Josef Ponten
Die Studenten von Lyon
Josef Ponten

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Er erwachte am Morgen und wußte nicht, wo er war. In seiner Studentenbude in Lausanne? Aber nein, da war die Mauer (seine Hand berührte eine Mauer) fein gekälkt, hier aber grob beworfen. War er im Läusehotel von Collonches? Nein, da hatte doch Martial neben ihm gelegen, hier aber (er tastete mit beiden flachen Händen das Lager ab) lag er allein. Aufs neue ermüdet von diesem bißchen Nachdenken schlief er in einem Glücksgefühl darüber, schlafen zu dürfen, wieder ein. Und als er offenbar spät am Morgen (er fühlte es) wieder erwachte, tauchte von neuem die Frage auf: Wo bin ich eigentlich? Er war so glücklich ausgeschlafen, daß die Erinnerung an die glücklichsten Morgen des Erwachens sich einstellte und natürlich auch an die Orte solchen Erwachens: War er bei Peterleins Mutter wieder zu Gast in Cette am heitern Meere? Nein, hier war es zu düster. War er daheim beim Vater in Bordeaux? Nein. Bei den Tanten im finsteren Carcassonne? Auch da sahen so dunkle Festungsmauern zum Fenster herein – plötzlich roch er, daß es furchtbar stank, und an dem Gestank 123 merkte er, wo er war: sein Vorgänger in der Gefängniszelle war abgerückt, ohne den Unrateimer zu entleeren. Und plötzlich fühlte er auch, daß er von dem abscheulichen Gestank Kopfschmerzen hatte, er sprang auf und zum Fenster, hängte sich an die Stäbe und atmete die reine, am unteren Fensterrande hereinströmende Luft. Er fühlte sich eine Weile davon so glücklich wie noch nie in seinem Leben.

Schlüssel rasselten, die Tür wurde geöffnet, der Aufseher trat herein. Er brachte Brot und einen Krug. Der Aufseher war ein älterer und nicht ganz unmenschlich aussehender Mann, er sagte: »Gefangener, hier ist das Frühstück.« – »Schafft mir um Gotteswillen den Eimer fort!« bat, flehte Peter. – »Das Eimerfortschaffen ist Sache der Gefangenen,« sagte der Wärter, »und ihr dürft die Zelle noch nicht verlassen. Das Schwein von Vorgänger hat seinen Eimer nicht entleert.«

Peter stürzte in die Knie vor dem Manne, rang die Hände und beschwor ihn: »Schafft mir den Eimer fort! Um der Liebe Christi zu den Menschen willen, guter Mann, schafft mir den Eimer fort!«

Der Wärter setzte sich auf die Pritsche, er empfand wie jeder Gefangenenwärter Neugier zu erfahren, warum der neue Gast seiner Obhut überwiesen sei. »Warum seid ihr hier?« frug er.

»Schafft mir den Eimer fort! Schafft mir den Eimer fort!« rief, schrie Peter, kroch auf den Knien näher und umfaßte die Beine des Mannes. »Ich werde wahnsinnig, wenn ihr nicht den Eimer fortschafft!«

»Mein Gott,« brummte der, indem er aufstand »wer wird denn so empfindlich sein . . .,« aber er trug den Eimer fort. »Sicher aus guter Familie, ein feiner 124 Mann.« Er ließ sogar, aus seiner Ordnung gebracht durch das ihm ungewohnte Geschäft, die Zellentür offenstehen. Peter dachte keinen Augenblick daran, daß die offenstehende Tür für ihn vielleicht ein Vorteil sein könne, er bemerkte nur, daß durch das Offenstehen Zugluft entstand, die Zelle bald von den Gerüchen entleert wurde und gute! schöne! reine! köstliche! herrliche! Luft, Himmelsluft, Gottesluft den Raum erfüllte. Davon war er so glücklich . . . er saß auf der Pritsche in der Zugluft, die Augen geschlossen und genoß das Glück der Luft in tiefen Zügen, berauscht, fast besinnungslos vor Glück.

Der Wärter kam zurück und sah, daß er die Tür offengelassen hatte. Er stürzte erschrocken die Stufen herab in die Zelle herein – als er aber den Gefangenen still und glücklich auf der Pritsche sitzen sah, fühlte er in seinem Herzen aus Dankbarkeit sofort Zuneigung zu dem jungen Manne entstehen. »Ich danke euch, guter Mann,« sagte Peter, »ich danke euch, ihr seid gut . . .«

»Es wird Zeit, daß ihr euch zum Verhör bereitmacht,« sagte der Aufseher, »die Herren versammeln sich schon. Ihr werdet bald dran sein. Es ist außer euch fünfen gestern niemand eingeliefert worden, und ihr als der Älteste kommt wahrscheinlich zuerst dran. Es ist wichtig, daß ihr einen klaren Kopf habt und bei Kräften seid. Vom ersten Verhör hängt viel ab. Drum eßt ein wenig von dem Brote, und ich habe so reichlich Wasser mitgebracht, daß ihr mit dem was ihr nicht trinkt euch Gesicht und Hände waschen könnt. Es erfrischt. Vom ersten Verhör hängt viel ab, sage ich euch! Ich sage euch aus meiner Erfahrung: das erste Verhör ist das wichtigste! Schon wie ihr zu den Herren in den Saal hereinkommt, 125 wie ihr den ersten Schritt gegen den Tisch tut, hinter dem die Herren sitzen, ist entscheidend. Verlaßt euch darauf. Ich habe hundert, tausend zum ersten Verhör geführt – die beim ersten Verhör einen schlechten Eindruck machten, sind alle verurteilt worden. Klopft auch ein wenig eure Kleider und knöpft und hakt alles gut zu. Denkt, es haben jetzt andere Leute euer Schicksal in der Hand.«

»Ich danke euch, guter Mann,« sagte Peter, »möge es euch der Himmel lohnen, ich kann es nicht, aber ich werde alle eure Ratschläge befolgen.« Er nahm einen Mund voll Brot, trank ein paar Schluck Wasser und wusch sich – der Wärter war, die Tür leise hinter sich schließend, fortgegangen. Der Gefangene legte sich dann, erfrischt und seiner selbst froh, sogar wieder auf die Pritsche, um so lange als möglich zu ruhen. Er wollte nachdenken über das, was gestern so plötzlich geschehen war, warum er hier war, was ihm bevorstand, was er antworten, was er sagen und selbst fragen würde, er ordnete seine Gedanken – aber die Natur meinte es besser mit ihm, er schlief wieder ein. Da ging (nach einer kleinen Stunde) die Türe von neuem auf, und der Schließer trat herein. »Es ist Zeit,« sagte er. »Gut, daß ihr noch ein bißchen geschlafen habt. Gebt feste sichere Antworten, seid ruhig und höflich und bleibt, wenn es möglich ist, bei der Wahrheit. Es macht einen guten Eindruck.«

Peter sprang von der Pritsche, ganz ausgeruht und im Vollbesitz seiner Leibes- und Seelenkräfte. Er reckte sich einmal, auf die Zehen tretend und die Arme erhebend, daß die Gelenke knackten. »Ich brauche euch wohl nicht zu schließen,« sagte in fragendem Vertrauen der Wärter. »Auch das macht einen guten Eindruck.« – »Verlaßt 126 euch auf mich, guter Mann,« sagte Peter. Dann gingen sie aus der Zelle.

Jetzt sah Peter, daß das Gefängnis durchaus kein düsteres Gebäude war, wie es ihm in finstrer Nacht, als er durch eine unbekannte Stadt geschleppt wurde und die Schrecken einer Gefangennahme erlebte, erschienen war, es war ein gewesenes Kloster, dieses erzbischöfliche Gefängnis. Sie traten in den Umgang um einen viereckigen Binnenhof, in einen Kreuzgang hinaus, aus dem sich Spitzbogenfenster mit edlem, doch zerfallendem Maßwerk nach dem Hofe öffneten. Der Hof war wüst. Sie schritten über Grabplatten von Mönchen mit gänzlich vertretenen Figuren und ausgelöschten Gesichtern, Gefangene in grauen Kleidern und schwarzen Mützen, an einer Stange zwischen sich Eimer tragend, gingen vorüber, halb neugierig, halb mit der Legitimitätsmiene nach Fug und Brauch Eingesessener den noch in der Kleidung der Welt steckenden und die Anwartschaft auf einen Sitz in diesem Hause durch einen Richterspruch erst erwerbenden Neuling anschauend. Schwalben nisteten in den Gewölben des Ganges, die Alten flogen geschäftig aus und ein, sie steckten Insekten und Würmer in weit aufgesperrte Schnäbel und nackte Vogelhälse, welche die Nestöffnungen schreiend füllten. »Da sind wir«, sagte der Aufseher, »Achtung, drei Stufen!« Er öffnete eine niedrige Tür, und Peter trat in einen Raum hinab, dessen Gewölbe durch eine einzige Säule gestützt war – der frühere kleine Kapitelsaal des Klosters. Da saßen drei Männer. Einer war offenbar der Schreiber, er schnitt mit der Gewichtigkeit des Subalternen, der eine Rolle mitspielen darf, seine Gänsefeder zu. Ein dicker und wohl sehr kluger Herr betrachtete den Gefangenen 127 mit Freundlichkeit und fast Heiterkeit und offenbar in der Absicht, ihm Mut zu machen, und studierte seine Erscheinung. Und ein dritter finsterer war da – er gab sich den Anschein großer Finsterkeit und war bemüht, einen furchtbaren Eindruck zu machen. »Der Herr da ist Herr Buatier, der Generalvikar und Vertreter des Erzbischofs,« flüsterte der Wärter Peter zu, während sie warteten, denn der Generalvikar blätterte in seinen Akten. »Und der andere ist Herr Clépier, Berater Seiner Eminenz, ein guter Herr, macht euch den zum Freunde.« – »Keine Unterhaltung,« herrschte ohne aufzusehen der Generalvikar den Schließer an, der darauf erschrocken in den Hintergrund sprang. Der Generalvikar blätterte sehr aufgeregt und offenbar nur, um sich ein Ansehen zu geben, denn er suchte nichts, in den Akten. Aber der Aufseher benutzte die Gelegenheit, da dem Herrn Clépier das Barett vom Knopfe des Stuhles gefallen war, dieses aufzuheben und indem er es darreichte Herrn Clépier zuzuflüstern: »Ein guter Gefangener . . .«

