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Nach einiger Zeit hörten sie Hunde bellen und sahen Lichter erscheinen, aber von Häusern war in der völlig finster gewordenen Nacht gar nichts zu sehen. Es war sehr merkwürdig, in ein Dorf ohne Häuser aber mit bellenden Hunden und funkelnden in der Nacht hangenden Lichtern einzumarschieren. Das Dorf »Hundegebell« und »Lichtertanz« hieß in Wirklichkeit Collonches, es war ein richtiges Dorf, die Laterne vor dem »Landsknecht« beschien eine richtige Hausmauer. Auch andere Häuser traten im Scheine der dichter gewordenen Lichter ganz schwach aus der Finsternis in die Körperlichkeit. Es war 90 11 Uhr nachts, der Wirt wollte eben abschließen, als die Studenten von draußen gegen die Tür drückten und ihn durch Klopfen veranlaßten, den schon links herum gedrehten Schlüssel rechts herum zurückzudrehen. »Was wollt ihr?« frug er mürrisch, in die offene Tür und in den Laternenschein tretend. Er war ein sehr großer Mann, mit Hemd und Hose bekleidet, der Bauch trat über den Rand der Hose hinaus, die Hose war mit einem Riemen unter dem Bauche gehalten, und unter dem Schoße, auf den Knien und über den Schuhen beulte sie stark. An den Füßen trug er ausgetretene Landsknechtslatschen. »Was wollt ihr?« frug er wieder. Die Studenten baten um Nachtquartier. »Alles besetzt,« sagte der Wirt grämlich. – »Es ist bekanntlich immer Platz in einem Stall, wo geduldige Schafe sind,« meinte Peter Escrivain. – »Na, dann sucht euch den Platz,« sagte der Wirt. »Aber zu essen gibt's nichts mehr, die Küche ist kalt, die Frau und die Magd sind zu Bett.«
In Gottes Namen! Die Studenten waren zwar rechtschaffen hungrig, sie hatten heute an Wegeleistung auch einiges hinter sich. Der Hotelwirt öffnete die Tür in den großen Schlafsaal. Eine Ölfunzel brannte vor einem Marienbild in der Ecke und gab ein ungewisses Licht. Es standen wohl dreißig Betten in Reihen, mit kleinen Räumen zwischen sich, in dem großen Zimmer. Die Eintretenden fielen über Gepäckstücke, Schuhe und was sonst abgelegt war. Aus verschiedenen Winkeln dröhnte ein furchtbares Schnarchen, hier und da auf den Lagerstätten raunzte, grunzte, murmelte und blies es. Da lag ein Paar in einem Bette. Da lagen Kinder, da lagen Männer – ununterscheidbare Pakete und Haufen 91 von Menschen. Die Luft war dick zum Schneiden. Trotzdem brüllte aus einer Ecke ein Schlafloser: »Tür zu!« Wunderbarerweise war noch ein Bett frei, indem die Kinder, die darauf gelegen hatten, zu ihren Eltern nebenan gekrochen waren. Die Studenten machten aus, daß zwei von ihnen die halbe Nacht im Bette, die zwei anderen am Boden liegen sollten und daß sie nach der ersten Nachthälfte abwechseln wollten. Pierrot zählte nicht mit, Pierrot, der Kleine, sollte die ganze Nacht im Bette liegen. Er legte sich ans untere Ende quer – wenn der Kleine die Beine anzog, konnte er wirklich da unten ordentlich liegen. Kaum lag er auf der warmen Matratze, da schlief er schon. Karl und Bernard legten sich der Länge nach ins Bett (ihre Beine freilich mußten sie draußen baumeln lassen), Pierre Escrivain und Martial Alba als die Ältesten streckten sich am Boden aus. Nach wenigen Minuten schliefen und schnarchten alle fünfe mit allen.
Um vier Uhr krähten die Hähne, und es begann durch die Fenster zu grauen. Martial wurde wach davon, daß ein Mann, der halb bekleidet zu einem kleinen Morgengeschäfte hinausgehen wollte, über seine, Martials, lange Beine stolperte. Denn er und Peter lagen noch am Boden, Karl und Bernard im Bette, aus dem Lagerwechsel war nichts geworden, sie hatten alle wie Hölzer geschlafen.
Die Ölfunzel war am Erlöschen gewesen, mühselig wie in den letzten Atemzügen des Erstickens blakte das Flämmchen aus. Als aber durch die offenstehende Tür, während jener Mann hinausging, ein wenig frische Luft hereinkam, brannte die Lichtflamme belebt im Augenblick hoch auf. Hier und dort im halben Licht 92 ragten nackte Arme, nackte Beine, auch völlig nackte Leiber aus den Decken und Fellen hervor. Im Saale schnarchte, schnorkelte, stöhnte, raunte und träumte es. Es gab einen kleinen zornigen Wortwechsel zwischen dem Hinausgehenden und Martial, Karl und Bernard wachten davon zugleich auf und sprangen erschrocken, als sie das Morgengrauen sahen, aus dem Bette. Sie nötigten Martial und den großen Peter, der kaum wachzurütteln war, an ihre Stellen ins Bett. Peter torkelte nur halb wach hinein, der kleine Peter wachte davon nicht auf, er schlief wie ein Kind oder ein Toter. Ehe Karl und Bernard sich auf dem Boden hinstreckten, gingen sie für einen Augenblick hinaus (eine weiße Wolke von Wasserdampf rauchte aus der geöffneten Tür in die Nachtkühle hinaus) und traten vor das Haus – köstliche Morgenfrische umfing sie. Sie gingen zurück zum Saale – aber als sie die Tür öffneten und die sofort wieder entstehende Wasserdampfwolke und die dicke trübe übelriechende Luft ihnen entgegenschlugen, ließen sie entsetzt die Tür fallen und zogen es vor, den kurzen Rest der Nacht im Freien zu verbringen. Bernard streckte sich auf die Bank vor dem Hause aus und schlief sofort wieder ein, Karl aber, von der Morgenfrische und dem Wunder des heraufkommenden Tages bezaubert, verzichtete auf weiteres Schlafen, ging an den stark rauschenden Brunnen, wusch sich, gurgelte, trank und setzte sich dann auf die Bank Bernard zu Häupten. Er hörte aus den noch nicht recht erkennbaren Ställen der Höfe die Milchstrahlen in die Melkeimer schießen. Der Hirt ging durch das Dorf, tutend auf einem Kuhhorn. Sofort brachen aus allen Höfen und Ställen Kühe, Rinder, Kälber 93 heraus und setzten sich, die Kühe mit schlaffen baumelnden Eutern, gegen die Berge in Marsch. Öfter und immer öfter kam ein Mann verschlafen aus dem Schlafsaale und verschwand um die Ecke des Hauses. Aus den Häusern kräuselte Rauch in die Luft. Allmählich wurde es hell. Aus einem steinernen Hause schräg gegenüber kam der herzige Geruch frischgebackenen Brotes, Karl ging sogleich hinüber und erhandelte Brote, er biß gierig in ein noch warmes, für die Freunde aber legte er Brot zum Verkühlen auf die steinerne Fensterbank. Dann döste er im Sitzen ein wenig vor sich hin und wäre beinahe wieder eingeschlafen – aber er erwachte aus seinem Fastschlafe dadurch, daß Bernards Kopf rhythmisch gegen seinen Hüftknochen stieß, vor Lachen, denn eine Ziege stand am Fußende der Bank und leckte Bernard die bloße Sohle. Bernard setzte sich aufrecht, rieb sich die Augen, gähnte und reckte sich, daß die Gelenke knackten, zog Strümpfe und Schuhe an, dann ging er quer durch eine Schar Ziegen, die aus den Höfen zusammengeströmt mit kleinem Geläut sich um den Gaisbuben sammelten, zum Laufbrunnen hinüber, wusch sich und war nun wie Karl gerüstet. Er ging Käse kaufen und erstand einige Töpfe melkwarme Milch, die beiden Freunde frühstückten und stellten das Frühstück für die anderen auf die Fensterbank.
