge Herr, der Unangenehme, die Stufen über ihm hinauf. Der neue Hund ging mit ins Haus hinein. Willy hörte die Haustür schließen. Auf dem Platz zwischen Haus und Linde wurde es voller gewöhnlicher Tag.

 

Wenn nachts die Tür des Lindenwirtshauses geschlossen war, stand doch das Oberlicht offen. Ja, es blieb ausgenommen, die ganze gute Jahreszeit hindurch, von Mitte April bis September und vielleicht Anfang Oktober, solange die Schwalben bei uns sind. Sie schossen bereits hindurch, die immer munteren Gesellen, der Werktag hatte schon angefangen, das Frühstück mußte verdient werden. Rauchschwalben waren es, zwei Pärchen, in blauschwarzen Fräckchen und braunen Westchen, sie hausten in alten Nestern zwischen Zierfries und Decke des Hausgangs. Das eine war ein älteres Pärchen; allen Gefahren, die dem Wandervogel drohen, war es bisher entgangen, und über Länder und Meere machte es jedes Jahr sicher seine zwei Reisen. Bruno hatte im vergangenen Frühherbst das blassere Weibchen einmal vom Nest genommen und ihm einen Gummiring um das Ständerchen gelegt, darin auf einem Papierstreifen seine in die Südwelt getane Frage stand: Schwalbe, wo wohnst du im Winter? Als Schwälblein am letzten Apriltag endlich wieder eingetroffen war, hatte er das Ringlein abgestreift und das Zettelchen mit klopfendem Herzen entrollt. Da stand die Antwort auf seine Frage: Zu Afrika im Hause des Petrus.

Es würde Zeit werden! sagte sich Bruno, als er durch den Hausgang schritt und die Schwalben sich schon aufgeregt unterhalten hörte. Plötzlich konnten sie auf und davon sein. Auf seiner Bude lag schon ein neues Streifchen bereit, den wortkargen Schwalbenfreund in der Winterherberge der Wanderer weiter zu fragen: Wo ist es, ›zu Afrika‹? Und wer ist ›Petrus‹? Ins Zimmer gekommen, tunkte er auch die Feder in die Tinte ein und schickte sich an zu schreiben. Aber der Holzkiel entfiel ihm, sein schwerer Kopf sank auf die Hände, und er schlief am Tische sitzend ein. Pfui Teufel, das Nachtbummeln! war sein letzter Gedanke.

 

Willy war bereit, sich mit dem Dasein des neuen Fox, der nun freilich, obgleich anscheinend weiblichen Geschlechtes, ein scheußliches Vieh war, abzufinden – das war das Ergebnis des Brütens in seinem gemauerten Hause während dieses Vormittags.

Mittags lugte er schon zu zwei grünen Läden und einer von zwei Kragsteinen getragenen Austrittsplatte empor – aber Läden und Tür rührten sich nicht, die Herrin schlief noch.

Erst als der Mittag überschritten war, öffnete sich die Tür hinter der schwebenden Steinplatte, und das Hündchen trat heraus ins Licht, zitternd, schnuppernd, schwankend zwischen Furcht und Neugier. Willy sprang sofort auf, stürzte näher hin und stand unten, den Kopf scharf im Genick; denn dort trat morgens oft eine weibliche Gestalt heraus und reckte die Arme in die Sonne. Dann wurde er meist angerufen. Manchmal saß sie auch längere Zeit da mit dem Rücken gegen außen und ließ die offenen Haare bescheinen. Dabei unterhielt man sich länger mit ihm, und er wußte sich dann vor Freude kaum zu lassen.

Nun aber war das kleine Scheusal herausgetreten. So, also im Zimmer tat es schlafen, das neue? Nicht in der Küche wie Max, der verstorbene Pudel. Im Zimmer! Daß er draußen schlief, Willy, der Spitz, das war ganz in der Ordnung, er war ein Wachhund, ihm war der Schutz von Haus und Hof anvertraut, er sah seine Ehre in entsprechender Gesinnung und Haltung. Die Frau und die Katze gehören hinter die Tür, aber der Mann und der Hund derfür, sagt das Sprichwort. Willy hatte ja auch den schönen dicken Pelz und die starken Wolfszähne, während so ein armseliges weißes Geschöpf sozusagen nackt herumlaufen mußte. Er ging auch selten ins Haus. Er wußte, dorthinein paßte er nicht, alles was recht ist, er litt deswegen nicht an der Meinung, weniger wert zu sein. Der schwarze Max, der übrigens ein anständiger Kerl gewesen war, den unten auf der Rheinstraße einer von diesen stinkenden Schnellwagen überfahren hatte – kam man von einem Spaziergang mit den Herrschaften heim, er war laut bellend ins Haus gestürzt und hatte sich gehabt. Willy aber hatte an der untersten Treppenstufe gehalten, hatte sich vielleicht noch einmal krauen lassen und war dann seiner Wege oder in seine Hütte unter der Treppe gegangen. Daß das neue im Hause wohnen durfte, sollte schon recht sein, in Hinsicht auf das Geschlecht, die Zartheit der Glieder und das fehlende Haarkleid, aber hätte dann dafür nicht auch die Küche genügt wie für Max?

Es war den ganzen Tag sehr unruhig in der Landschaft. Fahnen flatterten überall, sie wurden über die Berge und durch die Täler getragen und geschwenkt, sie wehten in dem trockenen östlichen Winde am Waldhang und durch den Rebenhag. Es wurde auch geschossen, wahrscheinlich über dem Rhein auf dem Scharlachkopf, in dem der lange Rücken des Rochusberges gipfelte, man hörte Musik, Schreien, Gebet. »Sankt Rochus, zu dir kommen wir.« So unruhig war es in dieser Landschaft anderthalb Jahrhunderte früher gewesen, als sich grade hier die Auswanderer, die über Land und Meer davon wollten, gesammelt hatten, wir wissen.

Der Tag, der auf die Ausschweifung folgte, war für ernsthaftes Tun verloren. Gertrud saß am Tisch unter der Linde mit Handarbeit und Schreiberei. Niemand kam. Verlorener Tag, und doch war sie nicht unglücklich.

Bruno trieb sich unstet umher. Er, für den gesundes und naturgemäßes Leben mit wenig Essen und Meiden berauschender Getränke, überhaupt aller bürgerlichen Kulturgifte, aber mit viel Schlafen (in frischer Luft bei sommers und winters offenem Fenster) ein Lebenshochziel war, er fühlte sich heute verstört, geradezu verwüstet – nie mehr würde er eine Nacht mit den Großen durchbringen. »Hol's der Teufel … aber sie wissen doch allerhand … unsereins konnte noch nicht so schnell aufholen … –»ja?« rief er fragend von der Regentonne her, wo er den etwas brummenden und heißen Kopf von Zeit zu Zeit feuchtete und kühlte, denn Gertrud hatte gerufen – »komm mal her, Bruno!« rief es wieder vom Baume her.

Wie auf den Wasserscheiden ein aus einem Sumpfe oder Wasserspeicher abfließender Bach oft nicht weiß, was er soll, ob er fließen und wohin er fließen soll, so war auch Zögern über Brunos Gestalt am Regenfaß geworfen – aber jetzt entschließt sich der Bach, und so auch Bruno.