Jetzt war Herr Buatier mit blättern fertig, er legte die Stirn in Falten, setzte sein Barett auf und würdigte den Angeklagten eines finsteren Blickes. »Wie heißt ihr?« schrie er ihn an. – »Jean Pierre Escrivain.«

Frage: »Woher seid ihr?« – Antwort: »Aus Bordeaux.«

Frage: »Wer sind eure Eltern?« – Antwort: »Mein Vater ist Küster der Stadtkirche, woher ich ein Stipendium habe. Meine Mutter ist gestorben.«

Buatier: »Und dieses Stipendium der Kirche benutzt ihr anscheinend um zu lernen, wie man die heilige Kirche verraten kann?!« – »Sst,« machte Herr Clépier leise, und der Generalvikar merkte, daß er sich vergaloppiert hatte.

128 Frage: »Wo kommt ihr her?« – Antwort: »Aus dem Gebiete der gnädigen Herren von Bern, aus Lausanne.« (Ausgezeichnet! das bedeutete offenbar das freundliche Augennicken des Herrn Clépier.)

Buatier: »Aber ihr seid doch Untertan des Königs und nicht der Herren von Bern?« – Peter: »Das bin ich, Herr.« (Schade! schien das leichte Kopfschütteln des Herrn Clépier auszudrücken.)

Frage: »Was habt ihr in Lausanne getrieben?« – Antwort: »Ich habe dort Gottes Wort studiert mit meinen Kameraden. Und auch das öffentliche Recht. Wo sind meine Kameraden, Herr Untersuchungsrichter?« Der Generalvikar überhörte die Frage und griff die Antwort auf. »Woher wißt ihr, daß es Gottes Wort ist?«

Peter: »Ich weiß es, weil ich lange dort studiert habe und täglich die Predigt hörte. Da habe ich gehört und gesehen, daß sie nichts anderes lehren als Gottes Wort. Und ich glaube es auch selbst, denn der Geist sagt es mir in meinem Herzen. Die alte Kirche nannte es ›die Gnade‹.«

Herr Clépier machte erstaunte Augen und zog die Brauen hoch. Der Generalvikar war durch die Antwort anscheinend verwirrt. Er blätterte wieder ohne Zweck in den Akten und frug dann schnell: »Wie heißt der Häretiker, der in Lausanne lehrt?« – Peter: »Das ist Herr Viret, Herr, ein Genosse des Meisters Calvin.«

»Sprecht solchen Namen in diesem Raume nicht ohne Not aus,« fuhr ihn der Generalvikar an, »und beantwortet nicht mehr als ich euch frage. Viret heißt der Schismatiker« – er schrieb (offenbar um Zeit zu gewinnen) den Namen in die Akten.

129 »Ihr wißt doch, Herr, daß in Lausanne Viret lehrt, warum fragt ihr mich? Und daß er ein Genosse des Meisters Calvin ist, wißt ihr auch.«

Der Generalvikar schlug mit der Hand auf den Tisch. Herr Clépier blinzelte Peter mit dem Auge zu und zeigte leicht mit dem Kopfe nach dem Generalvikar hin, und das konnte heißen: Tu doch einen solchen Dummkopf nicht gegen dich aufbringen, ein so gescheiter junger Mann wie du bist!

Der Generalvikar saß wieder im Sattel und ritt mit der entscheidenden Frage wie mit einer Stoßlanze vor: »Glaubt ihr, daß der Leib Christi im Altarssakramente gegenwärtig ist?« – Peter antwortete: »Nein Herr, in dieser allzudeutlichen und groben Form« – Der Generalvikar blickte ihn an, und Herr Clépier mischte sich mit sanfter Stimme ein: »Sagt nicht ›grobe Form‹, junger Mann, sagt meinetwegen ›allzudeutliche Form‹, und nun fahrt fort.« – Peter verneigte sich ein wenig gegen den Herrn hin und sagte: »In dieser allzudeutlichen Form ist das gewiß falsch. Ich glaube, daß Gott allgegenwärtig ist, also auch im Altarssakramente, doch nur im Glauben, nicht in der Realität. Christus hat mit dem Altarssakramente ein Zeichen eingesetzt, ein Liebesmahl, aber es ist nur sinnbildlich . . .« (Herr Clépier hörte mit zugeneigtem Ohre scharf zu). »Durch die Kraft der Feier und die Weihe der Form, durch das Zeichen des Einnehmens von Brot und Wein begreifen wir sinnfälliger und erleben wir stärker, daß wir Gott in uns aufnehmen können – und wenn wir es stark begreifen und erleben, dann nehmen wir ihn wirklich in uns auf, fühlen wir uns mit ihm vereinigt. Doch immer nur durch die Kraft des Glaubens, immer nur im Geiste.«

130 Buatier donnerte los: »Das sind ja schöne Spintisierereien, die ihr da vortragt! Ihr habt in eurer Sophistenschule gut aufgemerkt, das muß man sagen!«

Peter sagte: »Ich bemerke, Herr Untersuchungsrichter, daß der Schreiber nicht alles aufzeichnet was ich sage, er fährt so über das Papier hin und tut, als schriebe er, aber er scheint nur aufzuschreiben was ihm paßt.« – »Was er versteht,« mischte sich leise Herr Clépier ein, »es ist nicht so ganz einfach, was ihr sagt. Aber verlaßt euch darauf, es ist in unserem Kopfe besser aufgehoben als in den Papieren des Schreibers.«

»Kümmert euch nicht um den Schreiber!« schrie Buatier den Angeklagten an (aber es war deutlich, daß es für Herrn Clépier bestimmt war). – »Es ist mein gutes Recht als Angeklagter,« sagte Peter fest »mich darum zu bekümmern.«

»Also gut,« mischte sich Clépier wieder ein – »es ist besser, Herr Kollege,« wandte er sich halblaut an den Generalvikar, »darauf zu achten, daß die Form ganz gewahrt wird, es gibt sonst Anlaß zu Revisionen, und wir haben es mit einem sehr klugen Burschen zu tun« (aber das für Peter möglicherweise Abfällige dieser Bemerkung milderte er für diesen durch freundliches Zunicken, das als Lob zu deuten war). – »Also schreibt,« sagte der Generalvikar zum Schreiber.

Der schwitzte. Er schrieb fest drauflos, aber es war offenbar Unsinn, was er schrieb.

»Laßt es den Angeklagten dem Schreiber lieber diktieren,« meinte Clépier. »Diktiert, Angeklagter!« Peter diktierte Wort für Wort seine theologische Aussage, die der Schreiber nun freudig und geradezu erlöst niederschrieb, man hörte es den rauschenden Schriftzügen jetzt 131 an, daß Sinn darin war. »Etwas langsamer,« bat er an einer Stelle – so gewissenhaft war er.

Frage: »Glaubt ihr, daß es eine Vergeltung nach dem Tode gibt?« – Antwort: »Das weiß ich noch nicht . . .«

Der Generalvikar schaute lustig und künstlich erstaunt auf und lachte: »Das weiß er noch nicht, der Bursche! Noch nicht! Famos! Wann wird es ihm denn einfallen, und wann wird er so gnädig sein zu wissen?«

»Wenn ich ›noch nicht‹ sagte,« erwiderte Peter ernst und seine Erregung meisternd, »so hieß das: ich habe noch nicht Zeit gehabt, darüber nachzudenken, oder ich bin noch nicht zu einer vernünftigen und gerechten Erkenntnis gekommen. Es braucht nicht alles auf einmal zu werden. Aber es heißt bei Johannes im 3. Kapitel beim 18. Vers: ›Wer glaubt, der wird nicht gerichtet, wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet‹. Im 5. Kapitel beim 24. Vers, wenn ich nicht irre, steht etwas Ähnliches . . .«

»Ja, die Bibelstellen kennen sie, diese Häretiker,« wandte sich Buatier an Clépier, denn es war nötig, nicht den Anschein aufkommen zu lassen, daß Clépier nicht mit ihm einer Meinung sei. »Und: wenn ich nicht irre, sagt er! Wie bescheiden!«

