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Das Gericht kehrte in den Verhandlungssaal zurück, in dem ein vielfältiges Gespräch rauschte wie mäßig bewegtes Meer in den Höhlen der bretonischen Granitküste. Das Eintreten des Gerichtes machte den Pausenlärm des Saales von vorn nach hinten schnell fortschreitend verstummen, ganz hinten drehte sich ein Mann, der den Rücken gekehrt hatte, erschrocken um, als er sich plötzlich allein sprechen hörte.
Das Gericht saß nieder, die Zuhörerschaft saß nieder, die zweite Hälfte des Spieles begann – vor einem Auditorium, das bereits vom Beginn der neuen Verhandlung an sehr erregt war. Der Vorsitzende räusperte sich stark, was heißen mochte: Jetzt kommt der große Augenblick! Jetzt sollt ihr mal was erleben! Mir ist etwas eingefallen! Aber Martial Alba rief donnernd in den Saal hinein: »Der Schurke, der Angeber soll vortreten!«
Der Vorsitzende, der soeben beinahe einen Anfang gefunden hatte, mußte sich dem Angeklagten zuwenden und antworten: »Die Forderung auf Erscheinen der 162 Zeugen ist bereits abgelehnt worden. Und ich mache auch den Angeklagten darauf aufmerksam, daß es unzulässig ist, eine Person, die von Gerichtsseiten im Prozeß benötigt wird, als ›Schurken‹ zu bezeichnen.«
»Ich verlange,« rief Martial, »daß der Schurke, der Hund, der Hundsfott, der uns verraten hat, hervortrete, denn er ist gewiß in diesem Saale!«
Die Mönche in den Bänken der Sachverständigen schrieen auf, sprangen auf, stürzten herab und wollten Martial an den Hals. Das aber konnte das Gericht, mochte es auch selbst über den wilden Angeklagten entrüstet sein, unmöglich zulassen, der Generalvikar forderte Ruhe, rief nach Ruhe, schellte – wirklich kehrten die Mönche in ihre Bänke zurück. Martial aber rief: »Wir sind auf die allergemeinste Weise verraten und vor das Gericht gebracht worden. Während wir, Franzosen wie ihr, aus dem Auslande in unsere Heimat reisen, gesellt sich zu uns ein Mann, Franzose wie wir, Franzose wie ihr, er drängt uns seine Gesellschaft auf, wir sind zu höflich ihn abzuweisen, er regt unser Gespräch an, er schleicht sich in unser Vertrauen, er macht sich Notizen, er lädt uns in sein Haus ein, er gastet uns – – und während wir an seinem Tische sitzen, läßt er die Häscher hereinrufen, die uns fangen. Nie hat ein Franzose an Franzosen, ein Christ an Christen gemeiner gehandelt! Welchen Judaslohn hat er bekommen? Es ist uns unbegreiflich, daß ein französisches Gericht es nicht verschmäht, sich der Angaben eines solchen Nichtswürdigen zu bedienen, ihn auch nur anzuhören.«
Da lachte der Priester Peloquin und sagte zu den Angeklagten: »Ihr redet von Corbeil, meine Freunde, scheint mir? Wißt ihr nicht, daß dieser Corbeil nicht ein 163 gelegentlicher sondern ein berufsmäßiger Judas ist, daß ihn eine geistliche Behörde zu diesem Geschäfte, das sie als gottgefällig bezeichnet, bestellt hat, daß er den Weg von Collonches bis Lyon sozusagen bewohnt, Reisende aushorcht und wie ein Zutreiber für Gasthöfe sie in die Arme des Gerichtes bringt?«
Aufs neue tobten die Bänke, selbst das Gericht fuhr auf, nur Clépier blieb, die Augenbrauen hochgezogen, sitzen, Buatier rief: »Ich verbiete dem Priester Peloquin, ungefragt Aussagen zu machen!«
»Ihr armseligen Richter!« rief Martial. »Was wollt ihr einem mutigen Ehrenmanne verbieten zu sagen, ihr, die ihr an die Stelle der Angeklagten gehört? Wir müßten unsere Plätze wechseln, aber wir als Richter würden darauf verzichten, uns mit solch schmutzigen Geschäften zu befassen und würden euch als Unehrenhaften nicht die Ehre eines Gerichtes erweisen.«
»Der Angeklagte soll hinausgeführt werden,« brüllte Buatier, »und der Henker soll ihm hundert Stockhiebe aufzählen, damit er lernt, die Würde des Gerichtes zu achten!«
Soldaten traten vor, sich Martials zu bemächtigen, aber Martial entriß einem von ihnen die Hellebarde und schwenkte sie, sie an das Ende ihrer fünf Ellen langen Stange fassend, rund um seinen Kopf so um sich, daß die Mönche fauchend wie Katzen unter ihre Bänke fuhren, um ihre Köpfe zu retten, und die Richter von ihren Sitzen an die Wand hinter ihnen zurücksprangen. Peter aber entwand Martial mit einem einzigen Griff die Hellebarde. »Keine Gewalt,« sagte er, »denn alle die das Schwert gebrauchen, werden durch das Schwert umkommen,« erinnerte er. »Ich aber will auch hundert 164 Stockhiebe haben,« rief er dem Gerichte zu, »denn ich teile die Meinung meines Freundes!« – »Ich auch!« rief Peterlein. – »Ich auch!« Bernard. – »Ich auch!« Karl.