Die blinkende Lanze des ersten Sonnenstrahls fiel, von einer mächtigen Hand im Osten gesenkt, mit großem Winkel den Himmel bestreichend herab. Die Schornsteine bekamen Sonnenlicht.
Drinnen war die Schlafenszeit vorüber. Immer mehr Leute traten heraus, halb bekleidet und gingen wieder hinein, ganz bekleidet und blieben draußen, ein 94 Mann setzte sich neben die Freunde auf die Bank. Sie sahen ihn von der Seite her an, er war bleich und weichlich, und sie hatten sofort ein Gefühl peinlicher Fremdheit gegenüber dem Fremden. Man wechselte einen Morgengruß, und dabei blieb es. Die Magd kam bloßbeinig und ungekämmt aus dem Hause und holte Wasser am Brunnen – während sie ihre blecherne Wasserkruche unter dem fallenden Strahl füllte und während ein Ton aus der Kruche anstieg, gähnte sie herzhaft und unbekümmert. Sie latschte mit schlappenden Halbpantoffeln ins Haus zurück, bald hörte man in der Küche die Frau mit ihr zanken und hörte, wie der Herd aufgeschürt wurde. Holzkohlengeruch kam durch den Gang heraus. Nach einer Weile erschien auch der Wirt in derselben Hose und im selben Hemd und denselben vertretenen Landsknechtsschuhen, wieder den Hosengurt unter dem Bauch, und hieß die drei Männer ziemlich unwirsch aufstehen, denn er wollte auf die Bank steigen, um das Öllicht in der Laterne auszublasen. Er gähnte gewaltig und tief aus Herzensgrund und riß das Maul auf. Dann rieb er sich die Mundwinkel, denn die taten ihm weh vom Gähnen. Der Sonnenschein reichte schon bis in die Straße herab.
Drinnen herrschte der Lärm des Aufbruchs. Fuhrknechte kamen heraus, gingen nach den Ställen und begannen die Pferde zu tränken, ihnen die Futtersäcke vorzubinden, sie zu striegeln und an die Karren und Wagen zu schirren, die auf einem Platze neben dem Hause aufgefahren waren. Denn die deutsche Messekarawane war auch im »Landsknecht« zu Nacht geblieben. Der Kaufmann, Herr Dillherr, erschien auf der Schwelle, in schöner dicker Pelzschaube und mit einem schön bepelzten 95 Barett auf dem Kopfe. Er ließ sich einen Stuhl hinaus stellen und von einem seiner Knechte den Bart scheren. Auf dem Zeigefinger trug er einen dicken Siegelring.
Frauen kamen, Kinder kamen, schreiend, weinend, quängelnd, und sie waren so unwirsch, wie Kinder morgens zu sein pflegen, junge Mütter suchten einen stillen Winkel, setzten sich auf einen Stein oder Holzstoß und entblößten die Brust, um ihren Säugling zu tränken. Wenn ein Mann vorüber ging, legten sie eine Hand über die Brust. Mönche kamen heraus, schwarze Benediktiner, braune Franziskaner, auch vornehme Theatiner, sie gingen zum Pfarrer in die Kirche, um sich einen Altar für die vorgeschriebene tägliche Messe zu sichern. Ein paar Landsknechte erschienen, einer mit einem mächtigen geflammten Zweihänder, er stellte ihn vor sich hin, dem langen Kerl reichte die Waffe bis vor die Brust, er legte seine Arme auf die nach beiden Seiten fußlang ausgreifende Parierstange und gähnte, gähnte. Ein anderer steckte mit Nadeln die aufgerissenen und zerschlissenen und Lumpen sehr ähnlich sehenden Schlitze seiner roten Hose über der blauen herausschauenden Unterhose zusammen, wobei er das Lied summte:
Es wohnt ein Bauer im Schwabenland,
der hat ein schönes Weib
schi-scha-schönes Weib,
der hat ein schönes Weib.
Und eine schöne Dienstmagd auch
Di-Da-Dienstmagd auch,
die ist dem Bauer sei' Freud.
Er setzte seine Latschen zum Binden der Riemen anstandslos zwischen die Freunde auf die Bank. Die 96 Landsknechte kratzten, wanden sich ein wenig in ihren roten geschlitzten verblichenen Wämsern und schabten sich derart an der inneren Wand ihrer Bekleidung, dann machten sie sich auf den Weg in Richtung Zollstation oder Lyon, denn sie gingen in oder kamen aus Urlaub. Sie schulterten ihre gewaltigen Fäustlinge, indem sie sie sich mit der blanken Klinge auflegten. Aus dem Hause kamen Handwerksburschen, Nonnen, Bauersleute heraus, auch Diplomaten und Kuriere, die ohne mit irgendjemand ein Wort zu sprechen mit geheimnisvollen, nie aus der Hand gelegten Paketen ihre Pferde bestiegen, – und nun erst sahen die Freunde, was alles in der schnarchenden Menschenversammlung gewesen war, was alles in dem Hotel genächtigt hatte. Auch junge und einige schöne Demoisellen kamen – eine von ihnen hatte Karl mit offenem Munde auf dem Bette neben sich liegen sehen: nein, man soll Menschen nicht im Schlafe sehen!
»Und unsere Langschläfer?« sagte Bernard. Wahrhaftig, sie schliefen wie Ernteknechte. – »Den Langschläfer Gott ernährt,« sagte Karl aus der Redeweise seiner Heimat Limousin, aber er polterte nun doch kräftig gegen die Butzenscheiben. Die Fräuleins gingen mit langen Kleiderschleppen auf der Straße vor dem Hause auf und ab, wartend auf das Anspannen der Postkutsche, wartend noch mehr auf das Frühstück, denn es war nicht beizeiten fertig geworden, weil die Magd sich verschlafen hatte und der Herd nicht brennen wollte. Der Fuhrknecht brummte während des Anschirrens im Hinblick auf die langen Schleppen der Damen: »Wer's lang hat, läßt's lang hangen, sagte der Teufel und band sich eine Latte an den Schwanz.« Allmählich aber kam alles in Ordnung.
97 Peter und Martial erschienen endlich, und sogar Peterchen. Peterchen seufzte tief aus der Brust: »Ha ha,« und Peter setzte sich auf die Bank, wo er vom tiefen Schlafe sozusagen erschöpft eine Weile mit übereinandergeschlagenen Armen saß und blöde ins Morgenlicht blinzelte. »Gestern hast du uns schöne Reden vom Frühaufstehen gehalten,« neckte ihn Martial, »und nun – ich glaube, du schläfst noch immer.« – »Ich muß erst wach werden,« sagte Peter, »das dauert ein bißchen. Genesen dauert immer.«
Na gut, auch Peter wurde wach und Peterchen allmählich munter, auch sie gingen zum Brunnen und wuschen sich. Dann frühstückten alle fünf auf der Bank den Käse, das mittlerweile gekühlte Brot und die kalt gewordene Milch mit Behagen. Sie bezahlten dem Wirt für das Quartier jeder vier Heller und rüsteten zum Marsche.
»Könnt ihr reiten?« frug der deutsche Kaufherr, an sie herantretend und sie formlos anredend. »Ich hörte im Zoll, ihr geht nach Lyon. Auch ich. Ich habe genug Pferde, die leer laufen. Ich lasse sie satteln und gebe euch die Pferde, denn ihr scheint mir ehrliche Leute. Ich sehe nämlich auch für mich einen Vorteil darin, wenn die Pferde einen Tag früher in Lyon ankommen, damit sie sich ein wenig ausruhen können, ehe ich sie auf die Messe bringe, denn ich mit meinen Wagen werde gerade mit Messeanfang eintreffen.«
Nun ja, ein wenig konnten sie reiten, und die gute Gelegenheit mochten sie gerne nutzen. »Und unsern Puppenmatz binden wir auf dem Sattel fest,« spottete Martial mit Hinsicht auf Peterlein.