»Könnte auch bitte sagen, die holde Schwester mein: bitte, komm mal her, Bruno!« brummte er. »So teuer sind die Worte nicht, auch nicht in einer kostspieligen Zeit …«

»Komm mal her, Lausjunge!« Sie stellte ihn am Eichentisch auf der ummauerten Steinempore sitzend zwischen ihre Knie und hielt ihm die Hände fest (Au! wollte Bruno ausrufen, aber er war ein Mann, nicht wahr? Doch den Griff hätte er dem Schwesterlein nicht zugetraut). »Benommen hast du dich gestern und diese Nacht, benommen! Ich werde dich mal etwas erziehen. Ich weiß zwar, daß es eigentlich keinen großen Sinn hat, es zu tun, aber auch, daß man es doch nicht unterlassen darf …« – »Sehr gescheit, große Schwester«, sagte er nachlässig, »du bist die dümmste nicht …« – »Frechsack! … Man zupft ja nur am Äußerlichen herum …« – »Also? Also? Warum geben wir uns die Müh'?« – »Wir kommen alle im Schicksal unserer Gestalt an; aus Gottes Hand oder der Mutter Schoß, was dasselbe ist.« – »Also? Also?« – »Schön, nur am Äußerlichen! Aber da man auch nur das Äußerliche sieht und die Menschen den Menschen danach beurteilen, so ist es doch nicht unnütz und durchaus am Platze.«

Bruno blies Wind durch die Nase und sagte gelassen: »Ich höre!«

»Glaubst du, daß ich dich gern hab', Bruno?« sagte die Frau. – »Ach, Gertrud!« Bruno schlang plötzlich seine Arme um sie, sie hatte ihm die Hände freigegeben, aber gleich nahm er sich wieder zusammen und setzte sich jetzt neben die Schwester, an deren Arm er sich aber auch im Sitzen anhängte.

»Bruno, Junge, hör! Ich habe deine sackgrobe Unhöflichkeit, wenn sie so recht aus deiner Natur kommt, weiß Gott gern. Trotzdem muß ich dir sagen: Du mußt in der Welt höflich sein. Reim dir das zusammen, wie du willst. Höflichkeit verhindert, daß das Land der Menschen ein Räuberplatz wird. Augenblicklich wird diese Tugend nicht hoch bewertet, das tut nichts. Man muß oft seinen Kopf von Wertungen der Zeit frei- und sein Herz geradehalten. Mag auch Höflichkeit als weibisch oder französisch gelten, ich sage dir, es geht einem das Herz auf vor einem Menschen, der von Herzen höflich ist. Damit meine ich natürlich keinen ›Baselemanes‹, was Händeküsser heißt, du weißt, nicht wahr?

Und dann merk dir: erscheine und gehabe dich immer unauffällig, mein Junge. Wir drücken uns schon aus, durch uns selbst, wir verbrauchen einfach ein gewisses Maß Raum – und deine Schwester, weil sie zum Dickwerden neigt, leider etwas mehr als ihr zukäme«, lachte sie und drückte Brunos sich zum Einspruch erhebende Hand herunter – »aber wir empfinden nur den Druck, der vom Raumeinnehmen der anderen ausgeht.

Da ich schon mal im Schwätzen bin und du mir so gut zuhörst: Sei nicht laut, Bruder! Wir Rheinländer haben ohnehin so gesunde klangvolle Stimmen, daß es in der fernsten Saalecke gehört wird, wenn wir uns ein Geheimnis in Gesellschaft zuflüstern.

Und merk dir weiter: Sei selbstverständlich! Schlecht ausgedrückt, aber ich weiß es im Augenblick nicht besser zu sagen.

Steh deinen Mann und schlag deinen Feind, der dich vernichten will, natürlich! Aber mach dich nicht wichtig mit unnötigem Kämpfen. Denn merke dir: Viel Feind, viel Ehr, sagen die Preußen, aber sie sagen es mit saurem Munde, und es ist besser, sich Freunde als Feinde zu machen.

Sei gerecht! … und so genug! Lauf und vergiß! Aber eines Tages, wenn du wieder einmal laut, vorlaut, ungerecht warst, dich ausdrücklich, betont, geschwollen gehabt hast, kommt es dir von selbst hoch und macht dich stutzen …« Bruno ging.

»Und merk dir noch«, rief sie ihm nach, »du darfst wißbegierig sein und fragen. Aber frag nicht der Kuh das Kalb ab …« Bruno nickte von ferne.

Auch Christian trieb sich herum im Berg, nicht anders als es der Vorfahr, der Bursche Christian, grade an dieser Stelle getan hatte, bevor er sich entschlossen nach Aachen aufgemacht hatte, wo im Jubel und Trubel von Badeleben und Heiligtumsfahrt die Stimme der Kaiserin Katharina so kräftig gerufen und den ersten Christian Heinsberg nach Rußland verführt hatte. Nicht anders als es die Vorfah rer nach Rußland oder Amerika damals in dieser goldenen Landschaft getrieben hatten in Unruhe, Heimweh und Fernenangst. Christian suchte sich vorzustellen, wie das wohl hier gewesen und was geschehen sein mochte … Flöße wahrscheinlich … zermürbendes Warten, denn vom langen Lungern irgendwo auf dem Rheine sprach alte Kunde zu Bellmann an der Wolga … dann war der Urvater plötzlich zu Fuß nach einer alten Stadt Aachen aufgebrochen … mit einem Freunde, der aber verschwand … und die Kunde verstummte.

Christian spazierte auf dem Leistenpfad. Bruno war schnaubend eifrig beschäftigt, irgendwo abgestochenen Rasen herbeizuschürgen und die Säume des Pfades mit den Rasenziegeln zu belegen. »Unnütz«, sagte im Vorübergehen Christian, »der Rasen wächst auf dem Kies nicht an.« Aber Bruno wollte, daß er anwüchse, und so würde sich das Gras denn wohl bequemen.

Die Erziehungsviertelstunde Gertruds, in der Bruno soeben Höflichkeit empfohlen worden war, schien nicht eben zu fruchten. Wenigstens beachtete Bruno den »Ohm Ruß« nicht. Oder bewies das nun tiefe Wirkung? Mußte der Junge nachdenken im Schweiße seines Angesichtes, mit sich allein fertig werden, über schwere Arbeit am Boden geneigt? War vielleicht die Arbeit nur ein Vorwand?

Willy lag auf einer schon versetzten Wasenkachel und hechelte. Seine lang heraushangende Zunge war wie eine rote Oblate, aber geschmeidig, gelenkig, nervig, Löffel und Flamme, ein schönes Stück Leben.

Bruno arbeitete wie ein Sträfling, ein Verschickter. Aber ein williger, er hatte die Zungenspitze zwischen den Zähnen, ein glücklicher dazu. Als wollte er zum Beispiel beweisen, daß das Verwiesenwerden aus einem flauseligen Paradiese, in dem man sich über sich selbst und seinen Sinn in der Welt keine Gedanken machte, kein Unglück für jene zwei gewesen sein konnte, da doch der Zwang zur Arbeit offenbar der Menschen größtes Glück ist und man dabei, die Zungenspitze zwischen den Zähnen, großartig über sich und seine Schäbigkeit nachdenken kann, unerbittlich!

Christian dachte: Wie Adam außerhalb der Paradiesesmauer arbeitet und schürgt der gute Bruno! … Paradies … gedankenloses aufgabenfreies Dasein … einheitliches einseliges Gefühl von sich selbst … aufregungsloses spannungsfreies Leben … Da kam der Teufel als Schlange gekrochen und erregte die Lust am Nachdenken über sich und andere und die ganze Welt bis zu Gott hinauf, brachte Zwiespalt in die Seele, die zweiheitlich und spannungsreich ward und damit fruchtbar, denn gezeugt wird zwischen zwei Polen … Fragen wurden gestellt, Wünsche geäußert … der Dichter der Mythe nennt das den Sündenfall. – Eines Tages trat zu mir in einfache geschlossene stille Koloniewelt, die Denken nicht kannte, die nur von Pflicht wußte, der deutschländer Doktor. Da war auf einmal mein Wesen nicht mehr einfach, mein Fühlen nicht mehr einheitlich, mein Michtragen nicht mehr eindeutig, da brach meine Seele auseinander in Fragen, Wünsche, Hoffnungen, Wahne – und mein Entschluß, von der Wolga aufzubrechen, war wohl auch ein Sündenfall? Jene zwei scheinen über die von Jehova verfügte Aussperrung nicht sehr unglücklich gewesen zu sein …

Jetzt blickte er auf das Denkmal und die Landschaft und wurde gewahr, daß da grade im Sichtfelde zwischen erhobenem nacktem Arm und der Wange Germanias ein Schiff gegen Mainz fuhr.

