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Pastor Waibel kam jetzt öfters in die Quellenhayner Oberförsterei. Wenn er Anna begegnete, ließ er sie durch vernichtende Blicke seine moralische Entrüstung fühlen.
Was machte sie sich aus solcher Verachtung! Konnte ein Mann wie Waibel verstehen, daß sie sich ihrer Liebe nicht schämte?
Was der Pastor mit ihrem Gatten bespreche bei solchen Gelegenheiten, wußte Anna nicht; daß es für sie nicht günstig sei, schloß sie daraus, daß der Oberförster nach jeder Zusammenkunft mit dem geistlichen Vetter nur noch finsterer vor sich hin brütete. Anna machte sich darüber keine tieferen Sorgen, aber das, was sie eines Tages erfahren sollte, kam ihr doch überraschend und versetzte sie in die größte Erregung.
161 Zwischen den beiden Männern war besprochen worden, daß Hellmut die Weihnachtsferien nicht im elterlichen Hause verbringen solle, sondern unter Pastor Waibels Obhut in dessen Pfarrhause. Das erfuhr Anna nur ganz gelegentlich, als sie ihrem Manne von Vorbereitungen sprach, die man für Hellmuts Bescherung zu treffen habe.
Anna hatte sich zwar daran gewöhnt, vieles über ihren Kopf weg angeordnet zu sehen, aber das hier war ihr zu viel. Ihr Junge während der Ferien in ein fremdes Haus gegeben! Was dachte ihr Mann denn?
Weshalb das sein solle, fragte sie. »Weil ich's so bestimmt habe!« entgegnete er. Aufs höchste aufgebracht meinte Anna dagegen, sie werde das nicht zulassen, sie verlange den Jungen.
Ihr Mann maß sie mit einem feindlichen Blicke. »Wenn du die Mutter danach wärst, ja! Aber einer Frau wie dir vertraut man nicht sein Kind an.«
Anna senkte das Haupt, schwer getroffen. »Ihr wollt mir das Kind nehmen?« fragte sie nach einiger Zeit, Thränen in der Stimme. Der Oberförster schwieg.
»Ihr werdet den Jungen nicht zwingen!« rief die Mutter, zum Äußersten gebracht. »Er wird sich's nicht gefallen lassen. Er hat mich lieb; er gehört mir!« Mehr brachte sie im Augenblicke nicht heraus vor Weinen.
162 »Das laß nur Waibels Sorge sein!« erwiderte Seltmann kühl; »Waibel wird den Bengel in die Kur nehmen. Es ist die höchste Zeit, daß er gestutzt wird. Er ist allzusehr nach der Frau Mama geraten! Alles Flennen ändert nichts!«
»Und der heilige Christ für das Kind?« klagte Anna.
»Heiligen Christ werden wir in diesem Jahre überhaupt nicht haben,« erwiderte Seltmann in einem Tone, der jeden Widerspruch ausschloß.
An dem Tage, der Hellmut bringen sollte, fuhr der Oberförster selbst nach Kupferberg, um den Jungen an der Bahn in Empfang zu nehmen, was bisher stets Sache der Mutter gewesen. Diesmal würde sie ihn überhaupt nicht zu sehen bekommen; er sollte sofort in das Pfarrhaus befördert werden.
Anna war wie von Sinnen. Eine solche Vergewaltigung! Wenn sie selbst körperlich gemißhandelt worden wäre, so hätte sie das leichter ertragen als den Gedanken, daß ihr Junge für sie büßen solle. Das arme Kind würde ja gar nicht den Zusammenhang verstehen. Und ihn zu wissen in den Händen eines Paares, dem sie gegen ihr Fleisch und Blut jede Grausamkeit zutraute! Hellmut, dieses lebendige, Freiheit gewohnte Kind, in Korrektion gegeben! Verzweifeln würde er!
