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Es winterte sich zeitig ein, wie der alte Schrupper prophezeit hatte. Während in der Ebene noch der Spätherbst mit braunen, roten und gelben Farbentönen unumschränkt im Regimente saß, lag im Quellenhayner Reviere bereits eine leichte Schneedecke. »Nun sehen wir nichts mehr von Wiesen und Saaten bis zum April!« sagte Schrupper. Er war hier oben geboren und kannte den Winter seiner Berge aus langjähriger Erfahrung.
Major von Rüstädt, der bei Oberförster Seltmann seine forstmännischen Kenntnisse vervollkommnen wollte, 33 wurde im Schlitten abgeholt. Es war ein tolles Schneegestöber, durch welches Schrupper den Herrn von der Station nach der Quellenhayner Oberförsterei fuhr. Man hielt an der einsamen Waldschenke; der Fahrgast verdachte es dem Kutscher nicht, daß er unter solchen Witterungsverhältnissen eine Herzstärkung zu sich nahm, ja, er selbst genehmigte auch eine solche.
Der Major fand vor Schruppers kritischem Blicke Gnade. Er schien ein feiner Mann zu sein. Mehrere Koffer brachte er mit, einen Gewehrkasten und einen edlen langhaarigen Hühnerhund von rotgelber Farbe. Er selbst war unter seinem Fahrpelz, der noch den roten Uniformkragen aufwies, in einen Anzug von starkem braunen Loden gekleidet; Tirolerhut und Jagdstrümpfe vollendeten seinen jägermäßigen Aufzug.
»Für den werden Sie bei uns keine Verwendung haben,« sagte Schrupper, nachdem er den Hund mit kundigem Blicke gemustert; »wir haben nur Holzjagd.«
»Ich komme auch nicht der Jagd wegen zu euch!« erwiderte der Major. »Der Hund ist mein lieber Freund.«
Das war die ganze Unterhaltung gewesen auf der langen Fahrt. Der Major schien kein Mann von vielen Worten, vielleicht machten ihm auch seine Gedanken zu schaffen.
Major von Rüstädt hatte von seinem achtzehnten Lebensjahre an, wo er als Avantageur eingetreten, 34 bis vor einigen Jahren Uniform getragen. Seine Carriere war, da er zeitig aus der Front in den Dienst des Hofes berufen wurde, eine ungewöhnlich schnelle gewesen. Er hatte mehrere Jahre als militärischer Begleiter eines Prinzen fungiert, zuletzt war er Flügeladjutant seines Fürsten gewesen.
Den Abschied hatte er infolge einer Hofintrigue nehmen müssen. Eine der zahlreichen Prinzessinnen sollte verheiratet werden. Zu aller Welt Befremden hatte sie den durchaus ebenbürtigen Bewerber ausgeschlagen, dabei durchblicken lassend, daß ihre Neigung einem andern gehöre. Man zerbrach sich eine Zeitlang am Hofe den Kopf, welcher Unselige gemeint sein könne; schließlich sprach die Vermutung dafür, daß es Rüstädt sei. Er war im Hofdienst nicht selten mit der Prinzeß zusammengekommen und als eleganter Offizier von schmuckem Äußeren wohl geeignet, einem Mädchen, vielleicht sogar einer Dame von Geblüt, den Kopf zu verdrehen. Der Korb war am jenseitigen Hofe übel vermerkt worden; ein Prügelknabe mußte gefunden werden. Rüstädt hatte Rivalen, die diese Gelegenheit nicht vorübergehen ließen, ihn aus seiner bevorzugten Stellung zu verdrängen.
Er selbst ahnte zunächst nichts von dem Unwetter, das sich über ihm zusammenzog. Erst an der kühlen Behandlung von oben und der Schadenfreude der Hofschranzen merkte er, daß er in Ungnade gefallen sei. 35 Er bat um den Abschied, der ihm ohne weiteres gewährt wurde. Zwar bot man ihm Vermittlung an, ihn bei einem benachbarten Kontingente unterzubringen; aber er war zu stolz, das anzunehmen. Die Art, wie man ihn behandelt, hatte ihn tief verletzt, um so mehr, als er sich in der Sache mit der Prinzeß schuldlos wußte. Hatte die Dame etwas für ihn gefühlt, so durfte er sich sagen, daß er nichts dazu gethan habe, solche Gefühle herauszufordern.