Clépier rettete die für das Ansehen des Gerichtes bedrohliche Lage. Er sagte: »Fünfhundert Stockhiebe jetzt austeilen, das ist zu viel. Fünfhundert Stockhiebe und besonders von der Art, die Herr Leducq auszuteilen pflegt, kann dieser in einem Tage nicht leisten. Er wird auch Gehaltserhöhung wegen übermäßiger Anstrengung fordern, und das Gericht müßte sich vertagen. Es ist aber nötig, daß wir bald zu Ende kommen. Wir begnadigen den jugendlichen Übermut, nicht wahr, meine Herren?« wandte er sich an seine Beirichter. »Übrigens hat er in Wahrung berechtigter Interessen gehandelt.«
Der Vorsitzende nickte, denn die von Clépier vorgeschlagene Lösung war sicherlich die beste und dem Ansehen des Gerichtes zuträglichste. Wenn er auch wütend darüber war, daß nicht er, der Vorsitzende, diese Formel gefunden hatte. Er sagte, froh, wieder einmal etwas sagen zu können: »Nach diesem Zwischenfalle schreitet das Gericht weiter und verkündigt seinen gefaßten Entschluß, nunmehr die Anklage auch zu erheben gegen den –«
»Der Angeber soll erst vortreten!« rief Martial mit der Stimme eines die Herde überbrüllenden Stieres. »Wir wollen seine Angaben hören! Er soll sie uns in die Augen wiederholen! Will doch sehen, ob ich die Ratte nicht aus dem Loche locke!«
Es war einen Augenblick ganz still, jeder der Anwesenden fühlte, daß es gewiß das Beste sei, wenn der Zeuge erscheine, mochte es auch gegen die Ordnung des Verfahrens sein, und weil der Ausgang ja sowieso 165 davon nicht beeinflußt werden würde. Clépier raunte es Buatier zu, auch Courrier murrte sein Einverständnis, aber da der Gedanke ja nicht bei ihm geboren war, so machte Buatier Einwände. Einmal mußte er doch seinen Willen haben, und gälte es nur die Bestimmung der Mittagspause. Und wenn man ihm noch viel Schwierigkeiten machen würde – beim heiligen Evangelium! – er würde die Angeklagten freisprechen, denn man war doch Buatier, nicht wahr, und Generalvikar, nicht wahr, und nicht von gestern, nicht wahr, und eine Berufung über den Urteilsspruch eines geistlichen Gerichtes gab es nicht. Und wenn er auch seine Laufbahn sich verscherzte, das erscheint einem in einem Augenblicke nicht gar so wichtig, wo man aller Augen auf sich gerichtet sieht und wo es heißt, in eben diesem Augenblicke sich zu behaupten, sich durchzusetzen und die Würde nicht zu verlieren. Aber es sollte besser für ihn kommen, als er selbst es sich gedacht hatte, er sollte Anwartschaft und Aussicht auf den Erzbischofsstuhl nicht verspielen – dank den Angeklagten: der Kaplan sah sich im Saale um und entdeckte ganz hinten irgendwo unter der Volkstribüne den saubern Herrn Corbeil. Er ging den Saal hinunter, ungestört, denn alle empfanden, daß nur ein von außen kommendes Ereignis das Geschehen im Saale richtig weiter führen könne, und er lud den in der hintersten Bank und hinter seinen Nebenmann sich versteckenden Herrn Corbeil mit folgenden höhnischen Worten heraus: »Kommt doch hervor, Freund Corbeil, kommt doch zu mir, wir beide sauberen Kumpane haben ja schon etliche Männer in den Stock und das Feuer geliefert. Ist denn unser tüchtiger Zollamtsvorsteher nicht mit euch, der, nachdem er die Pässe geprüft hat und 166 während das Reisegepäck revidiert wird, euch durch einen reitenden Boten die Namen der Passierenden in den ›Landsknecht‹ voraufschickt? Nein, er ist scheint's nicht da. Aber wenn ihr auch nicht wie ich die Wollust des Ekels vor unserem bisherigen Geschäfte empfinden solltet und ihn nicht öffentlich bekunden wollt, komme was daraus komme, so sollt ihr doch wenigstens einmal zeigen, was für ein feiner Kopf ihr wart und vorlesen, was ihr in euer famoses Büchlein eingeschrieben habt.« Er trat dabei in die Bank und zog Corbeil am Arme hervor. Sehr erbärmlich anzuschauen kam Corbeil den Saal herauf, sein Merkbüchlein fest in der Hand und mit dieser an sich gepreßt.
Die Studenten wichen aus, als der Elende vorüberkam, und hielten, wie er vor dem Richtertische Halt machte, einen Abstand von ihm, den Verachtung und Ekel abmaßen.
Corbeil war einer von jenen Menschen, schmal, hager und bleich, die sehr genau wissen was sie wollen und ihre Pläne mit Verstand, mit Hartnäckigkeit und oft auch mit Verzweiflung zu Ende führen, die aber immer irgendwie im Verborgenen oder doch Privaten handeln müssen und die ganz und gar kein Geschick haben, etwas zu sagen oder zu tun, wenn sie viele Augen auf sich gerichtet sehen. Ohne Talent für die Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit macht sie unsicher, verwirrt sie, scheint ihren Geist zu verjagen. Sie werden dann verlegen in ihren Bewegungen, sie stammeln, und der Schweiß bricht ihnen aus. Ja es kann sein, daß sie, für Augenblicke wenigstens, die Sprache verlieren und daß sie, die so gefährlich sein können, wenn sie mit Überlegung handeln, hilflos werden wie die Kinder. So stand er zitternd vor 167 dem schwarzgedeckten Tische, und er fühlte, wie kalter Schweiß ihm aus den Armhöhlen die Flanken in Strömen hinablief. Die Wade seines Spielbeins zitterte. Er blätterte mit bebender Hand in seinem Büchlein, zum Umblättern seinen Zeigefinger reichlich in seinem nassen Munde feuchtend.