»Ich würde nachsehen, ob es auch stimmt,« sagte Herr Clépier, und Buatier deutete das, als ob Herr Clépier wünsche, daß dem Angeklagten eine Niederlage bereitet werde. Aber Clépier, sicher, daß der Angeklagte sich nicht geirrt habe, dachte vielmehr, dem Generalvikar eine zu bereiten. Buatier griff auch wirklich in die neben ihm liegende Bibel, suchte nach und bekannte: »Stimmt, es ist der 24. Vers. Also wenn es nun gefällig ist,« sagte er jetzt seinerseits freundlich (er hielt es 132 für ratsam, schon im Hinblick auf Herrn Clépier, die Taktik des Verhörs zu ändern, und er mochte auch fühlen, daß er bisher keine glänzende Rolle gespielt habe), »dann antwortet mir weiter: Was haltet ihr von den kirchlichen Zeremonien, Glockengeläute und dergleichen?«

Peter sagte: »Solange wir in diesem Fleische sind, können wir die göttlichen Dinge nicht verstehen und begreifen, wie sie an sich sind, sondern wir haben Hilfsmittel nötig. So sind auch in der Kirche Gottes gewisse Zeremonien nötig. Sinnbilder, zur Verdeutlichung des Unbegreifbaren sozusagen. Man muß an einem bestimmten Orte zusammenkommen, um Gottes Wort zu hören, miteinander zu beten und zu singen. Darum hat Christus auch selbst solche Zeremonien gebraucht und den Aposteln empfohlen, man nennt das: er hat sie eingesetzt. Diese und ähnliche Zeremonien lasse ich gelten . . .«

»Er läßt sie gelten!« rief der Generalvikar in gemachter Heiterkeit und schlug auf den Tisch, »wahrhaftig, er läßt sie gelten! Sehr freundlich von euch, junger Mann, daß ihr sie gelten laßt, und die heilige Kirche hat euch wohl dafür zu danken, wie? Aber,« sagte er, sich jetzt zu Clépier wendend und offenbar froh, eine Gelegenheit zu haben, seine Unparteilichkeit zu beweisen, »es ist etwas daran, was der Angeklagte sagt. Wir können das auch gelten lassen, nicht wahr?« frug er leicht höhnisch. Clépier nickte ohne besonderen Eifer, denn es war klar, daß an dem Gehörten vernünftigerweise nicht zu mäkeln war, er sagte nur: »Das ›lasse ich gelten‹ des Angeklagten hieß so viel wie: ›nach meiner Überzeugung.‹«

133 »Ja, das dachte ich mir auch,« sagte Buatier zu Clépier. – »Na also,« meinte dieser, ins Leere schauend und mit seinen Fingern auf der Stuhllehne trommelnd.

Da sah Buatier, daß er keine Hoffnung hatte, auf Clépier mit dem Geschicke seiner Untersuchungsführung Eindruck zu machen, und er war jetzt bestrebt, wenigstens auf den Schreiber Eindruck zu machen. Er frug diesen: »Habt ihr genau aufgeschrieben, Schreiber, was der Angeklagte gesagt hat?« Der Schreiber behauptete, es genau aufgeschrieben zu haben.

Peter wollte sich das Aufgeschriebene vorlesen lassen, aber da er sah, daß Herr Clépier zum Schreiberpulte hinüberging, sich das Aktenblatt geben ließ, es überflog und ihm dann, in seinen Stuhl zurückkehrend, zufriedengestellt zunickte, ließ er es bleiben. Er sagte: »Ich habe die Zuversicht, daß der Schreiber, dem Sinne und Worte nach, genau aufgeschrieben hat, was ich gesagt habe . . .« und diese erste Anerkennung des Untersuchungsgeschäftes (denn von dem hinter seinem Rücken Vorgegangenen hatte er nichts bemerkt) machte den Generalvikar nun geradezu jovial und fast dankbar, und er sagte, nicht mehr in seinen Akten blätternd sondern das Geschäft menschlich aufziehend: »Soll man also die Heiligen verehren und als Nothelfer anrufen?« – Peter antwortete: »Ich weiß auch da nicht recht, was ich sagen soll, denn ich habe große Verehrung für die Heiligen und namentlich für die Märtyrer, die ihren Glauben mutig vor den ungerechten Richtern bekannt und Gefahr und Tod nicht gescheut haben« (Buatier nickte dumm, denn es kam ihm nicht in den Sinn, sich selbst für einen von den genannten ungerechten Richtern zu halten), »aber ich weiß, daß Paulus im Briefe an Timotheus 134 sagt: ›Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Jesus Christus.‹«

»Wißt ihr vielleicht auch,« frug Buatier, nach der Bibel greifend, lustig und in der angenommenen Rolle eines Lehrers, der einen begabten Schüler prüft, »in welchem Kapitel?« – »Wenn ich nicht irre, im 2. Kapitel beim . . .« – »Nun beim? beim? beim 5. oder 6. Vers?« (er hatte nachgesehen) – »Ich danke euch, Herr: beim 5.!« – »Richtig,« rief Buatier fröhlich aus, »beim 5.! Er weiß es!« (er selbst hatte es nicht gewußt) »Ein begabter Bursche! Ich wünschte nur,« sagte er im deutlichen Hinblick auf den Schreiber, der ein Novize war, »unsere Domschüler und Novizen wüßten in der heiligen Schrift solchen Bescheid wie diese Häretiker.« (Der Schreiber errötete.)

»Quod est demonstrandum.« warf Herr Clépier ein, »wir haben ihm ja erst nachzuweisen, daß er ein Häretiker ist, Herr Kollege.« – »Jawohl, Herr Kollege . . . aber der Nachweis ist doch schon geliefert,« sagte der Generalvikar und wollte hilflos, da er keine andere Saite mehr auf seiner Geige hatte, den Ton des grimmigen Untersuchungsrichters und Polterers wieder annehmen.

»Das ist noch nicht so ganz klar erwiesen,« meinte Clépier, »wir sind ja auch erst Untersuchungsrichter, Herr Kollege.« – »Wollt ihr nicht lieber Latein sprechen?« wandte sich Buatier leise, verlegen und beschämt an Clépier. – »Er würde uns lateinisch, griechisch und hebräisch verstehen,« flüsterte ihm Clépier, doch immerhin so laut zu, daß der Angeklagte es verstehen konnte. »Nicht wahr, ist es nicht so?« frug er diesen offen.

135 Peter antwortete darauf nicht. Er sagte aber: »Mein junger Freund Pierre Navières versteht so gut griechisch, daß er mit 15 Jahren eine Professur für Griechisch an der Universität in Lausanne erhalten hat. Er hat mich viel gelehrt. Was ist mit meinem jungen Freunde? Wo ist er? Und was ist mit meinen anderen Freunden?«

»Ich habe hier zu fragen,« rief Buatier, »ihr habt zu antworten! Stört nicht den Gang der Untersuchung! Ihr werdet zu eurer Zeit schon erfahren, was mit euren sauberen Kameraden ist.« (Die Untersuchung ging zu Ende, es war Zeit, die Führung und die Autorität des Geschäftes wieder an sich zu ziehen.) »Antwortet mir jetzt klar auf die Frage und bedenkt, daß die Antwort entscheidend ist: Ihr wollt also nach dem, was ihr ausgesagt habt, nach diesen Vorstellungen und Gesetzen leben?«

Antwort: »Ja Herr, das will ich.«

Frage (herausgedonnerte, niederschmettern sollende Frage): »Auch sterben –?«

Einen Augenblick Stille. Clépier sah Peter an mit dringender stummer Frage, die auch einige Bewunderung enthielt, denn er war der Antwort sicher. Da fiel die Antwort: »Ja, Herr, wenn es nicht anders sein kann und Gottes Schicksalsschluß es will.«

Buatier klappte die Akten zu, schleuderte die Bücher darauf und schlug die Faust auf den Tisch: »Ihr habt gesprochen! Unterschreibt, was ihr gesagt habt! Die Untersuchung ist zu Ende.«

Clépier trat von seinem Stuhle herab, und sein Gesicht war undurchdringlich, als auch er sagte: »Die Untersuchung ist zu Ende.« Peter überflog mit scharfem prüfenden Auge die ihm entgegengehaltenen Bogen.

136 Clépier sagte: »Ihr könnt ruhig unterschreiben, ich habe mich überzeugt. Und dafür, daß nicht nur das Wort, auch der Geist eurer Aussagen gelten soll, dafür will ich euch bürgen.« Da unterschrieb Peter.

»Die Untersuchung ist geschlossen,« sagte der Generalvikar und rief dem Aufseher zu: »Der Angeklagte ist abzuführen . . .«

 

»Ihr habt garnicht schlecht abgeschnitten,« lobte der Aufseher draußen im Kreuzgang, »wenn ihr auch nicht widerrufen habt.« – »Was ist mit meinen Kameraden?« frug Peter hastig. »Wo sind sie? Sind sie schon verhört?«

»Fragt mich doch nicht,« sagte der Schließer in bittendem Tone, »ich darf es euch doch nicht sagen. Fragt mich doch nicht, ihr müßt verstehen.« Und leiser: »Sie sind noch nicht verhört worden. Und sie befinden sich wohl.« – »Erzählt ihnen von meinem Verhör,« sagte Peter hitzig. »besonders den beiden, die sich Bernard Séguin und Charles Favre nennen. Daß sie fest bleiben und sich nicht einschüchtern lassen. Dem Kleinen, dem Peter, den wir Pierrot nennen, braucht ihr das nicht zu sagen. Dem sagt nur meinen Gruß und daß ich mich wohl befinde. Auch der welcher Martial heißt, Martial Alba, wird sich zu helfen wissen.«

»Ich darf nichts gehört haben«, sagte der Aufseher, aber sein Blick sagte: ich werde es ihnen schon stecken . . . »Und der Martial Alba ist vergnügt, er macht Witze. So, nun tretet wieder ein, ich hab' euch Wein in den Wasserkrug gießen lassen,« flüsterte er ihm zu, als er die Zelle hinter ihm verschloß. »Ihr werdet ihn finden, stärkt euch, es steht euch noch Schweres bevor.« – »Gebt den Wein 137 Pierrot,« rief Peter gegen die sich bereits schließende Tür. Aber der Wärter machte das Türchen in der Tür auf, und seine hereinnickende Miene sagte: Hat auch schon . . .