Katharina! Plötzlich stand das Bild ihres Erzmals vor seiner Seele, auf das er so, wie er jetzt von hinten auf Frau Germanias Bronzefigur schaute, aus dem Studiengebäude in Katharinenstadt geblickt hatte. Beide, Germania und Katharina, waren als vollerblühte reife Frauen dargestellt … runde Arme, gesunde Backen … Katharinas Standbild war das erste Denkmal, das Christian gesehen hatte, das einmal in seinem weiten Lande vorhandene. In allen Städten Rand-Asiens von Orenburg bis Astrachan fand sich kein zweites. Es war auch das einzige Kunstwerk, das er in der kolonistischen Notdurftswelt erblickt. Als er dann, vor einem Jahre, in die Hauptstadt gekommen war, sieh, da stand die Eherngroße wieder da, vor dem Alexandratheater! Freilich hatte er in Petersburg auch die Ehrenmale der Barclay de Tolly und Kutusoff, Peters des Großen wie die des ersten, des zweiten, des dritten Alexander gesehen, des Dichters Gogol und daneben im Garten hinter der Admiralität auch das Prschewalskis, dessen Denkmalswürdigkeit er freilich, bevor er das unverdiente Glück der nützlichen Bekanntschaft mit Bruno gehabt, auf sich hatte beruhen lassen müssen – aber was waren die Ruhmesbilder der großen Männer gewesen neben dem der Kaiserin! Daß sie, um den verschüchterten Auswandererkindern auf der Gartenhochstufe von Peterhof Spaß zu machen, mit den Ohren gewackelt habe, erzählte man sich als großartige Sage, als Heldenmär vom Vater auf den Sohn an der Wolga. Es war gar nicht wahr, Christian hatte durch eifriges Vergleichen der überlieferten Erzählungen herausgebracht, daß sie gar keine Zeit gehabt habe, sich mit den Kindern abzugeben, denn sie sei plötzlich weggerufen worden, und daß sie damals überhaupt nicht mit den Ohren gewackelt habe. Sicher war, daß sie es konnte und in der Hofgesellschaft zur Belustigung der Anwesenden manchmal zu tun beliebte – genug, man durfte von ihr wissen, daß sie sich nicht zu fein dünkte, auch mal mit den Ohren zu wackeln, und also hatte sie es vor den Auswanderern, um ihnen Mut zu machen, getan … Große Katharina! Wahrhaftig, eine Große! Nicht, weil sie den Türken die Krim abgenommen, Rußland durch die Koloniereihungen an Wolga und Jaïk gegen Asien ausgedehnt und das Reich gemehrt hatte; sondern weil sie es ohne Furcht für ihr Ansehen wagen durfte, um Kindern, die plötzlich eine Kaiserin vor sich stehen sahen, den Schreck zu nehmen, mit den Ohren zu wackeln. Würde ist wie Schönheit, man hat sie, man braucht nicht auf sie bedacht zu sein, und am besten weiß man nichts davon. O Katharina!

Schnell wie die Kugel im Lauf ist der Gedanke. Das alles war durch sein Gehirn geschossen, als er in der Armbeuge des Erzbildes das Schiff gegen Mainz fahren gesehen und durch Arme und Wange der Germania an die Formen des ehernen Frauenmales auf dem Holzmarkte in Katharinenstadt erinnert worden war. Baronsk hieß die Stadt auch, nach einem Ansiedlungsunternehmer der Kaiserin, dem holländischen Baron Beauregard, genannt. Er mußte ihr wohl besonders wert gewesen sein, denn gleich das nächste Dorf südlich von Baronsk-Katharinenstadt hieß außerdem noch ausdrücklich Boregard oder Borgard, das, welches mit Niedermayer und Fischer ins elftausend Seelen starke deutsche Kirchspiel Paulskoje gehörte … (Als er »Fischer« dachte, blitzte ihm auch »Schäfer« durch die Seele, der Name der nicht weit von Borgard liegenden Kolonie in der katholischen Reihe, aus dem Martin Nagel sich einst Hanna Wurzner geholt hatte, die großartige Hanna! … aber Hanna vermochte in diesem Augenblicke nicht, sein Gedächtnis bei sich festzuhalten.) Christian war tief in Erinnerungen an Wolgaland. Er hatte die Absicht gehabt, den Leistenpfad entlang nach dem Lindenhaus zu gehen, weshalb auch Willy bei Bruno geblieben war, der vielleicht Schutz brauchte, an der Linde würde man sich ja wiedersehen; und überdies war das Liegen auf einem Ziegelpfühl etwas Neues … Als aber Christian so stark ans Wolgaland denken mußte, gab er den Gedanken auf und wanderte durchs Rebland abwärts gegen Rüdesheim.

... Ja, wie war das doch da draußen, da hinten, da unten … In Borgard hatte Christian die Kolonisten einen Heuhüpfertag, Dankfest zur Befreiung von einer Heuschreckenplage, feiern sehen. Die alten Männer waren zur Kirche alle in Kaftännern erschienen, blauen schafwollenen Gehröcken über blauer Weste, unter einem feinfilzenen Zylinderhut, in Kniehosen und Schnallenschuhen. Aber viele jüngeren und die Burschen trugen einfach den Wams und die Mütze, die sie Kartus nannten, Stiefel natürlich, warum soviel altertümliche feierliche Umstände machen? …

Christian kam, das oben am Berg zwischen Wald und Wingert liegende Kloster Sankt Hildegardis (der Leistenpfad endete vor ihm) im Rücken, herunter und überschritt die Zahnradbahn mit der schwarzfettigen Führstange inmitten. Er merkte es kaum, in Träumen von der Heimat versunken …

Von Wolsk bis Katharinenstadt war er gern im Kahn die Wolga hinuntergefahren, hatte sich vom langsamen Strome treiben lassen, liegend in der Nußschale, die Hände schwalbenschwänzig verschränkt unter dem Kopfe. Am linken flachen Ufer waren die langen grauen Bretterwände der Häuser und Ambare der Kolonien mit den Schweizernamen sacht vorübergeglitten, Schaffhausen, Glarus, das, zu Ehren eines Ansiedlungsmaklers, auch Biberstein hieß, der Kirchspielvorort dieser Kolonien Bettinger, dann Basel und Zürich – mehr als zwanzigtausend Seelen wohnten in den dichtbevölkerten, dichtaufgeschlossen stehenden fünf Kolonien. Man mußte gut Bescheid wissen, um sie von der Wolga her benennen zu können, sie sahen im eintönigen Lande eine wie die andere aus.

Christian querte den Kühweg.

Er kam in das berühmte Rebgelände, welches das Rottland heißt. Jede Wingertwand war ehrwürdig vor Alter, die steinernen Hochbänke zum Absetzen der Winzerkiepen trugen Zieren, und die Basaltkreuze an den Querungen zeigten sich als Kunstwerke – an der Wolga war ohne jede höhere Einbildung Scheune neben Ambar gesetzt, aus Hölzern, zweitausend Werst weit heruntergeflößt aus den Wäldern an Wólogda und Káma, aufgerichtet in Solothurn, Zug, Unterwalden, in Winkelmann und Meinhardt, und vielleicht in Kind, Hummel und Hockerberg – nein, er konnte die da nicht auseinanderhalten, so eng aufgereiht am Strome standen sie. Und dann kam Katharinenstadt, und mit der Schläfe steuerte man das Boot dort ins Altwasser, das als Bergeort diente.