Schön, sie bekamen die Pferde, gute kleine ungarische und größere dänische Pferde. Die Rosse waren sanft, und man konnte sich ihnen anvertrauen.
98 Alles rüstete zum Aufbruch, die Burschen ritten mit einigem fröhlichen Halloh die Dorfstraße hinaus. »Freilich, auf dem Pferderücken ist das ein anderes Reisen,« meinten sie untereinander. »Vielleicht kommen wir zu Pferde heute Abend schon nach Lyon.« Die Pferde waren munter und hatten einen guten Schritt. Die Morgensonne eroberte die ganze Landschaft und sog die letzten Nebel aus den Gründen ab. Neben den Reitenden rauschte die Rhone, nun nicht mehr ein grüner und ein weißer Streifen nebeneinander sondern die Wasser trübe gemischt. Es war sechs Uhr.
Bald hinter Collonches holte sie ein Reiter ein, jener Bleiche und Weiche, Lange und Schmale, der neben Karl und Bernard auf der Bank gesessen hatte. Karl, der als letzter ritt, hörte den Hufschlag eines Pferdes, drehte sich im Sattel zurück und dachte, als er den Menschen sah: die Schmalen und Langen – machen uns bangen – die Kurzen und Prallen – finden Gefallen – – es war Weisheit des Volkes. Der Fremde kam näher und frug, ob er sich anschließen dürfe. Die Gegend sei nicht sicher vor verlaufenen Soldaten und auch vor Briganten. Die Reisenden sagten: was sie anginge . . . und schickten sich in die neue Gesellschaft. Der Fremde stellte sich vor: »Louis Corbeil aus Lyon, Kaufmann in Seide« – da mußten auch sie sich wohl oder übel vorstellen: »Bernard Séguin, Pierre Navières« – aber Karl fühlte eine so rechtschaffene Abneigung, daß er ganz einfach seinen Namen verschwieg. Er komme aus Genf, so versuchte Louis Corbeil ein Gespräch in Gang zu bringen. Nun ja, wenn man aus Genf kam! Der Eine oder Andere wechselte ein Wort mit dem Lyoner. Möglicherweise war er gar ein Reformierter, 99 aber solche langen und bleichen Menschen haben es schwer, sich in Vertrauen zu bringen. Man ritt recht einsilbig dahin. Die Pferde liebten es auch anscheinend mehr, in Troßkolonne zu gehen, eins hinter dem andern, es kostete immer dem Reisenden Mühe, sein Pferd neben das des Vordermanns zu bringen und dort zu halten. Man mußte auch vorsichtig reiten, der vielbefahrene Weg war nicht in gutem Stande, über die lockeren Steine stolperte bisweilen ein Pferd und wurde eilig vom Reiter hochgehoben. Aber zu dieser Stunde waren die ausgeruhten Pferde rüstig, und die Reisenden brachten schnell eine Meile hinter sich.
Um die Hälfte des Morgens kamen sie in ein Dorf, Saint-Jean-du-four, darin war eine Kapelle, und ein starker Volkshaufen bewegte sich auf der Straße. Mit rotem Kattun ausgeschlagene Bretterbuden, mit Rosenkränzen und allerhand Weihartikeln, auch mit Lebkuchen aus Nancy, Zuckerbohnen aus Verdun und vielerlei Süßigkeiten beladen, ließen sofort erraten, daß man an einem Wallfahrtsorte sei. Kerzen, viele Kerzen, dicke und dünne, hingen als Weihgeschenke zum Verkaufe da, zu Bündeln zusammengefaßt und mit den lang herausragenden Dochten verknüpft, es roch in der Sonne stark nach Lichtwachs. Die Kapelle stand offen. Corbeil unterrichtete die Studenten, daß hier ein sehr berühmter Wallfahrtsort sei, ein ganz besonders berühmter, die Kapelle heiße Getsemane und bewahre allerhand Reliquien aus dem Garten am Ölberge und Erinnerungen an jenes heilige Geschehnis auf (während er sprach, beobachteten die Studenten sein Gesicht, aber es war nicht herauszubringen, ob er es in seinem Herzen für oder gegen den Ort und seine Bedeutung meine, das Gesicht 100 behielt seine Undurchdringlichkeit). Immerhin, man beschloß abzusteigen und das Heiligtum anzusehen, man war auch vom ungewohnten Sitzen auf dem Pferderücken ein wenig müde. Man band die Pferde an eine Eberesche, hängte ihnen den Futtersack um und stieg den Dorfplatz gegen die Kapelle hinan. Man schaute von ferne schon in eine blauweiße Halle hinein, über dem Eingang war das lateinische Distichon angeschrieben:
Omnia si lustres aliena climata terrae,
non est in toto sanctior orbe locus.
Der Kaufmann frug Martial nach der Bedeutung des Spruches, und Martial übersetzte:
Magst du auch alle Zonen und Himmel der Erde durchlaufen,
heiliger findest du nicht auf der Welt einen Ort.
»Nun ja, soll gelten,« sagte gutmütig der große Peter, und der Kaufmann meinte: »Sehr schön, diese Verse, sehr schön!«
In der Tiefe der Kapelle war bildlich und plastisch, indem die körperliche Szene sich in gemalter Darstellung von Umwelt und Landschaft an der Wand fortsetzte, in lebensgroßen Wachsfiguren die Gefangennahme Jesu dargestellt, künstlich beleuchtet, es war eine rechte nächtliche Szene. Die Ölbäume waren trockene richtige Ölbaumstämme, und die Blätter waren täuschend in Papier nachgeahmt. In der Ferne sah man die drei (gemalten) Erzapostel feige davonlaufen, und Judas trat eben an den Herrn heran, um ihn verräterisch zu küssen. Er stand, den Kopf zu den Kriegsknechten hingewandt, und hatte in der Hand ein Täfelchen mit dem Spruche: 101
Nun will ich euch verraten unsern Herrn Jesum Christ,
Der am Kreuz für uns gestorben ist.
Die Studenten schmunzelten, der Geistliche des Heiligtums aber trat heran, um den Fremden die übrigen Kostbarkeiten zu zeigen. Da war in einem Glaskasten das Geld zu sehen, die zwanzig Silberlinge, der Sündenlohn, den Judas, nachdem er den Herrn verraten, empfangen, den Hohepriestern aber in Zorn und Reue hingeschmissen hatte. Da hing auch die Stalllaterne, die der Verräter bei dem nächtlichen Überfall im Garten getragen hatte, und das heruntergebrannte Kerzenstümpfchen war sogar noch darin, worauf der Geistliche besonders aufmerksam machte. Ja die Schwefelhölzer mit abgebrannten Köpfen fehlten nicht, womit die Kerze war angezündet worden! Die heiligen Sachen waren von einem Kreuzritter, dessen Burg noch in der Nähe lag, übers Meer gebracht worden. Ganz gewiß, einen solchen Ort gab es auf der ganzen Welt nicht wieder, und der Geistliche machte es verständlich, daß aus der Leidensgeschichte Christi das Ereignis der Gefangennahme unseres Herrn und Heilands gerade hier in Saint-Jean-du-sour durch den glücklichen Besitz der historischen Gegenstände für ewige Zeiten weiterlebe. »Habt ihr vielleicht auch Haare vom Halspelz des Löwen aus dem Psalm, der ›herumgeht suchend, wen er verschlinge‹, Winterhaare meine ich, denn ein Löwe härt doch jedes Frühjahr?« frug Peterlein übermütig. Aber der Geistliche merkte nicht, daß er zum Besten gehalten wurde, und er sagte: das gerade nicht, aber er habe einen Rest von dem Fette, das vom hl. Laurentius abtropfte, als dieser auf dem Rost gebraten wurde (er 102 zeigte ein Fläschchen vor). »Gut gut!« sagte Martial, »hier gibt es wirklich die kostbarsten Merkwürdigkeiten totius orbis, das muß man lassen, ihr seid glücklich.« Der Geistliche wollte noch einen Zahn der heiligen Maria vorzeigen, aber die Studenten frugen, warum sie den offenbar gesunden Zahn denn nicht mitgenommen habe, als sie in den Himmel aufgefahren sei? Der Geistliche wußte in bezug darauf keinen Bescheid, doch vom Reliquienzeigen heilig erregt, wollte er noch weitere heilige Merkwürdigkeiten vorweisen. Aber die Studenten hatten genug, sie opferten in die Büchsen, die der Kaplan ihnen am Ausgang präsentierte. Und als sie außerhalb des Dorfes wieder ihre Pferde unter sich hatten, lachten sie alle und wie auf Kommando schallend heraus. Auch Louis Corbeil lachte leise mit seinem bleichen Munde, und als er noch gesagt hatte: »Man könnte ein Heiligtum aufmachen und den von Eva angebissenen Apfel vom Baume des Paradieses zeigen, den Adam vor Schreck über den Anruf Jehovas nicht aufgegessen hat, man würde Gläubige dafür finden und sein Geschäft dabei machen« – da hatte er nun also das Vertrauen.