Nein, sie wollte das nicht ertragen! Aber was 163 für Mittel hatte sie in der Hand, es zu verhindern? Dem Jungen schreiben? – Man würde ihm den Brief nicht geben. Selbst zu ihm gehn? – Man würde sie nicht an ihn heran lassen.
Es gab nur einen Menschen, der hier helfen konnte, der eine, zu dem sie trotz allem, was geschehen, noch immer das tiefste Vertrauen hegte, der ihr helfen mußte, weil sie ihn so grenzenlos liebte.
Heute, das wußte sie, würde sie den Mut finden, bis zu ihm zu dringen; heute brauchte sie nicht mehr zagend von ferne zu stehen, sich nicht getrauend, seine Schwelle zu überschreiten. Heute gab ihr ja das Unglück ein Recht, vor ihn hinzutreten und zu bitten: hilf mir!
*
Der Oberförster war noch nicht lange fort auf seinem Schlitten, als sich Anna in der Richtung nach dem Mönchsroder Forsthause auf den Weg machte.
Sie kannte den Weg ja nur zu gut, den Berg hinan und hinab; in anderthalb Stunden konnte man dort sein. Tapfer schritt sie durch den hohen Schnee.
Rüstädt war nicht zu Haus. Aber die Aufwartung sagte, er esse jeden Tag pünktlich um zwei Uhr zu Mittag, eine halbe Stunde vorher komme er herein, um sich umzuziehen. Anna beschloß also, zu warten.
Klopfenden Herzen betrat sie das Zimmer, das 164 er bewohnte; kaum, daß sie es wagte, sich auf den Stuhl zu setzen, den ihr die Aufwartung diensteifrig anbot. Sie sah sich um. Da waren die bekannten Gegenstände, die ihn umgaben: Bilder, Rauchzeug, Schreibsachen, Bücher, alles, wie er es auch in ihrem Hause um sich gehabt hatte. Dasselbe feine Aroma des Tabaks, den er zu rauchen pflegte, herrschte auch hier. Dort hing sein Gewehr, auf dem Tisch lag ein Jägerhut, ein paar Handschuhe von Wildleder darüber. – Die ganze Persönlichkeit stand mit einem Male zum Greifen deutlich vor ihr, als sie diese Zeugen seines Tageslebens wiedererkannte.
Anna bemerkte, daß die Einrichtung des Zimmers manches zu wünschen übrig ließ; an verschiedenen Stellen lag Staub. Wie gern hätte sie hier Ordnung gestiftet! Es war so schmerzlich, zu denken, daß er es nicht gut habe. Wie hätte sie ihn umgeben mögen mit aller fürsorgenden Aufmerksamkeit! Wie gern würde sie jede Mühe und Anstrengung auf sich genommen haben, wenn es ihm gegolten!
Rüstädt kam pünktlich zur angegebenen Zeit. Anna sah ihn vom Walde hereinkommen mit den beiden Hunden. Pfeifend schritt er an den niederen Fenstern des Zimmers vorbei. Dann hörte sie, wie er draußen die Hunde einsperrte; bald darauf trat er ein.
Anna hatte sich erhoben. Er starrte sie an wie eine Geistererscheinung.
165 Er fühlte es mit jäher Erkenntnis: sein Schicksal stand vor ihm. Es sollte ihm nichts erspart bleiben. Er hatte geglaubt, leichteren Kaufs davonzukommen. Aber ein liebendes Weib läßt sich nicht so abschütteln.
Rüstädt war sehr bleich geworden. Schnell ging er ein paarmal im Zimmer auf und ab; dann plötzlich, seiner Pflichten als Hausherr eingedenk werdend, reichte er Anna die Hand und führte sie zu einem Stuhle.
Sie dankte ihm mit einem Blicke, von seiner Aufmerksamkeit angenehm berührt. Sie hatte es ja gewußt, daß er ihr freundlich begegnen würde. Ihr Zutrauen hatte sie nicht getäuscht.