Pilger kamen den Kühweg herunter aus dem Taunus, Waldarbeiter und Forstleute aus Not Gottes und die Nonnen von Sankt Hildegard, sie nahmen den Weg auf die Lände der Fähre nach Bingen, Pilger für den Rochusburg. [Eventuell fehlende Zeile im Druck. Re. Für Gutenberg]

[A]ber auch abwärts Katharinenstadt war Christian im Kahn getrieben. Wenn er nach Hause in die Ferien ging, reiste er im Sommer auf einem Boot, das man im Bellmanner Häfchen barg, um es zur gegebenen Zeit einem Steinölschleppzug aus Baku anzuhängen und fremde Kraft unschädlich schmarotzend nach Baronsk zurückzukehren; im Winter fuhr man im Schlitten unter dem Tulupp, einem großen Fahrpelz, auf dem Wolgaeise. Dann auf der Niederfahrt kam man zwischen Saratoff und Kosakenstadt hindurch und querte Gebiet der russischen Kolonisten, bis der Strom wieder ins deutsche eintrat bei Schilling auf dem Berg- und Brabander auf dem Wiesenufer. Und nun waren sie links rosenkranzartig gereiht gefolgt: Stahl und Lauwe, Straub, Jost und Warenburg und zuletzt Seelmann. Einmal, zu Weihnachten, hatte den Schlitten ein Schneesturm überrascht, man hatte in Jost Schutz suchen und das liebe Leben retten müssen …

Nein, Christian auf seinem Ruheplatz im rheinischen Rebland sah sich nicht veranlaßt, den Traum vom Wolgaland aufzugeben … Mit Seelmann war links der Rosenkranz der Kolonien der Njemzi abgebetet gewesen, rechts aber war dann das russische Solotoje gekommen, wo Christian beim Popen sich in der Staatssprache vervollkommnet hatte; und darauf, nach langer Zeit, wurden rechts die südlichen Bergkolonien gesichtet, die beiden Danjiloffka, das russische zuerst und gleich darauf das deutsche, fast angelehnt, jedoch offenkundig mit Fleiß getrennt. Denn die Regierungen der Kaiserin und der Kaiser, Katharinas und ihres Sohnes-Kaiser Paul und der Enkel-Kaiser Alexander und Nikolaus, welche die Völkerschaften sich mischen ließen, hatten von den Deutschen Ausschließlichkeit verlangt. Die Deutschen waren unter die Russen gesetzt worden, nicht auf einen Riesenfleck, sondern verflochten ins Russische, jedoch zu Gruppen geschlossen in großen eigenen Siedlungsgemeinschaften. Und dann war den Deutschen verboten worden, sich in russischen, den Russen, sich in deutschen Kolonien niederzulassen. Die Deutschen, wollten die Regierungen, sollten sich als Muster darstellen und Beispiele geben. Darum ließ man ihnen Sprache, Einrichtungen und Art. Die Deutschen taten nichts lieber als das, was die Regierungen von ihnen forderten. Auch verachteten sie, von Natur hochmütig, die Russen.

Dann war Müller aufgetaucht, das die Russen Krestowoj Bujirák nannten, und kurz vor Russisch- und Deutsch-Tscherbakoffka dort, wo die großen Werder im Strome liegen, Bellmann. Und Christian war darauf ausgestiegen, war das Kliff hinaufgegangen, den schmalen ihm ein- und angeschnittenen Pfad hinan, hatte den Vater begrüßt (die früh gestorbene Mutter hatte er nicht gekannt) und sich alsdann schön gemacht, um beim Kolonisten Karl Ritter einen Besuch abzustatten, wo eine schöne Tochter war, Alexandra …

Christian saß auf einem Wingertmäuerchen im Rottland und schlenkerte mit den Beinen. Vom Rochusberg über dem Fluß tönte Lärm des Pilgerfestes herüber. Alexandra Ritter war nicht zu Hause oder verreist gewesen. Verreist? Alexandra? Christian hatte damals im Ritterhause in Bellmann gelächelt und lächelte auch heute im Rüdesheimer Rebland. Fünfzig Werst weit nach Rosenberg! Ob er sie holen wolle?

In Rosenberg – da ist man nicht weit von Kamyschin am Südende der Kolonie – in Rosenberg, die Russen sagen Umjet – fand Christian Alexandra bei einem Rittervetter, dem es an Weibsvolk mangelte (alles Männliche »schaffte« beim »Abmachen«, der Feldfrüchte nämlich, in der Ernte), mit Kindwiegen beschäftigt. Sie saß allein in der offenen Sommerküche und kehrte dem Eingang den wohlgeformten Rücken zu. Das Vetterkind schrie, von Blähungen oder einem andern inneren Druck gequält. Alexandra Ritter sang, die Wiege bewegend, leise:

Alb, Dralb, über den Rhein,
heute nacht sollst du drüben sein …

Da wußte Christian, daß er sie für das Leben liebte. Er gab sich zu erkennen und sagte es ihr. Und sie sagte einfach, sie auch.

Nachdem sie nach dem Abmachen noch den Einwanderungstag mit den in Kaftännern und Wämsern zusammengeströmten Männern aus den fünf Orten des Rosenberger Kirchspiels in der innen frisch geweißelten und in den Zierungen neu vergoldeten blendenden Kirche gefeiert hatten, waren sie auf einem Tarantáß heimgefahren. Ochsengrund hieß bei den Deutschen die Ecke und Landschaft, durch die sie rollten, es war etwas kühler hier oben als am Strome, man konnte mit Ochsen pflügen und tat es, die rissen den Boden ordentlich auf. Nur hier und da auf der Bergseite gab es Arbeitskamele, auf der Wiesenseite aber zog der Höckerträger Wagen und Pflug. Wenn Berg- und Wiesenseiter, was sie gern taten, sich liebreich neckten, foppten oder schimpften, ging jedem von beiden auf den Steppen des andern das herzlich gesuchte Vergleichstier. Jetzt lachte Christian für sich, und damals klapperte er mit Alexandra den wenig bequemen Weg dem Wolgahochufer entlang stromaufwärts über Dobrinka und weiter über Galka und Schwab. Holstein blieb links in der Steppe liegen. In Schwab, in der von den Russen Buidakoff Bujirák genannten Kolonie (Bujirák heißt Schlucht, die Deutschen sagten dazu »Graben«) wurde der Einwanderungstag lustiger durch ein Schützenfest gefeiert, rheinisches Schützenfest mit Schießstand und Vogelstange, König und Königszug. Die Regierung hatte seit alters die Schützenfeste der Deutschen gern gesehen, ja sie durch Liefern von Gewehren, die sie den Fremden vertrauensvoll in die Hand gab, gefördert; sie wollte ihre menschliche Brustwehr an der Wolga wehrhaft wissen gegen Kirgisen und Kalmücken und wider Räuber von Stjenka Rasins Art.

Und auf dem offenen Bretterboden neben der Kirche hatte Christian Heinsberg mit Alexandra Ritter getanzt, die glücklich gewesen war …

Darüber war Christian, längst schon vom Mauersitz heruntergesprungen, weiter durchs Rebengelände des Rottlands gebummelt und hinunter nach Rüdesheim gekommen, dorthin, wo am engen westlichen Ortsausgang die Rheinfähre anlegte.

Die Ponte lag da voll von Menschen, Fahnen, Wagen, Pferden, sie fuhr auch gleich hinüber nach Bingen. Christian schloß sich den Pilgern an. »Sankt Rochus, zu dir kommen wir!« Man schwenkte den Rosenkranz, den schönen Leitfaden des Gebets, eines, das nur gottfrohe Stimmung ausdrücken, nicht Bitten vortragen will, man schwenkte auch Weihrauchkessel, sodaß die Welt angenehm roch. Kreuze blinkten, Kerzenflammen wehten, Fahnentücher 'bauschten sich, eine Traube bunter Gasblasen macht an ihrem Stock ihrem Träger und Eigner im guten Luftzug zu schaffen, und alles drang am Drususbrunnen vor und den Berg hinan. »Sankt Rochus, zu dir kommen wir!« Ehemals ein Pestgott, hatte Sankt Rochus, seitdem Staatsmacht und Ärztekunst die Pest auf Asien beschränkt hielten, sich auf den Schutz gegen den Biß toller Hunde verlegt. Immerhin, auch der Tollwut wurde man Herr, ein großer Franzose hatte der Menschheit einen unschätzbaren Dienst getan. Im Wissenschaftlichen wenigstens schreitet die Welt voran. Denn wie furchtbar war es früher gewesen, wenn ein schneereicher Winter die Wölfe aus Rußland nach Europa hereinlockte oder hineintrieb und sie nachts über die weißen Felder Deutschlands zogen! Die Wölfe verbreiteten die Tollwut unter den Hofhunden. Dann hatte Sankt Rochus viel zu tun. So im Unglückswinter 1812 auf 13. Da waren die Wölfe, in großer Zahl dem aus Rußland fliehenden französischen Heere folgend, ins Land hereingekommen, die Förster schossen in Deutschland ihrer soviel wie vorher noch nie und nachher nicht mehr, Wölfe, die vielleicht das Blut ihrer Söhne geleckt hatten.