Diese ganze, für sein Ehrgefühl peinliche Angelegenheit öffnete ihm die Augen über die Zweideutigkeit des Hofdienstes. Er hatte sich wahrlich nicht dazu gedrängt; man hatte ihn seiner Fähigkeiten wegen dazu ausersehen, ihn herausgerissen aus dem eigentlichen Soldatenleben, das seinen Neigungen weit mehr entsprach als dieses höhere Lakaientum. Er glaubte sich zwar die Zufriedenheit und das Wohlwollen seines Fürsten gewonnen zu haben; mehr als ein Huldbeweis ließ ihn das annehmen. Aber welchen Wert hatte solche Huld, wenn die erste beste Verdächtigung sie in Ungnade verwandeln konnte? Rüstädt fühlte sich beleidigt und sah doch nicht, an wen er sich halten solle, um sich Genugthuung zu verschaffen. Er hatte die besten Jahre seines Lebens im Fürstendienste zugebracht, und jetzt trug er nichts davon als eine Majorspension und eine Anzahl Bratenorden, die ihn an viele Lasten und Entsagungen, aber an wenig wirkliche Freuden erinnerten.
36 Rüstädt stand in jenem Lebensalter, wo der Mann sich noch im vollen Besitze der Kraft fühlt, aber doch schon seine Grenzen kennt und weiß, daß das Alter nicht mehr allzu fern ist; wo man sich daher sehnt, Früchte reifen zu sehen am Leben. Aber er hatte ja nicht einmal Samen ausgestreut, nichts hatte er für sich selbst angebaut, nicht das bescheidenste Gärtchen gepflegt, das ihm jetzt als Zufluchtsstätte hätte dienen können.
Er stammte aus einer Offiziersfamilie. Die Eltern waren längst tot, die Schwestern hatten sich verheiratet. Er besaß Verwandte und Bekannte genug, und doch wußte er auf der weiten Welt niemanden, den er ganz sein hätte nennen können. Sicherlich wäre es ihm nicht schwer gefallen, eine Frau zu bekommen, wenn er sich überhaupt mit Heiratsgedanken getragen hätte. Er stellte sehr hohe Ansprüche an Erscheinung, Erziehung, Formen und Herkunft. Vor dem Elend spießbürgerlichen Familienlebens schauderte ihm. Da noch lieber ein einsames Junggesellentum, nur mit der Verantwortung für sich selbst belastet.
Und doch wieder graute ihm vor diesem ziel- und zwecklosen Dasein des Pensionierten, wie er es an so manchem Kameraden erlebt hatte. Nein, das war nicht seine Sache, den ganzen Tag mit Zeitungslesen, müßigem Geschwätz am Biertisch, Kaffeehausgehen, oder Theaterlaufen zu verbringen. Sollte auch aus ihm solch ein neunmalkluger, über alles orientierter 37 Raisonneur werden, deren es so viele unter den Abgehalfterten gab? Und auch dazu war er verdorben, den Onkel seiner Neffen zu spielen. Und gar erst im Frack mit allen Dekorationen behangen, herumgereicht zu werden als liebenswürdiger Schwerenöter, der keinen Spaß verdirbt und eine Gesellschaft anputzt – nein, um Gottes willen, nichts von alledem!
Rüstädt kannte die große Welt. Er hatte in seiner Stellung die Augen offen gehalten. Er war gewohnt, als Begleiter von Fürsten die Menschheit in Parade an sich vorbeidefilieren zu sehen. Er wußte, was hinter diesen Loyalitätsbezeugungen, diesen feierlichen Mienen steckte, dieser gemachten Festtagsstimmung, die das gewöhnliche Volk seinem Fürsten gegenüber aufzuführen für nötig hält, und die von diesen nur zu gern für echt genommen wird. Er war als stummer Betrachter dieses Mummenschanzes Skeptiker geworden und hielt im allgemeinen nicht viel von den Menschen, weder von den großen noch von den geringen.