Ermutigt durch den guten Anfang, begann sie von dem zu sprechen, was sie hergeführt: Hellmut und das Geschick, das ihm zugedacht sei. Die Zunge war ihr nun einmal gelöst, sie berichtete weiter von ihren eignen Bedrängnissen, was sie alles durchgemacht in der letzten Zeit. Davon erzählte sie mit der eifernden Geläufigkeit einer Frau, die sich in ihrem Rechte weiß.
Welchen Eindruck ihre Worte auf Rüstädt machten, konnte sie nicht erkennen. Er stand an einem der Fenster und blickte hinaus, wohl bestrebt, ihr seine Züge zu verbergen.
Rüstädt hörte jedes Wort und war ergriffen. Schwerer noch als das, was sie sagte, traf ihn das, was sie verschwieg. Was hatte sie leiden müssen durch 166 ihn und um ihn! Und der schwerste Vorwurf, zwischen ihren Worten unausgesprochen, aber für sein Ohr doch deutlich vernehmbar: erst hast du meine Liebe genossen, und dann bist du gegangen, hast mich im Stiche gelassen in schwerer Zeit, hast mich der Gefahr ohne Schutz überlassen. Mit unerträglicher Wucht fiel ihm die Anklage aufs Gewissen: Feigheit!
Und trotz alledem dieses Vertrauen zu ihm! Keine Bitterkeit, keine Rache, keine Drohung! Nur dieser unermeßliche Glaube. Das entwaffnete ihn vollends. Er fühlte sich klein ihr gegenüber. Sie war ihm rührend und verehrungswürdig gleicherzeit. Wie kleinlich und niedrig erschien sein Verhalten im Vergleich zu dem ihren! Wahrhaftig, dessen war auch nur eine Frau fähig, einer solchen, die bitterste Kränkung vergessenden und vergebenden Liebe.
Sie bat, daß er ihr den Jungen verschaffe; er müsse eingreifen, dürfe nicht dulden, daß das Kind der Mißhandlung ausgesetzt werde.
Rüstädt sah sofort, daß das, was sie sich in weiblicher Lebhaftigkeit als ganz leicht ausführbar vorgestellt hatte, unmöglich sei. Wie konnte er sich in Hellmuts Erziehung einmischen? Nein, hier durfte er nichts thun! Der Angelegenheit mußte er sich – das geboten Vernunft und Zartgefühl – fernhalten.
Aber ganz andere Gedanken waren in ihm rege geworden. Möglichkeiten erblickte er vor sich, an die 167 er wohl schon früher verstohlen gedacht, aber die er absichtlich in den Hintergrund gedrängt hatte. Klarer und klarer sah er den Weg. den er zu gehen haben würde, um aus diesem Wirrsal widerstreitender Gefühle und Pflichten herauszukommen. Und auf diesem Wege würde er auch die Mutter, die jetzt ratlos zu ihm geflüchtet war, auf diesem Wege würde er auch Anna herausführen aus allen ihren Bedrängnissen.
Eine klare, schlichte Stimmung hatte sich seiner bemächtigt; wie einem zu Mute ist, wenn man in einer sittlichen Frage einen großen Entschluß faßt.
Mit ernsten, ruhigen Worten vermochte er Anna auseinanderzusetzen, daß er ihren Wunsch jetzt nicht erfüllen könne. Anna brach in Thränen aus. Wenn er ihr nicht helfen wollte, wer dann? –
Er redete ihr in freundlicher Weise zu und brachte sie schließlich dazu, die Sache ruhiger anzusehen. Der Oberförster liebte sein Kind doch schließlich auch, und etwas wirklich Schlimmes würde dem Jungen sicherlich nicht geschehen.
Noch hielt er die Zeit nicht für gekommen, ihr von den Plänen zu sagen, die in seinem Innern gärten. Er nahm ihr nur das Versprechen ab, daß sie sich in Geduld fassen wolle. 168