»Ja ja, es wird Zeit, mit diesem Unfug in allen Landen totius orbis terrarum aufzuräumen,« sagte Bernard, und auch Karl fand sich jetzt mit der Anwesenheit des Fremden ab, der sich als einer der ihrigen und einer ihres klaren vernünftigen Glaubens erwiesen hatte. Da sagte der Fremde: »Wenn wir uns dahinterhalten und den Pferden nichts passiert, erreichen wir vor Mitternacht Lyon – ich lade die Herren ein, in meinem Hause Quartier zu nehmen, die Herbergen und Gasthäuser werden ohnedies um solche Zeit geschlossen 103 sein, sie sind auch jetzt zur Messezeit sehr überlaufen und naturgemäß nicht eben billig. Ihr würdet meine Gäste sein.« Womit die Studenten denn wohl einverstanden waren.
Mit der steigenden Sonne wurde es ihnen warm, sie begannen die Knöpfe ihrer Kamisöler zu lösen und die Kragen zu lüften – aber hatte Lösen und Lüften wohl noch einen andern Grund? Sie rutschten auf den Pferderücken in der Hülse ihrer Kleider hin und her, und plötzlich rief Martial: »Wer wettet mit mir? Ich greife dreimal nacheinander in meinen Busen und hole jedesmal und wahllos sechs lebendige Läuse heraus.«
Das war das Wort, Läuse! Keiner hatte gewagt es auszusprechen, denn keiner hatte sich so bloßstellen wollen, im Glauben, er allein habe die Läuse. Sofort sprangen sie von ihren Pferden, sie waren gerade an einer Stelle, wo der Fluß sich nahe an den Weg heranschlängelte, und eine Sandbank war am Ufer. Selbst Corbeil hatte Läuse, aber er ertrug die Pein wie ein Märtyrer, und das gemeinsame Leiden brachte ihn nun völlig in den Verein der Reisenden. Sie sprangen also von den Gäulen (die sofort in den Klee neben der Straße traten, ihn ausrissen und die Kräuter mitsamt dem an den Wurzeln hangenden Ackerdreck gierig fraßen), sie liefen an den Fluß, zogen ihre Hemden über den Kopf aus, und lausten sich. Namentlich in den Nähten saßen die Läuse – die sechs hockten nebeneinander am Wasser nieder, und bald waren sie alle stumm und in behaglicher Rache mit der einen Bewegung beschäftigt, die der eines nähenden Schneiders ähnlich ist: die rechte Hand hob sich rhythmisch vom Hemde – dann flog eine Laus in den Fluß. »Vielleicht können sie schwimmen,« sagte 104 Peter. – »Das können sie wirklich,« wußte Martial, »und wenn sie nach Lyon kommen, kriegt der Inquisitor Matthieu Ory, von dem unser neuer Freund Peloquin im Zollhof erzählt hat, sie ins Hemd.« Man lachte still und vergnügt. Peterchen aber saß nicht am Wasser, er saß auf der Sandbank, er hatte wie ein Kind eine Grube im Sande gemacht. Er sammelte seine Läuse in der Grube, wo sie vom Grundwasser, das die Tiefe der Grube feuchtete, festgehalten wurden; gelang es aber doch einer, den Grubenrand zu erklettern, so fegte Peterlein eine Lage Sand in die Grube und begann auf der neuen Lage wieder Läuse zum Lebendigbegrabenwerden zu versammeln. Als einige hundert Läuse in die Grube gelangt waren, schob er mit beiden Händen Sand hinein, sodaß das Loch gefüllt war, und häufte einen Ehrenhügel darüber. »So,« sagte er, »nun mögen die Papisten zu diesem Hügel mit Leidenswerkzeugen von Märtyrern – das sind wir – wallfahren!«
»Der ›Landsknecht‹ ist bekannt wegen seiner Läuse,« sagte Louis Corbeil, »ich muß oft da kampieren, und jedesmal und trotz aller Vorsicht kriege ich das Ungeziefer.«
Sie ritten weiter, erleichtert von der Qual und recht vergnügt an diesem schönen Morgen, in dieser ansprechenden Landschaft, auf diesen sanften Pferden, auf denen zu sitzen sie sich nun auch gewöhnten, und in der natürlichen Jugendlust, welche reisende junge Männer empfinden müssen, wenn es recht mit ihnen steht. Man machte Scherze, erzählte allerlei Lustiges, und niemand tat sich mehr einen Zwang an.
Sie ritten auf einer unter den Pferdehufen dumpf hallenden Holzbrücke über die Rhone und verließen den 105 Fluß, der sich vor einem Ausläufer des Juras zu einem weiten Bogen nach Süden wandte. Sie ritten geradeaus nach Westen, überquerten den niedrigen Gebirgsstumpf und kamen in offenes flußleeres Land des Weizens und Weines. Pilger, Kaufleute, Soldaten, Kuriere und Agenten – viel eiliges Volk, das sie überholten oder dem sie begegneten. Es ergab sich, daß Corbeil, der Kaufmann in Seide, auch Agent des Hauses der Fugger war. »Der Fugger?« frug Martial, »haben die in Lyon auch eine Filiale? Unterstützen sie nicht die Habsburger gegen das übrige Deutschland? Wie können sie dann in Lyon, auf dem Markte des Königs, eine Faktorei haben, wenn sie Finanzleute der Feinde des Königs sind?« Aber Corbeil meinte, bei Geldleuten dürfe man es nicht so genau nehmen. Freilich, er habe strenge Anweisung, auf keine Anleihe des Königs zu zeichnen, aber es gäbe doch auch sonst mancherlei Geschäfte, Wechsel- und Diskontgeschäfte für Kaufleute. Allerdings, vom großen Börsenmarkte sich entfernt zu halten habe er genaue Vorschriften. Und das mit der Lyoner Fuggerfiliale sei so: Am ersten Börsenplatze der Welt – »jawohl, in Antwerpen«, meinte er zu Martial, der etwas geäußert hatte, hin – habe Fugger bekanntlich das größte Haus, Jakob Fugger, natürlich, sie meinten ganz recht . . . Nun, es sei dann ganz einfach unmöglich, auf den anderen Plätzen nicht vertreten zu sein. Schon allein, um auf den Wechselkurs Einfluß zu haben, auch aus politischen Gründen, wenn es angebracht sei, durch die Drohung, den Wert der französischen Münze zu senken, auf den König einen für Habsburg günstigen Druck auszuüben. Es sei in der Tat rührend, wie die Fugger sich für die Kaiser einsetzten, allen kaiserlichen 106 Unternehmungen stehe ihre Geldkraft zur Seite. Ob das in Tirol oder in Flandern sei, gegen den Türken, die Venediger Republik oder gegen Franz. Es möchte sie wohl interessieren zu hören, daß sie den Schweizer Söldnerführern englische Hilfsgelder über Antwerpen nach Deutschland und Italien überwiesen. Wenn die lange Zeit unbezahlten Söldner den Gehorsam verweigerten, dann sei Fugger des Kaisers Zuflucht. Freilich, er lasse sich dafür bezahlen, der reiche Jakob! Der vorige Kaiser Maximilian hatte sein kaiserliches Tafelgerät nach Augsburg verpfänden müssen: und als er die Maria heiratete, die reiche Maria von Burgund, nicht wahr, und bei dem Hochzeitsmahl vor dem übermütigen und prahlerischen Herzog Karl, seinem Schwiegervater, nicht ärmlich erscheinen durfte, was tat da der Fugger? Nun, er lieh dem Kaiser das verpfändete Tafelgerät nach Wien, treulich, auf ein bloßes Wort hin, das Tafelgerät kam am Tage vor der Hochzeit zu Schiff von Augsburg auf der Donau an und ging am Tage nach der Hochzeit nach Augsburg zurück.