Im Kapitelsaale aber stritten, nachdem der Schreiber hinausgegangen war, der Generalvikar und Herr Clépier. Clépier saß in seinem hohen Stuhle, und Buatier schritt, sich die Stirn wischend, aufgeregt hin und her. Clépier sagte: »Ihr seid doch ein rechter Dummkopf, Buatier, entschuldigt und erlaubt die Rede mir. Einen Angeklagten muß man vertraulich machen. Auf daß er behaglich drauflos schwätzt. Man muß ihn menschlich fassen. Er erzählt dann aus sich selbst viel mehr, als ihr durch die klügsten Fragen herausangeln könnt. Dadurch behaltet ihr die Autorität, jetzt aber hat sie der Angeklagte.«

»Habe ich die Autorität nicht behalten?« frug Buatier stehenbleibend und auf dem Absatze sich umdrehend.

»Nein, das kann man bei Gott nicht sagen. Der kluge Bursche war der Sieger, nicht ihr, und er fühlt das. Selbst der Aufseher fühlte das. Und der Schreiber.«

»Auch der Schreiber –?« frug verstört Buatier.

»Ihr seid nach einem falschen Ziele gesteuert, Buatier. Seine Eminenz hat uns doch aufgetragen, nicht Häretiker zu erweisen sondern sozusagen Nicht-Häretiker zu erweisen. Wir sollen den jungen Leuten doch klarmachen, daß sie nur irren, nicht ketzern. Wir sollen Verirrte zur Kirche zurückführen, nicht hartnäckige Leugner des Glaubens auf den Scheiterhaufen bringen. Seiner Eminenz dem Kardinal liegt garnichts an neuen Märtyrern des falschen Glaubens. Er will den Neugläubigen die Anklage aus der Hand nehmen, als ob es bei der heiligen 138 Inquisition nur Unmenschlichkeiten gäbe. Die heilige Inquisition soll nach dem Willen unseres Kardinals mehr ein Bekehrungs- als ein Strafinstitut sein. Aber ich fürchte« – er sagte es sehr ernst – »ihr habt den Prozeß verdorben. Der junge Mann sieht mir danach aus, als ob er die Kraft zum Märtyrer – Märtyrer seines falschen Glaubens, versteht sich, doch immerhin Märtyrer – hätte, aber was haben wir von rauchenden Scheiterhaufen? Von bekehrten Sündern, von öffentlichen Widerrufen haben wir und die Kirche etwas. Der Weihrauch bei der Sühnung tut der Kirche mehr wohl als der kohlige des Holzes und der brenzliche des Fleisches der Straffeuer. Es steht ernst um die Kirche in Frankreich, es war höchste Zeit, daß sie ihre Methode änderte. Ihr wißt, was der Kardinal de Guise über die der Kirche drohende Gefahr am Hofe selbst geklagt hat.«

»Glaubt ihr, daß alles verloren ist?« frug aus der Fassung gebracht der Generalvikar, und er, der Nächste beim erzbischöflichen Stuhle, fürchtete im Herzen auf einmal schlechte Aussichten für sich, wenn der alte de Tournon den Stuhl räumen werde.

»Das glaube ich nicht. Noch haben wir die vier anderen. Besonders auf den Jüngsten setze ich Hoffnung. Es mag durch den Jüngsten gut gemacht werden können, was bei dem Ältesten verdorben ist. Dieser scheint jenen sehr zu lieben. Es war falsch von euch, den Escrivain nicht über das Schicksal seiner Freunde zu unterrichten. Nun aber, nachdem ihr einmal so zu tun beliebt habt, müssen wir in dieser Weise fortfahren, und ich bin dafür, daß entgegen meiner früheren Meinung, die Angeklagten beisammen zu lassen, die Einzelhaft streng durchgeführt werde und daß namentlich die anderen Häftlinge nichts 139 von diesem Verhör und seinem Ausgang erfahren. Wir müssen so tun, als ob der Erste sehr niedergeschlagen und nahe am Widerruf gewesen sei. Das wird auf die anderen wirken. Besonders auf Escrivains kleinen Freund. Diesem, den wir gleich verhören sollten, wollen wir zuerst mit Freundschaft und väterlicher Güte kommen; dann, wenn es noch nichts geholfen haben sollte – plötzlich – überfallen wir ihn mit allen Schrecken des Gefängnisses und Blutgerichtes. Auch auf die beiden,« – er kletterte aus seinem Stuhle herab und blätterte in den Akten – »die sich Charles Favre und Bernard Séguin nennen, haben wir nach den Aussagen des Angebers einige Hoffnung im vorhinein. Sie sollen ein wenig furchtsam und überdies unbedeutend, aber auch mißtrauisch – vergeßt das nicht! – mißtrauisch sein. Die überfallen wir sofort mit Galgen und Rad, mit Feuer und Schwert. Das ist da psychologisch vielleicht richtig. Am meisten Respekt habe ich nun noch vor dem gewissen . . . dem gewissen« (er blätterte wieder) »Alba, dem Martial Alba, er soll ein Spötter und Witzbold sein. Mit einem solchen Burschen, der notorisch alles leicht nimmt, auf alles einen Reim findet und die Lacher auf seine Seite bringt, werden wir es wahrscheinlich am schwersten haben. Aber vielleicht kann man den gerade durch sich selbst schlagen, indem wir die Untersuchung sozusagen als eine lustige Angelegenheit aufziehen, die nicht viel auf sich hat. Vielleicht ringen wir ihm den Widerruf in einem Scherz ab, und wenn er einmal seine Aussagen unterschrieben hat, sagen wir, es sei Ernst gewesen. Selbstverständlich bitterer blutiger Ernst in der Voruntersuchung für ein heiliges Gericht! Damit haben wir allerdings immer noch nicht viel gewonnen, denn 140 – bedenken wir doch – wir sind nur Untersuchungs- keine Strafrichter« (er kratzte sich den kahlen Kopf). »Aber immerhin schon etwas gewonnen, etwas gewonnen, und jedenfalls wir beide schneiden vor Seiner Eminenz nicht schlecht ab.«

»Ich danke euch sehr, Clépier«. Buatier schüttelte ihm beide Hände. »Und wenn,« sagte er leise, »es demnächst – wer weiß, was Gott vor hat – mit Seiner Eminenz unserm alten Herrn zu Ende gehen und ich als der Nächste am Stuhle den Stuhl von Lyon besteigen sollte, ich werde an euch denken. Was meint ihr, ihr solltet mein Generalvikar sein . . .«

»Laßt das lieber bleiben,« lachte Clépier, »ihr wißt, ich habe keinen Ehrgeiz. Generalvikar, ich danke schön! Freilich, ihr habt ein starkes Einkommen und eine fette Pfründe, aber auch ein schweres Amt. Ihr müßt arbeiten für alle, wir wissen es, und dürft euch für uns andere blamieren. Wie in diesem Prozeß. Ein schönes Amt möchte ich schon haben, aber ich möchte nicht dafür arbeiten. Ich bin faul. Das ist nun einmal so. Ich lese gerne schöne Bücher, lege mich damit aufs Kanapee, lese und lese und lasse die anderen arbeiten. Ich danke für die Last der Erzdiözese, die der Generalvikar trägt! Schöne Bücher – da ist die Margarethe von Navarra, mein Gott, die Schwester des Königs, Königin von Navarra im allerchristlichsten Frankreich, aber sie schreibt Bücher und läßt sie drucken, Bücher, sag' ich euch, Heptameron heißt das eine, ein wahres Sündenbuch, aber lustig, überaus lustig zu lesen von der Liebe und anderen Dingen, unanständig, herrlich unanständig, nachgebildet jenem Dekameron des Italieners, aber ihm im Lustigen nichts nachgebend. Nun, nichts für das 141 Volk, natürlich, und es gehört sich, daß es auf dem index librorum prohibitorum sieht. Aber für unsereins, nicht wahr, die das Index-Verbot nicht trifft, ist es gut, daß es solche lustigen Bücher gibt in dieser langweiligen Welt. Also nicht Generalvikar, sondern Faulenzer, Freund Buatier! Und wenn ihr Erzbischof seid, wozu euch euer strebsamer Wille wohl befähigt, und ich euch etwas gedient haben sollte: kein Amt, kein Amt, das mit Arbeit verknüpft ist, aber Zeit zum Lesen, am liebsten von Büchern, von denen zu erwägen ist, ob sie nicht auch auf den Index gesetzt werden sollen. Zeit zum Lesen, meinetwegen sogar Kirchenväter lesen und – zum Schlafen. Jawohl, Schlafen! Der Mensch hat einen einzigen wahrhaften Freund auf der Welt, das ist das Bett. Wenn man abends in die Federn kriecht – wißt ihr, es gibt nur eine wahre Freude auf der Erde, das ist, ins warme Bett kriechen und sich ausstrecken. Die nächstgrößte Freude auf der Erde ist dann noch« – er flüsterte und sah sich im Saale um – »ein schönes Weib in einem solchen Bette. Aber das ist uns nach dem Willen der Kirche und nach der Forderung des großen Gregor leider verboten, und wir wollen dieses Verbot, wenn es möglich ist, auch halten, denn unsere heilige Kirche fährt offenbar gut dabei, obgleich, man muß es einräumen – heh, Peter Escrivain, wo steht es doch?« rief er nach der Tür hin, durch die der Angeklagte hinausgegangen war. »Er ist fort, ich glaube, ich glaube, irgendwo in der Apostelgeschichte steht, daß auch die Apostel Frauen hatten, und jedenfalls die Bischöfe der ersten Zeit der Kirche. Ich bin nicht sehr fest in der Bibel, man sollte sich wirklich einen solchen Häretiker anstellen, damit er einem im Bedarfsfalle die nötigen Bibelstellen 142 liefere, ich bin fester in anderen Büchern. Aber ich will die Cölibatsverordnung Gregors nicht schelten, selbstverständlich, obgleich die Häretiker es besser, sozusagen menschlicher verstehen und sich Frauen zu ihrer Stütze am Tage und zu ihrer Freude in der Nacht wieder erlaubt haben. Aber wir wollen den Willen der Kirche achten . . . natürlich achten . . .,« vollendete er.