»Was soll uns sein erbärmliches Büchlein!« rief Peter. »Wir wissen was wir gesagt haben, wir erinnern uns, wann er sich etwas notiert hat, wir können uns denken, wie er das Gesagte mißverstanden und das Mißverstandene mit Bosheit und Dummheit verdreht und zur Anklage zurecht gemacht hat. Es lohnt garnicht, auf die Einfälle solcher Gehirne einzugehen. Ihre Dummheit ist meist noch größer als ihre Bosheit, ob auch diese schon die Berge überragt. Man kann das harmloseste Wort schwer nehmen, jeden Scherz zur Respektlosigkeit stempeln und die logische Verbindung jeder Äußerung lockern, sodaß sie als Unsinn oder Unrecht erscheint. Wir kennen das Verfahren! Wir kennen seinen Geist! Es lohnt nicht, ihm die Ehre der Beachtung zu erweisen! Geist und Vernunft sind immer der Unvernunft und Verdrießlichkeit ausgesetzt wie jede Scheibe einem Steinwurf; die Scheibe kennt die Zerbrechlichkeit ihres besondern nobeln Daseins und wünscht sich kein anderes. Die Buben und Schurken können ja immer nur die individuelle zerschmettern, aber das was eine Scheibe ist, die Kunst sie zu machen, das Bedürfnis sie zu haben können sie nicht vernichten.«
Immer hat Beredsamkeit gewirkt und namentlich bei Franzosen – man hörte nicht nur, man horchte auf das was Peter sagte, er konnte schon sicher sein, in jedem Augenblicke des Prozesses Ohren zu finden, er fühlte es 168 selbst. Er fühlte aber auch, daß es dieser seiner Beredsamkeit, die im Überschwang dahingehend und nicht von Vernunft geleitet sie in die Gefahr gebracht hatte, gegeben sein könnte, wenn sie recht von Vernunft und gar von Zweckmäßigkeit beherrscht und geführt wäre, zu retten was noch zu retten war. Freilich, das war klar, der Ausgang, das Urteil selbst war nicht mehr aufzuhalten, war wahrscheinlich, nein ganz gewiß von allem Anfang nicht aufzuhalten und zu ändern gewesen. Es war res gesta et judicata. Aber die Vollziehung war aufzuhalten, es war möglich, Zeit zu gewinnen. Zeit gewinnen hieß jederzeit viel, hieß, Möglichkeiten gewinnen. Es leuchtete ihm blitzhaft ein, daß nicht nur und vielleicht überhaupt nicht eigentliche Gerechtigkeit in Gerichtsverhandlungen entscheidet, sondern auch und manchmal allein Richtigkeit, mit anderem Worte: Geschicklichkeit. Die Kunst der rechten Verteidigung gewann die Prozesse, nicht die Sache, die Kunst des Anwalts – es war Torheit, sie im Bewußtsein des Rechtes zu verschmähen. Da er hier sein eigener Anwalt war, so galt es also, das Richtige, das Geschickte zu tun, es galt, den Prozeß den Händen der Geistlichen zu entwinden. Es mußte sofort geschehen, in dieser Verhandlung und Versammlung, da dieses famose Gericht ja keine Berufung zuließ. Der Prozeß mußte abgeleitet werden vor dem Urteilsspruche. Da drüben saß der weltliche Vertreter! Da saß er, stumm und unzugänglich, es war zu prüfen, ob er auch unzugänglich sein würde, wenn es nicht mehr um Gottes, sondern um des Königs Sache ging. Die Rettung – vorläufige Rettung, die Rettung des Zeitgewinns! – war allein, aus dem religiösen einen politischen Prozeß zu machen. Er, Peter, führte – laß sehen, Peter, ob du auch imstande 169 bist, im gerechten Falle das Richtige zu tun und dein Schicksal durch deine Geschicklichkeit günstig zu beeinflussen! Das dachte er nebenher, sozusagen in einer Nebenkammer seines Gehirns, während in der Hauptkammer die schönen und glänzenden Worte aufbereitet wurden, die durch das Tor des Mundes in die Welt hinausgingen. Und er sah den Weg! Er flüsterte ein Wort mit Martial, es hieß: »Guter, laß mich machen, unterbrich mich nicht.« Er sagte: »Ich widerrufe, daß ich gesagt habe, die Aussage des Corbeil könne nicht wichtig sein. Mein Freund Martial Alba hat recht, Corbeil soll aus seinem Büchlein vorlesen. Ihr werdet dann hören, Freunde, Richter, Zuhörer, was Furchtbares wir gesagt haben. Wir haben nämlich außer einigem theologisch Erörterbaren, was in dieser Zeit, wo die Theologie eine Straßenunterhaltung geworden ist, wirklich nicht mehr interessieren kann, auch von Frankreich und seiner augenblicklichen Lage in Europa gesprochen, und es ist gesagt worden, daß es besser wäre, wenn der Kaiser Protestant wäre und wenn es nur den protestantischen Kaiser und den katholischen König gäbe, dann hätte der König es nur mit einem Feinde zu tun.« (»Hört! hört!« riefen die Sachverständigen und Mönche, »den katholischen Kaiser Karl möchten die Burschen auch protestantisch wissen!«) »Diese Meinung,« fuhr Peter fort, »ist sogar von unserem braven Corbeil geäußert worden –« (Sturm auf der Sachverständigenbank, Empörung des Gerichtes und auch Corbeils, dem nichts anderes einfiel als konventionelle Entrüstung, der man die Unwahrhaftigkeit ansah). »Aber ich bin etwas ehrlicher als unser Angeber und will sogar zur Entlastung des Zeugen – sit venia verbo – sagen, daß er es gewiß spielerischerweise, nur 170 versuchenderweise, nur um uns aufs Glatteis zu führen gesagt hat« (Beruhigung des Gerichtes und Saales und auch Corbeils, der zwischen Redner und Gericht hin und her sehend diesem mit dem Blicke auszudrücken schien: »Seht ihr es wohl!«) Aber Martial flüsterte Peter zu: »Es ist ja garnicht wahr! Er hat es gemeint!« (Peter zupfte Martial am Rocke.) »Und übrigens, selbst wenn er es ernstlich gemeint hätte, was bedeutet eine gesprächsweise gefallene ideologische Meinung?« (»Seht ihr es wohl!« sagte Corbeils stummer Blick zum Gerichte. »Ideologische Meinung!