Die Pferde trabten, aber das Gespräch mit dem in Dingen der Weltpolitik so erfahrenen Kaufmann war doch so spannend, daß es auch nicht durch den Trab unterbrochen wurde.
»Geht nicht das Einsammeln der Ablaßgelder auch durch die Fugger vor sich, führen sie nicht ein Ablaßkonto für den Papst und überweisen sie ihm nicht die Gelder nach Rom?« frug Peter ein wenig streng. Darüber wußte nun freilich der Lyoner nicht recht Bescheid, denn das war das deutsche Geschäft und ging ja in Augsburg vor sich. Aber was das französische Geschäft angehe, so könne er versichern, daß dort nichts 107 unternommen werde, was gegen die Sache des neuen Glaubens gerichtet sei. – »Nun ja,« sagte Martial, »das mag sein, aber in Deutschland tun sie genug dagegen. Hutten und Luther sind auf die Fugger nicht gut zu sprechen und geißeln ihr Treiben.« Das möchte alles sein, und er, Louis Corbeil, sei gewiß der Letzte, den mächtigen Finanzmann und Geldkönig und Feind seines eigenen Königs zu verteidigen, aber man dürfe in Geldgeschäften auch nicht zu ängstlich sein, und – das versichere er noch einmal und feierlich – in seiner Lyoner Filiale gäbe es keine finanziellen Transaktionen, die staats- oder kirchenpolitisch, auch von ihrem Standpunkte aus, nicht zu billigen seien. Das bezeuge auch der schöne Friede, den sein Haus, er meinte die von ihm verwaltete Filiale der Fugger in Lyon, mit den anderen deutschen Filialen und Faktoreien der Kleeberger, der Rehle, der Tucher, und wie die Nürnberger, Nördlinger, Rothenburger, Frankfurter Häuser alle hießen, halte. Auch diese Häuser nähmen keinen Anstoß daran, mit seiner Lyoner Firma Geschäfte zu machen und sich gelegentlich in Zeiten starker Kapitalsanspannung während der Tage der großen Messe in Sicherungsanerbietungen, Wechselbeleihungen und sogar Bardarlehen mit dieser zu gegenseitiger Unterstützung zu vereinigen. »Es heißt,« sagte Peter, »daß der Fugger dem Papst sogar die Münze besorgt und daß das aus der römischen Zecca hervorgehende Geld sein Zeichen, den Dreizack, trägt.« Davon wußte nun Corbeil nichts, es sei ihm neu und recht interessant zu hören, sagte er, und er verwunderte sich überhaupt über die große Kenntnis, welche Lausanner Studenten von den Welthändeln und Geldgeschäften hätten. Peterchen sagte: »Kommt euch das bei unserm großen 108 Peter so verwunderlich vor?« Aber Peter, mit einem freundlichen Verweis für Peterlein, bemerkte bescheiden, er studiere halt auch Rechts- und Staatswissenschaft. Doch Corbeil suchte das Gespräch abzulenken, denn es schien, daß es sich auf Gebiete begab, die weiter zu betreten ihm nicht erwünscht sein mochte, und er sagte. »Die Herren müssen mir schon gestatten, wenn ich diesen Gegenstand nun nicht weiter verfolge, denn es ist klar, daß ich die Vorteile meiner Firma wahrzunehmen und infolgedessen über gewisse Dinge Schweigen zu bewahren habe.« Das sahen die Studenten ein, und sie waren einverstanden damit, daß ein Geschäftsmann das Recht habe, sich hinter geschäftliche Grundsätze und Gepflogenheiten zurückzuziehen. »Aber unheimlich ist die Macht immerhin, die das Geldgeschäft in diesen Zeitläufen gewonnen hat, seitdem das viele Gold von Amerika gekommen ist,« sagte Peter, »und der Einfluß, den es auf die augenblickliche ungeheure geistige Bewegung der Welt nimmt, hat etwas Bedrohliches. Es steht zu befürchten, daß deren Reinheit durch das Geld getrübt wird. Und dann wären wir ja soweit wie früher, denn die Vermischung des Weltlichen mit dem Geistlichen ist es ja gerade, was die Zeit und alle Edeldenkenden und auch wir bekämpfen.« Corbeil nickte schweigend, aber Karl, der neben Peter ritt und nicht zu einer vollen inneren Aussöhnung mit Corbeil gekommen war, plinkerte Peter mit dem Auge zu. Und das hieß: Ist es richtig, daß du soviel enthüllst? Peter sagte sich selbst, daß er vielleicht zu weit gegangen sei, aber es war nun einmal heraus, und dieser Herr Corbeil war ein Ehrenmann. Doch nun würde man schweigen. Corbeil, der neben Peterchen vor Peter und Karl ritt und 109 das Gespräch geführt hatte, indem er, ein geübter Reiter, im Sprechen halb nach hinten gedreht und die Hand auf den hinteren Sattelknopf gelegt, geritten hatte, war auch zufrieden, daß dieser Gegenstand verlassen wurde, und so ritt man eine Weile schweigend dahin.
Sie ritten bis Mittag leichten Trab. Bremsen, vom Pferdeschweiß angezogen, schwirrten hartnäckig um sie. Öfter tauchten sie mit ihren Pferden in Herden von Schafen ein, die sich in einer tiefen und dichten Masse durch die Straßenbreite schoben, dann wateten die Pferde bis zu den Knien in Schafen. Vor sich sahen die Reiter die immerzu hopsende Kruppe des vordern und den immerzu nickenden Kopf des eigenen Pferdes. Kam man durch Dörfer, so hallte die Gasse vom Hufschlag, und die Bauern zogen die Mützen, denn man konnte nicht wissen, vielleicht waren das Beamte des Königs. Der Priester eines Dorfes ritt auf einem Schimmel aus – »da haben wir Gottes Wort schwarz auf weiß!« rief Martial.
Sie lachten alle, von Herzen erfrischt. »Unser Martial!« sagte lachend Peter. – »Es kommt alles nur auf die Mode an,« rief Martial übermütig und durch die Anerkennung Peters, dessen Autorität er ebenso gern anerkannte wie er sie trotzdem bespöttelte, in seiner Art sich bestätigt fühlend, »wo es Mode ist, da reitet der Priester auf einem Bullen an den Altar.«
»Der Herr Martial Alba!« meinte nun auch Corbeil loben zu dürfen. Aber darauf schwieg Martial. Er frug sich verwundert, wieso der Mann seinen Beinamen wissen konnte, da auch er es doch ganz einfach unterlassen hatte, sich vorzustellen . . .?