Sein Ideal wäre es gewesen, irgendwo zu leben, wo man von seinesgleichen möglichst wenig gesehen hätte. Falls er das Geld dazu gehabt, würde er sich ein Landgut gekauft haben, möglichst abgelegen, um dort in Frieden seinen Kohl zu bauen. Aber er mußte damit rechnen, daß er kaum mehr besaß als seine Pension. Er war doch noch zu jung, um als einzigen Lebenszweck das Studium zu betrachten, wie man 38 viertausend Mark jährlich am besten einteilen könne. Er fühlte die Kraft in sich, noch etwas zu leisten und damit sich selbst eine Art von Befriedigung zu gewinnen.
Von den wenigen Berufen, die zu ergreifen für Rüstädt jetzt noch möglich war, zog ihn der des Forstmanns am meisten an. Er war ein begeisterter Naturfreund und hatte als Adjutant eines jagdliebenden Fürsten Gelegenheit gehabt, sich im Weidwerk zu vervollkommnen. Er liebte überhaupt die grüne Farbe, fühlte sich zu allem, was Forst und Jägerei anging, hingezogen. Von allen Gesellschaftsklassen, die er beobachtet hatte, schienen ihm die Forstleute noch am meisten Rückgrat und rechtschaffene derbe Männlichkeit zu besitzen. Und was war das für ein schöner, des Mannes würdiger Beruf: Kultivieren, Waldungen anpflanzen und hegen für die Zukunft. Konnte es eine nützlichere, im besten Sinne des Wortes konservativere Thätigkeit geben? Dabei unabhängig und vor allem unbehelligt. In seinem Forsthause würde man sitzen mitten im Walde, allein mit seinen Hunden und Bäumen, weitab von allen Intriguen und Schikanen. Das war das Bild, das den glänzenden Offizier und verwöhnten Hofmann schließlich von allen Zukunftsträumen am meisten beglückte.
Rüstädt wußte genau, daß sich ein solcher Traum nur verwirklichen läßt durch Arbeit. In seiner jetzigen Seelenverfassung sehnte er sich nach Thätigkeit, nach 39 der Möglichkeit, endlich mal seine Kräfte zu erproben an einer ernsten Aufgabe, nach so langem Phäakenleben.
Er besuchte eine Forstakademie. Zu statten kam ihm dabei, daß er, ehe er in die Armee eingetreten war, das Abiturientenexamen abgelegt hatte. Zwei Jahre lang hörte er die Vorlesungen an der Akademie mit Fleiß. Sie befriedigten ihn nur teilweise. Die Vorlesungen waren meist auf ein jüngeres, harmloseres Auditorium berechnet. Sein Wissensdurst fand nicht die rechte Nahrung; er hatte nicht das Gefühl, als ob sein Gesichtskreis hier wesentlich erweitert werde. Als einer, der nicht mehr viel Zeit zu versäumen hat, wurde Rüstädt ungeduldig. Er sehnte sich aus der grauen Theorie der Lehrsäle weg in die grüne Wirklichkeit des Waldes. Angewandt wollte er dieses klug ersonnene System sehen. Vor allem wünschte er zu erproben, wie weit er selbst im stande sei, das Erlernte in Thaten umzusetzen.
Er unterbrach also den vorgeschriebenen, langwierigen Lehrgang und beschloß, sich für einige Zeit einem Praktiker in die Lehre zu geben. Auf seine Erkundigungen hin erfuhr er, daß Oberförster Seltmann, was erprobte Tüchtigkeit anlange, der Erste sei unter seinesgleichen Auch das Abgelegene des Quellenhayner Reviers sagte seinem auf Weltflucht gerichteten Geschmacke zu.
Er schrieb also an den Oberförster, legte ihm 40 seine Wünsche dar und erhielt bald eine zusagende Antwort.
Wenn Oberförster Seltmann geglaubt hatte, er werde es in dem Freiherrn von Rüstädt mit einem verwöhnten Herrchen zu thun bekommen, das nur zu bald ein Haar in der Sache finden und sein Lehrgeld im Stich lassen werde, hatte er sich gründlich getäuscht. Schon an der Art, wie der Mann sich ausgerüstet hatte mit derber, praktischer Forstmannskleidung, sah der Oberförster, daß er keinen Gecken vor sich habe. Sehr bald merkte er auch an der Unterhaltung, daß der Baron ein ausgetragener Weidmann sei. Nun erschrack der alte Isegrimm allerdings; sollte der Mann etwa unter dem Vorgeben, hier oben forstmännischen Studien obzuliegen, gekommen sein, um ihm seine Hirsche abzuschießen? – Aber in dieser Beziehung konnte ihn Rüstädt beruhigen. Er hatte zwar seinen Drilling mitgebracht und seinen Hund, aber nur, weil er sich von diesen beiden Gefährten ungern getrennt hätte. Zur Beruhigung des Alten ging er nur mit einem Stock bewaffnet ins Revier und führte Unkas stets an der Leine aus.