« murmelte er.) »Wir haben festgestellt, daß es für den König eine schwierige Aufgabe sei, mit dem katholischen Kaiser um politische, nicht um religiöse Ziele zu kämpfen, selbst aber protestantische deutsche Hilfe zu haben, von der er politische Erfolge erhofft, während sie selbst, die protestantischen deutschen Fürsten nämlich, durch ihn, den katholischen König, religiöse, das ist in ihrem Sinne protestantische Ziele erreichen wollen. Und das, während der katholische Kaiser in Deutschland sich mit seinen protestantischen Untertanen um religiöser Ziele, mit dem Könige des gleichen Glaubens aber um politischer willen schlägt. Das gibt ein schwer entwirrbares Spiel, das deswegen schlecht ist, weil es unklar ist, und in der Politik bedeutet Unklarheit immer Gefahr. Unklarheit und Unentschiedenheit ist der gefährlichste innere Feind alles politischen Schaffens und zieht am schnellsten den Mißerfolg herbei, Mißerfolg, der in der Politik immer Verbrechen war. Etwas davon ist in des guten Corbeil« (»seht ihr es wohl!« sagte dieser wieder blickhaft zum Richtertisch, »er sagt: Guter Corbeil!«) »unklarem und beschränktem Geiste« (»Oho!« meinte Corbeil blickhaft zum Redner) »doch Klarheit und Licht geworden, denn es ist nicht schwer, 171 fast ein Kind kann es begreifen. Auf diese also völlig unverfängliche Äußerung hin hat Alba gesagt: ›Es wäre noch aus einem andern Grunde besser. Denn wenn der Kaiser protestantisch wäre, dann wäre die neue Lehre wenigstens in Deutschland gesichert und Deutschland wäre ihr Hort.‹« (»Hört,« rief Corbeil, selbst er fand sich allmählich in Rolle und Öffentlichkeit, und »Hört! Hört!« riefen die Mönchsbänke). »Ja, das gehört nun freilich zu unserm evangelischen Ideal, und wir hier Stehenden haben keinen Grund, es zu verheimlichen. Ich werde noch mehr sagen, und ich ersuche die Herren Mönche, sich an ihren Pulten festzuhalten, damit sie nicht umfallen: Mein Freund Paul Pierre Navières und ich Jean Pierre Escrivain haben gesagt: ›Laßt die neue Lehre nur Erfolg haben! Sie wird die Einheit in Frankreich wiederherstellen. In Deutschland sind schon vier Fünftel, in Frankreich zwei Drittel ihr heimlich gewonnen‹ –«
Die Mönchsbank war toll und rasend, die Geschorenen trommelten mit den Pultdeckeln, um den Redner zu übertönen, und der Saal wogte wie ein See im Sturm. Aber Peter erhob seine Predigerstimme nur um einen Ton höher, als er sagte: »Der Kardinal Guise, Heinrich von Lothringen, hat es selbst gesagt! Hat er es nicht gesagt? Wer weiß in den Geschäften der Politik und dem, was man sich vom Hofe im Volke erzählt, Bescheid?« rief Peter, und sein Auge suchte den Stellvertreter des Königs.
Dieser hatte während der für ihn nicht eben kurzweiligen theologischen Verhandlung in seiner Bank an der Wand unter dem Fenster, an die Mauer angelehnt, gesessen, zugedeckt sozusagen vom Schatten der Wand, und sich sichtlich bemüht, nur »acte de présence« zu üben. Aber 172 Peter bemerkte mit Genugtuung, daß er jetzt seinen Rücken von der Wand löste und, ob er auch noch unbeteiligt blieb, doch sehr aufmerksam geworden war. Aller Augen richteten sich auf den Staatsbeamten. Aber es war ohne Zweifel noch zu früh, ihn schon in die Verhandlung zu mengen, er hätte sich, überrumpelt, noch zurückziehen mögen, darum richtete Peter seine Frage jetzt unmittelbar an Herrn Clépier, er sprach laut: »Herr Richter Clépier, ihr solltet das nicht wissen?«
Aller Augen wanderten von der Langwand und dem Staatsvertreter auf die Schmalwand und Clépier hinüber, der gut unterrichtet in allen Dingen, die auf der Weltbühne, und vielleicht noch mehr in denen, die hinter den Kulissen spielten, nicht anders konnte als die Aussage bestätigen. »Ja,« sagte er, »das hat der Kardinal gesagt, der es wohl wissen muß. Aber,« setzte er mit gefährlichem Blick auf Peter hinzu, »für die Angeklagten ist das nur von Übel. Das legt dem Gericht die Pflicht auf, umso energischer die aufrührerische Bewegung zu unterdrücken und gerade an ihnen der Zeit ein Exempel zu bieten.«
»Wie kann das für uns schlimm sein,« rief Peter sieghaft und fast freudig aus, »da an diesem Gericht und dem was es tun wird ja doch nichts mehr zu ändern und zu verderben ist, denn es kam mit bereits im Geiste geschriebenem Urteil in die Verhandlung. Aber wir stehen hier nicht mehr vor dem geistlichen Gericht des Erzbischofs von Lyon und in einer geistlichen Sache, wir sind in eine weltliche und politische verwickelt, wir haben politisch abweichende und vielleicht gefährliche Meinungen geäußert, und wir verlangen als Franzosen, vor ein Gericht des Franzosenkönigs zu kommen!«
173 Stille. Der ganze Saal drehte sich dem Staatsvertreter zu. Dieser war äußerst aufmerksam aber noch immer abwartend, Peter sah ihn garnicht an, sondern redete weiter und lenkte die Augen wieder auf sich: »Wir haben gesprochen von einer Internationalen, wie sie schon zweimal in christlichen Zeiten da war, zuerst in denen von Charlemagne und dann in denen der Kreuzzüge. Die dritte Internationale hat jetzt die streithafte Kompanie Jesu unter ihrem Kapitän Loyola verkündet –«