Christian konnte die Unruhe nicht loswerden, er mischte sich unter das Volk auf dem Platze im Bergwald, auf dem rot und stolz die Wallfahrtskirche stand. Auf einer Freikanzel wetterte ein noch junger Geistlicher gegen die alten Sünden der Welt. »Die Fleischeslust!« schrie er; »wer sie doch ausreißen könnte mit Stumpf und Stiel!« Christian dachte an den Franziskanerpater von Franzosen an der Wolga, welchen Freund Schrafel, protestantischer Pfarrer in der Kolonie Holstein, am Karfreitag auf seiner Kanzel toben ließ, weil er seine vielwissende Seele nicht auf die gleiche Predigerwut erhitzen konnte. Es muß doch eine Lust sein, auf Kanzeln zu rasen, von Stühlen herunter zu lehren und in Büchern und Zeitungen zu kritisieren! Aber der Prediger war ein Rheinländer, weich sprach er auch die scharfen Mitlaute, die k und p und t aus, und sein Sprechen milderte die Schärfe seiner Vorwürfe und schwächte die Glut der gemalten Hölle. Christian fand, daß der Geistliche nicht anders sprach als der Mönchspater von Franzosen. Er hatte diesen sich, dem Rate Pfarrers Schrafel folgend, einmal angehört.

Jetzt ging er hier umher zwischen Hörenden, Betenden, Eifernden, Feiernden, am Wallfahrtsorte fühlte sich ein Volk. Zu denselben Plätzen war es seit Jahrtausenden gepilgert, dasselbe Volk, nur die Inhaber des Heiligtums hatten ihre Namen geändert durch die wechselnden Zeiten.

Die Budenkirmes flutete um die Gnadenkapelle und machte einen schönen Landschaftslärm. Dem Lohengrinschiffer war es doch gelungen, seinen Kahn mit den Kölnern an Bord von Aßmannshausen durchs Loch herauf und in Bingen an die Lände zu bringen. Die Kölner konnten nunmehr als aufrechte Männer, wie es sich schickte, statt mit einer Kerze, die in Weiber- und männliche Quiselhände gehört, mit der Weinflasche in der Faust vor Sanktum Rochum treten und bitten um Schutz für die Gesundheit ihrer Glieder gegen die Tollwut, aber auch gegen Gicht und Podagra. Das Volk trinkt übrigens an solchem Tage, man weiß nicht warum, nur Rüdesheimer Bubenstück.

Man sah den wilden Mauersegler schrillend und schreiend über allem Kirmesgetriebe die Luft durchsicheln, viele Segler sammelten sich, sie schienen sich im Leistungsfliegen zu üben, im Steigen und Fallenlassen, denn der August war da, die Zeit, da die Vögel-Wanderer, die es am eiligsten haben, uns verlassen.

Christian ging festfroh, landschaftsselig und unbegreiflich erregt gegen die Nahe hinunter in der Schar der Weinbauern des Kreuznacher Landes. Die Fahnen waren eingerollt, die Kerzen tot und kalt, wächserne Rochusse bammelten manchen an blauem Bande vor der Brust. »Sankt Rochus, von dir gehen wir!« Einer sagte: »E sündteures Johr! Fünnefzig Fennig will das Kerzeweibche för su e sch.. ß Rochüsje hawe.«

Christian schlug lachend seinen weiten Weg durch den Abend, den er zu machen sich vorgenommen hatte, ein. In den Reben versammelten sich die Stare. Das schwatzte, flötete und pfiff, knarfelte und klapperte, es schluchzte auch und juchzte, ein Volk von Vögeln war glücklich von sich. Aber die Stare sprachen auch wohl schon von der Reise, die bald angehen würde, ihre Winterherberge hatten die dieser Gegend in Marokko; und wenn sie auch spät ausbrechen, die treuesten der Vögel, so reden sie doch lange von ihrer Absicht zu reisen. Und Christian fühlte sich angerufen von Star und Mauersegler, auch zu reisen, fortzugehen, sich zu entfernen, es sei die höchste Zeit, die allerhöchste …

Wo ist der große Entschluß von gestern, von heute gar, von der letzten Nacht noch, geblieben? schienen ihm die für die Reise fertigen Vögel zu sagen. Sein Gedanke, jener im Schwung der nachmitternächtlichen wilden Stunden in der »Krone« geborene Plan, Martin Kädrich mit dem Doktor aus Afrika herauszuholen, herauszuhauen, herauszuführen, herauszuverführen, Gertruds Bruder, ihn dem Vater, der Schwester und seiner Heimat wiederzugeben? War ihm in der »Krone« nur etwas »in die Krone gestiegen«, wie das Volk sagte, wenn es einen trunkenen Entschluß, ein größenwahnsinniges Vorhaben, gefährliche Absicht, alles mit der Mitgift des Nichtigen, kennzeichnen wollte? … in die Krone gestiegen? … in die Krone gestiegen? … flöteten, pfiffen, knarfelten die Stare.

 

Es war nichts mit Vater Kädrichs Voraussage von Regen gewesen. Auch der Dienstag war zwar unter einem bedeckten Himmel aufgegangen, hatte sich sozusagen unter einer in der Himmelshöhlung hangenden Wolkenglockenmasse in die Welt hereingestohlen, aber auch heute hatte sich im Laufe der Stunden der Wolkendeckel abgehoben und aufgelöst. Der Regen sollte noch länger ausbleiben, die Dürre konnte weiter bestehen, das Getreide mußte immer schlechter, der Wein durfte noch besser werden. ›Sehr gut und wenig‹, sollte es wohl von diesem Weinjahr heißen, auch die Frühlingsregen waren spärlich gewesen. 1895, in Brunos großem Geburtsjahr, da hatte es im Mai ausgiebig geregnet, war aber den Sommer über so trocken wie heuer geblieben, und das Jahr trug den Vermerk im Adelskalender der Weinjahre ›sehr gut und viel‹ (›sehr gut und sehr viel‹ gab es überhaupt nicht, natürlich).

So brannte bald wieder die Sonne vom erbarmungslosen Himmel, die Wiesen wurden noch länger versengt, wurden rot und rostfarben, das Grundwasser zog sich immer mehr zurück, senkte den Spiegel des zwischen Kies und Korn der Tiefe stehenden unterirdischen Sees tiefer ab, und weiter versiegten die Brunnen.