110 An einer Quelle im Walde rasteten sie zu Mittag und verzehrten einiges Mitgebrachte. Der Lyoner entnahm einer Tasse, die mit einem feuchten Leinwandlappen zugedeckt war, gelbes Fett, aus Kuhmilch gewonnen, und strich es aufs Brot. »Butter« nannte er das, es sei das Neueste, ein Senne in Savoyen habe es erfunden. Er gab auch den Studenten Brot mit diesem Aufstrich zu kosten, und sie fanden den Geschmack vorzüglich. »Man müßte einiges Geld daran wenden und dem Senn die Erzeugung für lange Zeit im voraus abkaufen,« sagte Corbeil, »ich glaube, man würde auf dem Markte ausgezeichnete Geschäfte damit machen, das Zeug hat Zukunft.«
Nach der Mittagspause gingen sie eine Weile zufuß, die Pferde am Zügel führend, um sich die Beine zu vertreten, denn sie fühlten sich zwischen den Schenkeln gespalten, und die Knie schmerzten.
Sie kamen auf das Internationale, das sich mehr und mehr bemerkbar mache, zu sprechen. Genf sei eine recht internationale Stadt geworden, als Zufluchtsort, auch als Börsenplatz, sagte Corbeil, und bei Herrn Calvino gehe es wohl von allen europäischen Nationen ein und aus? – »Ja,« sagte Peter.
Das Internationale werde sogar zum Prinzip erhoben. Da habe doch der Baske Loyola die Kompanie Jesu gegründet, deren Hauptmann er sei, sie wüßten wohl davon? Ja freilich, sie wußten davon. Nun dann wüßten sie wohl auch, daß die Ordensregel ausdrücklich jeden Streit über nationale Vorzüge und jede Vergleichung der Nationen nach moralischen und geistigen Werten in den Kollegienhäusern verbiete. Das sei etwas sehr Bemerkenswertes und durchaus Neues. – 111 Nicht so neu wie es aussehe, meinte Peter, im Gegenteil, das Internationale sei etwas Altes und das Nationale sei etwas Neues. Sei nicht die Christenheit unter Charlemagne eine internationale Gesellschaft gewesen, gebunden durch den christlichen Glauben und die lateinische Sprache, ja seien nicht die Kreuzzüge noch internationale Bewegungen gewesen? – »Freilich, freilich,« sagte der Kaufmann, »aber zu einer Zeit, als es noch einen einigen christlichen Glauben gab. Jetzt ist eben die Einheit durch diese von Deutschland ausgegangene Bewegung zerstört.« – »Laßt sie nur Erfolg haben!« rief Peterchen, »sie wird die Einheit schon wiederherstellen! Die Einheit und die Reinheit!« – »Und sie wird Erfolg haben,« setzte Peter mit schlichtem Ernst hinzu. »In Deutschland sind schon vier Fünftel, in Frankreich zwei Drittel gewonnen. Italien und Spanien werden nicht zurückbleiben können, oder der Norden Europas wird den Süden erdrücken.« (Das Pferd des Corbeil zerrte an dem im Arm des voranschreitenden Mannes verschlungenen Zügel, es wollte Wasser abschlagen. Während das geschah, schrieb Corbeil etwas in sein Taschenbüchlein.)
Die Studenten waren, langsamer schreitend, ein wenig vorausgekommen, Karl sagte leise: »Ich weiß nicht . . . der Mann gefällt mir nicht. So ein Schmaler und Blasser . . .« – »Wir sollten unser Vorurteil nicht Herr werden lassen über unser Urteil,« sagte Peter. »Gefallen tut er mir auch nicht – aber gesetzt, er ist Papist, sollen wir dann nicht gerade mit unserer Meinung hervorkommen? Sind wir nicht Missionare? Wollen wir nicht Seelen gewinnen? Dann müssen wir auch wagen uns auszusprechen.«
112 Das war einfach und klar und leuchtete allen ein. Entweder sie waren Missionare, oder sie waren es nicht. Alle gaben mit Worten oder Nicken ihre Zustimmung kund, daß man offen rede. Nachdem man sich einmal so entschlossen hatte, trat eine heiterere Stimmung aus.
Corbeil marschierte mit seinem Pferde auf. »Wir wollen mal wieder aufsitzen,« meinte Martial.
»Sagt, Herr Kaufmann,« fing Peter nach einer langen Weile, während der man scharf und ohne zu sprechen geritten war, als die Pferde von selbst in ruhigen Gang gefallen waren, von neuem zu sprechen an, »warum hält der König mit den deutschen Protestanten, wenn er die Protestanten im eigenen Lande verfolgt?« – »Das mag Gott wissen und der König,« sagte der Kaufmann, »es ziemt mir vielleicht nicht, mich darum zu kümmern. Aber die Lage unseres Königs ist ja auch furchtbar. Habsburg sitzt in Spanien, sitzt in Deutschland, sitzt in den Niederlanden. Habt ihr nicht davon gehört, daß der Kaiser Karl seinen Sohn Philipp mit der englischen Maria verheiraten will? Im Sinne der Papstkirche wird das ja sein, denn dann wird das protestantische England auf einen Schlag wieder katholisch. Habt ihr nicht davon gehört?«
Nein, davon hatten die Studenten nicht gehört, ehrliche Betroffenheit malte sich auf ihren Gesichtern. Corbeil bemerkte es, er sagte: »Ich sehe die Herren davon betroffen. Das zeigt, daß ihr gute Franzosen seid. Nicht wahr, furchtbar! Furchtbar diese habsburgische Umarmung für Frankreich und den König. So völlig umklammert, kann er sich ja kaum noch retten. Mir tut unser armer König leid. Und der Widersinn! Der katholische König muß mit protestantischer Hilfe den katholischen 113 Kaiser bekriegen und der katholische Kaiser seine eigenen protestantischen Untertanen. Der König muß sein Reich zugleich vor der militärischen und der religiösen deutschen Invasion schirmen und muß doch die religiöse Invasion in Gestalt der protestantischen deutschen Kriegsvölker dulden. Ich möchte nicht König sein. Freilich, Metz und die lothringischen Bistümer hat er mit Hilfe der deutschen protestantischen Fürsten erworben, aber wie schafft er sich jetzt die deutsche Hilfe vom Halse? Es wäre wohl besser, der Kaiser wäre protestantisch und der König hätte es nur mit einem Feinde zu tun, der deutsch und protestantisch zugleich wäre.« – »Es wäre auch noch aus einem andern Grunde besser,« sagte Martial, »wenn der Kaiser protestantisch wäre, dann wäre die neue Lehre wenigstens in Deutschland gesichert und Deutschland wäre ihr Hort.«
Da führte Corbeil sein Roß an den Straßengraben außerhalb des Zuges, sodaß der Ritt der ihm Nachfolgenden nicht aufgehalten wurde, zog sein Buch heraus und schrieb eilig etwas hinein.
»Was schreibt ihr da nur immer in euer Buch, Herr Kaufmann?« rief Karl, der sein Tier auch angehalten hatte und schräg zu dem Lyoner zurückblickte. – »Oh, mir fallen gewisse Bestellungen und Zahlen ein, für meine Firma bei ihren Kunden in Genf gesammelt. Die Herren Bankleute in der Grand' rue sind so hitzig und ungeduldig, man kann sich kaum in Ruhe seine Notizen machen, schon sind sie bei einem andern Gegenstande. Ein jeder hat seine besondere Art, sein Gedächtnis zu unterstützen. Entschuldigen die Herren,« sagte er, sein Pferd im Trabe heranbringend und sich nun an das Ende der Kolonne schließend.
114 »Ein jeder nach seinem Spaß, Herr Corbeil!« rief Martial. »Ein jeder nach seinem Spaß, sagte auch der Bauer, da fraß er Hering mit Honig – aber uns gefällt dieser euer Spaß wenig.«
Dieser Tadel verdarb natürlich die allgemeine Stimmung. Man ritt einsilbig.