»Ein schöner Kronzeuge!« rief der Mönch Hieronymus. »Die heilige Inquisition hat ihn zur Verantwortung vorgeladen!« – »Ja, man sieht, zu welchen Scherzen der Weltgeschichte sich das geistliche Gericht treiben läßt,« antwortete lächelnd Peter. »In der Tat, Loyola hat sich vor der Inquisition verantworten müssen wie wir es tun müssen, die Inquisition ist in seinem Falle aber zur Vernunft gekommen und wird noch in anderen zur Vernunft kommen. Es wäre politisch besser, das haben wir gesagt und das wiederholen wir, besser für Frankreich, wenn außer seiner politischen Einheit, die unser großer König Franz mit soviel Geschick auf französischem Boden wiederherstellt, sodaß auf dem Genfer Tor dieser Stadt der Spruch stehen kann: ›Un roi une loi‹, auch die geistliche wiederhergestellt werden könnte. Da aber nach der Aussage des Lothringer Kardinals Frankreich schon zum größeren Teile hinübergewechselt hat, wäre es da nicht besser, Frankreich wändte sich ganz der neuen Lehre zu, wie Deutschland es fast ganz getan hat, und die Geschäfte des Königs mit dem Kaiser wären rein politische, während sie jetzt durch die Beimengung der religiösen geschwächt werden? Italien und Spanien würden folgen, wenn nicht, so würde bald der Süden vom Norden erdrückt werden.«
174 Aufs höchste gespannt hörte jetzt der Staatsvertreter zu. Diese Dinge waren aus seinem Bereiche, diese Sachen gingen ihn an. Freilich, zum Einschreiten lag für ihn keine Veranlassung vor, das war nur politische Ideologie, die sich da äußerte, es handelte sich nicht um politische Fakta, und an dem Vorwiegen der geistlichen Anklage war nichts geändert. Das sprach sein unbewegtes Gesicht deutlich aus, dessen Blick aber jetzt sichtlich teilnahmsvoll auf Peter ruhte. Doch Peter beachtete es nicht und schien sehr zufrieden, es kam ihm ernsthaft garnicht in den Sinn, aus der religiösen eine politische Anklage zu machen, er wollte nichts weiter, als den Vertreter der politischen Macht hineinmengen. Es würde ihm gelingen, er zweifelte nicht! Er war jetzt zufrieden mit seiner Beredsamkeit, er beherrschte die Lage völlig, er hätte Stunden und Stunden weiter reden können, kein Einwurf würde ihn mattsetzen, kein Eingreifen dieses armseligen Vorsitzenden aus dem Zusammenhang bringen und von der Verfolgung seines Zieles ablenken. Denn sein Ziel war nur ein kleines: nicht Freispruch sondern Zeitgewinn, an zu großen Zielen sind oftmals große Dinge gescheitert. Das große Ziel immer in der Ferne – man muß sich an das nächste halten und schrittweise vorrücken. Hatte Calvin das nicht gesagt? Er fühlte, daß er aller Ohren hatte – ein Redner ist immer auf magische Weise über die Vorgänge in den Seelen der Hörer unterrichtet – namentlich das des königlichen Beamten, er wußte, er dürfe noch stundenlang von politischen Dingen schwatzen, den meisten Hörern waren sie etwas Neues. Aber er wollte es trotzdem kurz machen – die Sonne war schon durch den Saal gewandert, goldener weicher Nachmittagsschein lag jetzt gerade auf ihm – er sprach nur davon, wie der 175 König, mehr und mehr in die internationalen Geschäfte gemengt, Rücksicht auf ein sich ausbildendes internationales Gewissen nehmen müsse und wie er nicht mehr unbekümmert inländische Handlungen ohne Rückblick auf ausländische Wirkungen vornehmen dürfe. Jetzt gleich würde er, Peter, den königlichen Stellvertreter reif haben, aber noch galt es, ihm irgendeine innerliche schöne freie Zustimmung abzugewinnen, noch galt es – er kannte seine Franzosen – dem königlichen Beamten mit irgendetwas Französisch-Königlichem zu schmeicheln. Er sagte (schon schien es, als spräche er nicht mehr in einer Gerichtsversammlung und gar als Angeklagter sondern als freier vir litteratus auf einer Gelehrtentagung): »Ist meinen Hörern nicht das stolze Wort unseres Königs mit der feinen langen Nase« (ein kleiner harmloser Scherz versagt nie seine Wirkung) »bekannt, das er über die europäischen Völker ausgesprochen hat? Ich hörte es in der Schweiz, im Auslande hört man alles etwas früher, und so sage ich vielleicht etwas Neues. Unser König hat gesagt: ›Der deutsche Kaiser ist ein König der Könige, dem seine Untertanen nur gehorchen, wenn er tut was sie wollen; der spanische König ist ein König der Menschen, denn sie gehorchen ihm mit Urteil; der französische aber ein König der Tiere, sie gehorchen ihm blind!‹«
Nun wohl, das war ja nur bedingt eine Schmeichelei für die Franzosen, Ideologen würden darin eine Beleidigung sehen, aber der Instinkt der Franzosen erkannte darin das politisch Wertvolle, sah jene Kraft, die es Frankreich erlauben würde, zuerst zur Verwirklichung eines neu auftauchenden politischen Ideals, des der Nationalität statt der mosaikhaften Feudalität der verflossenen Zeit, und in deren Folge bald zur Vorherrschaft in 176 Europa zu kommen– der ganze Saal lächelte befriedigt. Der ganze Saal, auch das Gericht, auch die Mönche! Der Redner hatte zum ersten Male, wenn auch nur in einem Augenblicke, wenn auch nur in einer beiläufigen Sache, die Herzen und die innere Zustimmung aller auf sich gesammelt. Clépier war entzückt! Clépier sah den Sprecher mit unverhohlener Bewunderung an! Einen solchen Redner durfte man sich gefallen lassen! Ein solcher Prozeß konnte, wenn es nach ihm ging, drei Wochen, drei Jahre dauern, der Glanz der Beredsamkeit und die Kunst der schönen Führung entschädigten für alle Mühen, für die Aufmerksamkeit und die unterbrochene Ruhe auf dem Kanapee. Aber der Redner mißbrauchte durchaus nicht seinen Erfolg, er erwies sich als folgerichtig Denkender und beleidigte nicht das Gericht, indem er etwa aus dessen ernsthafter Beschäftigung eine Angelegenheit der Unterhaltung gemacht hätte. Er sagte nur noch schnell und gleichsam beiläufig – »schnell und nur eben beiläufig will ich,« sagte er, »hier noch ein anderes Wort wiedergeben, das ich auch in der Schweiz gehört habe und das auch wohl noch nicht den Weg hierher gefunden hat. Es handelt vom Widersacher unseres Königs, vom Kaiser Karl, und es heißt: ›Der deutsche Kaiser spricht lateinisch mit seinem Gotte, französisch mit seinen Damen, spanisch mit seinen Rittern und deutsch mit seinen Pferden.‹«