»Nun ja,« sagte Buatier, »mit solchen Ansichten, die nicht gerade ketzerisch sind, da ihr den Willen der Kirche doch – soviel als möglich, sagtet ihr nicht so?« frug er mit gekniffenen Augen – »achtet, und mit eurem Preis des Bettes, und wenn etwas darin ist (flüsterte er), habt ihr freilich nicht den Ehrgeiz, der nötig ist, ein hohes Amt zu erreichen und zu behaupten. Und was ihr sagt, gilt ja auch nur für uns, nur für uns . . .«

»Versteht sich, für uns, nur für uns,« nickte Clépier, »wir wollen uns Verschwiegenheit halten.«

»Wir verstehen uns,« sagte leise Buatier, »wir verstehen uns.« Und laut und geschäftsmäßig: »Wollen wir nun den nächsten vornehmen, ja? Pierre Navières? Meint ihr?«

»Pierre Navières!« sagte Clépier, kletterte wieder in seinen Stuhl hinauf, wo er sich, die Hand vor dem leicht gähnenden Munde, niederließ. »Langweilig, langweilig, diese Ketzer,« sagte er. »Also den Pierre Navières! Aber freundlich, recht freundlich, Buatier!« mahnte er.

Der Generalvikar zog eine Klingel und befahl dem eintretenden Schließer: »Den Pierre Navières!«

 

Wenige Tage später schon kam es zur Hauptverhandlung. Sie fand statt im großen Kapitelsaale, einem 143 durch eine Säulenreihe in der Mitte in zwei Langschiffe geteilten gewölbten Raume. Es war ein »großer Tag« der Erzdiözese. Alles war versammelt, was nur von geistlichen Verrichtungen abkömmlich war. Der Erzbischof und Kardinal selbst, Herr de Tournon, hatte nicht gezögert, die Bedeutung dieser großen Verhandlung gegen die Ketzer durch seine Anwesenheit zu unterstreichen. Er wankte, ein uralter Greis in rotem Mantel und rotem Hute, gestützt auf, gehängt fest an seinen kräftigen Hauskaplan, in den Saal, mit nicht mehr aufgehobenen Füßen laut über die Tonfliesen hinschlurfend, im kraftlosen zurückgebildeten Rückgrat vornübergebeugt, mit der zitternden wackelnden ausgemergelten Rechten das Segenskreuz schwach und undeutlich über die bei seinem Erscheinen niederkniende Versammlung gleichsam ausstreuend. Als er vor den an der ersten Säule stehenden Angeklagten vorüberkam, blieb er halten, erhob seinen gebogenen Körper, blickte aus seinem alten fleischlosen, mit dicken Adern bedeckten Gesichte die fünf Jünglinge an, die sich vor ihm höflich verneigten, mit einem großen stummen Blicke, der hieß: Wenn es irgend möglich ist und ihr selbst es irgend wollt, will ich euch retten – dann hob er die Hand mit großer Anstrengung und fast ohne Zittern hoch auf und machte ein großes starkes Segenskreuz über die Jünglinge. Das wurde in der Versammlung und namentlich von den Richtern sehr bemerkt, es hieß: Wenn es nur irgend möglich ist . . .

Während des leichten Geräusches einer sich ordnenden und niederlassenden Versammlung und während der Kardinal die Stufen zu der an der Langwand unter der Fensterreihe befindlichen Tribüne für Ehrengäste 144 hinaufstieg – es war eine Bergbesteigung, der Hauskaplan und zwei Kanoniker halfen – tönte durch die weiß und schwarz schlicht gefärbten und in einigen klappbaren Quadraten der Verglasung offenstehenden Fenster von draußen eine Liedstrophe herein, von einer Frauenstimme gesungen, von der Stimme einer nichtsahnenden Frau, einer Frau, die nicht wußte, was hinter diesen Scheiben vor sich ging, die sich dort auf einer den Sockel der Gebäudemauer bildenden öffentlichen Steinbank sonnte, ihr Kind an der Brust, einer jungen Frau, und einer deutschen Frau, wohl einer deutschen Söldnersfrau – die Liedstrophe:

Maria zu lieben ist allzeit mein Sinn.
In Freuden und Leiden ihr Diener ich bin.
Denn nur sie allein war würdig und rein
Die Mutter des göttlichen Kindes zu sein.

In dieser gebildeten Versammlung verstanden viele Männer Deutsch, und wer nicht Deutsch verstand, auch der wurde gebannt von der Süßigkeit der Worte und dem Zauber der Töne – einen Augenblick sank tiefe Stille auf die Versammlung, die hin und her gehenden Schreiber und Gerichtsdiener dämpften den Schritt, und die Herren, die eben ihre Holzsitze niederklappen wollten, hielten die Hand an und blieben halb gebückt stehen – es sang von draußen mit lieblicher Stimme:

Mein Herz, o Maria, brennt ewig zu dir,
du bist ja die Mutter, dein Kind bin ich hier.

Da, als sei das eine unerlaubte Beeinflussung des Gerichtes seitens der Straße, eröffnete beim letzten noch nicht verklungenen Tone der Generalvikar als 145 Vorsitzender die Gerichtsverhandlung, indem er aufstand – die ganze Versammlung erhob sich, nur der alte Kardinal blieb sitzen, aber er beugte tiefer sein Haupt –, das Barett in die Hand nahm und das große Kreuzzeichen machte: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes! Amen.« – »Amen,« sprach die ganze große Versammlung feierlich nach. – »Ich eröffne die Hauptverhandlung gegen die des Unglaubens und der Ketzerei angeklagten hier anwesenden Jünglinge Jean Pierre Escrivain, Paul Pierre Navières, Martial Alba, Bernard Josef Séguin, Charles Louis Favre, keiner geständig.«

Er setzte sich und bedeckte das Haupt, in der Versammlung war großes Geräusch der Platznehmenden, Scharren von Füßen und lautes Niederklappen von Holzsitzen. Unter der Schmalwand, an der ein großer, stark blutender Cruzifixus hing, saß das Gericht, Buatier, der Generalvikar und Vorsitzende, Clépier und ein anderer Geistlicher als Beirichter. An den Langseiten unter den Fenstern bis hinunter zum Saalende und gegenüber in der Langwand, die an den Kreuzgang stieß, saßen Geistliche, Theologen und Mönche, auch einige Weltleute, unter ihnen Vertreter der staatlichen Behörden, diese in einer gewissen Haltung und Verhaltenheit. Dann folgten an den Langwänden weitere Bänke mit Zuschauern aus der geistlichen und Laienwelt, bevorzugten Zuschauern, denn das Volk, das gemeine Volk befand sich fern unten an der andern Schmalwand in erhöhten Schranken. An der ersten Säule standen die Angeklagten, in den Zwischenräumen saßen die Schreiber, standen Aufseher und Soldaten.

146 Der Generalvikar begann mit ruhiger und sanfter Stimme: »Liebe junge Freunde . . .« – da trat Peter Escrivain vor und sprach: »Ich erhebe Einspruch dagegen, daß das Gericht sich aus Richtern zusammensetzt, von denen zwei die Voruntersuchung geführt haben.«

Das war ein erster Mißton. »Du bist ein Schafskopf!« rief der Richter Clépier unwillkürlich laut aus. Erregung kam in die Versammlung.

Buatier war verblüfft. Er beriet sich mit den Beirichtern und sagte dann wie beiläufig: »Es besteht für das geistliche Gericht keine Veranlassung, die Praktiken des weltlichen Gerichtes zu üben. Der Einspruch wird verworfen.« Nun aber holte er noch einmal seinen sanften Ton hervor und fing wieder an: »Liebe junge Freunde . . .« – aber da rief ein Mönch aus der Theologenbank: »Ich erhebe Einspruch dagegen, daß todeswürdige Ketzer mit ›liebe Freunde‹ angeredet werden! Der Satan wird sie mit ›liebe Freunde‹ anreden!« Die Erregung in der Versammlung erhob sich wieder, schon wurden Freunde und Feinde der Angeklagten sichtbar. Der Kardinal gehörte zu den Freunden, er schüttelte das Haupt über den Unverstand.

