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Ade nun, ihr Lieben …

Sie tranken roten Aßmannshauser vom Staatsgut aus tiefbauchigen kurzfüßigen Kristallen. Niemand sprach vom Scheiden. Wie war es eigentlich zu einer Abschiedsstimmung gekommen? Es wird in einer Gesellschaft gefühlt, wenn ein Zusammensein von Menschen seine Erfüllung hat, sich seinem natürlichen Ende nähert. Aber nein, Gertrud fühlte mit nichten ein natürliches Ende nahen, sie fühlte keine Sattheit und keine Erfüllung. Sie war heute stumme Hausfrau, sie grübelte.

Der Förster vom Krummerrück zog ein Papier hervor. »Von meinem Bruder aus Amerika, was schreibt er für ein merkwürdiges Deutsch?« sagte er und reichte Tornquist den Brief, »sonst hat er doch reden können wie wir! Er ist vor siebenundzwanzig Jahren aus Aulhausen davon. Zu wenig Land hier, vor zwanzig hat er zuletzt geschrieben …« – »Mei Martin schreibt gar net …« seufzte Kädrich. – Der Doktor las vor: »Aus Wisconsin, Farm Neu-Aulhausen … also vergessen hat er die Heimat nicht … ›Ich habe schon mit meinem Volk zweihundertfünfzig Acres geklärt im ganzen – ›I have cleared with my folk‹, übersetzte für die, die Englisch verstanden, Pfarrer, Doktor Ney, Gertrud, der Doktor ins Englische zurück, und für die anderen sagte er, daß ›my folk‹ ›meine Leut‹, meine Familie‹ und ›klären‹ ›roden‹ bedeute. ›Ihr solltet euch das Klären hart vorstellen. Well, leicht ist es nicht, ich habe mit meinem Volk oft genug zwanzig Acker ein Jahr, auch als mehr geklärt. Jetzt kläre ich aber nicht mehr, denn ich brauche es nicht mehr. Ich habe mehr Arbeit und mehr Land, als mein Volk schaffen kann. Ich habe acht Lotter Land. Alles das ist gutes Land. Nicht soviel Kies wie am Niederwald. Jedes lot ist achtzig Acker. Ich habe das Land nicht gekauft zum Verkaufen, sondern für meine Kinder … Wie ist es in old Germany? Steht die Germania noch auf dem Niederwald? Hier haben wir keine Aßmannshauser Roten oder Rüdesheimer Bubenstück am Kühweg, sondern Wein from California, weltweit bekannt in den Staaten, aber tut nicht schmecken für einen Rheinländer Mund'« – »Soll sich Kachétier von der Kurá kommen lassen«, murmelte Weingard – »-schlechter Wein hier in diesem country, aber wenn euer Volk keinen Platz hat, send es über‹ … soweit.« – »Send es über«, brummte der Förster. »Was für ein Deutsch!« – » Send it over«, sagte Gertrud. Sie sah den Vater sich still entfernen, er mußte für ein Amenlang weinen gehen.

Der Förster genoß ordentlich, daß er einmal, sonst immer nur Zuhörer, wenn auch auf dem Umwege über den Doktor, die Ohren hatte. Er drehte am zurückgenommenen Briefe, brummte und tat so, als käme noch etwas; aber es kam nichts mehr.

Als er selbst merkte, daß nichts mehr kommen werde, setzte er durch mächtiges Ziehen seine Pfeife gewaltig in Rauch. Man saß dann still da. Jeder fühlte sich bedrückt, indessen nicht so sehr, daß das Beisammensein nicht doch angenehm gewesen wäre. Alle sehnten sich nach besserer allgemeiner Laune, die sich nicht einstellen zu wollen schien, doch keiner dachte ans Heimgehen.

Der Vater kehrte unauffällig zurück, seine Tochter sah seine Lidränder rot.

Die Raucher schmauchten heftig, der Förster paffte (der Vater rauchte seit dem Briefverlesen nicht), der Pfarrer und der Weinreisende rauchten Zigarren, Doktor Tornquist Zigaretten. Doktor Ney mit den glasklaren Augen rauchte ebensowenig wie Gertrud und Christian.

Willy hatte auch einen Stuhl bei Tisch und wurde, daraufsitzend und über die Platte schauend, von der Brust an für voll genommen. Als alle Tabakschlote qualmten, hätte er freilich lieber neben dem beschränkten Jagdhund unter dem Tisch gelegen – Bruno und Willy tauschten einen unwillkürlichen Pfui-Teufel-Blick des Einverständnisses.

»Es bleibt ewig merkwürdig mit dem Davongehen«, sagte einer. »Niemals kommt man ganz dahinter …« Martin Kädrichs Schatten spukte herum.

Man versuchte, bei dem allgemeinen Schweigen der engen verhafteten Stimmung zu entkommen.

Ade nun, ihr Täler, du väterlich Haus,
es treibt in die Ferne mich mächtig hinaus …

Der eine sang leise, der andere summte es nur. Man drehte am Glase. Sie sprachen jetzt davon, daß man aus dem Rheinlande immer fortgegangen sei. Man finde zwar Gedenktafeln an Geburtshäusern wie in Bonn und Frankfurt, nicht aber die Gräber der Männer, die man in Wien und Weimar suchen müsse. Und dann die Auswanderer, überhaupt auch nur die Wanderer! Gewiß, edlere Stöcke standen nirgendwo in Deutschland, die Rebstöcke und sogar die Rebstecken daneben; aber warum eigneten sich grade die rheinischen Weiden so gut dazu, Wanderstöcke aus ihnen zu schneiden? Flöten schnitten die Jungens, sie klopften die Rinde mit dem Messerleib weich, bis sie sich löste und ab- und wieder überziehen ließ wie eine Hose; aber dann schalmeiten sie nicht melancholisch am Hügelhang, sondern bliesen Marschweisen, Schrittesang, Wegeklang …

Das Wandern ist des Müllers Lust,
das Wa-andern!

»Merkwürdig, daß das Rheinland seine Leute so wenig halten kann«, meinte der Doktor Tornquist – sie nannten ihn, wenn »der richtige« anwesend war, zu ihrem und seinem Spaße häufig »den verkehrten« – »in früheren Zeiten war es doch anders. Da zog die Universität Köln fremde Leute an, das Bauen und Malen und Glasbrennen an Kirchen und Domen lockte sie herbei, und die Malerei in Düsseldorf tat es zuletzt noch einmal. Aber damit ist es aus.« – »Ja, und jetzt«, sprang lebhaft der richtige bei: »Seht seine Dichter an, nicht mal die hält es fest, soweit sie ein Beruf nicht bindet. Gleich drei Kurfürsten haben wir am Rhein gehabt, alles sanfte Geistliche, der Krummstab war zu schwach, war keine Macht, die Kraft und Geist sammelt und Leben einstrudelt. Das rheinische Denken scheint seine Weltfrömmigkeit des Mittelalters weltmännisch zu bereuen, man beeilt sich, zu versichern, daß man durchaus sachlich gerichtet und technisch-wissenschaftlich vollzunehmen sei, man überläßt den Rhein den Gesangvereinen, und die Dichter des Landes mögen gehen. Aber blickt nach Schwaben, Schweiz, Niedersachsen und auch nach Preußen, da darf keiner gehen, da ist keiner zuviel, da wird jeder gebraucht. Das Rheinland war einfach nicht Manns genug. Es ließ die Fremden die Pfalz verwüsten und duldete es, daß der Kölner Kurfürst mit dem Franzosen verbrecherisch handelte. Es ließ sich von Brandenburg heiraten wie von Wittelsbach, ließ sich von Napoleon nach Rußland führen, ließ sich von den Deutschen befreien, von den Preußen besetzen und von diesen, ohne die es französisch wäre, als Kolonie behandeln, es ließ, es ließ, es ließ hundert Geschehnisse zu, aber nahm nicht eines in die Hand. Und verlor, was es in den Händen hatte, daraus; also z. B. Goethe an die Sachsen, Beethoven an die Wiener, Wilhelm Leibl an die Bayern. Was hat eine große und reiche Stadt wie Köln an sich gezogen oder nur festgehalten? Was ist da, das bezaubern könnte? Wissen die Herren, daß Köln einmal die zweitgrößte Stadt der Welt war, nach Paris und neben Antwerpen? Heute ist es die zweitgrößte Preußens, was weiter?«

»Sie haben recht, richtiger Doktor«, sagte der verkehrte. »Köln trinkt Weißbier und mehrt seine Bankguthaben, Aachen singt › Urbs Aquensis, prima regum curia‹ und glaubt, daß man von selbst bleibe, was man einmal war, die erste Stadt im Reiche. Trier beschränkt seine Aufmerksamkeit auf Priesterseminar und Winzerverein, und Koblenz lebt vom Zimmervermieten ans einundzwanzigste Artillerieregiment. Und das will eins der berühmtesten Städtevierecke der Welt sein, tut Düsseldorf dazu und ihr habt eine schöne Pentapolis! Das Rheinland ist geistig gesehen ein Abwanderungsland.«

Ein Auswanderungsland, dachten sie und blickten Christian Heinsberg an.

»Es ist bereits Auswanderungsland zu einer Zeit, als sonstwo kein Mensch ans Auswandern dachte. Aus dem Dreistädtelande, der Tripolis von Aachen, Lüttich und Luxemburg, sind überhaupt die allerersten Auswanderer davongegangen, nach Ungarn«, sagte der alte richtige Doktor, er stammte von da; »schon zur Nachkarolingerzeit.«

»Na, wenn schon, warum sich aufregen?« meinte Kädrich. »Laßt sie doch in Dreiteufels Namen gegangen sein, laßt sie doch in ihre vierschrötigen Quadratländer ziehen! So viel Esser weniger im Land! Wenn die Katze zu viele Junge wirft, ertränkt man, was zuviel ist. Bei den Menschen geht das nicht.« – »Es ist vorhin gesagt worden«, meldete auch der Kaukasier einmal seinen Wunsch zu sprechen an, »Köln und Düsseldorf und Aachen und so weiter hätten nur Geld gesammelt, aber keine sogenannte Kultur? Aber ist denn Geld nicht die Grundlage aller Kultur? Erst Geld, dann kommt die Kultur ganz von selbst.«

Bruno als künftiger Kommunist erklärte, daß gerade diese bürgersatten rheinischen Städte … bezeichnend sei, daß in einer von ihnen, als Widerspruch zu ihnen, der große Marx das Licht der Welt … – da hatte er den Schluckauf. Mit Marx und einem bittern Geschmack im Munde ging er ins Haus. – »Nimm Natron!« rief ihm der Vater nach.