Auch das schmeichelte den Franzosen, natürlich, man lächelte und schmunzelte, denn in Frankreich war man immer überzeugt von seiner eigenen Vortrefflichkeit und von der Minderwertigkeit gewisser anderer. »In der Schweiz wird das Wort – man kennt nicht seinen Verfasser – sehr bemerkt und mit Behagen verbreitet, nun, die Schweiz hat sich in schweren Kämpfen vom deutschen 177 Reiche gelöst und achtet sehr darauf, in politischen Taten und im Urteil der Menschen unabhängig vom Reiche zu sein. Darum wird der König gerade auf das Urteil der Schweizer bedacht sein müssen, die ihm so viele Soldaten liefern, darum wird er sich hüten müssen, ihre Freundschaft zu verspielen oder auch gar nur ihre Empfindlichkeit zu reizen. Die Schweizer aber legen großen Wert auf die akademische Freiheit der Studenten an ihren Universitäten, und sie erkennen geradezu eine Bürgerschaft der Universitäten aller bei ihnen Eingeschriebenen an, eine akademische Bürgerschaft, die irgendwie neben und über der nationalen Bürgerschaft besteht. Nunwohl, wir Angeklagten sind Berner akademische Bürger, wir berufen uns auf das neue Recht dieser neuen Bürgerschaft, deren Festsetzung und Abgrenzung gegenüber der nationalen wir dem Könige überlassen müssen. Wir legen also jetzt schon, vor dem zu erwartenden Urteil, Einspruch gegen dieses Urteil und Berufung an den König ein, damit diesem nicht Ungelegenheiten aus der Verletzung Schweizer akademischer Bürger erwachsen. Der König wird sein Wort in dieser Angelegenheit mitsprechen wollen. Ich rufe den Vertreter des Königs an und auf, unsern Einspruch anzunehmen und unser Schicksal aus den Händen des geistlichen Gerichtes in die des Königs zu legen!«
Donnerschlag! Das Gericht war verstört, die Sachverständigen saßen betreten, der Vertreter des Königs de Tignac erhob sich. Er sagte, bescheiden wie es sich für jemanden geziemt, der sich Bescheidenheit leisten kann: »Der Angeklagte hat recht. Das Gericht mag seinen Urteilsspruch fällen, für die Ausführung aber wird sich die königliche Macht interessieren. Die Ausführung wird 178 aufgeschoben sein bis zum Entscheide des königlichen Willens. Bis dahin nehme ich als des Königs Vertreter die Angeklagten in meine Gewalt.«
Was nun zu geschehen hatte, ging schnell vor sich. Es war gleichsam nur noch eine formale Erledigung des Notwendigen, wenn das Gericht – unter hellem Entzücken Clépiers, der am Nachgenuß der Rede des Angeklagten noch schmeckte und im Urteilsspruch etwas ganz Belangloses und nur so eben Unvermeidliches zu sehen schien, wie daß man nach einem entzückenden Tage schlafen gehen muß – das Urteil verkündigte: »Verurteilung der der Ketzerei Angeklagten zum Tode auf dem Scheiterhaufen. Bei langsamem Feuer,« setzte Buatier verärgert und wütend über den Verlauf des Prozesses aus eigener Machtvollkommenheit hinzu, was garnicht im Urteil stand. Courrier, dem Grimmigen, war es ohnehin recht, und Clépier, dem Feinen, schien es bedeutungslos, ob ein Ketzer einen schnellen Tod fände oder langsam rösten müsse, nachdem er sich durch eine so vorzügliche Rede in Ansehen gebracht hatte.
Das Schicksal des Kaplans Peloquin blieb vorläufig unentschieden. Er wurde aber in geistlicher Haft behalten. Die fünf Freunde wurden in das königliche Gefängnis abgeführt.
Als das Gericht in den Kapitelsaal sich zurückgezogen hatte und Buatier wütend auf und ab ging, sagte Clépier, behaglich in seinem Stuhle sitzend, herrlich angeregt und in der besten Laune: »Ihr seid ein Genie, Herr Buatier, und man muß euch bewundern. Noch niemals sah ich einen Richter, der es so großartig verstand wie ihr, die Dinge nach ihrer eigenen Schwere rollen zu lassen.«
179 »Meint ihr?« sagte Buatier stehenbleibend, denn der Dummkopf entschied nicht einmal selbst, ob das eine Bosheit oder eine Schmeichelei war.
»Bei langsamem Feuer! Ihr habt es gut gesagt,« knurrte wohlgelaunt Courrier, »ihr habt nachträglich meine Zustimmung. Mögen sie rösten und stinken, die Schweine!« Daß das nun ein Lob war, das erkannte auch Buatier sofort, und er drückte dem Kollegen seufzend die Hand. »Ich danke euch, Courrier.« Clépier fältete die feine Nase: »Rösten wie Schweine? Wenn es noch Spanferkel wären –!«
Aber der Kardinal ließ sich hereinführen. Die Kleriker sprangen erschrocken auf und nahmen eine ehrfürchtige Haltung an. Der Kardinal setzte sich, sein papiernes Gesicht verriet hohes Unbehagen, und er sagte mit dünner, fast tonloser Stimme: »Der Ausgang des Prozesses ist nicht nach meinem Sinn. Warum Märtyrer machen? Damit ist nur der neuen Teufelslehre gedient. Ihre Asche wird Samen sein. Ich habe doch gerade deshalb den scharfen Dominikaner, den mir Rom geschickt hat, Matthieu Ory, unter Sachvorwänden nach Paris gesandt, damit er während des Prozesses nicht anwesend sein und ihn führen könne. Und Seine Majestät der König brauchte nicht in das Verfahren der geistlichen Macht hineingemischt zu werden. Die Kirche hat genug an den König verloren. Ich bin unzufrieden mit dem Urteil, meine Herren. Ich hätte ein feineres erwartet. Am besten, es durfte nicht zum Urteil kommen. Aber ich kann nun an dem Spruche nichts mehr ändern.« Er sagte den letzten Satz müde und schien fast darüber einzuschlafen. Sein Hauskaplan aber, aus natürlicher Rivalität gegen die Inhaber der hohen Stellen im Erzbistum und auf 180 die Sache seines unmittelbaren Herrn wie auf die Hausehre bedacht, griff dem Kardinal derb unter den Arm, sodaß er aufwachte. Von seinem Kaplan unterstützt schlurfte er hinaus.