»Bruder Hieronymus,« sagte der Vorsitzende zu dem Mönch, »ich mache euch darauf aufmerksam, daß solche Störungen des Gerichts auch seitens der geistlichen Sachverständigen nicht zugelassen werden.« Der Mönch protestierte mit Gebärden – als ihn sein Nebenmann auf den kopfschüttelnden Kardinal hinwies, setzte er sich still hin, aber er hatte ein knallrotes Gesicht.

Dann hub der Vorsitzende wieder an, noch immer mit sanfter Stimme, wenn sie jetzt auch zitterte, und sah bei seinen an die Angeklagten gerichteten Worten 147 stark und nachdrücklich den Mönch Hieronymus an: »Liebe – junge – Freunde . . .« Er machte dann eine Pause, sie hieß. Hast du gehört, Hieronymus: Liebe junge Freunde? – und sie sollte dartun, daß er nicht gewillt sei, den geringsten ungebührlichen Einspruch der Theologenbank zuzulassen. Als diese still blieb, drehte er seinen Kopf langsam den Angeklagten zu und sagte schneller: »Also meine jungen Freunde, ihr wißt weswegen ihr hier steht . . .«

»Wir wissen es nicht!« riefen wie aus einem Munde die Angeklagten.

Da ertönten Rufe aus dem hintern Teile des Saales: »Unverschämte! Lausbuben! Zum Henker mit ihnen!«

Der Vorsitzende rügte das Mitspielen der Galerie und drohte ihr mit Räumung.

»Es muß eine Anklageschrift verlesen werden!« rief Martial. Buatier wurde verwirrt, er wandte sich an Clépier, dieser flüsterte ihm etwas zu, und der Vorsitzende sagte: »Merkt euch ein für allemal, wir stehen nicht unter der Verpflichtung, die Normen des weltlichen Gerichtes einzuhalten . . .«

»Dann protestieren wir gegen die Aburteilung durch ein geistliches Gericht!« riefen die Angeklagten und schauten nach den Männern auf der Bank unter den Fenstern hinüber, die sie an ihrer gemessenen Haltung als zuhörende Staatsvertreter schon erkannt hatten. Die aber blieben unbeweglich. Der Erzbischof schüttelte energischer den Kopf. Er schien verzweifelt.

»Ihr seid in der Gewalt des geistlichen Gerichtes, junge Burschen!« rief Buatier und konnte die in ihm aufsteigende Erregung kaum mehr bemeistern. »Rechnet mit den Tatsachen und sucht eure Richter milde zu stimmen.«

148 »Wir verlangen keine Milde, wir verlangen Gerechtigkeit!« rief Martial. »Dann muß man uns freilassen!«

»Gerechtigkeit soll euch werden,« rief Buatier, plötzlich von Wut übermeistert, »die Gerechtigkeit des Scheiterhaufens!«

Der Erzbischof zog die Brauen zusammen, Buatier sah es und stand hilflos da, Clépier legte ihm begütigend die Hand auf den Arm.

Nun trat Peter vor, ergriff das Wort und sprach – Buatier suchte ihn zu hindern, aber ihm selbst fiel im Augenblicke nicht ein, was er Schickliches sagen sollte, er wischte sich den Schweiß von der Stirne und ließ geschehen was geschah. Peter rief: »Ich erkläre: Wenn ihr uns etwa durch Überredung, durch Betäubung oder durch Schmerz zu irgendeinem unsern Glauben einschränkenden Bekenntnis bringen solltet, so erklären ich und meine Freunde, ich für mich und für meine Freunde« (er sah die Freunde an, sie gaben auffällig durch Nicken ihre Zustimmung kund) »daß alles, was uns auf diese Weise etwa erpreßt wird, ungültig, null und nichtig ist! Es kann sein – wir sind Menschen –, daß einer von uns oder daß wir alle schwach werden im Angesicht der Schmerzen, die ihr uns bereiten könnt. Ich erkläre hier bei hellem Verstande und ruhiger Seele: Ein etwaiger Widerruf, zu dem eine Schwachheit in der Stunde der Schmerzen uns verleiten könnte, ist null und nichtig! Null und nichtig! Habt ihr das alle verstanden?«

Er schaute sich langsam rund im Saale um. Der Saal blieb stumm.

»Nun aber,« setzte Peter fort, »wir erklären weiter: Wir verwerfen dieses ganze Inquisitionsverfahren. 149 Ihr werdet uns jetzt den Eid abnehmen, die Wahrheit zu sagen. Welch ein Widersinn! Wie kann man einen Angeklagten schwören lassen, die Wahrheit zu sagen? Immer hat der Angeklagte das Recht zu leugnen. Ob er unschuldig ist oder schuldig, er darf leugnen. Das räumt ihm der gesunde Menschenverstand ein. Ihr aber belastet dieses Recht mit Gewissenspeinigung. Wir lehnen es also ab, den Eid zu leisten. Leuchtet euch nicht selbst ein, daß er wider alle Vernunft ist? Ihr kennt auch nicht den Grundsatz aller Rechtsprechung, die auf Vernunft und Gerechtigkeit sich aufbaut: Im Zweifelsfalle zugunsten des Angeklagten. Deshalb habt ihr – nein nicht ihr, ihr seid ja arme Verführte – hat die römische Inquisition das neue Verbrechen ersonnen ›Verdacht der Ketzerei‹. Dieses angeblichen Verbrechens wegen stehen wir hier, weil selbst die böseste Anklage Schwereres nicht behaupten konnte. Ich weiß was ihr sagen wollt,« wandte er sich gegen die Theologenbank, wo außer dem Mönch Hieronymus, der trotz dem Kardinal wieder zu Mute gekommen war, noch andere Mönche und Geistliche sich von den Sitzen erhoben hatten und durcheinander schrieen, aber vor der klaren lauten und ununterbrochen fließenden Beredsamkeit des Jungen nicht zu Gehör kamen, »ihr wollt sagen: Weil es um göttliche Dinge geht, darum sind auch andere, viel stärkere, viel grausamere Methoden erlaubt, als wenn es um weltliche ginge. Das wollt ihr sagen, setzt euch nur wieder hin. Aber fühlt ihr denn nicht, daß das alles Unsinn ist, fühlt ihr denn nicht das Himmelschreiende, das Gottbeleidigende, das Sündhafte einer solchen« – er machte einen kleinen Vorhalt – »Gerechtigkeit? Fühlt ihr nicht, daß ihr Gott beleidigt, indem ihr ihm 150 zu dienen meint? Freilich, ihr müßt es fühlen, sonst könnt ihr es nicht erfassen. Aber fragt euren gesunden Menschenverstand und nicht irgendwelche vorgefaßte Meinungen, so müßt, so müßt ihr doch zugeben, daß eine Unvernunft ist was ihr tut, und darum eine Sünde. Eine schauerliche Sünde, von der Gott selbst sein Angesicht entsetzt abwendet.« Er hielt einen Augenblick inne und sah seine Gegner der Reihe nach an, sah ihnen mit starkem Blicke der Augen seines aufs höchste erregten Gesichtes ins Herz.

Vor dieser rauschenden Beredsamkeit des jungen Mannes, die den ganzen großen Saal bis in die fernste Ecke füllte, kam zuerst kein Widerspruch auf. Einige saßen verbittert mit zugekniffenem, andere gierig auf Mehr lauschend mit offenem Munde, Buatier ein wenig verdrossen, nur halb zuhörend und darauf sinnend, was er nun zuerst zu sagen haben werde und wo er geschickt einhaken könne, der Richter Clépier mit lächelndem Gesichte und dem Redner unverhohlen zunickend. Denn ihm, von Krankheit und Sünde der Ästhetik befallen, war das Stoffliche jedes Tuns, jeder Rede, jedes Buches gleichgültig, wenn nur die schöne Form gewahrt wurde. Mochte der Bursche sich auch um Hals und Kragen reden, er redete sich schön um Hals und Kragen. Und er überdachte in seinem Innern, ob der junge Mensch sich auch so schön auf dem Scheiterhaufen benehmen werde, wie er sich im Gerichtssaal benahm. Dann hat selbst ein Märtyrertod Sinn, wenn er Größe und Schönheit hat!

»Hier klaffen freilich Welten,« fuhr Peter fort, »überzeugen kann man nicht, wo nicht Verstehen gegeben ist. Die Überzeugung ist eine Sache des Herzens, nicht 151 des Kopfes, des Blutes, nicht des Wissens. Die Überzeugung ist immer ein Schicksal, wir sagen: Der Wille Gottes. Hier klaffen Welten – wir stehen an verschiedenen Ufern dieser Kluft und rufen uns an, es ist eine Frage, ob der Schall über die Kluft klingt und drüben noch die Kraft hat, die Herzen anzurühren.«

»Brav gesagt,« ließ sich im Hintergrunde des Saales eine Stimme vernehmen, eine Stimme in Deutsch, nicht laut, der Sprecher hatte offenbar nur für sich gesprochen und keinen Zwischenruf machen wollen. Aber da nach dem Appell an die Herzen die Stimme des Redners im Lauschen des Saales unversehens geschwiegen hatte, so war das leise Wort in alle Ohren gefallen.