Weingard, einem von der bescheidenen Menschenart, die wenig reden, war es gänzlich gleichgültig, warum und wieso seine Vorfahren – aus Schwaben übrigens – ausgewandert waren. Man war dort draußen, fertig! Die Hauptsache war, daß man anständig und auskömmlich da lebte, daß man etwas auf die hohe Kante legte, daß kein deutscher Mann in Zukunft nicht nur keinen Franzmann, sondern auch seine Weine nicht … Man kannte die Rede, man winkte ab, bei Zechgelagen, bei denen wohl eine ganze Nacht vertan wird, hat man manchmal wenig Zeit.

Aber man war leidenschaftlich erregt, jeder hatte ein Glühköhlchen im Auge. Wenn Vaterland und Heimat in Rede stehen, fühlt jeder, daß es um die Wurzeln seines Daseins geht. Den Hunden teilte sich die Erregung mit, sie saßen auf den Hinterbeinen, wie bildlich gesprochen auch die Menschen, wenn sie politische Gespräche führen.

Der richtige Doktor, ein alter Feuerkopf, hielt die Unterhaltung politisch fest. Er biß auf keinen unpolitischen Köder an, den die Hausfrau in Sorge um die Gesamtstimmung des Abends und das Gelingen der freundschaftlichen Zusammenkunft ihm hinhielt. Begann sie ein Gespräch von den Forellen, so endete er es mit England, lenkte sie ab auf den Moselwein, so steuerte er hinüber nach Frankreich. Er genoß ein so großes Ansehen, daß vor ihm alle schwiegen, selbst Vater Kädrich, der ihn auch, voll Stolz auf ihn, da er eben zu seinem Kreise der alten Herren der Landschaft gehörte, eingeladen hatte, und sogar Bruno, er hatte Natron genommen und war zurückgekommen.

Der richtige Doktor hatte Augen so blau und hell, wie Kinder sie manchmal haben. Obgleich er gerne sprach, so hörte er dem Zwischenredner geduldig bis zum letzten Worte zu, blickte ihn aber dabei so forschend und durchdringend an, daß dem das Redebächlein meist vor der Zeit versiegte. Junge Leute wagten gar nicht, mit ihm zu sprechen, aber auch die älteren achteten ihn mehr als sie ihn liebten. Er verbreitete vor Geistesfülle und -schärfe Unbehaglichkeit um sich her. Es ging ihm aber nicht um einen persönlichen Erfolg, sondern um die Sache, ihre Reinheit und die Genauigkeit der Feststellungen. Sein Steckenpferd, das er ausdauernd ritt, war die Kolonialfrage. Er beherrschte sie im Großen und im Kleinen, von vorne und von hinten. Koloniengründen ist Atmen eines Volkes, denn es ist Ausdehnung, durch künstliches Ausdehnen der Brust kann man eines Scheintoten Atmung wiederbeleben. Sich ausdehnen, sich entfalten, das ist die eigentliche Lebensäußerung. Der Engländer tat sich leicht. Auf hundertmal mehr Raum als dem daheim konnte er die Flagge des Staates beruhigend und ermutigend über sich rauschen hören, konnte er der Geltung des eigenen Staatsgeldes sicher sein und fast allüberall die englische Sprache gebrauchen. Der englische Paß mochte keine schlechte Mitgift in die Wiege für einen kleinen, die Erde betretenden Weltbürger sein. Auch der Franzose war nicht übel dran. Genügend Auslauf auf eigenem Grunde hatte er, fünfundzwanzig Länder, jedes so groß wie das Land daheim, das er darum auch die Metropolis, den Mittelort, nannte, besaß er, und den Russen gehörte gleich der sechste Teil der festen Erdoberfläche. Der richtige Doktor erwiderte freundlich und höflich eines jeden Zutrinken, er ging auch auf die Sorgen der ihm gegenüber sitzenden Hausfrau wie die des Schülers an seiner Seite ein; aber es war sozusagen zwischen den Zeilen gesprochen und freundlich-belanglos, was er dabei sagte, und dann wandte er sich mit neuem Eifer dem von ihm fast einrednerisch behandelten Vorwurf zu. Gehörte auch dem Spanier nichts von Bedeutung mehr da draußen, so konnte er doch über einen Erdteil hin seine Sprache sprechen und sich dort unter Leuten seiner Art fühlen. Man muß die Kolonialfrage nicht rein als eine Staatsfrage ansehen und den Besitz von Übermeerländern nur als einen rechtlichen. Portugal besitzt Brasilien nicht mehr, und doch geht der auswandernde Portugiese dahin und fühlt sich wohl in dem Riesenreiche, das seine Sprache gebraucht. Spanisch wird fast in ganz Süd- und Mittelamerika gesprochen, die jungen Spanier wandern dorthin aus und fallen dann auf dieselbe natürliche Weise wie einstmals die Kolonien vom Mutterlande ab, so wie der Sohn, der sich selbständig macht, die Eltern läßt, aber ohne sich innerlich von ihnen zu lösen. Der Doktorgreis war in jungen Jahren als unbezahlter Arzt auf Schiffen um Afrika und Amerika gefahren. Er kannte ein bißchen von der Welt, er unter den Deutschen, die in so hohem Grade Binnenländer sind. Die zwar, die Gebildeten von ihnen, meist die Sixtinische Kapelle in Rom, nicht aber die Kaffeefarm eines Landsmannes in Guatemala gesehen haben. Bei den Engländern ist das anders, der 'Prince of Wales' einer jeden gehoben lebenden Familie macht Bildungsreisen nach dem Kap und nach Indien, bleibt zwar im englischen Reiche, aber lernt die halbe Welt kennen. Nur Ärzte sind in Deutschland auf solch arme Weise wie der Doktor ein bißchen Weltkenner. Ah, er hatte heißen Sand und kaltes Meer gerochen, kahle Kastenhäuser mit stets geschlossenen Läden, Menschen mit blinkendem schwarzem Fleisch gesehen und Küsten traurig von Einsamkeit! Er hatte den Engländer und Franzosen, den Spanier und Portugiesen draußen bei sich zu Hause – der richtige Doktor nagelte diese Worte mit den Knöcheln in die Tischplatte ein – gefunden. Auch den Deutschen hatte er gefunden. Er war der arme Lump unter den Völkern, wenn er dorthinaus ging, wo man seine Sprache nicht mehr verstand; und es machte wenig aus, daß er einige Mitlumpen hatte, den Italiener, den Griechen und den Iren, je als Gemüsehändler, Kellner und Polizisten in Amerika. Allen war, wie auch den glücklichen vorhin Genannten, nicht nur der harte Kampf ums Brot aufgegeben – nirgendwo in der Welt wird gespaßt und in den Kolonien am wenigsten – sondern dazu noch der um die eigene Art, um die gar kein Kampf nötig sein, worauf man ein selbstverständliches Recht haben sollte wie auf die Farbe seiner Augen. Warum die sonderbare Aufteilung der Welt? Hatten sich etwa junge Deutsche nicht an ihrer Eroberung beteiligt, mit den Engländern in Amerika, auch den Spaniern in Argentinien und taten es gar heutigentags noch mit den Franzosen in Nordafrika und Tongking? Mit den Staaten hatte das zu tun, nicht mit den Völkern. In Deutschland aber war zur Zeit der Eroberung der Welt durch die Weißen kein großer Staat gewesen; und so waren seine Völker für es selbst nutzlos verschwendet worden. Auch damals hatte in Deutschland mancher unruhige Bursche sein Bündel gepackt, die Mutter noch einmal umhalst und war dann ums letzte Haus der Dorfstraße gebogen auf Nimmerwiedersehn, oft nutzlos für die Brüder und die Mutter und gar für sich selbst. Ach, das war alles so sonderbar, das war alles fast zum Lachen! Nun ja, auch Deutschland hatte jetzt einigen Raum in der Welt. Aber würde es den späterworbenen übriggebliebenen im Weltgedränge der bereits Eingerichteten behalten? Manche Anzeichen der Zeit deuteten darauf hin, daß die Frühaufgestandenen den Spätgekommenen, nachdem sie sich von der ersten Überraschung über sein Auftreten und Zugreifen erholt hatten, belauerten, um ihm seinen Restfund wieder abzujagen. Aber man braucht den Platz, die Weite, den Raum, das natürliche Betätigungsfeld und den freien Auslauf für jene aus der Jugend, die sonst davonlaufen. (Bruno nickte heftig.) Das allererste Recht, das ein geborener Mensch hat, das er sich mit seinem Körper nimmt, noch bevor er Milch aus der Mutter aufnimmt, ist das auf ein Stückchen Raum und auf einen Platz. Sonst mag er bei den Ungeborenen bleiben, die nehmen keinen Raum ein. Man hat vor hundert und einigen Jahren die Menschenrechte erklärt, hier wäre ein neues von heute! …

Sie hatten wohl schon für die Zeit eines halben Mondübergangs über das Rheintal unter der Linde gesessen, doch war heute die Stimmung der Nacht nur wie Hintergrundsmusik, auf die niemand hörte; wohl hatte auch diesmal Vater Kädrich nicht am Wein, nicht an dessen Menge und Güte, gespart; aber was bedeuteten die Wortzauber der wachstümlichsten Weinnamen gegen die Sorgen der Welt?

Plötzlich erhob sich der richtige Doktor und erklärte, nach Hause gehen zu müssen; morgen in der Früh habe er einem Menschen eine Niere herauszunehmen. Er bleibe dabei, Deutschland sei ein Binnenland und blicke nach innen, aber England zum Beispiel eine Küste und schaue nach außen.

Der verkehrte Doktor sagte darauf im Aufstehen, daß die Küste Deutschlands Holland sei – »ach nein, wir wollen es nicht besetzen!« meinte er gegen den Pfarrer, der den Ängstlichen abgab und in jedem spielerischen Gedanken Raubpläne, Kriegserklärungen, kaiserliche Wahne und Weltbeherrschungsträume witterte – aber Holland sei eigentlich das rechtzeitig aufgestandene und auf die Weltgasse getretene Deutschland, und Deutschland hätte es nicht fahren lassen dürfen. Aber Holland sei eine Seemacht mit riesenhafter Kolonie, doch ohne ein Heimatland, groß genug, um Übersee zu tragen, und so trage und ertrage denn die Gnade Englands Hollands Übersee. Denn lieber belasse England in des schwachen Holland Händen viel Übersee als in eines starken Deutschland wenig.

So wurde schnell noch im Aufräumen große Politik gemacht.

Der Pfarrer meinte im Stehen, das seien doch alles gefährliche nichtsnutzige und zugleich unnütze Erwägungen, aber der verkehrte Doktor sagte unter dem Beifallsnicken des richtigen scharf doch lustig, den Ohnmächtigen, den Zuspätgekommenen, den Ausgeschlossenen, den Weltbettlern solle man doch wenigstens die Philosophenlust des Gedankenspieles mit Ländern, Meeren und Weltbreiten lassen. – »Gedankensünden!« rief der totgesorgte Pfarrer.