Daß es dem Fremden mit dem Studium des Forstfaches ernst sei, sollte der Oberförster übrigens bald glauben lernen. Der Major ließ sich jeden Morgen um 41 fünf Uhr durch seine Weckuhr aus dem Bette trommeln. Mit dem andern Forstpersonal ging er hinaus auf die Holzschläge, wo jetzt eifrig gearbeitet wurde. Er beteiligte sich am Nummerieren und Vermessen. Selbst beim Aufbereiten der Nutzhölzer legte er, um die Sache von Grund auf kennen zu lernen, Hand ans Werk. Der Oberförster überraschte ihn eines Tages, wie er in einer gestrickten Ärmelweste gleich den Waldarbeitern darüber her war, eine starke Fichte zu fällen.
Wenn Oberförster Seltmann zum Abnehmen und Abposten der Schläge hinausging, war der Major sein steter Begleiter. Das gab dann Anlaß zu einer zwanglosen Art von Unterricht. Seltmann war nicht besonders redselig von Natur, aber sein Schüler wußte ihn durch beharrliches Ausfragen zur Mitteilsamkeit zu bringen.
Da war einmal zu erklären, warum hier Fichten angeschont worden waren und dort Lärchen, weshalb man hier Fichte und Kiefer in schachbrettartigem Verbande gepflanzt, oder in welchen Fällen Hügelpflanzung der Reihensaat vorzuziehen sei. Das wichtige Gebiet der Bodenklassen gab unerschöpflichen Stoff zu Bemerkungen. Frost und Eis verhinderten zwar in dieser Jahreszeit, in den Boden zu dringen und Proben des Erdreichs zu entnehmen, und auch die Flora: Blumen, Stauden und Gräser, die bei Beurteilung der Bodenklasse so wichtig ist, war durch die Schneedecke dem 42 Auge entzogen, aber doch konnte der Neuling unter kundiger Führung lernen, allein aus dem Äußeren des Stammes, seinem Umfang, seiner Länge, der Färbung seiner Rinde, dem Moos daran und manchem andern Kennzeichen, auf die Güte des Mutterbodens zu schließen, aus dem er seine Nahrung sog. Und was gab es da noch alles über die Bonitierung, den Umtrieb, die Verjüngung zu sagen! Warum man hier Kahlschlag machte und dort Plenterschlag; weshalb hier umgewandelt, da durchforstet wurde. Wie alte Fehler sich rächten; wie zum Beispiel noch nach fünfzig Jahren die Entnahme von Streu in dem kümmerlichen Stande des Holzes sich deutlich abzeichnete. Oder dort das kernfaule Holz deutete auf ungenügende Durchforstung in der Jugend zurück. Und dann die vielen kleinen Handwerkskniffe, mit denen eine geregelte Forstkultur der Natur unter die Arme greift: die Umsäumungen und Loshiebe, damit sich ein Bestand an die Freiheit gewöhnen soll, die Windmäntel, damit ein andrer vor dem Sturm geschützt werde. Das Unterbauen, auf daß der Boden stets unter Schatten bleibe, die Läuterung, damit Luft und Licht an den jungen Baum herandringe.
Und alles das wurde an der Hand von Karten und Tabellen geprüft. Ein groß angelegter Plan lag dem Ganzen zu Grunde. Der Ertrag konnte auf Jahrzehnte im voraus berechnet werden. Ein Posten 43 kontrollierte da den andern. Das, was das willkürlichste, freieste Ding der Welt zu sein schien, das Wachstum der Bäume, ward bis zu einem gewissen Grade durch menschliche Intelligenz vorausbestimmt und festgelegt.