Da war die Bestürzung im Kapitelsaal nicht klein. Courrier stand trotzig in einer Ecke und sah auf einmal dumm aus, selbst von dem Anschein von Geist verlassen, den Zorn immer noch hat. Buatier stand kahlköpfig mit fein rauchendem Schädel in der Mitte des Saales und starrte wie ein getadelter Schuljunge die Tür an, durch die der Kardinal hinausgegangen war. Clépier rieb an einem Flecken auf seiner Sutane und murmelte nach einer Weile: »Da habt ihr es! Seine Eminenz unzufrieden . . .«
Die Studenten wurden aus dem Saale geführt. Ein königlicher Hauptmann und ein Häuflein Soldaten, diese aber ohne Waffen, nahmen sie in ihre Hut. Der Hauptmann hielt es nicht streng und gestattete dem Kaufmann Hans Leyner, der in der Verhandlung den vielbemerkten Zwischenruf gemacht hatte, sich zu ihnen zu gesellen und sie den Weg zum Staatsgefängnis Roanne zu begleiten. Der königliche Statthalter hatte auch den Wunsch ausgedrückt, die Überführung der Gefangenen möchte ohne Aufsehen geschehen, damit der Messebetrieb nicht gestört werde. Denn dieser war in vollem Gange. Die Überführung war eher ein Spaziergang durch die Stadt und wurde es noch mehr dadurch, daß viele Aufenthalte durch das Meßgedränge entstanden. An den Saonekais waren die Buden der Warenmesse aufgeschlagen, und da lag denn nun alles gedeckt oder offen je nach seiner Eigenart, was die Kaufmannsfuhren aus 181 den europäischen Ländern hierhergebracht hatten: Teppiche, Leinwand und Wollgewebe aus den Niederlanden, gesalzene Fische aus den Nordländern, Silber und Gold aus dem spanischen Amerika, Schafwolle, Zucker und Safran aus Spanien. Um die Stände der Safranhändler herum wurde lebhaftes Deutsch gehört. Namentlich machte sich der Augsburger Konrad Rott mit lebhaftem Anpreisen der Ware auffällig, für die er Kommissionär war. »Wie aufgeregt er ist,« sagte Hans Leyner laut, sodaß der Hauptmann es hören konnte, (es galt den Hauptmann in Vertrauen zu wiegen) »wie einer dem das Wasser an der Lippe steht! Er hat alles auf den portugiesischen Gewürzhandel gesetzt und sich darin festgelegt, er spielt eine Rolle auf dem Lissabonner Pfeffermarkte. Aber obgleich das spanische Konkurrenzunternehmen des Kaisers keinen Erfolg gehabt hat, so dürfte es dem Konrad nichts helfen. Antwerpen, für die Seeschiffe zugänglich, verkauft billiger. Die Fugger haben bei der spanischen Molukkenfahrt ihr Geld verloren, den Fuggern macht es nichts, aber dem Unglücks-Rott wird's den Rest geben.«
Italien hatte Majolika und Kunstgewerbe, Möbel und Bilder ausgestellt, Samte und Damaste ausgebreitet, Glasscheiben fehlten nicht, und selbst Marmor war in rohen Blöcken aufgebaut. Gott mochte wissen, wie diese Lasten hierher bewegt worden waren, und wie sie dann noch wettbewerbsfähig sein konnten. Aber französische Bildhauer prüften kennerisch die Blöcke und sahen bereits in ihnen ihre Bildwerke schlummern. Franz mit der langen Nase war ein eifriger Bauherr, seine Schlösser, namentlich das in St. Germain-en-Laye, und die Gärten der Schlösser verbrauchten viel plastisches Werk. 182 Die Italiener boten auch Reis aus der Levante und griechische Rosinen an, und die von ihnen übermittelten türkischen Teppiche fanden mehr Zulauf als die gröberen Gewirke der Flamländer, waren aber wegen des höheren Preises schwerer zu erstehen. Arabische Pferde wurden auch von Italienern ausgeboten, aber die Deutschen nebenan hatten mit ihren Koppeln kleiner ausdauernder ungarischer Pferde mehr Glück im Handel, denn man brauchte eher Arbeitspferde als edle Reittiere. Nur einige höhere Beamte des Königs und ein paar Große des Reiches, die in den stattlichen Schlössern der Loire hausten, Herzöge und Seneschalle, traten als Liebhaber auf. Als Liebhaber für arabische Pferde waren auch einige englische Lords erschienen. Man duldete sie stillschweigend, denn ob auch England, der Erbfeind Frankreichs, mit dem eben erst der hundertjährige Krieg zugunsten Frankreichs zu Ende gebracht war, als einziges der europäischen Länder von der Lyoner Messe ausdrücklich ausgeschlossen war und keine Ware anbieten durfte, als Käufer ließ man sich England natürlich gefallen. Über diese und andere Besonderheiten des Marktes belehrte Hans Leyner die Studenten, und mit leiserer Stimme machte er darauf aufmerksam, daß man trotzdem englische Waren kaufen könne, Kohlen, Zinn und andere Rohstoffe, aber nur durch Vermittlung der Holländer. Die Lieblinge der Messe, Frankreichs und der Lyoner waren offenbar die Deutschen. Gewisse Zollfreiheiten und Freibriefe des Königs gestatteten ihnen, ihre Ware, Metalle, besonders Kupfer und Eisen, worin sie bisher fast das Monopol hatten, das aber durch die neue Einfuhr aus Amerika schwer erschüttert war, Schwefel und Leder, aber auch Fertigwaren wie Waffen und 183 namentlich die Barchent- und Wollstoffe aus Augsburg, doch auch ganze Kleider zum Verdruß aller anderen Nationalitäten billiger auszubieten. Dieses erzählte Hans Leyner alles laut, der deutsche Hauptmann mit dem roten Barte durfte es natürlich hören; aber leiser, sodaß nur Peter es vernehmen konnte, unterrichtete er diesen von seinen Plänen, die er