Der richtige Doktor hatte es im Bewußtsein der Verantwortung des andern Morgens eilig, fortzukommen, für den Pfarrer drohte ohnehin bald der Mitternachtsglockenschlag, Christian, immer gern der Letzte, ein Spätschläfer und -aufsteher, liebte die späte Nacht, die müde scheint, weil sie von Müden gesehen wird; doch er mußte mit dem Rüdesheimer hinuntergehen, sein Bleiben im Aufbrechen aller wäre auffällig gewesen. Der verkehrte Doktor stieg mit dem Pfarrer nach Aßmannshausen hinab, der Förster marschierte in den Wald hinauf.

Der Vater kümmerte sich nie um das, was hinter einem Feste zurückblieb, um Schüsseln und leeren Flaschen. Sein Sohn ahmte ihm darin völlig nach, die Mägde brauchten nicht das zeitlich unbestimmte Ende von Trinkgelagen abzuwarten und durften nach Erlöschen des Küchenherdes schlafen gehen, dem Fräulein verblieb das Aufräumen. In den Windgläsern brannten die Kerzen in einer Wachssuppe nieder. Gertrud arbeitete nicht, sondern stand da, die eine Hand auf einer Stuhllehne, mit den Fingerbeeren der andern strich sie sich langsam über die Stirn.

War das nun ein schöner Abend gewesen? Einer der vielen glücklichen dieses Märchensommers? War er nicht statt dessen ein sorgenschwangerer? Von Politik hatte man, hatte der gute und kluge Doktor Ney aus Rüdesheim, Hausarzt und Hausfreund, geredet, warum nicht? Auch Christian redete gern von Politik, auch der brave Doktor Tornquist, selbst Bruno, Männer tun es überhaupt gern, Christian hatte sie aus Neuasien, wie er seine Heimat mit dem alten kurpfälzischen Auswanderungsbündel nannte, hierher mitgebracht an den unpolitischen, singsangfrohen, klingklanglauten Rhein. Aber er hatte auch darauf hingewiesen, daß sie wohl die Bedeutung des Wortes nicht ganz verständen, die Tonschwere nicht voll hörten – plötzlich war es ihr, und sie setzte sich auf einen verquer stehenden Stuhl nieder, als verstände sie sie! Politik! Unheimlich …

Nachtfalter stürmten wider die Windlichter und fielen tot auf den Tisch herab. Kerbgetier stürzte sich in die Glastrichter hinunter und kam um in der glühenden Wachsbrühe, schwarze Ziegenmelker sausten umher auf zickzackender Jagd nach Nachtkäfern, und aus der Linde huschten Fledermäuse herunter und hinaus.

Gertrud saß vornübergebeugt, die Ellbogen auf den Knien und die Hände ineinander. Sie schien einen Punkt anzustarren. Sie nickte ganz wenig, aber wiederholt, mit dem Kopfe. »Wir leben am schönen Rhein wie neben einem Abgrund«, sagte sie endlich vor sich hin.

Der Mond Sing unter, rot und düsterglühend. Ein Windlicht erlosch.

»In der Politik ist unser aller volles Schicksal eingeschlossen, ich fühle es ganz«, sagte schwer nickend das Mädchen. »Christian hat recht. Und sie drängt nach langer Ruhe zu Entscheidungen. Was mag werden?«

Dann stand sie auf, blickte mit großen Augen, doch ohne etwas zu sehen, den Tisch an, ließ dann alles darauf und darum herum stehen und liegen wie es stand und lag, und ging sehr langsam ins Haus.

Das letzte Windlicht erlosch.

Als die Herrin gegangen war, kam Willy aus seinem Bau, reckte sich einmal und bezog dann neben dem Tische Wacht auf einem Stuhle.

*

 

Geh nicht fort«, bat sie. – »Ach, Gertrud, Gertrud …« –»Geh nicht fort«, bat sie inständig. – »Wir müssen ja!« – »Warum müssen, Christian?« – »Ich hab' es doch gesagt! Warum machst du es immer schwerer?« – »Müssen? Was muß man müssen? Glücklich sein!« – »Ach, liebe Gertrud …« – »Wir könnten alle hier zusammenleben, lange Zeit. Landschaft, Liebe, Freundschaft, Geist und Kunst würden unsere kleine Welt verschönen und, wenn du willst, auch Vaters Wein …« – »Wir würden uns verliegen.«

»Ach nein, das nicht. Laß doch das altmodische Wort.« – »Auch wenn wir uns nicht verliegen würden, auch wenn es jetzt nicht mehr um deinen Bruder ginge, wir zwei Männer können wohl zusammen fortgehen, nicht länger zusammen dasein. Das müßtest du doch auch verstehen.« – »Ach«, klagte sie, »warum steht dem Glück fast stets etwas im Wege?«

»Sieh, Gertrud, wir wollen, wir müssen doch Freunde bleiben, wir zwei Männer. Wahre Freundschaft ist so selten, hier ist sie möglich –« – »–wenn ich opfere.« – »Ach, Gertrud..«

»Ich will jetzt nichts weiter wissen als: ich bin glücklich«, rief sie aufseufzend aus. Sie schloß die Augen. »Ich bin es ohne Verdienst«, lächelte sie blind. »Aber muß man denn auch alles bezahlen?« – »Die Bürger sagen, daß sie nie sich lumpen lassen, aber die Götter bezahlen sicher nicht« – »Ich möchte gern alles schuldig bleiben. Ich möchte knien und tief und unerschöpflich dankbar sein. Daß es geschenkt sei, das macht erst eigentlich das Glück. Verdientes Glück, liegt nicht ein Widerspruch darin? Was können wir Armen denn verdienen, das wert wär' – worauf horchst du?«

»O Gertrud, du bist tapfer. Es ist sogar das beste, wir gehen ohne Abschied.« – »Ohne –?« – »Denn was ist Abschied außer Qualverlängern? Und leicht verräterisch wirkt er auch. Wir bleiben nicht lange. Wir sind bald da. Ein halbes Jahr, ein Jahr. Dann kehren wir wieder … mit deinem Bruder Martin … es kommt wer! –« – »Fern geht jemand im Wingert.« – »Hörst du, wie sein Fuß das lose Gestein stößt? Er geht eilig, aber es ist ein alter Mann … Doktor Ney –?« – »Er würde nicht zu dieser Stunde …« – »Laß mich sehen!« – »Bleib! Was geht's uns an?«

»Er ist es …« – »Ein Fremder ist's, ein Wanderer …« – »Er kennt den Weg …« – »Ein Flurschütz oder … Die Aufkäufer gehen prüfen schon …« – »So laß uns schauen –«

Christian war aufgestanden und ans offene Fenster getreten. Sie befanden sich im Wingerthäuschen des Kädrichteils am »Bubenstück« im Rebland, ein wenig über dem Herrgott. Schwer vor dem Fenster lasteten Trauben an den Reben. Christian bog die brandroten Blätter auseinander – »es ist der richtige Doktor!«

»Er sei verflucht!« rief Gertrud launig-grimmig.

»So eilig kommt er herauf. Eilig für seine Fülle. Was mag es sein, das ihn so treibt? Sicher etwas Wichtiges …« – »... etwas Politisches«, lachte sie schmerzlich. – »Wollen wir ihn abfangen? Er will zu euch!« – »Wenn die Hexe Politik die Männer …« – »Hast recht. Man erfährt's noch früh genug …«

»Herr Heinsberg!« rief da der Alte herauf. – »Er hat dich erkannt. Er soll mich nicht sehen. Ich geh halbbergs durch die Reben …« – »Herr Heinsberg!« – »... auf Wiedersehen, Christian! Wir haben noch miteinander zu reden!« – »Herr Heinsberg! Kommen Sie mir entgegen!« – »Auf Wiedersehen, Gertrud … ich komme, Doktor, ich komme!«

Christian sprang den Hang hinunter. Die Männer trafen sich beim Gott – »ich muß es Ihnen wenigstens sagen, Herr Heinsberg, mit welcher Sorge mich diese Zeitungsnachricht erfüllt, niemand will etwas von Sorge wissen. Als ob die Menschen das nicht verständen … Aber Sie verstehen es … Hier ist meine gute alte Kölnische. Immer ein anständiges Blatt gewesen. Erweist sich nun auch als wachsam. Da steht die Nachricht aus Petersburg von ganz erschreckenden Heeresverstärkungen Rußlands. Das kann doch nichts Gutes bedeuten. Die Nachricht ist schon einige Zeit alt, mein Beruf erlaubt mir nicht jeden Tag das Zeitunglesen. Was mich nun besonders beunruhigt: Im deutschen Blätterwalde ist die Stimme des einsamen warnenden Rufers bereits verhallt. Die Richtigkeit der Nachricht wird nicht bestritten, aber es kümmert sich niemand darum. Und mir stehen die Haare darob zu Berge! Man hat das Gefühl, man müsse mit der Kunde auf die Straße laufen und sie jedermann in die Ohren schreien. Doch die Leute würden einen erstaunt ansehen.«

»Krieg mit Rußland«, sprach Christian nach einer Weile langsam vor sich hin. Er schien zu erschauern.