Der Generalvikar sah, obgleich im Grunde selbst gerührt, in dem Zwischenruf eine Gelegenheit, sich wieder in Erinnerung und vielleicht in Autorität zu bringen, er rief: »Wer hat den Zwischenruf gemacht?« Ein Soldat und ein Gerichtsdiener stürzten an die Schranke in der Tiefe des Saales, es gab dort einen kleinen Wortwechsel, dann kam der Gerichtsdiener vor und sagte: »Hans Leyner, der deutsche Kaufmann, ein Exterritorialer.«

In der Stadt Lyon kannten alle Hans Leyner, den Kaufmann aus Augsburg, der seit Jahren in Lyon ansässig war und als Gesandter der Reichsstadt das Recht der Exterritorialität genoß. Exterritorial! Da war nichts zu machen. Das Gericht, die Mönche und auch die staatlichen Beobachter zuckten die Achseln, verbittert vielleicht. Die Mönche waren wütend, daß man dem Deutschen nicht an den Kragen kommen und nicht auch ihm wegen der offenen Zustimmung zu der 152 Rede des Angeklagten den Prozeß machen konnte. Der Generalvikar aber fühlte sich im Augenblick leer von Einfällen, er sagte ziemlich kleinlaut nichts anderes als: »Ich verbiete Zwischenrufe!«

Peter stand da, mit gehobenen Schultern, gehoben vom Formglück und Augenblickserfolg seiner Rede, und allgemeine Zustimmung dazu, daß er weiter rede, tat sich durch Schweigen kund. »Daneben bedeuten die anderen sachlichen Widersinnigkeiten nicht viel, sie gehen im großen Irrtum unter: Daß Ankläger und Richter wie hier dieselben Personen sind. Daß die Bestellung von Verteidigern ausgeschlossen ist aus dem kostbaren Grunde, weil, wie eure famose Unterweisung sagt, die Besorgnis besteht, daß der Verteidiger durch den Verkehr mit Ketzern zu einem Begünstiger der Ketzerei würde. Das ist ein Stück Witz der Weltgeschichte. Gegen Verstorbene gibt es sogar Verfahren, Verfahren mit Schändung und Zerstörung der Gräber und Austilgung des Gedächtnisses, den Bruder unseres Meisters Calvin –«

Die Mönche rasten. Die Richter fuhren von ihren Sitzen auf, Buatier machte ein Gesicht, als habe er einen Schlag vor den Kopf erhalten, der dritte Richter schlug die Akten zu und zusammen, was hieß: Jetzt ist das Urteil fertig. Clépier blieb zwar sitzen, er lächelte auch, aber sein Lächeln war teuflisch, der Kardinal auf der Tribüne schüttelte den Kopf, und das bedeutete: Nun ist alles verloren. Die ganze Versammlung tobte. Selbst die Galerie schrie und pfiff. Peter sah sich um.

Nun ja, das Wort war ihm entfahren! Nun ja, hier hatte rhetorische Wirkung der Verteidigungsrede das Verteidigungsziel gefährdet. Aber die Wollust des 153 rednerischen Erfolges machte sich im Augenblick für die Folgen in der Zukunft bezahlt. Nun ja, freilich, was ihn anging, er konnte es, im Rausche des tosenden Augenblicks wenigstens, verantworten, aber hatte er ein Recht, auch das Schicksal der Genossen um des Glanzes einer Minute willen zu verspielen? Er drehte sich ihnen zu und sah sie erschrocken an – aber die lieben Genossen, begeistert von seiner Rede, entschlossen in ihren wackeren Herzen und mutig jedem Schicksal entgegensehend, stimmten mit glänzenden Augen so offenkundig zu und schlugen ihre Bedenken so jugendlich übermütig zurück, sie munterten ihn mit Zunicken so lustig und verwegen auf (auch Karl und Bernard waren vom brausenden Augenblick so überwältigt, daß sie unbedenklich ihr Schicksal auf Peter luden), daß Peter, der rasenden tosenden Versammlung sich wieder zuwendend, mit erhobener, alles mühelos übertönender Stimme aufnahm – »den Bruder unseres Meisters Calvin hat die Inquisition, nachdem er in natürlichem Tode verschieden war, hervorkratzen, dem stinkenden Leichnam noch den Prozeß machen und ihn unter dem Galgen verscharren lassen! Großartiges, die Lächerlicheit nicht scheuendes Beispiel geistlicher Konsequenz, die im Namen des Geistes bis zum Ungeist und bis zum Spott der Jahrhunderte vorschreitet!«

Ja, also bisheran war es nicht um die Frage Ketzer oder Nichtketzer gegangen, bisheran hatten die Studenten in allen Verhören betont, daß von Ketzern keine Rede sein könne, daß sie vielmehr den rechteren und reineren Glauben bewahrten. Aber wenn sie auch jetzt ein anderes nicht zugeben konnten, so hatten sie sich nun doch der volkstümlichen Berechtigung des Ketzernamens schuldig gemacht. Sei's! Es ging ums Ganze, 154 und Ausflüchte würden zuletzt doch nichts helfen. Die Befriedigung, die unerhörter Mut des Bekenntnisses gibt, mußte für alles Zukünftige entschädigen. Die Seligkeit des unerschrockenen Herzens deckte alles Kommende und Drohende im Hochrausch zu. Aber Peter fühlte wohl, daß er Wirkungen in dieser Versammlung nicht durch Eingehen auf die eigentlich strittigen Punkte und durch Verteidigung der heiligen und reinen Lehre gegen die unreine und getrübte erreichen könne, denn die letzten Dinge werden immer zuerst und zuvorderst im voreingenommenen Herzen und endgültig entschieden, als vielmehr durch Kritik an den gröberen und stofflicheren Eigenheiten des Verfahrens. In diesem Instinkte nahm er seine Rede wieder auf und setzte sie fort: »Und das Tollste,« rief er, »das Albernste und jedem natürlichen Empfinden Widerstrebende und für den Mann der Straße auch Faßbare ist, daß in einem Verfahren die Zeugen nicht bekannt sind, daß sie dem Angeklagten nicht vorgestellt und ihre Namen ihm sorgfältig verschwiegen werden. Wer sich einen Rest von Menschenverstand bewahrt hat, er kann nicht anders als lachen, und wem noch ein Funke von Gerechtigkeit im Herzen ist, muß sich aus den Hintergründen seines Wesens empören!«

Nun geschah etwas ganz und gar Unerwartetes. Das Wort Peters hatte eingeschlagen, und ob es auch niemand öffentlich zugegeben hätte, die Richtigkeit des Gesagten wurmte viele. Wer sich aus Kenntnis der Herzen mit stillschweigender Anerkennung zufrieden gibt und keinen Wert auf äußere Bekundung durch die Betroffenen legt, kann sich im Leben diese Genugtuung oft verschaffen. Aber es sollte den Studenten die größere 155 Genugtuung werden. Aus dem hintern Teile des Saales, wo die minderen, doch nicht in das Volk verwiesenen Zuhörer und Personen von einigem Range saßen, kam in der lautlosen Versammlung ein Mann herauf. Man hörte auf den Tonfliesen seine Schritte, in denen Zagheit und Mut unverkennbar noch kämpften. Und neben die Studenten trat . . . die Studenten sahen ihn mit höchster Verwunderung neben sich treten: Den Priester Peloquin! Er nickte ihnen zu mit der Vertraulichkeit eines Bekannten. Dann wandte er sich gegen das Gericht: »Ich, der Kaplan Peloquin, bin nach der Verhaftung dieser jungen Männer plötzlich vom Grenzposten hergeholt worden, um über diese auszusagen und gegen sie zu zeugen. Ich habe es getan, weil ich im allgemeinen Irrtum der Zeit nicht besser wußte. Der Mut dieses jungen Redners aber und die Richtigkeit seiner Worte haben mir gezeigt, daß mein Zeugnis wertlos war, und erschüttert von Reue über das Falsche und Böse, über die Sünde, die ich begangen habe, widerrufe ich mein Zeugnis!«

Wenn ein Meteor aus Himmelsräumen durch die Gewölbe des Saales hereingekracht wäre, die Überraschung und der Schrecken hätten nicht größer sein können. Das Gericht war bestürzt, der gute Kardinal lag wie gebrochen auf seinen Händen, die Mönche an den Wänden trommelten mit den Fäusten auf die Pulte vor ihnen und gebärdeten sich wie Wilde. »Ein Priester! Ein Priester! Ein Priester wird abtrünnig! Ein Priester gesellt sich zu den Ketzern!«

Das Toben der Versammlung aber wurde überdonnert von Peters gewaltiger Stimme: »Hat er gesagt, daß er sich zu uns geselle?« – Der Mönch Hieronymus 156 schrie: »Genug, er hat sich gesellt!« – Peter: »So hört auf seine Worte!« – Die Mönche: »Was brauchen wir seine Worte, wir haben seine Tat!« – Peter: »Sind wir in einer Versammlung von tobenden Knaben?« Daraufhin wurde der Sturm stärker und der Lärm lauter, der Vorsitzende schwang die Glocke im Tumult – da trat, mehr aus Erschöpfung der Rasenden denn als Wirkung der mahnenden Glocke, plötzlich Ruhe ein, sodaß man jetzt Peters gemäßigte aber im Unmut zitternde Stimme vernahm: »Man sollte meinen, man sei nicht in einer Versammlung von Männern, die sich ihrer Verantwortung bewußt sind. Was hat der Priester gesagt? Wieso ist er abtrünnig? Wo liegt etwas Ketzerisches in seinen Worten? Er hat doch nichts weiter gesagt als: ›Ich widerrufe mein Zeugnis‹. Als Zeuge hat er widerrufen, nicht als Priester. Welche Veranlassung liegt vor, ihn deshalb Ketzern zuzurechnen?«