für die Befreiung der Studenten hege. Er habe beim königlichen Statthalter bereits durchgesetzt, daß ihm die Verköstigung der Studenten im Gefängnis gestattet werde, was der Statthalter gern mit Rücksicht auf die Ersparnisse im Haushalte des Gefängnisses, die zum Vorteil seiner eigenen Tasche waren, eingeräumt hatte. Freilich, so mußte Hans Leyner einschränkend bemerken, für den Anfang werde die geistliche Behörde sich ihre Einflußnahme auf die Behandlung der durch sie Verurteilten kaum ganz nehmen lassen, aber das werde, wie der Statthalter gemeint, wohl nur vorübergehend sein. Gegen das Ende des Meßmarktes wurde es stiller, da hatten die deutschen Buchdrucker ihre Stände, da stand der Kaufmann Dillherr, der unter dem Schutze der Messe nur Bücher, deutsche und lateinische Bücher ausbot und die Wollpacken aus seinen Wagen, in denen die Soldaten an der Grenze gestochert hatten, irgendeinem andern Kaufmann überlassen haben mochte. Dillherr erkannte die Studenten und begrüßte sie freundlich aber unauffällig, er flüsterte ein paar Worte mit Leyner. Als Leyner die Studenten wieder eingeholt hatte, wußte er zu erzählen, daß auch Dillherr seine Unterstützung zugesagt, ja angeboten habe. Das Gleiche tat in Eile der Kaufmann Heinrich Stüdel aus Kempten, der nicht so sehr Drucke als vielmehr kostbare Bucheinbände in gepreßtem Leder ausbot. Man hörte alle 184 europäischen Sprachen reden, namentlich französisch und deutsch, viele deutsche Kaufmannssöhne radebrechten französisch, denn sie waren von ihren Vätern und Häusern zum Erlernen der Sprache hierher geschickt. Sie dienten in den Kontoren der Banken, die in den Nebengassen des Marktes in festen Häusern untergebracht waren, ihre Tische für Handwechsel aber in offenen Holz- oder Leinwandbuden auf dem Markte hatten. »Da ist die Bank der Medici, da die der Salviati und die große dort die der Strozzi,« berichtete laut Leyner, »das kleine Geldgeschäft besorgen die Juden.« – »Haben die Fugger auch eine Vertretung hier?« frug Peter. – »Nein,« antwortete Leyner. »Wie sollten sie, sie halten sich vom französischen Markte fern, weil sie sich ja einmal für den Kaiser entschieden haben. Im übrigen haben sie sich sehr in ihren Bergwerken in Tirol, Steiermark und Ungarn festgelegt.« – »Also die Fugger haben keine Vertretung hier,« stellte leise und peinlich verwundert Peter fest. Daher! Natürlich! Weil die Fugger keine Vertretung hier hatten, war der Schuft ihr Agent! Man versteht, man versteht! . . . Aber Leyner, erregt sich umblickend, sagte langsam wie um Zeit zu gewinnen: »Nein, die Fugger – haben keine – Vertretung hier . . .« (leiser): »Wir Deutschen werden sogleich, während euer Einspruch an den König nach Paris geht, auch unsere Reichsstädte veranlassen, sich beim Könige für euch zu verwenden.« (Wieder laut): »Das beste Geschäft außer in Büchern macht man hier in Seide . . .« (Wieder wollte Leyner etwas das Befreiungsunternehmen Angehendes flüstern, aber der Hauptmann schien sich für das beste Geschäft in Seide zu interessieren, und so war Leyner zu seinem Ärger gezwungen, einen kleinen Vortrag über das 185 Geschäft in Seide zu halten): »Die Päpste haben die Seidenraupenzucht mit ihren Italienern nach Avignon gebracht, von wo sie sich in der ganzen Provence und im Mâcon bis weit in die Bourgogne hinein ausgebreitet hat. Maulbeerbäume werden überall gepflanzt« (Peter und Leyner wechselten Blicke, aber noch immer hörte der Hauptmann zu, er mochte neben seinem Kommisdienst kleine Geschäftchen in Seide nicht verschmähen). »Die Seide wird hier eine große Zukunft haben, gerade jetzt ist eine Zählung veranstaltet worden, es gibt schon 1200 Seidenfabriken in Frankreich, allein 100 Webereien sind hier in Lyon, aber fast alle sind in Händen von Italienern.« (Verdammt, da hinten erschienen schon die hohen Mauern von Roanne, der Hauptmann war nicht fortzubringen.) »Die meisten Italiener im Seidengeschäft lassen sich hier, wo sie für sich und ihre Kinder so gute Aussichten haben, naturalisieren . . . hm, ja . . . Auch viele Deutsche lassen sich naturalisieren, hier gibt es schon eine ganze Menge Franzosen mit deutschen Namen, und einige der naturalisierten Deutschen wie Kleeberger und Haußmann sind bereits nach Paris übergesiedelt . . .«
Jetzt mußte sich der rote Hauptmann doch einmal um seinen Zug bekümmern, denn man näherte sich dem Tore des Staatsgefängnisses, und Leyner sagte eilig: »Ihr könnt schreiben an wen ihr wollt, wenn ihr eure Briefe mir sendet, sie werden nicht geöffnet und die Antwort stelle ich euch zu. Auch an Meister Calvin . . .«
Da aber hieß es abbrechen und sich trennen, denn angesichts der Wache des Gefängnisses fühlte der Hauptmann das Bedürfnis, sich in Achtung zu setzen und strenge zu erscheinen. Er kommandierte einige Befehle, die Soldaten ordneten sich und ordneten die Gefangenen, die 186 Zugbrücke rasselte herab, man nahm eiligen und nicht mutlosen Abschied von Hans Leyner. Über die hallenden Bretter der Brücke weg betraten die Gefangenen das hohe graue, mit runden Türmen bewehrte Gefängnis Roanne – nicht hoffnungslos und einigermaßen wohlgemut.