»So weit sind die Dinge ja nicht vorgeschritten«, beruhigte nun selbst der Doktor. »Soundso viele neue Divisionen bedeuten noch keinen Krieg. Aber sie bedeuten freilich noch viel weniger Frieden. Deutschland sollte jedenfalls achtgeben. Das Volk tut es nicht, man weiß nicht einmal, ob die Regierung es tut. Man lebt in der Unruhe. Wir, meine politischen Freunde und ich, leben in der größten Unruhe. Im Rheinland herrscht die kirchliche Partei, und die gibt sich mit anderen Weltträumern dem hin, was unser großer Frankfurter Nachbar, der so vieles Gescheite über die Welt gesagt hat, ein Weltmann und Menschenkenner hohen Grades, einmal »verbrecherischen Optimismus« hieß, Arthur Schopenhauer nämlich. Ein treffliches Wort! Es könnte für heute erfunden worden sein. Wie leben wir eigentlich? Was für eine Zeit ist das? Die Mark und jede Münze Europas hat einen unveränderlichen Wert, eine Mark ist gleich sechzig holländischen Cents, hundert Pence, hundertzweiundzwanzig Centesimi, hundertfünfundzwanzig Rappen oder Centimes, gleich einem Viertel Dollar und so weiter. Unsere Kinder in den Schulen und auch noch die meisten Leute auf der Straße machen sich nie Gedanken darüber oder werden nicht angeleitet es zu tun, warum das so ist und daß es durchaus nicht so sein muß, daß vielmehr der Markwert ein durchaus veränderlicher Marktwert ist. Die Jungens studieren die Gesundung des Geldstandes des athenischen Staates, die Perikles durch Anlegen der Bundeskasse auf Delos bewirkte. Nur nichts vom eigenen Volke! Nichts von meinem und deinem möglichen Geschick! Ich bin weit entfernt davon, den Wert der Geschichte und den der Belehrung durch das ewige Sinnbild leugnen zu wollen. Grade weil die Geschichte vom endgültig Vergangenen handelt, dessen Ausgang wir kennen, hat sie unterrichtenden Wert für die flutende Zeit. Ich habe schon als kleiner Junge die Zeitung – meine alte brave Kölnische«, lächelte er aus gütigen, sehr klugen blauen Augen – »gelesen, mein Vater sagte: ›Warum nicht? Die Zeitung ist das Geschichtsbuch der Zeit.‹ Das unterschreibe ich nun freilich nicht ganz. Dieses unterscheidet sich eben von jener grundsätzlich dadurch, daß es von einem Abgelaufenen, jene von Ablaufendem spricht. Das ist in bezug auf das Wissen um das Ende ein großer Unterschied. Meinetwegen soll man – ich begrüße es sogar – von der Ionischen Bundesgenossenschaftskasse auf Delos in der Schule hören, wenn Zeit dafür da ist; aber warum dann nicht auch und vornehmlich von der französischen Assignatenwirtschaft, dem wilden Papiergelddrucken während der großen Kriege und nach ihnen, wodurch die Felsen der Währungen erschüttert wurden, alle Werte sich in Flutungen auflösten und in einer Sintflut des Staatsschwindels jeder Besitz unterging, der nicht diesem Ersäufungsversuch widerstand, das heißt diejenigen arm wurden, die ihre dingliche Habe, Haus, Hof, Gut, Pferde, Bücher, Bäume, Steine meinetwegen, verkauften? Denn dergleichen kann sich doch einmal wiederholen! So wenig es heute in einer Wirtschaftslandschaft der Felsenwerte danach aussieht! Die Geschichte lehrt nämlich auch, daß die sogenannte Katastrophentheorie für die Erkenntnis der Naturgeschichte hat aufgegeben werden müssen, daß aber in der der Menschen die großen Umstürze ziemlich plötzlich kommen, nicht unvorbereitet und auch nicht unangekündigt, aber doch als Ereignisse von heute auf morgen: das Erscheinen der Hunnen in Deutschland, der Tataren in Rußland, der Ausbruch der Französischen Revolution. Wenige Wochen und Tage, ja Stunden stellen dann die maßlos erschreckten Menschen vor neue unerhörte Tatsachen. Ich halte die napoleonische Geschichte in bezug auf Deutschland für die deutsche Erziehung für die wichtigste. Sie ist wahre Geschichte, das heißt endgültig vergangen, aber unserem Tag noch nahe genug, um als lebendig empfunden zu werden, ganz abgesehen von ihrem Gehalt an Glanz und Größe, fabelhaftem Geschehen und heldenhaften Erscheinungen von politischen Blutzeugen, Schurken, Narren und Verbrechern. Sie ist auch, rein als Theater angesehen, das größte, schönste, bunteste, reichste Schaustück der Weltgeschichte.«

Gertrud Kädrich, sagte Christian, habe ihm erzählt, in ihrer Klosterschule auf der Rheininsel Nonnenwerth haben sie ein Stück aufführen müssen, das die Oberin verfaßt hatte, »Napoleon, Held und Kaiser« (die Männer lachten schallend), sie habe die Kaiserin Josefine zu spielen gehabt – »Sicherlich die angenehmste Frau aus jener Welt von Männern!« warf der Doktor dazwischen – später, im französischen Erziehungshaus in Rolles bei Genf, habe es keine Napoleondramen mehr gegeben …

Der Doktor nickte lachend. »Eine Kleinkinderbewahranstalt ist die Zeit. Gnade uns Gott, daß nicht ihr, gerade ihr, Sie und der Doktor, aus dieser Bewahranstalt vor Welt und Vaterland zur großen Bewährung aufgerufen werdet. Ich werde es kaum noch erleben. Der große Krieg, an dessen Kommen ich fest glaube, so sehr ich es verwünsche und fürchte, wird ja wohl noch zehn Jahre auf sich warten lassen. Und währenddessen wird die Jugend weiter verpäppelt und lebt sich das Volk in seine Irrtümer tiefer ein: Daß der Weltfriede eine Art Naturrecht sei. Man macht Geschäfte auf Lebenszeit, man pachtet Kolonien auf neunundneunzig Jahre, man legt reichliche Gewinne auf langen Zins mündelsicher an, und niemand zweifelt daran, daß die Witwen- und Waisenvermögen in einer öffentlichen Sparkasse so sicher ruhen wie auf ehernem Grund – ah, Weltfriede als Naturrecht!« lachte er grausam und höhnisch. »Dabei werden genug fernspielender Kriege, uneigentlicher sozusagen – man nimmt sie nicht für voll – geführt, wir haben sie noch miterlebt: auf Kreta, in Transvaal und Korea, nun in Tripolis und auf dem Balkan, eine Seeschlacht von Tsuschima wird geschlagen, alles in nicht zwei Jahrzehnten; sodaß man sagen könnte, es habe niemals, kaum in napoleonischer Zeit, so kriegevolle Jahre und so kriegerische Menschen gegeben wie heute. Das Merkwürdige ist nämlich, daß man gegenwärtig verlaufende Geschichte kaum als solche erlebt, viele Zeitgenossen werden als alte Leute, wenn ihnen die Ereignisse von heute werden vorgestellt werden, ausrufen: Wie? Und ich bin dabeigewesen? – Eben in Europa, besonders bei uns! Aber es gibt gewisse Leute, die das Herannahen von Gewittern als Reißen in den Knochen fühlen, ich habe mit ihnen zu tun als Arzt – und als Patient. Ein solcher Patient scheinen mir auch Sie, Herr Christian Heinsberg, zu sein. Herr Pfarrer Donatus Bellmann würde nach dem ausgegebenen Richtungsspruche seiner Kirchenpartei und der Oberförster von Krummerrück als Reserveoffizier mich als ›Schwarzseher‹ auslachen, wie sein kaiserlicher Oberoffizier, den ich nun einmal nicht leiden kann, uns Warner alle verschrien hat. ›Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen.‹ Gebe es Gott, daß er dort ankomme! Aber die Lohengrine lassen wir auf dem Rheine schwanen, Liedersänger in den Theatern singen – auf die Throne gehören klare Köpfe und feste Herzen. Es war von einem ›verbrecherischen Optimismus‹ der Zeit die Rede, wir setzen ihm die heilige Nüchternheit entgegen.«

Christian mischte sich ein, der Doktor redete gut, aber auch gern. Er sagte: »Das Volk sieht den glückhaften Zustand der Zeit als eine Regel an, aber er ist Ausnahme. Es erhebt als Dauerforderung, was einmal die Gunst gewährt. Es verwechselt Recht und Gnade.«

»Ausgezeichnet!« rief der Doktor und schüttelte in heftigem Bejahen seinen Kopf, daß die weißen Haare flogen. »Das haben Sie vortrefflich gesagt! Das ist vorzüglich auf den Ausdruck gebracht!«

»Es ist so, wie Sie sagen!« nahm nach einer Weile des Schweigens, während sie in eine sich verdunkelnde Landschaft unter dem langsam sich beziehenden Himmel schauten, der Alte auf: Der letzte Krieg von 1870 ist längst vorbei, gewesen, und dauernder Friede erscheint heute als etwas Natürliches, Gewöhnliches, da er doch nur ein Ungewöhnliches, Ausnahmehaftes ist. Man fragt nicht nach seinen Grundlagen und Sicherungen, weil man den Zustand des Selbstverständlichen nicht zu untersuchen braucht.

Aber ich vergesse nicht, was Sie neulich einmal sagten. Sie sprachen davon, wie ihr an der Wolga spazieren geht. Ganz sicher, daß ihr von der Sonntagsnachmittagskahnfahrt aufs andere Ufer heimkehrt, seid ihr nicht. Man kann's euch nachfühlen. Aber hier gab es auch Kirgisenschrecken, Bingen hat gebrannt wie bei euch Bellmann, so heißt es doch? Glauben Sie, daß hier noch einer etwas davon weiß? Man kann sich euch denken, wie ihr da draußen umhergeht: in einem Adel der Angst, mit schleichenden Füßen, das Herz in der geschlossenen Hand, ihr Wolgaländer, die ihr Rheinländer wart – und währenddessen laufen und toben die Rheinländer hier, wir Rheinländer hier, umher, leicht wie auf Wolkensohlen, und das Herz tragen wir sozusagen an einem Kettchen um den Hals, als Schmuck oder Angebinde. Oder auch als Angebot – bitte nehmt doch, Landsleute, gute Europäer, Brüder, wir lieben alle Menschen! Und einer der größten von uns fand die Noten zum Gesang der Engel: Seid umschlungen Millionen … Schön, ja, aber welch ein Traum! Und währenddessen … nein, wir wollen nicht immer aufrechnen, wohl, mag man vergessen, man kann nicht ewig alles nachtragen. Irgendwann einmal sind alle Nachbarn, der eine mit dem andern, nach rechts und links und überquer, Feind gewesen, es gäbe keine neuen politischen Verbindungen der Völker, wollte man die alten Trennungen immer im Gedächtnis behalten. Aber auf der andern Seite muß doch Gewesenes auch bleiben, nicht des Rachedenkens, des Nachtragens willen, sondern damit nicht übersehen werde, daß das Leben nicht leicht ist …« Auch Willy, der mit Gertrud gekommen, aber bei Christian geblieben war, hatte, auf der Bank aufgehockt und von Christians Arm umfaßt, so aufmerksam zugehört, als verstände er das Gesagte.

Das Wetter schien umzuschlagen, endlich umzuschlagen, das am Himmel bereits gesammelte Gewölk verdickte sich, den falben Pelz des Hundes, der vor den Männern lag, die auf der Bank saßen, kämmte sozusagen ein plötzlich herüberstreifender Wind gegen den Strich, nicht nur die weiße Grundwolle, auch das rötliche Fell des Tieres wurden sichtbar. Willy fühlte, daß er, während dies mit ihm geschah, angeblickt wurde, er erhob sich, stieg mit den Vorderpfoten auf Christians Knie und Arm und küßte ihn einfach. »Ja, du bist ein guter Hund, Willy, und nun leg' dich wieder nieder.«

»In Gefahr leben … in Erinnerung an Gefahr … im Bewußtsein der Möglichkeit von Gefahr …«

Der Wind versteifte sich. Er traf Willy von der Breitseite, blies ihm in die rötliche nackte Ohrmuschel und richtete mit seiner Kraft den kleinen Lappenüberfall, die behaarte Spitze, auf. Willy war der Blus ins Ohr äußerst unangenehm, er legte sich unter den Wind.

Christian kannte das Wort vom Leben in Gefahren. Die dunkle Stimme eines einsamen Mannes, eines vergrämten Deutschen und Europäers, der als ein Verwirrter gestorben war, sprach es aus: Leben in Gefahren …! Aber niemand hörte auf ihn. Christian kannte es aus Nietzsches Büchern, die Tornquist ihm geliehen hatte, er hatte sie an eben dieser Stelle unter dem »Gerissenen Gotte« gelesen. »Leben in Gefahren …!