Der Platz unter der Linde war morgendlich sonnig, still und leer, nur Willy und Miß waren zu sehen. So wie der Mensch, der nach erlebter Enttäuschung am Leben bleiben will, hatte auch Willy sich mit einem neuen Zustand der Dinge abfinden lernen müssen. Ja, die Miß war bald der Gegenstand seiner umsichtigen und ritterlichen Aufmerksamkeit geworden. Miß ließ sich seine an sie gewandte Sorge gefallen, ohne einen Zweifel darüber zu lassen, daß sie sich für etwas Besonderes hielt, daß sie etwas Besseres sei; ohne zu verhehlen, daß sie wisse, Willy sei ein zum Wachen bestellter Hofhund, sie ein Haus- und gar Zimmertierchen ohne gemeine Pflicht. Willy führte sie heute herum, führte sie in das Wissen vom Orte ein. Miß nahm gelassen Kenntnis von allem, von Mauslöchern und Wieselschlupfen, von dem feuchten Winkel hinter der Regentonne und von Willys, mit Sackleinwand ausgelegter, Behausung unter dem Treppenbogen, die sie aber nicht betrat. Sie regte sich nicht auf bei diesem Lehrgang in Heimatkunde. Sie schnupperte eben das Mausloch an, sie roch nur oberflächlich die Hausecke ab, dann aber stürmte sie auf die Herrin zu, die das Treppchen herabkam, den Strohhut auf dem Kopfe, zu Bestellungen im Talstädtchen auf Weg. Aber die Herrin sagte: »Nein, Miß, zuhause bleiben. Soll es dir etwa ergehen wie dem guten Max?«

Miß verstand nicht recht, aber Willy schob sich zwischen sie und die Herrin und drängte sie ab. Die Herrin ging die Platten hinunter.

Seitdem der Pudel Max überfahren worden war, durfte kein Hund des Lindenhauses die Rheinstraße mehr betreten. Bruno wandte für gewöhnlich an Willy nur einen kleinen Schnack mit Daumen und Mittelfinger, er hieß: ich geh an den Rhein, du bleibst da. Und der Hund fügte sich ohne weiteres. Auch Miß lernte unter Willys Anleitung diesen Punkt der Hausordnung.

Sogleich legten sich die beiden, obschon es widersinnig war, anzunehmen, die mit Hut und Korb Fortgegangene werde alsbald heimkehren, mitten in den Weg. Dort lagen sie dann stundenlang, die Köpfe auf den Pfoten, halb schlafend, aber immer ein Auge offen. Sie äugten hinunter, und Miß windete auch noch bald mit dem einen, bald dem andern nassen Nasloch, sie konnte ein jedes für sich allein bewegen; und also warteten sie. Warteten so eifrig, daß auch der kleine Verkehr im Wirtshaus von den, Getränk oder auch Essen begehrenden, Einkehrern, die vom Walde herunter kamen und von Hausmägden bedient wurden, sie nicht eben störte. Willy stand, wenn ein Fremder oder Neuer daherkam, auf, bläffte einmal und tat sich wieder nieder, er lag um seine Körperlänge zurückgenommen seitab von Miß.

Pfarrer Bellmann hatte fragen lassen, ob's genehm sei, daß er sich abends mal wieder einstelle. Gertrud Kädrich war auf dem Wege hinunter, um zur Tür an der Pfarrei hineinzusagen, es sei genehm, und um einige Einkäufe zu machen.

Weil alle Brunnen auf der Hochebene ausgetrocknet waren, trieben die Aulhausener das Vieh an den Rhein hinunter. Gertrud mußte auf dem Talpfad warten und zur Seite treten – dürstend und von Bremsen umschwirrt, drängte und preßte sich die Rinderherde in den engen Weg hinein und ihn hinab. In einem angenehmen Dunst von Tierkörpern und Milchgeruch folgte das Mädchen. Vor ihr erhob sich hier ein gehörnter Kopf, dort ein Kuhschwanz aus der Leibermasse. Als alles in Aßmannshausen angekommen war, breitete sich die Herde aus, erfüllte das Rheinufer, trat in den Strom und soff, soff. Und blieb im Nassen stehen, soff und döste. Schließlich berührte das rote Rind noch einmal mit dem schwarzen Schnauzenspiegel den Strom, aber der Bauch war voll. Gertrud stand da und beobachtete das Vieh, aber sie dachte an ganz etwas anderes als an Rinder, sie dachte: Sie wollen fortgehen, ich fühle es. Wie kann ich's verhindern? Nicht enden darf das Sommermärchen …

 

Von der Mitte seines Zimmers aus sah der Pfarrer sie stehen. Ihr braunes Haar lag über der von einem hellen Kleide eingeschlossenen mittelgroßen leichtfülligen Gestalt wolkig aufgelockert, den breitrandigen Strohhut trug sie am bloßen Arme, dessen Fleisch das blaue Kinn- und jetzt Tragband ein wenig niederdrückte.

Die Aulhausener Rinder blieben im Wasser stehen und sonnten sich oder sie genossen die Kühlung ihrer Schalen. Die Schwänze schaukelten. Sonst standen sie unbeweglich und erschienen wie die Standbilder ihrer selbst, verkürzt um die Hufe.

Die Herde stand da, das Mädchen stand da, kein Schiff ging vorbei, es war still im Lande. Der Pfarrer hörte durchs offene Fenster im Städtchen das Geräusch einer kleinen häuslichen Hantierung. Gertrud am Strome aber empfand tiefste Stille. Sie hörte die Welt einfach sein. Wohl wie dort an der Wolga, dachte sie …

Die Quaste eines Rinderschwanzes schlug eine Bremse so nieder, daß sie mit dem Rücken und den Flügeln aufs Wasser zu liegen kam und lebhaft und vergebens mit den Beinen strampelte.

»Weit ist bis dorthin, weit, weit fort, sehr weit …« sie strich mit hohler Hand wie über ein Stück Erdschale hin.

Der Pfarrer zog aus der hinteren Tasche seines langen schwarzen Rockes, ohne den Ort in der Mitte seines Zimmers zu verlassen, eine silberne Schnupftabaksdose hervor, bediente sich daraus und klappte sie zu.

Still wird es draußen sein, dachte Gertrud, still und traurig und einsam. Und dort geht man umher und wartet darauf, daß jemand käme und spräche mit klingender Stimme. Aber es kommt niemand viele Jahre. Doch eines Tages kam der gute Doktor …

Der Pfarrer dachte, er würde sich oben also wieder einstellen, in der Zeit der Freundschaftsüberschwenglichkeit und während die zusammengetroffenen Menschen ihre Neuheit genossen, hatte er sich zurückgehalten. Gewisse unziemliche Beziehungen, die aus Überschwang sich bilden können, sind von einem Geistlichen am besten durch Nichtbeachtung sozusagen zu leugnen.

Alexandra ist so weit fort, dachte jetzt Gertrud. Was lang her ist, ist halber nicht mehr wahr, und was weit fort ist, ist irgendwie außerhalb der Welt geraten. Was nicht da ist, ist in einem gewissen Maße nicht, das Nichtanwesende ist nicht ganz wirklich.

Der Pfarrer dachte: Es schickt sich nicht, beim natürlichen Ablauf von Freundschaften dabei zu sein. Alles braucht eine gewisse Zeit, auch das stürmischste Herz beruhigt sich, man lernt sich kennen und sieht Mängel und Menschlichkeiten, und die Gefahr geht vorüber.

Gertrud dachte: Was nicht da ist, ist überhaupt nicht, ist tot!

Der Pfarrer war ein geistlicher Hirt mit großem Wissen von der menschlichen Seele, ein Menschenkenner aus dem Beichtstuhl. Seiner Gemeinde irdisches Leben im Fleische mochte in Gottes Namen seinen Weg gehen. Aber der Leute da oben glaubte er doch wohl sicher zu sein. Namentlich sein Kommunionkind Gertrud würde –

Dieses dachte: Tot, ob es auch lebt. Tot für die Zeit, da es fern lebt. Ort und Gegenwart entscheiden. Was geht uns die Zukunft an und die Ferne? Lassen wir sie dahinten leben und glücklich sein, aber in dieser Welt ist sie nicht. Himmelherrgott …

Der Pfarrer hatte trotz seinem Verstand und seiner Menschenkenntnis ein großes Herz. Nicht daß er in der Art der Weichlichen im vorhinein schon verziehen, er war streng in bezug auf das Zukünftige, aber nachsichtig im Hinblick auf das Vergangene. Er war weit entfernt davon, die Welt für eine einwandfreie Schöpfung zu halten, er hatte sie nicht gemacht. Man konnte nichts anderes tun als das Unrecht einschränken. Bevor die Sünde geschehen, war man unerbittlich und ließ keine Freideutungen zu. Über allem das Gesetz und das Recht!