Auf den Wiesen waren die Bauern bei der Heumahd, und aus den Rebenhügeln klangen die Harken der Winzer, die den Grund um die Weinstöcke lockerten. Es roch auch nach Pferdemist aus dem Weinberge heraus, Burschen und alte Weiber trugen ihn aus Kiepen in den Wingert. Die Sonne war den Reitern allmählich in die Augen getreten, aber da sie im Sinken war, war es nicht lästig, in sie zu blicken. Doch ermüdeten die Studenten sichtlich und sprachen vom Nachtquartier.
»Die Weltlage ist außerordentlich schwierig,« sagte Corbeil, das vorige Gespräch festhaltend (denn dadurch zeigte er, daß er den Tadel nicht nachtrug), »Frankreich ist in einer politischen Situation, in der es nie gewesen ist. Der Kaiser ist ein gefährlicher Feind, ich las neulich von einem gescheiten Manne das Wort: Dieser Karl V. sei der einzige große Kaiser der letzten Zeit und komme gleich hinter Karl dem Großen. Nur gut für uns Franzosen, daß die Deutschen sich selbst zerfleischen. Davon hat Frankreich immer Vorteil gehabt. Aber was werden wird, wenn es Karl gelingt, seinen Sohn, den Spanier, mit der Engländerin zu verheiraten, davor bin ich nicht wenig bange. Frankreich ist umklammert, es muß sich nun einmal Luft machen und von diesem habsburgischen Albdruck befreien. Man sagt, daß der Dauphin Henricus, der ein heller und entschlußfreudiger Kopf sein soll, das klar erkenne und am Hofe die nationale Politik stärke. Er gilt 115 heute bereits als die Hoffnung aller Patrioten.« – »Aber man sagt auch, daß er mit den Hugenotten sympathisiere,« sagte Martial und konnte die Befriedigung darüber in seiner Stimme nicht verbergen. – »Aber man sagt auch,« gab Corbeil schlagfertig und wohlausgerüstet zurück, »daß er gesagt haben soll, die Religion mache ihm keinen Kopfschmerz. Er werde auch wieder katholisch sein, wenn die Politik es erfordere. Er soll gesagt haben: ›Paris ist schon eine Messe wert‹.«
»Ja, das hat er gesagt, Paris ist schon eine Messe wert«, sagten die Studenten nachdenklich.
»In unserm bürgerlichen Leben würde das Charakterlosigkeit genannt werden,« sagte Peter bitter. – »Warum denn nicht auch im politischen?« frug Peterlein, Peter gespannt und fast ängstlich ansehend. – »Sie behaupten, die Politik habe eine andere Moral.«
Nun, das war ja schlimm, man ritt bedrückt.
Martial machte Witze: »Wer mir das Pferd zeigt, braucht mir die Krippe nicht zu zeigen, sagt man zuhause.« – »Was heißt das?« frug Peterlein Martial. – »Nun, es heißt, Kleiner, wo's einen Vorteil gibt, da nimmt man's nicht so genau. Das Pferd frißt was es kriegt.« – »Ach die Politik! Warum ist es in der Welt so schwer?!« sagte Peterlein leise und bang.
Die Sonne ging unter. Man war müde und verstimmt. »Wir nähern uns Lyon,« tröstete der Kaufmann. »Seht mein Roß an, es läuft – es riecht die Krippe.«
Von Süden her näherte sich wieder die Rhone.
Sie kamen in ein Dorf, der Pfarrer ging mit den Bauern aufs Feld. Der Pfarrer rief Corbeil zu: »Nun, Herr Corbeil, schon wieder da? Ihr nutzt die Straße. Und in guter Begleitung, sehe ich?« Er lachte sehr zufrieden.
116 Corbeil warf sofort seinen Reisebegleitern hin: »Ich komme oft die Straße, natürlich. Meine Geschäfte in Genf!« Aber er runzelte, sein Pferd vortreibend, sodaß ihm niemand von den Reisegenossen ins Gesicht sehen konnte, die Stirn und plinkerte dem Pfarrer mit dem Auge zu. Doch der Pfarrer war von guten Erfolgsaussichten seines Geschäftes übermütig und hätte wohl noch weiter verfängliche Fragen gestellt – da kam ihm Corbeil zuvor und frug ihn, wohin er mit seinen Bauern ziehe. »In den Wald,« sagte der Pfarrer, »meine Bauern gehen auf die Bäume. Die Lutherischen, die Gott verdammen möge, halten geheime Zusammenkünfte im Walde ab. Da kann man die Teufel sehen. Die Lichter löschen sie aus, und es sind auch Weiber bei ihnen . . . Halloh, jagt die Schweine!« rief der Pfarrer und lief seinen Bauern nach in den Wald.
»Kaum eine würdige Beschäftigung für einen Pfarrer,« meinte Peterchen. Aber Corbeil fing jetzt lebhaft zu schwätzen an und schilderte ihnen, wie angenehm es für sie bei ihm im Quartier sein werde. Es werde reichlich zu essen geben, seine Hausfrau sei liebenswürdig, und sie bekämen jeder ein Bett und jeder gar eine eigene Kammer. Da würden sie wohl Augen machen. Eingeheizt würde ihnen auch!
Als Folge der kaum noch zu überwindenden Müdigkeit setzte eine verdrießliche Stimmung ein, und jeder hing seinen grämlichen Gedanken nach. Peter überdachte die Wirrnis, in die gerade ihre Zeit gestürzt war, er sagte halblaut und unvermittelt: »Wie steht doch bei Lukas: Meint ihr daß ich hergekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage nein; sondern Zwietracht. Denn von nun an werden fünf in einem Hause uneins 117 sein, drei wider zwei und zwei wider drei, es wird sein der Vater wider den Sohn . . .«
Es wurde dunkel und Nacht. Einige Häuser tauchten auf, die bald versanken, Menschen, die im Dunkel am Straßenrande erschienen und den eilig Reitenden schnell entschwanden. Windmühlen mußten in der Nähe sein, man hörte im stärker werdenden Abendwinde die Leinwand der Flügelbespannung knattern – es war bald völlig finster. Da sahen sie Licht. »Das ist das Genfer Tor!« rief Corbeil. Und sie sahen, von Lampen beleuchtet, am Tore die in Gold strahlende Inschrift:
Un Dieu un roi,
une loi une foi.
»Das hat der König jüngst anbringen lassen,« sagte Corbeil, »es klingt gut für einen Franzosen.«
Ja, es klang gut . . .
Wieso? Aber? Es war doch bekannt, daß im Stadttor von Lyon eine Hauptwache war? Wieso ging es so glatt hindurch? Peter wollte sich Gedanken darüber machen, kam aber im schnellen, vom Führer angeschlagenen Ritte nicht dazu. Und wie merkwürdig, in tiefer Finsternis in eine Stadt kommen! Es geht rechts und links und hin und her, es geht durch Gassen und über Brücken, man ist der Finsternis ausgeliefert und muß sich ganz dem Führer anvertrauen – unversehens hielten sie vor einem Hause. »Wir sind da!« rief Corbeil, sprang vom Pferde und ließ den Klopfer auf das Tor fallen. Dumpfer Hall.