... Rheinisch leben, das heißt lustig sein … Am Rhein, am Rhein, da wachsen unsere Reben, gesegnet sei der Rhein …

»Gnadenlos ist alles Leben der Völker«, sprach der Feuergreis, »gefahrenreich ist das Dasein, gering sind die Rechte, der Anspruch ans Glück ist eingebildet, und allgewaltig ist das Schicksal. Sucht das Glück und genießt es, aber wie eine Feierstunde. Es ist nur eine Ruhepause zwischen Arbeit und Kampf, und was ihr grade, das Glück erwartend und ersehnend, an Ruhe und Gesundheit in Händen habt, das ist es bereits, es selbst, das Glück. Es ist eine Quelle in der Wüste, eine holde Wasserstelle; aber man wird nicht an ihr verweilen dürfen, der Marsch ins Trockenland muß wieder angetreten werden, und neue Durststrecken liegen vor euch …«

Es war kalt. Der Hund stand auf. Auch die beiden Männer standen auf.

Der Wind aus Westen war fest geworden, Christian zog den Riemen über seinem weißen Russenkittel an, der alte Doktor schlüpfte in etwas, das er in Ahnung von Wetterwechsel mitgebracht hatte, es war einen Rock kälter geworden.

Sie verließen den Platz im Rebland. Der alte Doktor verabschiedete sich, es war nicht mehr nötig, hinaufzugehen, er hatte sich eine Erregung fortgeredet. Christian aber, mächtig bewegt, stieg hinauf gegen den Wald, doch nicht nach Westen, sondern diesmal nach Osten, auf das Kloster der Heiligen Hildegard zu.

Dem Hunde wurde der Behang nach vorne geblasen, der Halspelz erschien als ihm in die Schläfe gekehrt, so wie man modisch vor hundert Jahren – wie Kaiser Alexander, erster seines Namens, auf Bildern das Haupthaar trägt und wie noch heute die russischen Bauern sich kämmen.

Im Walde standen Eiben, ihr dunkles Grün schaute ernst drein in den heiteren Grünfarben von Buche und Ahorn der Saumranft. Das rote Fruchtbecherfleisch erschien schon unter den lackig schimmernden Nadeln …

Und im Bündel des beschuppten Taxusholzes hing Bruno, er schnitt lange gerade Stangen heraus, er mühte sich mit Einkerben und Brechen schwer an dem harten Reis des Nordens. »Was holst du da, Bruno?« – »Spannholz für Bogen.« – »Ah! Ich dächte, du wärst über das Spielalter hinaus?« – »Schießen ist nicht Spielen!«

Bruno kam heraus, er trug Stangen gerade wie Kerzen, hart und biegsam. Als er sie kräftig auf den Boden aufsetzte, schwirrte-surrte die Stabhälfte über der haltenden Hand. »Wir Forsterianer haben beschlossen, wieder einfach und uralt schießen zu lernen wie unsere frühen Vorfahren schossen und die einsamen Völker es heute tun. Wir werden untereinander einen Häuptling küren, den besten Bogenschützen. Der Teufel hole den Versemeister Horaz, den betrunkenen Römer! ›Bekränzt mit Laub den vollen Becher!‹« … sang höhnisch Bruno. – »So gefällst du mir, Bruno!« lachte Christian.

»Du, Ohm Ruß«, sagte Bruno darauf zutraulich, »habt ihr Eiben zu Hause?« – »Wir haben überhaupt keine Bäume außer ein paar schlechten Pappeln auf dem Werder in der Wolga, ich sagte es dir schon.« – »Ich habe vorhin beobachtet, die Kuh des Försters vom Krummerrück, die im Walde ging, fraß an den Nadeln, ich dachte, sie seien Gift …«

»Du mußt den Förster vom Krummerrück fragen, ich weiß grade so viel« – dabei zeigte er seinen Fingernagel als Maßstab – »von …?«

Der Wind verschlug ihm die Rede. Scharfer Kiessand fegte daher. Unmittelbar darauf fielen dicke Tropfen nieder, sie platschten hörbar auf, an der Erde entstanden rollende Dreckkügelchen. Der Hund konnte sich im Winde kaum auf den Beinen halten.

Sie liefen jetzt zum Klosterhaus hinunter. Bruno blieb unter der Last der Stangen zurück, Christian nahm ihm alle ab bis auf eine, die der Junge nicht hergeben wollte. Der Regen fiel nun stark, die Erde wurde jetzt sichtbar naß. Die laufenden Männer sahen mit ihren Stangen wie Leute aus dem Busch aus.

*

 

Der Doktor saß am Abend in seiner Stube im dicken Lichtkegel einer tiefgrün verhängten Lampe. Eingeschoben in den Spitzhut von gelbem Schein im gründunklen Zimmer saß er und studierte die Karte des Landes Marokko. Da zog sich von Osten nach Westen der Atlas hin, in Algerien ein breites Hochland mit getreideschweren Flächen, auf denen die französischen Kolonen saßen und die Elsässer Kolonisten, unwillige Leute, die 1871 nicht bereit waren, mit ihrem Lande ins Reich zurückzukehren, sondern in Frankreich bleiben wollten und nach Frankreich auswanderten, nach Frankreich, wenn sie auch nach Afrika zogen, Frankreich machte damals die Kolonie Algerien zu einer Provinz des Mutterlandes. Da hausten, so las der Doktor, die Leute aus Gebweiler, Rappoltsweiler und Thann in Dely-Ibrahim, sie hatten sich den Namen Ibrahim in Überrhein verändert und siedelten also in Überrhein bei Algier. Da hoften einmal aus Landau, Karlsruhe und Bruchsal Verlockte in Bu Sebach und Nechmeya, und sie hatten aus den fremden Namen für ihren Gebrauch Busenbach und Schweyen gemacht. Der Doktor suchte sich die Ortsnamen auf der Karte zusammen und überlegte, wie man die Kolonien sehen könne.

Aber Algerien konnte bestenfalls nur Weg sein, Ziel war Marokko. Der Atlas hob sich in diesem Lande zu büschelartig auseinanderstrebenden Gebirgen auf. Da begleitete der Hohe Atlas mit Schneealpen den großen heißen Sand; da stand ein mittlerer mit Wüstenhängen mitten im Lande; da spitzte sich mit dem kleinen, der Rif hieß, das Landhorn Kleinafrikas gegen Spanien aus. In den Trompeten der voneinanderweichenden Wände lag also das Land Marokko. (Der Doktor machte beim Studieren wieder die Erfahrung, daß, sobald wir Genaues und Bestimmtes von einer fremden Welt uns vorstellen können, sie sofort von ihrem Reiz eines Ungewissen und Abenteuerlichen verliert. Es wird offenkundig, daß auch sie richtiges und wohl gewöhnliches, vielleicht gemeines Land ist …) Muluja hieß der Fluß, den man hinter der Grenze Algeriens kreuzen würde … Muluja? Ja, bei Sallust hatte er schon so geheißen, der uns auf dem Mindener Gymnasium die Geschichte Jugurthas, des wilden Königs von Numidien, erzählte … Marokko also war jenes »Numidien«, mit diesem fabelhaften Namen verbanden wir erste Fernenträume …

Der Wind brauste ums Haus. Die Tür der Stube schlug auf. Der Doktor wandte sich nicht dahin um, denn das Treppenhaus war noch warm.

Aber Gertrud Kädrich stand in der Tür.

Als er sich ihr nicht zuwandte, sagte sie halblaut: »Doktor …«

Er fuhr herum. Donnerschlag! Er sprang auf und stand dann da, den schief auf zwei Beinen am Boden stehenden Stuhl mit der Lehne haltend. »Gertrud Kädrich …!« schrie er.

»Geht nicht fort!« bat sie.

Er faßte sich an die Stirn.

»Geht nicht fort!« bat sie wieder leise.

Er stand da wie ein Ertappter.

»Ich weiß es, ihr wollt es tun. Ihr denkt daran, ihr denkt seit einigen Tagen nichts anderes. Seit jener Unglücksnacht … wären wir doch nicht in die Krone gegangen!«

»O Gertrud …!«

»Oder nehmt mich mit! Mag aus dem Haus werden was will. Ich kann nicht bleiben, wenn ihr zwei fortgeht …«

»– Kommen Sie herein, Fräulein Kädrich! Machen Sie die Tür zu!«

»Nein, ich will sie offen lassen, des Vogelbauers wegen. Wissen Sie …?«

»Des Vogel–bauers –?«

»Die Vögel ziehen. Sie gehen in Schwärmen um den Berg nach Süden. Seit Dunkelheit. Da fiel es mir ein. Da hatte ich den Vorwand. Da lief ich den Pfad hinunter. Doktor, wissen Sie noch, was Sie mir versprochen haben?«

»... weiß ich noch? … versprochen habe?«

»Das Goldhähnchen!« – »Ah –«

»›Kommen Sie im Herbst wieder, wenn seine Artgenossen auf dem Zuge sind …‹ sagten Sie nicht so? Erinnern Sie sich?« – »Ja, so sagte ich, und Sie antworteten: … ›will sehen‹ …« – »Ja, ich sah! Ich sah, daß die Vögel ziehen, ich hörte es, sie scheinen nur nachts zu ziehen …« – »Und da kamen Sie?« – »Weil ich einen Vorwand brauchte …« – »Vor dem Vater? Vor den Leuten? Sie sind doch unbeobachtet –« – »Vor Ihnen, Lieber«, sagte sie leise und ernst.

Er nickte. »Das Goldhähnchen«, sagte er.

»Schenken Sie es mir jetzt?« – »Gern, wie immer!« – »Darf ich es dann fliegen lassen?« – »Was Sie wollen, dürfen Sie, vorausgesetzt, daß seine Artgenossen wirklich in der Luft sind und der bislang Gefangene gefahrlos ziehen kann«, sagte er fachmännisch.

Sie ließen die Stubentür offen, damit der Lichtschein hinausfalle, der Doktor hatte die Lampe entglockt, ließ sie aber auf dem Tische stehen, um die Vögel nicht zu schrecken, und zündete im Flur eine Kerze an.

»Ja, sie ziehen, die Vögel draußen, man sieht es an der Unruhe im Käfig. Sonst zu dieser Zeit schlafen die hier. Sie hören den Zug, oder sie fühlen ihn – des Goldhähnchens Artgenossen sind auch in der Luft, sehen Sie, wie aufgeregt es flattert!« Er öffnete das Fenster im Treppenhaus …

Dunkler später Abend … Wolken und Wind … Und Sausen, doch nicht vom Wind. »Vögel!« sagte er horchend ohne auf- und hinauszublicken. Er steckte den Arm durch das Türchen in den Käfig hinein und arbeitete mit einem Schmetterlingsnetz, um das Tierchen zu fangen. Es flatterte wild. Er trieb es in die Ecke. Endlich hatte er es.