Gertrud dachte: Tu ich unrecht, wenn ich niemandem weh tu? Die Berechtigte ist so weit fort, daß ein Unrecht sie gar nicht erreicht. Ein Unrecht kommt gar nicht an, es wird sozusagen müde auf dem weiten Weg, verzichtet darauf, sich zu melden und kehrt um. Recht, was ist es? Doch nur ein Schutz, nichts weiter, was sollte es groß an sich sein? Wenn wir das Recht nicht brauchen, lassen wir alles Natur sein, sie lacht über das Recht. Ein Recht an sich? »An sich« ist eine Einbildung. Was quält man sein Gewissen? Das Leben entscheidet, das Heute und das Hier haben das Vorrecht, die Ferne hat mit dem Tode zu tun …

Man tat nach der aus Erfahrung fließenden Ansicht des Pfarrers am besten, sich nicht in Erwägungen über Sittlichkeit einzulassen, sondern nach dem Gewissen zu gehen und, wie gesagt, das Unrecht und alles Unzuträgliche von vornherein einzuschränken. Darum war er in seiner Pfarrei für kurze Brautschaften, sah nicht gern heftige Kameradschaften der Knaben, trennte Doppelfreundschaft zweier Ehepaare, eiferte gegen Kinderlosigkeit, wetterte gegen eheliche Untreue und hielt die Bekämpfung der Gelegenheit für das Wichtigste. Auf dem Acker der Gelegenheiten sah er den Teufel umgehen, den Teufel als Gärtner, den Sämann mit falschem wildem Samen! Nein, er machte da oben niemandem einen Vorwurf, es war dort gewiß alles in Ordnung trotz den verschiedenen Möglichkeiten der Unordnung, die er von seiten der beiden Fremden aus Rußland drohen sah. Denn es waren doch Fremde, und von Fremden weiß man nie, wie sie sich zu den Sitten des Landes stellen. Namentlich die Ordnung, die reine Ordnung, pura rerum aequitas meinte er vielmehr, das ordentliche gelassene Ruhen der Dinge in sich, war in Rußland wohl ein anderer Begriff als am Rheine. Die beiden waren vielleicht gar verheiratet, behüte uns der Himmel! Aber ganz allgemein gesprochen: es konnte für ein hiesiges Kind nichts Gutes aus einer Verbindung mit etwas Fremdem kommen. Zuallererst das Vaterland als Hort und Hof der eindeutigen unverfälschten Sitten! Nein, es sollte wohl am besten bald die natürliche Beziehung zustande kommen zwischen dem Weibe und dem hier wohnenden Doktor. Er könnte mit dem Mädchen da reden, sie hereinrufen, wenn sie ohne Zweifel gleich mit dem Bescheide auf seine Anfrage vorsprechen werde – eine kurze Brautschaft und dann nach Gottes Willen Kinder erzeugt! Und möchten die Fremden bald abziehen, Fremde trotz allem – schließlich, was gehen uns abgewanderte Blutsbrüder groß an, wenn es zuletzt doch nur auf das Heil der unsterblichen Seele ankommt? Die Vaterländer auf Erden, jawohl, sie machten einem manches zu schaffen, aber am Ende würden sich alle deretwegen zu ertragenden Kümmernisse und Besorgnisse auflösen im ewigen Frieden des einen himmlischen Vaterlandes.

Er hatte denen da oben nicht raten und nicht predigen wollen, aber er war lieber fortgeblieben; doch nach einiger Zeit, das wußte er als Kenner der Menschen und der Seelen, reifen alle Zustände ihrem natürlichen Ende zu, man muß nur Geduld haben. Die Wartefrist mochte jetzt wohl abgelaufen sein.

So dachte Donatus Bellmann vernünftig und anständig. Aber trotz allem Mißtrauen, das er gegen die Arbeit Gottes an der Welt hegte, war er kein Weltverkläger, kein Duckmäuser und Kostverächter, besonders was flüssige, letztlich auch unter Gottes Sonne in des Winzers Garten gewachsene Kost anging. Seine Bepfarrten sagten von ihm – der famose fatale Kädrich hatte es aufgebracht – er sei »gut zu Fuß unter der Nas'« – er hörte es, aber überhörte es und schmunzelte. Irgendwo braucht die menschliche Natur einen Auslaß, eine kleine Freiheit nimmt sich jeder, und sei es die, einmal die Katze in den Schwanz kneifen zu dürfen. Auch die Freiheiten waren in Gottes Weltgebäude hineingedacht – »eine Begabungsprobe dies, doch noch entfernt von Meisterschaft«, meinte der Pfarrer, ging an den Schrank und trank sein Nachmittagsgläschen, den Roten vom Ort aus eckigem Glase. Und über dem Trinken sah er Gertrud Kädrich daherkommen, das ansprechende Mädchen, das er vor einem guten Dutzend Jahren zum ersten Male zum Tische des Herrn geführt hatte und das zu einem vollen schönen runden Weibe herangewachsen war – Gottes Geschöpf, und keine Begabungsprobe mehr, schon ein Meisterwerk! Und während sie am einen Fenster der Stube vorüberging, füllte er sich ein zweites Glas ein; und während ihr Gesicht sonnbeleuchtet seitlich gesehen einen Augenblick im dunklen Rahmen des andern stand, flaumhäutig, mit ansehnlicher Nase und dunkler Braue, mit kräftigem Kinn und fein im Zuge der Nase fliehender Stirn, ein Grübchen in der Wange, trank im kühldunkeln Pfarrzimmer der Mann im schwarzen Rock es aus, nachdem er es gegen die Vorüberwandelnde erhoben: »Auf daß es ihr wohlergehe in ihrem Leben immerdar!« Und trieb mit der Wurzel der Hand den Dauerkork mit dem silbernen Kopf in die Tagesflasche und stellte diese dreiviertels leer an ihren Stammplatz auf der Anrichte zwischen eine heilige Katharina mit dem Rad und eine heilige Barbara mit dem Turm, während es schellte und eine warme Stimme draußen sagte, man erwarte zum Abendessen den Herrn Pastor.

Donatus Bettmann nickte, trat ans stromwärts gehende Fenster und blickte vergnügt auf den Rhein hinaus. »Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein …« summten seine noch rotnassen Lippen, und Daumen und Mittelfinger schlugen ein mutwilliges Schnippchen. »Ade nun, ihr Lieben, geschieden muß sein …«