Seht, etwas so ungewohnt Anständiges, Vornehmes und ein wenig Unerhörtes verfehlte nicht seinen Eindruck auf die Versammlung, am allerwenigsten aber auf den, der durch diesen rednerischen Schachzug vor derselben hochnotpeinlichen Anklage hätte bewahrt werden sollen – der Priester Peloquin streckte seine Arme nach Peter aus und umarmte ihn in einem Ausbruch jener geistigen Liebe, wie sie zwischen Männern aus höchster Achtung und bewundernder Verehrung möglich ist. Mit unwillkürlichem Schweigen verfolgte die Versammlung den Vorgang, und mit versetztem Atem wartete sie ab, was weiter geschehen werde. Es geschah denn auch das, was sie befürchtete: der Priester sagte, den Kopf gesenkt, leise aber entschlossen: »Der 157 edle Genosse, mein Freund, hat unrecht, und meine hier versammelten Feinde haben recht: Ich bekenne mich zu diesen jungen Menschen.«

»Er bekennt sich menschlich zu uns!« rief Peter. Aber Peloquin winkte ihm mit der Hand Verneinung zu und sagte ebenso leise und entschlossen wie vorhin: »Ich bekenne mich auch geistig zu ihnen. Ich fühle, ich muß ein Schicksal teilen, an dem ich nicht unschuldig bin. Männer, die so entschlossen und tapfer das Rechte tun, können nicht das Falsche glauben. Ich weiß noch nicht genau und in den Einzelheiten, was sie glauben, aber wenn sie mich der Unterweisung würdigen, so glaube ich, daß mich die Gnade erleuchten wird wie sie.«

Da gab der Kardinal, der sich bisher gehütet hatte, in den Prozeß einzugreifen, dem Gericht ein energisches Zeichen, das hieß: Abbrechen. Und da auch der Vorsitzende nur auf eine günstige Gelegenheit gelauert hatte, dasselbe zu tun, so erhob er sich, schob seine Aktenpapiere zusammen und sagte: »Die Verhandlung ist auf eine Stunde unterbrochen.«

Das Gericht zog sich zurück. Die Mönche wollten Peloquin von den Angeklagten trennen. Aber der vorüberschlurfende Kardinal wehrte es.

Die drei Richter waren im Beratungszimmer. Buatier hatte die Akten auf den Tisch geworfen und ging heftig den kleinen Kapitelsaal auf und ab. Clépier saß da mit gekniffenen Lippen, der dritte Richter zeigte ein Gesicht, das nur Entschluß und vorgefaßtes Urteil war. »Nun redet doch, Clépier,« rief Buatier, »ihr wißt doch sonst immer alles am Besten! Auch ihr, Courrier, könntet einmal den Mund auftun und euch erinnern, daß auch ihr Richter seid!«

158 »Es ist wohl besser,« sagte Courrier, »ich schweige und sage nur mein kräftiges Schlußwörtlein, es wird an Deutlichkeit nichts vermissen lassen.«

»Nun, dann redet ihr, Clépier, wenn's gefällig ist . . .!«

»Man sieht wieder einmal, wie gefährlich die Redekunst und überhaupt die ganze Dramatik einer öffentlichen Versammlung ist,« sagte Clépier. »Die Inquisition hat ganz recht, wenn sie sie soviel als möglich ausschließt. Die jungen Leute haben sich von der Dramatik der Versammlung und der Älteste von ihnen hat sich von seiner eigenen Kunst verführen lassen. Um der Augenblickswirkung willen hat er die Wirkung auf die Dauer vernachlässigt. Das ist menschlich recht verständlich, weist Gang und Führung des Prozesses ihm zu« (er blinzelte über gekräuselter Nase den wütenden Generalvikar an) »und liest sich auch später in der Geschichte der berühmten Prozesse sehr gut. Aber ich anstelle der Angeklagten würde die glanzlose Dauerwirkung dem glänzendsten Augenblickserfolge vorziehen.«

»Was meint ihr mit Dauerwirkung, collega?« frug scharf der Richter Courrier. »Meint ihr etwa den Freispruch?« – Clépier wand sich und meinte, der Freispruch dürfe wenigstens theoretisch nicht ausgeschlossen sein. – »Es gibt Bekehrung oder Verurteilung!« rief Courrier und schlug mit den Knöcheln seiner geballten Hand hart auf den Tisch. »Und selbst im Falle von Widerruf und Bekehrung schreibt die Inquisition auch nicht Straffreiheit sondern Begnadigung zur Galeere vor.« – »Schöne Begnadigung . . .«, lächelte Clépier, »ja, es ist furchtbar« – er rezitierte mit Ironie – »in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.«

159 »Lebendiger Gott hin, lebendiger Gott her, sie sind in unsere Hände gefallen, und wir tun mit ihnen, was nach göttlichen und menschlichen, nach kirchlichen und staatlichen Gesetzen rechtens ist!«

»Es ist eine alte Weisheit der kleinen Leute,« sagte Clépier, langsam und als wäre er nicht an diesem Orte, vor sich hin, »wer mit dem Gericht überhaupt zu tun bekommt, ist schon gerichtet. Freispruch oder Verurteilung ändern nicht mehr viel. Das Wort ›Gericht‹ bereits ist verpönt. Die Kleinen und Ungebildeten fühlen ganz richtig, die Gebildeten aber lassen sich von der Gelegenheit, eine schöne Rede zu halten, verführen.«

»Also ihr seid für Freispruch von der Anklage, collega?« frug Courrier.

»– aber die Gebildeten lassen sich verführen,«wiederholte Clépier, ohne sich stören zu lassen und mit Behagen an seiner Rede. »Der Bauer ist klüger, er sagt: das Gericht macht kluge Köpfe aber kahle Röcke.«

»Sprecht deutlicher,« sagte Buatier, »amice et collega« (denn die Pause rückte vor, und er wußte noch nicht im mindesten, wie er die Verhandlung wieder eröffnen sollte). »Was ist zu tun? Die Anklage gegen den Priester zu erheben?«

»Der Priester ist ein Dummkopf!« rief Clépier und brauste soweit auf, als es einem Gemessenheit liebenden Manne und homo litteratus erlaubt war. »Warum verwirrt er den Prozeß? Er weiß doch selbst, worum es in der Sache geht. Warum die schöne dramatische Muts- und Edelmutsszene aufführen? Er wird es bereuen!«

»Gut,« rief Buatier, denn das dünkte ihn ein schöner wirkungsvoller Anfang der wiederaufzunehmenden 160 Verhandlung, »der Priester wird es bereuen! Er wird unter Anklage gestellt! Er soll haben, was er begehrt!«

Als auch Courrier meinte, daß das selbstverständlich sei, wußte Clépier nicht, wie er schicklich hätte widersprechen können. Da der Prozeß ja doch im Anfang schon entschieden und in die Hände der Inquisition fallen ja doch so gut wie ihr verfallen war. Mein Gott, er hatte die Zeit und ihre rechtlichen Anschauungen nicht gemacht, und er fühlte sich nicht berufen zu trotzen. »Man muß zeitig wissen, wie man sich verhält und auf welches Pferd man setzt«, sagte er, sich langsam aus seinem Stuhle erhebend, »wer wettet, der weiß, daß die Wahrscheinlichkeit zu verlieren größer ist als die zu gewinnen, dafür hat er den Spaß und die Lust der Aufregung, zu wetten. Aber ich halte es mit dem Bauer: Unserm Herrgott ist nicht zu trauen, sagt er, und macht sein Heu am Sonntag.«

Buatier war, da er nun einen schönen Anfang wußte, obenauf. »Also gut,« sagte er, sein Barett aufsetzend und die Akten ergreifend, »Anklage wider den Priester und im übrigen – res judicata!« Er freute sich an dem schönen unwidersprechlichen Worte, das ihm noch im rechten Augenblicke eingefallen war, sodaß wenigstens die Beratung als von ihm zum Schluß gebracht erschien. »Was ist eure Meinung, collega Courrier?« – »Anklage für den neuen Tollkopf und Feuertod für alle!« – »Und eure, collega Clépier?« – Clépier sagte: »Meine Meinung ist schon gleichgültig geworden, die Herren machen bereits die Mehrheit aus. Ich habe die Welt nicht gemacht und wasche meine Hände in Unschuld.«

»Die Beratung ist geschlossen,« sagte Buatier mit Würde, »wir kehren in den Sitzungssaal zurück.«

161 »Aber denkt daran, daß ihr den Prozeß führt und nicht der Angeklagte,« flüsterte ihm Clépier voll Schadenfreude und hämisch zu.

»Ich werde daran denken, verlaßt euch darauf!« prahlte Buatier in einer unbestimmten Vorstellung von großartigen Einfällen, die ihm noch kommen würden. »Sorgt euch nicht!«

»Sorgen und Denken tut niemand kränken,« sagte Clépier süß lächelnd und mit der Hand eine gewisse Welle werfend. »Und außerdem ist mein Sorgen viel weniger wichtig als euer Denken . . .«

 


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