Er hielt es in der Hand. Sie bat, er möchte es ihr geben. Sie nahm es behutsam. Sie fühlte das Herzchen klopfen. Grün wie die Frucht vom Ölbaum war das Vögelchen, über die schwarzen ängstlich-klugen Äuglein hin ging ein langer weißer Federstrich. Das Schnäbelchen war nadelspitz. Vor Angst oder aus Erwartung eines Neuen, vor Wanderlust oder in dunklem Triebzwang, der auf die Wege der Luftwelt hinauswies, pumperte stark das Herzchen des Wesens in Gertruds Hand.

»Woher, sagten Sie doch damals, kommt der kleine Kerl?« frug Gertrud. – »Sicher aus Sibirien, von dort wo dieses sommerwarm ist. Kolonisten wohnen auch da. Ein großmächtiger Bauer und Mennonit, den wir kennen, Heinsberg und ich, Klaas Menning vom Samaralande am Strome, ist von der Wolga weiter an den Ob zu neuem Siedeln gezogen, ich bekam die Nachricht.« – »Dann ist es also über die Wolga hergeflogen?« – »Ohne Zweifel.« – »Über Bellmann?« – »Vielleicht, wenn es aus Sibirien kommt, wo es vom Baikalsee und aus dem Lande weiter östlich, aus den Dschungeln am Amurfluß stammen kann. Oder auch aus Turkestan. Am Himalaja habe ich viele Goldköpfchen gesehen, aber die fliegen nur nach Indien.«

»Und die aus Turkestan und Sibirien, wo es warm ist? Vom Baikalsee und aus den Dschungeln am Amurfluß?« – »Nach Westafrika. An den Tschadsee oder den Nigerstrom in die Dschungeln.« – »Ei!« – »Das Vögelchen ist der Meister der längsten Wege in der Luft.«

»Und wohin wird der kleine Herr hier ziehen?« – »Wenn er des Fliegens nicht entwöhnt ist, sicher hinaus aus Europa.« – »Wohin genau?«

»Mindestens bis nach Marokko.«

Da schloß sie die Augen. Das Wort Marokko hörte sie bereits ebenso ungern wie den Namen Wolga. »Lassen wir ihn fliegen«, sagte sie kurz. Sie wandten sich zum Fenster. »Einen Abschiedskuß für die lange Reise, mein lieber kleiner Kerl – au!« Das Vögelchen hatte sie in die Lippe gebissen, dabei machte sie unwillkürlich die Hand auf, und mit einem Husch war der Vogel fort in die Nacht.

Feines scharfes Piepsen hörte man. Artgenossen begrüßten den Zukommer im eiligen Fluge …

»Da steh' ich mit leerer Hand«, sagte sie. »Werd' ich bald auch mit leerem Herzen dastehen? Geht nicht fort, ihr beide! Ihr beide!! …«

Er sagte nicht viel. Er wußte ja, daß sie vorhatten, fortzugehen, beide. Beide zusammen, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Es war alles schon verabredet …

»Bleibt! Bleibt da! Beide! Immer!«

»Aber, Gertrud …« – »Warum Aber? Warum könnt ihr nicht bleiben? Sie sind frei, er ist … nichts ruft ihn. Sie haben kein Amt, er keinen Auftrag. Weingard packt, das Zimmermädchen sagt's. Wir ziehen den Pfarrer heran, er wird uns seine Sammlung zeigen. Wir werden von der Kunst reden. Wir werden nicht nur ewig von der Erdkunde sprechen und der Geschichte, von der Zerstörung Heidelbergs und Speyers und von dieser unausstehlichen Wolga und überhaupt nicht mehr von der Politik. Wir werden von des Pfarrers schönen hölzernen Bildwerken, von seiner heiligen Katharina mit dem Rade und der heiligen Barbara mit dem Turm, die auf seiner Anrichte stehen, herrlichen Figuren, reden, mir hat er sie schon mal gezeigt und ihre Stilart erklärt«, prahlte sie. »Bleibt! Bleibt immer! Bleibt ewig! Vater hat genug Geld, ihr braucht nicht zu arbeiten oder nichts anderes als was euch Freude macht. Sie studieren die ganze Erde, aber aus Büchern, wenn ich bitten darf, wie die Professoren, und er … ich meine, Herr Heinsberg, wird der gebildetste aller Männer mit Geschichte, Kunst, Philosophie und allem Menschheitswissen. Und übrigens glaube ich auch, daß er ein Dichter wird. Und für die ganze Zeit hat Papa genug Wein im Keller. Bleibt, bis ich oben nicht mehr nötig bin. Bruno wird auch ein gescheiter Junge, wir nehmen ihn von dieser albernen Schule fort, ihr beide werdet seine Hauslehrer, wenn unser Leben für die Welt einen Namen haben muß. Der Pfarrer kommt hinzu und gibt das Seine, Doktor Ney unterrichtet Bruno in dieser Teufelspolitik, die ein Mann von heute nun wohl gründlich kennen muß, ich lerne von euch allen, und zwischendurch verwöhne ich euch alle. Alle Lehrer lernen aber auch voneinander, und wir machen die herrlichste Schule auf, die es jemals auf der Welt gegeben hat. Ich kann euch jedenfalls noch kochen lehren, was Sie Erderforscher vielleicht auf Ihren Kundfahrten brauchen werden, wenigstens solange ich Monsieur Rivols aus Albi Buch benützen darf. Ich kann euch geröstete Weinbergschnecken mit kleinem Burgunder vorsetzen, auch Trüffeln aus Périgord und Gänseleberpastete aus Straßburg laß ich kommen, wir machen ein glückliches Haus mit kluger Rede und gutem Essen und Trinken, wir sechs, sieben, nein acht, denn Willy zählt mit, und mit Miß sind wir sogar neun. Und wenn Vater einmal das Zeitliche segnet, dann sind wir drei noch jung genug, um in die Welt zu gehen, an den Tschadsee, wo die Goldhähnchen aus dem Amurdschungel uns im Röhricht besuchen, oder an den Amur und meinetwegen an den Ob zum großmächtigen Kolonisten Klaas Menning, oder wohin immer ihr wollt. Mit Ausnahme von der Wolga und einem verhaßten Orte Bellmann, mit Weibern will ich nichts zu tun haben … Bleibt! Geht nicht fort, ihr zwei!«

Der Doktor stand da mit hangenden Armen. Soviel Anmut! Soviel Wackerheit und Güte! Und sie wollten sie belügen, betrügen … Schurken! Aber was blieb übrig? Und es war auch wieder einmal etwas Männliches unbedingt nötig zu tun. Hier würden sie sich verliegen …

Gertrud Kädrich verstand. Sie sagte kurz Gute Nacht und ging.

Als sie auf das Brunnenplätzchen kam, trat der Pfarrer aus dem Dunkel. Er faßte sie bei der Hand. »Guten Abend, Gertrud Kädrich. Reichlich spät … Kind, du solltest nicht abends, und überhaupt nicht, zu einem Junggesellen in die Wohnung gehen. Es schickt sich nicht. Heiratet lieber.« Er küßte sie auf die Stirn. »Geh mit Gott, mein Kind, ich bete für dich … Fürchtest du dich nicht? Soll ich dich begleiten?« – »Danke«, sagte sie, vor ihm stehend, leise. Dann ergriff sie plötzlich seine Hand, so wie sie es als kleines Mädchen oft getan hatte, küßte sie und sagte unwillkürlich dem geistlichen Herrn den üblichen Kindergruß: »Gelobt sei Jesus Christus«. – »In Ewigkeit …«

In der dunklen Gasse hinter sich hörte sie des Bartscherers Becken im Gewerbeschilde leise klirren, die Haustür ging dort. Der Haarkünstler – nur er von den Männern der Landschaft kannte ihre braune Mähne, er hatte sie allmonatlich in der Hand – erschien aus dem Sträßchen: »Fräulein Kädrich, darf ich … soll ich … fürchten Sie sich nicht …?« – »Danke, Herr Olbertz, ich fürchte mich nicht. Gleich kommt mir auch Willy entgegen. Übrigens, aufgepaßt bin ich nicht gern …« – »Nein, entschuldigen Sie nur, gute Nacht.« – »Gute Nacht.«

Wo das Städtchen ansteigend sich ins Bergtälchen ausspitzte, wohnte im letzten höchstgelegenen Hause der Kirchenküster und Gemeindebote, er stand von der Türbank auf: »Guten Abend, Fräulein Kädrich …« – »Auch Sie haben gewartet?« unterbrach sie ungeduldig. »Seid ihr denn alle« – des Teufels, wollte sie rufen, aber sie sagte nur –: »nicht bei Troste? Geht schlafen, Männer …« – »Nichts für ungut doch! Ich sah Sie hinuntergehen … Sie mußten wieder heraufkommen … ein bißchen wachen … man kann nicht wissen, was nachts in der bösen Welt auf Weg ist …« – »Danke, Rübland! Entschuldigen Sie bitte! Aber ich nehm's schon auf. Schlafen Sie gut.« – »Schlafen Sie auch gut, Kädrich-Gertrud. Lassen Sie sich gefallen, daß man ein wenig für Sie wacht. Was die feinen Herren sind, die dürfen es Ihnen sagen. Lassen Sie die kleinen Leute sich ein bißchen sorgen. Es tut ihnen gut und Ihnen nicht übel, Kädrichmädchen …« – »Danke! Danke sehr, Rübland-Gottfried!« sagte sie leise, »ich verdiene es nicht …« – »Oh …« meinte der Küster schmerzlich lächelnd und machte eine Handbewegung in die Luft hinein.

Als sie vom Aulhausener Sträßlein auf den Plattenweg trat, der zuerst eine flache tiefstufige Treppe war, erhob sich vor ihr in der Dunkelheit Willy. »Ach, Willy«, rief sie aus und schloß ihn in die Arme, »Willy, Willy, sie wollen uns verlassen!« Sie sank hin, saß nieder und hatte Willy auf dem Schoß und an der Brust. »Bleibst du wenigstens, Willy –?«

Sie brach in Weinen aus, sie weinte in Willys weiche Wolle hinein, während über den beiden in der mondlos dunklen Nacht eifrig und eilig, sausend und kleine Laute von sich gebend, die Vögel auf ihrer Wanderung waren, auf ihrem Zuge, in die Ferne, nach Süden … fort! fort! fort!

Dann ging sie den Plattenpfad hinan. Es war sehr dunkel, der ihr scharf voraussteigende Willy machte, grau zu ihr heraufschimmernd, den Führer. Die Luft war lau und floß. Und im Himmel flogen die Vögel.

*

 

Hastig war das alles auf Weg. Gegen acht Uhr abends hatte Gertrud, in Unruhe ans Fenster getreten und in den dunkeln Abend schauend, die ersten Luftwanderer bemerkt. Stare hatten den Zug eröffnet, in großer Schar, eilfertig, geschäftig, rüstig.