Während Gertrud den sehr flachtreppigen Plattenweg hinaufschritt, sehr langsam auf kräftigen Beinen, leicht von einem auf das andere fiel und die Schuhsohle sich nur gleichsam widerwillig vom lieben Boden löste; während sie tiefnachdenklich ging und mit einem leichten Lächeln – oder scheinen Wangen mit Grübchen immer zu lächeln? – lagen die zwei Hunde noch an ihrem Warteplatz mitten im Weg. Als glückliche Hunde, die nichts zu tun hatten, dösten sie halb im Wachen halb im Schlafen immer wieder ihren einen alten Gedanken durch, den an die Menschen, mit denen sie lebten oder die an ihnen vorübergingen. Jeder auf seine Weise, denn Miß, freundlich und zutunlich gegen die Menschen, gewiß, mit einem Spürchen indessen von Kühle oder doch Selbstbehauptung in der heftigsten Freundschafts- und selbst Liebesbekundung, hatte sich die Erfahrungsbenennungen Willys: »der Angenehme« und »der Unangenehme«, auch andere wie »der Junge«, der »Alte«, »ein zahlender Gast«, »ein zudringlicher Fremder«, »ein Unwillkommener«, »ein Bettler«, nach kurzem Beobachten und Einspielen am Orte zu eigen gemacht, wenn auch nicht stürmisch zu eigen gemacht; sie glaubte, daß man das grundsätzliche Hassen und Mißtrauen und die bis zum Sinnlosen gehende Treue der gemeineren Rasse, zu der nun der gute Willy gehörte, überlassen solle. Darum konnte sie nicht finden, daß der Unangenehme so unangenehm sei, wie Willy es durch völliges Nichtbeachten dieses Hausmitbewohners bekundete. Und was den Angenehmen anbetraf – nun, so angenehm war er auch nicht, wie Willys Benehmen es von ihm behauptete. Gewiß, kleine Leckereien brachte er manchmal auf seinem Weg von der Mittagsseite mit, aber mein Gott – sie beschnupperte sie erst lange mit ihrem nervigen Schnäuzchen, während Willy die ihm angebotenen einfach wegfraß: schwapp … eins, zwei … sie waren schon unten, er wartete auf neue! Sie hatte empfindliche Witterung an den Sachen von den vielen Menschenfingern, die sie alle befummelt hatten, bevor sie ihr vor das Näschen kamen. Manchmal war ein auftretender Widerwillen unüberwindlich. Dann mußte sie hören: »Miß ist verwöhnt«, »Miß ist satt«, »Miß hat den Bauch voll«, »Willy ist ein guter Junge«, »Willy ist bescheiden« – was frug sie danach? Die Tiere horchten auf den Klang der Menschensprache, auf die Begleitmusik statt auf die Bedeutung der Worte, und brachten es im Tondeuten zu großer Fertigkeit. So blieb es in des sogenannten Unangenehmen Verhalten zu Miß immer offenkundig, daß sie ein Liebespfand, ein Werbegeschenk war, und wie hätte der angeblich Unangenehme seine Gabe durch schlechtes Betragen entwerten sollen? Er bemerkte denn auch mit Wohlbehagen, daß der Hund, sein Geschenk am Sonntagnachmittag, gradezu mit Zärtlichkeit behandelt wurde, in dieses verwirrend schönen Teufelsweibes Zimmer schlafen durfte, oftmals im Schoß, manchmal im Bett …

Der Angenehme! An ihm sprang Miß jedesmal hoch, wenn er daherkam; aber dann glaubte sie schnell, daß es genug sei des Ehrbezeigens, ging ins Haus und überließ den Rest zu beliebigem Bemessen dem wolligen Genossen von der gemeineren Volksrasse, die noch nicht weiß, daß auch die Liebe endlich ist. Und Willy war gänzlich maß- und fassungslos vor Freude, wenn der mit den kleinen Händen und Füßen heraufkam, er war dann ein jauchzend hüpfender Wolleballen.

Der Knappe und Spacke auch, ja, der mit den großen Händen und Füßen, der von der andern Seite heranstieg, der war Willy auch angenehm. Der roch irgendwie nach Weite und Wind, Wolf und Wildesel, wie sich in Willys Gehirn ein unbekanntes Asien unbestimmt und geahnt darstellte, er mochte gern in seinen altgedienten Reitstiefeln erscheinen. Willy tat offen das Urteil seines Herzens kund. Ein aufmerksamer Hund hatte in den langen Stunden Sitzens unter der Linde oder auf der Rossel, wenn die Herrschaften sich unbeobachtet glaubten und sich gehen ließen, Zeit, Gelegenheit und Anlaß zur Urteilsbildung. Und also sprang Willy seinen zwei Freunden mit dem schwarzen nassen Nasenzipfel, er sprang ihnen vor Liebe ins Gesicht, mochte Miß, die kühle, die nicht wußte, was Lieben heißt, von ihm denken, was sie wollte!

Als erster fand sich zum Abendessen im Freien Weingard ein, warum nicht, warum nicht, er hatte nichts zu tun, während sein Russe-Genosse Bücher las. Zum großen Abendessen – Gottseidank, daß man wieder einmal ein festliches gerüstet hatte, Weingard aß und trank für sein Leben gern gut und womöglich ausgezeichnet. Zwar es schien etwas wie Abschiedsstimmung über der Zurüstung zu liegen – sei es wie es sei, die Aussicht auf ein Sommerabenteuer mit diesem Teufelsmädchen »war Essig«, gestand er sich jetzt ein. Weingard war ein einfacher schlichter Wirklichkeitsmensch, ein Mann der geraden Wahrnehmung und der kurzen Schlüsse. Schließlich war er verliebt über den Wartesommer weggekommen. Herrgott, das Verliebtsein! Es geht nichts darüber! Man ist ja kein Knabe mehr, der sich durch Erfüllen um das herrliche Glück des Erwartens bringt. Die Liebe liebt es, ihre stürmischen Diener zu betrügen, den geduldigen und reifen aber blinzelt sie mit einem Auge zu. Die beste Freude ist die Vorfreude, das Schönste an der Lust ist die Begier. Aber zu lange hingedehnt wird diese schlaff wie stets gespannter Gummi und ihre Lust schal – entweder Erfolg oder Ende. Weingard machte sich nicht gern etwas vor.

Dann setzte seinen sanfttönenden Stab mit dem Elfenbeinfuß der Pfarrer den Plattenweg daher, Weingard ging ihm höflich entgegen.

Allmählich versammelten sich die Tischgenossen.

Wohlauf, noch getrunken den funkelnden Wein.
Ade nun, ihr Lieben, geschieden muß sein …

Der Förster von Krummerrück war da mit seinem feinen Vorstehhund und auch der sogenannte »richtige Doktor«, nämlich der Rüdesheimer Arzt Doktor Ney, selbstverständlich die Männer, die heimischen und die fremden, die eine Frau, um die sich so viel, im Grunde alles, drehte, Willy und Miß. Der Vorstehhund saß steif aufgehockt neben dem Förster, seinem Herrn, er war von feiner Natur und beobachtete sicherlich gut alles was verging. Aber er war sozusagen ein Fachmann, war für die Jagd auf der Welt, für die Hühnerjagd im besondern, ganz genau gesprochen für die auf Wachteln; man mußte im Sonderfach so ungeheuer viel wissen, daß man keine Zeit hatte für Weltwissen und allgemeine Bildung, und man verachtete die Nurliebhaber. Da aber kam er mit seinem dummen Dreinblicken recht bei Willy an, der Tropf, bei Willy, der weiß Gott auch seine Pflicht tat als Wachhund, aber daneben Zeit hatte für die anderen Tiere, für die umliegende Welt und für die Menschen, mit denen nun eben ihr Leben als Haustiere verknüpft und verbunden war. Wer einen Menschen nicht richtig lieben kann, wer kein Auge für Menschen und ihre Nöte hat, der kann auch Tiere nicht recht lieben, empfand Willy, der ist auch kein gutes Tier. Und damit war sein Urteil über den feinen Jagdhund fertig. Umstände machte Willy nicht.

Die Zusammengekommenen sprachen zuerst wieder, wovon sie oft gesprochen, bei den Wanderungen auf dem Berg, bei den Ruhungen, möchte man fast sagen, so tief und behaglich ruhten sie dabei, auf der Rossel, am Denkmal, unter der Linde, und abends unter der Hängelampe am Vorzugsstammtisch. Sie sprachen nicht nur von dem Gegensatz zwischen Europäern und Asiaten, der fast ein zu allgemeiner und breiter zu sein schien, um mit Nutzen besprochen werden zu können. Die Vielgereisten von ihnen sprachen mit Vorteil von Russen und Deutschen, Wolgadeutschen, Krim- und Kaukasusdeutschen, von Tataren und Türken, der Doktor des weitern von Turkmenen und Chinesen, Gertrud auch von Franzosen, von denen sie am Genfer See, wo sie eine französische Mädchenschule besucht, in den dortigen Schweizerfranzosen die Überfranzosen kennengelernt hatte. Davon hatten sie natürlich in diesem unvergleichlichen Sommer oft gesprochen – heute aber wollte dasselbe sehr geläufige Gespräch nicht recht in Gang kommen. Der Pfarrer machte vergeblich Scherze …


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