Die Studenten dachten wohl, das Haus eines Lyoner Kaufmanns und Agenten der Fugger möchte größer sein. Im Hofe, der sich vor ihnen öffnete, waren weder 118 Kontore noch Stallungen, die Pferde wurden ihnen aus der Hand genommen und von herausgekommenen Knechten sofort nach auswärts zu einem Roßwirt gebracht. Corbeil mochte schon ein Kaufmann sein, einer der mit irgendetwas und wie es sich trifft handelt und den sehr gefügigen Titel ›Kaufmann‹ trägt. Er mochte schon ein Agent sein, irgendein kleiner Zubringer der dritten oder vierten Ordnung, wie sie der Inhaber einer Faktorei, der Herr Hauptagent, aus fliegenden Außenposten beschäftigt und deren Anstellung und Entlohnung von Betätigung und Glück abhängig sind. Solch ein Mann kann sich natürlich nicht nennen: Agent dritter oder vierter Ordnung, auf Widerruf angestellter und nach dem Erfolge entlohnter Zubringer des Hauptagenten des Hauses der Fugger. Sondern er wird sich, schon aus Gründen der Zeitersparnis, vorstellen als: Agent des Hauses der Fugger. Und er wird von den Augsburgern als von seinem Hause und seiner Firma reden, denn das alles klingt sehr gut und macht ansehnlich. Aber er war ihr Wirt, man mußte sich heute mit seiner abrundenden Großsprecherei abfinden. Es war unmöglich, den Mann zu beleidigen, indem man die Gastfreundschaft jetzt ausschlug, und Hotelquartiere suchen war in finsterer Nacht in unerleuchteter Stadt mit Umständen verbunden. Morgen beizeiten würde man das Haus verlassen. So beratschlagten und beschlossen sie halblaut, unten in einem mit Flußkieseln gedielten leeren Vorflure wartend, da der Wirt voraufgegangen war, um seine Hausfrau zu unterrichten. Sie stiegen dann, von oben angerufen, eine hölzerne Wendeltreppe, in der ein Seil als Handleite hing, hinauf und kamen durch verbaute Räume und Halbräume in den Wohnsaal. Hier empfing sie die 119 Hausfrau, eine Person in mittleren Jahren, in der Eile schnell zurechtgemacht, mit einer eine Elle hohen burgundischen Haube auf dem Kopfe, von deren Spitze Bänder herunterbaumelten. Das Gesicht der Frau war das mancher Geschäftsfrauen, deren Moral der Vorteil ist und die vom Manne jeweils die Anweisung bekommen, wie man sich gegen Gäste des Hauses zu verhalten hat, ein wenig gedunsen und weichlich, nicht ohne Finnenlöcher in der Haut und mit irren glanzlosen und ziemlich gemeinen Augen, Frauen die sehr lebhaft sprechen und mit einer um einen Grad über die Würde hinausgehenden Höflichkeit und Geschäftigkeit um die Gäste besorgt sind. Es waren auch zwei oder drei Burschen da, mit übertrieben gepflegten Haaren und in gesuchter Kleidung der jüngsten Mode, mit nichtssagenden Gesichtern und bereits ein wenig verwüsteten Augen, Agenten oder Zubringer vierter bis sechster Ordnung des Hauses der Fugger, Unteragenten des Agenten der dritten oder vierten Ordnung, aber auch – der Kürze halber – »Agenten des Hauses der Fugger«. Die Hausfrau ließ schnell die Tafel rüsten – es kam offenbar öfter vor, daß Gäste zu nächtlicher Stunde hereingebracht wurden und ihnen rasch aufzutischen war –, Kerzen wurden auf den langen Tisch gestellt, und bald saß die kopfreiche Gesellschaft an langer Tafel zu einem Gastmahl nieder, das trotz der gewissen Unbehaglichkeit dieses Hauses und trotz jener inneren Unstimmung zwischen Gastfreunden und Gegasteten dank dem Burgunderwein und dank dem natürlichen Hunger der Gäste unwillkürlich ziemlich fröhlich wurde und mit Stimmengewirr, Klappern der Zinnteller und dem dumpfen Tönen der Weinkrüglein, wenn man miteinander anstieß, sich bis in den kleinen Rausch eines Stegreiffestes erhob.
120 Da brummte unten das Tor vom Fallen des Klopfers – man sah sich an. Der Gastfreund schien sehr verwirrt und die Hausfrau ob wahrscheinlicher neuer Gäste bestürzt. »Ob dafür aber die Küche noch ausreicht?« rief sie und lächelte freundlich den Gästen zu, was hieß: denn die erstgeladenen sollen durch etwaige neue nicht zu Schaden kommen. »Will doch in der Speisekammer nachsehen . . .« Sie erhob sich von der Tafel und ging schnell hinaus, die Bänder ihrer Haubentüte wehten lang hinter ihr her. Und kam nicht wieder.
Der Gastfreund sagte: »Neue Gäste? Will doch unten mal nachsehen . . .,« nahm eine Kerze vom Tische und ging damit die Treppe hinunter. Man hörte bald viele Tritte auf der Treppe.
Jählings erloschen ein paar Kerzen auf der Tafel. Nur zwei brannten noch und gaben ein notdürftiges Licht. Da fürchteten die Studenten sich.
Im Austritt der Treppe erschienen Bewaffnete. Auch die jungen Agenten des dritten bis sechsten Grades, »Agenten des Hauses der Fugger«, hatten unversehens Waffen und standen wehrhaft an den holzgetäfelten Wänden.
»Lutherische! Verdammte Ketzer!« rief der Führer der hereinbrechenden Rotte, »im Namen des Kardinals de Tournon, Erzbischofs von Lyon, ihr seid verhaftet!« – »Versucht keine Gegenwehr,« sagte ein Mann, aus dem Haufen tretend, ohne Waffen aber mit Stricken in den Händen.
Die Studenten dachten nicht an Gegenwehr. Man band ihnen die Hände auf dem Rücken. Sie wurden einer nach dem andern die Spindeltreppe hinab- und 121 aus dem Hause auf die Straße geführt. Den Gastfreund sahen sie nicht mehr.
Es wurde ihnen verboten zu sprechen. Es war so dunkel, daß sie ihre Gesichter gegenseitig nicht sehen konnten, als sie in einen Fünferhaufen zusammengestellt wurden und Reisige mit Waffen vor und hinter ihnen und ihnen zur Seite Plätze einnahmen. Ein Mann mit einer Laterne stellte sich an die Spitze und einer mit einer Fackel ans Ende der Marschordnung.
»Los!« kommandierte der Führer.
Es ging durch holprige ungepflasterte Gassen und durch Gassen mit Katzenkopfpflaster, um diese und jene Ecke, eine Anhöhe hinan und wieder hinunter, über einen Platz, wo ein Brunnen nächtlich-idyllisch plätscherte, durch den finstern, dumpf hallenden Gang einer gedeckten Holzbrücke, unter der ein Fluß rauschte. Ganz nahe hörten sie ein Wehr brausen. Man sah heimkehrende Bürger durch die Gassen gehen, das Windlicht selbst tragend oder es von einem Diener voraustragen lassend. Aus dem Fenster des einen oder andern schmalen hohen Hauses wurde das Küchenwasser auf die Gasse geschüttet. Sich verfolgende Katzen schrien durch die Straßen, sausten einen Plankenzaun hinauf und schauten oben sitzend mit glühenden Augen auf die Vorübermarschierenden nieder. Hunde zerrten freßbare Dinge aus den Haushaltsabfällen heraus, die sich vor den Häusern aufgehäuft hatten. Die Schar ging eilig, stürzte fast durch die Gassen. Im Lichte der Fackel blitzten die blanken Stahlflächen der Hellebarden. Einzelne Sterne standen über der Gassenschlucht auf der Straße des Himmels. Ohne daß man sich's versah, war man in den Hof eines hohen düstern Gebäudes eingebogen, Soldaten stürzten aus 122 Wachtstuben, sprangen von Pritschen und ergriffen ihre Piken, Fackeln leuchteten in Ringen an den Mauern des Hofes auf – kurz darauf befand sich jeder der Studenten in einer kleinen Zelle.
»Wohl, er hatte recht, der Schurke, wir würden Augen machen! Wir würden jeder eine eigene Kammer bekommen!« murmelte Peter. Er tastete im Finstern, mit den Händen gleichsam sehend, umher, ertastete eine Holzpritsche, legte sich darauf nieder und fiel merkwürdigerweise sofort in tiefen Schlaf.