Bruno war zu freierem besserem Beobachten in den Weingarten gegangen. Von Vögeln wußte er etwas, der Vater, der die Beerenfresser haßte, der Förster und sogar das Förstergymnasium hatten sie ihn leidlich kennengelehrt.

Da kamen sie auf einmal in einer Menge und Masse, nicht zu zählen, nicht zu sagen. Laubsänger waren es nun, Grasmücken und Ammern, sie riefen im eiligen Vorbei durch wenige Töne ihres Artgesanges einem Herumtreiber und Feldbeobachter Bruno zu, wer sie seien. Es hatte neulich den guten Burschen sehr geärgert, kenntnislos vor eines Doktors Bauer zu stehen. Vögel, das ist doch das erste, was ein Landjunge kennenlernen soll, und was ist Erdkunde ohne Vogelkunde, der Wissenschaft vom Antlitz der Erde schönsten Teil? Die Geschichte vom Bock, der eine Ziege war, war da endgültig vergessen gewesen, und der Förster wurde öfter aufgesucht, der Doktor unauffällig ausgefragt, motacilla alba und ihre Verwandtschaft beobachtet und im Forstergymnasium auf einmal die Sammlung der ausgestopften Bälge zu sehen begehrt.

Jetzt vernahm der Beobachter die Rufe von Drosseln und Lerchen – rasche Mitteilungen sozusagen an ihn nur – die Vögel durften, konnten, wollten sich nicht aufhalten. Es kamen Arten mit unbekannten Tönen durch, Bruno mühte Ohr und Gedächtnis, in dem Stimmendurcheinander zu unterscheiden, was da flötete wie –, piepste wie –, trillerte wie –; eh er eins festgestellt, hatten sich drei andere bemerkbar gemacht – da, ein Weidenlaubsänger! Die Vogelmassen zogen, stoben, ruderten. Sie wurden noch dichter, es schneite schwarze Vögel aus dem Himmel …

Gertrud hatte neben dem Vater am offenen Fenster gestanden; aber diesem war das Erlebnis des Zuges der »schädlichen« Vögel langweilig geworden, er war in den Wirtsraum gegangen und hatte sich zu Gästen gesetzt.

Als es einmal stiller wurde, ging Bruno nach Hause. Mit dem Wissen ist es wie mit der Freude, Teilen verdoppelt. Er traf den Vater nach dem Weggang der letzten Gäste beim Uhraufziehen an – »wenn einem Geschäftsmann die Uhr stillsteht, bleibt sein Geschäft stehen«, belehrte er beiläufig Bruno. Der Sohn verachtete den Aberglauben, aber Kädrich sagte: »Bat't nix, schad't nix, und sicher ist sicher, sagte der Fuchs, da biß er der Gans gleich den Kopf ab.« Bruno frug nach Gertrud; aber der Papa ging durch die von den Mägden bereits aufgeräumte Gaststube und rückte an allen Stühlen – »das hebt am andern Tag die Besucherzahl«, unterrichtete er, obgleich der Eigentümer des Lindenwirtshauses kaum noch auf Gewinn angewiesen war, es war Gewohnheit aus alter Zeit. Bruno wiederholte seine Frage. Er wisse nicht, sagte Papa; habe Kopfweh gehabt; sei wahrscheinlich schlafen gegangen. Da ging auch Bruno mit kurzem Gruße auf sein Zimmer oben im Dachstuhl, den Papa liebte er nicht stürmisch …

Als Gertrud heraufkam, lag das Haus schon in Ruhe. Sie ging hinüber in den Steinbering. Sie hockte sich am großen Tische nieder. Sie starrte ins Dunkel. In der Luft surrten und schwirrten die Vögel wie Insekten.

Ein grauer Fliegenschnäpper setzte sich für eine oder zwei Minuten auf den untersten, armleuchterartig lang hinunter- und hinausgekrümmten und aufwärtsgebogenen kahlen Tiefast des Baumes und gab einen kleinen Ton von sich. »Bist du müde, Vögelein?« frug das Mädchen hinauf. Aber der Vogel flog fort, der Zweig schwirrte ein wenig vom plötzlichen Abstoßen.

Ein Eichkatz ging über den Tisch völlig zur Unzeit – Warum mochte das Tierchen nicht schlafen? Ging der Marder um? – mit wellendem Husch, sprang an den Stamm und fuhr ruckend hoch auf leise an der Rinde kritzelnden Krällchen.

Bruno lag oben im stehenden Fenster der Dachluke. Er konnte durch den kahlen dünnen Wipfel der Linde hindurch- und über Wingert und Land wegsehen, sowie die Finsternis es gestattete. Es war deutlich, daß die sonst ausgeschwärmt ziehenden Vögel in der dunklen Nacht sich über dem Rheintal als Richtweg zu einer Vogelheersäule zusammengedrängt hatten.

»Gertrud, bist du da unten?« rief es plötzlich aus dem Himmel. – »Ja, Bruno«, kam's halblaut zurück, »weck niemand auf.« – »Soll ich herunterkommen?« sagte der Bruder halblaut durch einen Handtrichter.

»Danke, bleib, wo du bist«, antwortete es gedämpft nach einem Weilchen. – »Was tust du?« –»– Ich bin traurig..«

Dick und schwarz unter gewaltigem Trieb, den man hören zu können meinte, ging der Vogelzug.

»Pst … Gertrud, da kommen Wachteln!« … es schwirrte von kräftigen Fliegern … dann wurde es fast still.

Gertrud sann.

Als sie Bruno schon schlafengegangen glaubte, rief es dunkel wieder herab: »Du, der Wachtelkönig!« Da hörte Gertrud einen unbekannten Vogel auffällig rufen, doch die Stimme ging unter zwischen Gezirp und leise erregtem Geschrei der jetzt leicht und fein vorübersirrenden Singvögel aller Art. Dann kamen plötzlich schwer und gleichsam wollig daherschwingend Sperber und Weihe, sie taten den kleinen Vögeln nichts, alle beherrschte die Unruhe, der Wegetrieb, der Zielzug, willenlos scheinender Wollungswahnsinn, Urtrieb, mächtiger im Augenblick als alles …

Fort! Flugs! Weg! Weiter! … Sie meinten Spanien, sie meinten Andalusien, sie meinten Marokko, die Gegend zwischen dem Rif und dem Atlas, dem Kleinen und Großen, sie meinten auch im dunklen Erinnerungsbilde, denn ihr Erdwissen hatte keine Namen, die Gegend, wo es hinter breitem gelbem dürrem Land und Sand wieder grünlich wird und dann grün und zuletzt tief- und naßgrün – sie meinten Tschadsee und Niger – wo am dichten Laub die vielen fetten Käfer hangen, die Bremsen brausen, die Schmetterlinge taumeln und die Mücken sirren … nur fort aus diesen finstern Forsten, dem leblosen langen leeren Land, wo Winde weit und unwirsch wehen und alle Käfer aus Furcht vor Kälte sich verkrochen haben in die Erde …

»Bruno!« gab Gertrud gedämpft mit Richtrufer nun doch hinauf, ein Verlangen nach warmer Menschennähe war in ihr, aber es antwortete nicht mehr von oben. Allein …

»Das altkalte Blut bleibt im Lande«, sagte ohne Zusammenhang vor sich hin das Mädchen, »der Karpfen muddelt sich ein, und der Hecht sinkt auf den Grund, um lange zu schlafen.«

Gertrud stand auf, aber sie ging nicht. Warum sollte sie nicht dastehen? Die Linde stand auch da. Warum sollte sie nicht bleiben? Die Rebstecken blieben auch. Warum sollte sie gehen? Die Karren, die Kotten, die Fässer am Fahrweg gingen auch nicht … O Traurigkeit!

»Man wird bitter im Kummer«, sagte Gertrud zu sich allein und strich eingewehte Haare aus der Stirn, »böse im Leid, elend in der Verlassenheit …«

Willy hatte schon lange gefühlt, daß die Herrin traurig war. Er hatte, als sie saß, ihr einmal die Pfote aufs Knie gelegt. Aber sie hatte es nicht beachtet, vielleicht nicht bemerkt. Da hatte Willy abgelassen.

Endlich ging Gertrud ins Haus und Willy in seine Hütte. Um zwei Uhr erwachte Bruno und trat im Nachtkittel ans stets offene Fenster. Der Vogelzug war vorbei. Der Wind hatte sich gelegt. Sterne glitzerten. Kein Ziehender war mehr zu hören noch zu sehen. Auch die beiden nicht, die, von der gleichen Unrast ergriffen wie die Vogelschwärme, in dieser Nacht ohne Abschied davongegangen waren.

*

 

Der Herbst kam jäh, mit ihm breite Regen. In Büdesheim hinter dem Rochusberg hatten in diesem die Natur irrenden Sommer die Kirschbäume zum zweiten Mal geblüht, aber das Fruchtfleisch der Oktoberernte sprang im Regen auf. Die Brunnen füllten sich, die Rinder rundeten sich aufs neue, die Trockenrisse und klaffenden Fugen, welche die Acker wie mit Lehmsteinen gepflastert hatten erscheinen lassen, schlossen sich, und alles wuchs wieder zusammen zum alten heiligen Land aus Erde. Heidelbeeren im Walde hatte es keine gegeben, die Pilze brachten es in aller Eile noch zu einem kurzen kaltblütigen Sein. Flut kam den Strom herunter, richtete diesen über seinen Krümmungen und den Altwassern wieder aus, hob die erbärmlich auf ihren Flanken liegenden Leichter und Kähne auf und stellte sie wieder gerade aufs Wasser. Die Waldbrände waren auf einmal ausgelöscht, und die Überlandkabel zogen ihre Bäuche von ausgelängtem Kupferdraht ein.

Gertrud ging in den Wald Pilze suchen. Ein weißwolliger dickmustriger, abwechselnd erhaben und hohl gehäkelter Schal hing ihr von den Schultern, die langen Fransen schleiften am Boden. Ihr war nicht fröhlich zumute.

Die Spechtmeise versteckte an den Ost- und Südostseiten der Bäume unter die Rindenschuppen Kerne, und das Eichhörnchen holte eilig Nüsse ein. Alle Beeren waren reif, sie lockten ölig von Eibe, Pfaffenhütchen oder der stachligen Steineiche, sie wollten von Vögeln gefressen werden. Auch ein wenig den Ort zu wechseln wünschte ihr Trieb, es mochte nicht gut sein, wenn ihrer zuviel am alten Platz beisammen stünden, und überhaupt: warum sich nicht ein bißchen verändern?

Gertrud sah das alles, sah es, teilnehmend am Naturleben, aber rieb sich die Stirn.

Die Schweine des Försters von Krummerrück wühlten den Waldboden auf nach Eckern, Eicheln, Pilzen und Schnecken, und die Ziegenherde war ausgegangen, Roßkastanien zu fressen. Ein Zicklein stand zart meckernd neben der Frau. Als diese sich nicht rührte und das Geschöpfchen, dem die Stirn rötlich zu sprossen begann, nicht beachtete, begann das Tierchen, an der Schalfranse zu saugen.

Ach, es war Gertrud Kädrich an diesem grauen Tage übel zumute. Bei bedecktem Wetter atmet die Natur Stille, bei heiterem scheint alles laut zu sein. Sie ging mit leerem Sammelkorb nach Hause.

Miß empfing sie zärtlich. Miß ging ungern aus. Sichherumtreiben überließ sie wilden Burschen von der minderen Herkunft Willys. Willy trieb sich in der Tat herum, lief auch trotz dem Verbote auf die Rheinstraße hinunter, man hatte ihn dort herumschnuppern sehen, zwei Männer, zwei Freunde waren verlorengegangen …

Miß war nicht mit fortgewesen, Pilze suchen. Als die Herrin sich auf den Weg, die Saumranft entlang, gemacht hatte, war Miß hinter ihr hergegangen, ein paarmal stehenbleibend, was die Frage bedeutete, ob man auch nicht zu weit spazieren werde. Bis zum Denkmal ging sie nie, sie scheute sich nicht, wenn man dorthin ausschweifen wollte, am Orte der Gabelung für Rossel und Denkmal sich still und fein zu drücken.

Was sie auch heute getan hatte. Sie hatte sich dann zum Warten in den Weg gelegt, das Näschen in der Erwartensrichtung. Treue hatte sie auf eine geruhsame unaufdringliche Weise, Treue für das Wesen und den Ort, zu denen man aus Gewohnheit oder Pflicht oder Natur gehörte. Wäre sie bei dem Unangenehmen geblieben, der sie im Körbchen gebracht hatte – sie hatte ihn dieser Tage mit etwas weggehen sehen, dessen Bedeutung sie kannte: einem Koffer – so wäre sie dem treu geblieben, obgleich sie es wahrscheinlich noch öfter hätte erdulden müssen, mit dem abscheulichen Rauche angepustet zu werden. Das wäre ja eine schöne Geschichte, wenn man sich die Menschen, mit denen man leben wollte, die Orte, an denen man sein sollte, einfach aussuchen könnte! Besser als selbst zu wählen, würde sein, gewählt zu werden, von der Willkür der Person, vom Zufall des Ortes. Und in keinem Falle durfte Untreue in Frage kommen. Mühselig erschien sie auch ahnendem Empfinden, Mißhelligkeiten und Verdrießlichkeiten zog sie nach sich. Willy hatte nicht die gleiche schlichte vernünftige Auffassung von Treue. Willy gab sich nicht mit dem einmal gegebenen Zustand der Dinge zufrieden. Er forderte die Freiheit, nach seinem Herzen wählen zu dürfen. Willy ging Spur riechen. Er lief in der Früh hinunter vom Berg gegen Mittag, von wo der eine von den zwei Freunden, nach Nacht, woher der andere heraufzukommen pflegte. Natürlich ließ, seitdem das Recht seines Herzens gelten sollte, die alte strenge Auffassung von Pflicht zu wünschen übrig. Und Miß hatte er einmal eifervoll in ihre Pflichten gegen Haus und Ort eingeführt! Als Wachhund hatte Willy zu melden, zu bellen, auch – sei es – zu bollen. (Miß bläffte nur, einmal, zweimal, ganz kurz in der Oberstimme, man sollte hören, wie sehr sich ihr feines Wesen dabei anstrengte, Willy aber boll im Baß.) Willy sah einfach nicht mehr, wenn jemand Fremdes kam – kurzes Gesicht hatten sie beide – er war auf einmal geistig verstört, ohne Zweifel, anscheinend auch gealtert, mager geworden und in der Wolle spröder anzufühlen. Und das alles, weil er nicht hatte treu bleiben dürfen. Nun litt er Schmerzen, Sehnsucht nach Weggegangenen und Weh in die Ferne. Nun gefiel ihm der Ort nicht mehr, an dem er doch glücklich gewesen, das Essen im Napf ließ er stehen, Schelte und Prügel setzte es vom jungen Herrn (der lange Hosen bekommen hatte und sie stolz trug), weil man wieder unten gewesen war … Willys Ausdruck flehte dabei um Erbarmen …

Willy war überschwenglich, vor Zuneigung ausgelassen, maßlos. Die Überschwenglichkeit wird es ihm noch einbringen, daß es eines Tages von ihm heißt, er ist gestorben, verdorben, vielleicht umgekommen …

Schlief Miß? Es war still in der Runde, Liegen verführt …

Doch da hob sie sich auf, erhob sich sogar und sprang auf die Füßchen – war das Willy? War er zurückgekommen? Täglich vormittags war er gegen die Rossel hin verschwunden und erst gegen Dunkelheit heimgekehrt, verdreckt, mit Blätterfetzen beklebt und auch einmal mit einem Stein zwischen den Kiefern. Schön verstört sah er dann aus, leidenschaftlich wirr im Haar und großartig wild in der Gebärde, recht wie ein edler Irrer. War unten gewesen und hatte dann auf der steilsten Linie, der heraushangenden und hechelnden Zunge nach, den Berg durch die Reben genommen, er hatte es Miß während des Einführens einmal vorgemacht … Nein, es war Willy nicht, es war der große Herr Hund des grünen Försters, der in der Ferne vorüberging, Miß meldete vornehm mit kläglichem Stimmchen – der Herr Hund sprang ihr entgegen in wogendem Laufe, aber das schärfste Pfeifchen seines grünen Befehlshabers zwang, ja riß ihn zurück. Miß fand das als in der Ordnung. Sie lag wieder am Boden, das feine Köpfchen auf den zierlichen vorderen Gliedmaßen, und bewegte das nervige Schnäuzchen und gar jeden von seinen beiden Teilen gegen den Wind von Süden …

Von Willy war nichts zu hören und zu sehen. Ob er überhaupt je zurückkehren würde? Willy mit dem stürmischen Herzen verzehrte sich, vergeudete sich, setzte sich aus, einmal wird er sich auch opfern. Wir werden uns nicht wundern, wenn eines Morgens die Hausfrau von dem Manne mit dem zweierlei, dem blau und roten Tuche (das Miß und auch Willy selbst, man wußte nicht warum, immer wieder anbellen mußten), ein Papier bekommen, wenn sie es vor die Augen halten, dann ins Haus stürzen und rufen wird: Papa, Bruno! Willy ist verunglückt, verdorben, gestorben, umgekommen, gefallen!

 

Gertrud setzte sich auf das Sofa und starrte vor sich hin. Fliegen fielen senkrecht von der Decke herunter, unter der sie geklebt hatten. Als das Mädchen gequält in den Kissen wühlte, fand sie darin verkrochene Wespen als Leichen liegen.

Damals, in der Krone zu Aßmannshausen, hatte es begonnen, in der nachmitternächtlichen wilden Stunde, als Christian sagte: »Wie wäre es, wenn wir gingen und ihn herausholten?« Alle hatten ihn verständnislos angesehen, nur in des Doktors Augen hatte es aufgeleuchtet, als er, ohne zu überlegen, zu dem Vorschlag »Ausgezeichnet!« rief. Zwei Freunde hatten sich im Augenblick verstanden. Wollte der Doktor Marokko nicht schon lange kennenlernen? Und Christian – um zu reisen war er von Bellmann weggegangen, das Verweilen in der Heimat der Väter war ihm nur eine Rast gewesen –, ein Zwischenspiel in einem Männerleben, das nach Abenteuer und Ferne, Tat und Gefahr verlangte. Nein, die beiden wollten sich nicht verliegen, und Gertrud hatte opfern müssen, wie sie es kommen sah und nicht abwenden konnte.

Sie seufzte tief auf. War es möglich, daß man trotz ihren Bitten so heimlich und verräterisch sich entfernt und sie allein gelassen hatte? Dann stand sie auf und rief nach Willy. Auch der war fort!

 

Willy war entlaufen. Olbertz, der Bartscherer der verwöhnten Herren der Landschaft, war, vom Pfarrer Bellmann in Aßmannshausen wegfahrend, auf seinem Rade zum Doktor Ney in Rüdesheim unterwegs gewesen. Gertrud war am Abend, um an diesem fürchterlichn Tage der Unruhe und Pein doch irgend etwas zu tun, zu ihm gegangen. Er erzählte ihr, als er ihre aufgelösten Haare, die er auffallend spröde fand, in den Händen hatte, was er von ferne heute vormittag zufällig gesehen: Ein Koblenzer Auto hatte ihn überholt. Ziemlich weit von ihm fort hatte es vor Willy bremsen müssen und halten. Da hatte Willy so gebellt, wie Olbertz es noch nie gehört hatte, und war in den halboffenen Wagen gesprungen. Ein Weilchen war er darin geblieben, dann hatte man den Widerstrebenden – anscheinend selbst widerstrebend, denn Willy war weiß Gott ein schöner Kerl – hinausgesetzt. Man war weiter gefahren – aber da saß Willy auf dem Trittbrett des Wagens. Nun war bei verlangsamter Fahrt eine Tür aufgemacht worden, und Willy war im Auto verschwunden. Diebe hatten Willy entführt, doch, man mußte es sagen, nicht gegen seinen Willen. Der Wagen war südwärts um die Ehrenfelser Ecke gebogen … »Hab' ich Ihnen wehgetan, Fräulein Kädrich, hab' ich gezerrt. Sie verletzt –?«

*

 

Alle Karrenspuren und Weggräben waren vollgeweht mit Laub, der Mühlteich im Bergtal war rot zugedeckt, war laubüberkleidet. Die Erde wurde flacher durch das einebnende Laub und ihr Aussehen ein braunfahles, es kam jetzt nicht mehr aufs Schönsein an. Ein Jedes gab den Wettbewerb auf und ließ sich gehen, ließ sich hangen.

Eines Morgens sah Gertrud im Walde auf der Blöße auch die laubharte Rotbuche leer dastehen. Alle Blätter waren von ihr abgefallen und lagen um die rindenhelle. Es war, wie wenn eine Frau ihre Kleider habe sinken lassen und mit den Füßen in Bausch und Schaum ihrer daliegenden Gewänder zitternd nackt stehe. Gertrud Kädrich fröstelte.

Die Vögel fort, die Kerbtiere und alles andere Kleinzeug verkommen, gestorben, verdorben; die Krähen begannen sich zu Familien und Völkern zu sammeln. Sie gruben an verwesenden Leichen halbverkrochener Mäuse. Geruch von sich auflösendem Getier, verrottendem Laub, zerfallendem Leben war in der Luft, Todesbereitschaft in der Welt und Todeserwarten, und Gertruds dunkles Gedenken folgte zwei vielleicht Todgeweihten …


Geschrieben zwischen den Jahren 1931 und 1937 in Europa, Nordafrika, Südamerika.



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