Es lag nicht nur Ordnung und System in diesem Getriebe, sondern wirkliche Größe. Rüstädt begriff jetzt erst ganz, warum ihm das Forstfach anziehender erschienen als irgend ein andrer Beruf. Es war eine ernste Beschäftigung, würdig, eines Mannes Leben auszufüllen. Wälder aufbauen, die man niemals mit eignen Augen erwachsen sehen würde, Bäume anpflanzen, die kaum die nächste Generation fällen und nutzen mochte! Griff man damit nicht weit in die Zukunft hinaus? Und welche Summe von Treue, Fürsorge und Entsagung war in solch einem Walde aufgespeichert! Welch ein redendes Zeugnis war er von menschlicher Kraft und menschlichem Charakter! –
Rüstädt hätte sich keinen besseren Führer wünschen können als den alten Seltmann. Der hatte die größte Hälfte seines Lebens hier oben zugebracht. Die Bestände unter vierzig Jahren waren vor seinen Augen aufgewachsen. Das Revier war sein Heim, sein Garten, ein Teil seines Lebens. Er selbst glich solch einem alten, knorrigen Stamme, von oben bereift, mit Flechten behangen, aber im Kernholz noch voll und zähe. Ein großer Theoretiker war Seltmann nicht, und von der Buchgelehrsamkeit hielt er wenig. Vier Jahrzehnte 44 Praxis trennten ihn von der Wissenschaft. Aber wenn er eine Behauptung aufstellte, dann war sie begründet durch hundertfältige Erfahrung. Und gerade diese ergraute Kennerschaft hatte Rüstädt gesucht, nachdem er in den Hörsälen so viel blasse Theorie hatte in sich aufnehmen müssen.
Die beiden Männer kamen gut miteinander aus. Rüstädt sah über gewisse gesellschaftliche Mängel hinweg; denn in dieser Umgebung suchte man keinen abgeschliffenen Salonmenschen. Und der Oberförster achtete in dem Major einen Mann, der mit Fleiß und Energie bestrebt war, sich in eine ihm bis dahin völlig fremde Thätigkeit einzuleben. Dem Alten schmeichelte übrigens auch – wenn er sich das auch um keinen Preis anmerken lassen wollte –, daß eine Persönlichkeit wie der Major, der am Hofe in einflußreicher Stellung gewesen, nun bei ihm in die Lehre ging. Er hatte in früheren Jahren ja manchen Eleven gehabt, aber das waren junge, unerfahrene Menschen gewesen, bei denen die gute Lehre zu einem Ohre hinein und zum andern hinaus gegangen war. Hier hatte er nun endlich mal einen gefunden, bei dem die Unterweisung sichtlich anschlug; und es ist immer für ältere Leute ein erhebendes Bewußtsein, im Schüler die Tradition weitergepflanzt zu sehen. Der Meister fühlt dadurch seine Persönlichkeit über das Grab hinaus fortgepflanzt.
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45 Mit ganz andern Augen betrachtete Anna den Gast in ihrem Hause. Man sah ihn eigentlich nur zum Mittagessen, denn die andern Mahlzeiten nahm der Major in seinem Zimmer ein. An Unterhaltung hatte Anna durch den fremden Herrn auch nicht gewonnen; denn war es früher einsilbig zugegangen zwischen ihr und dem Gatten, so unterhielten sich jetzt die Männer über Forst und wieder Forst. Und dieses Thema interessierte die junge Frau heute ebenso wenig wie vordem. Über Unhöflichkeit von seiten des Gastes konnte sich Anna nicht beklagen; er machte ihr beim Eintreten und beim Gehen stets seinen Kratzfuß, und wenn er ihr je einmal auf Treppe oder Flur begegnete, zog er den Hut so tief, daß es sie eigentlich genierte. So höflich behandelt zu werden, war sie gar nicht mehr gewohnt. So viel Korrektheit hatte fast etwas Beängstigendes. Da hätte er doch lieber mal einen Blick auf ihr Kleid werfen können; es schien geradezu weggeworfen an ihn, daß sie neuerdings zum Mittagessen immer ihr Neuestes trug. Oder er hätte gelegentlich mal was erzählen können, etwas zum besten geben von seinen Erlebnissen; ein Herr wie er mußte doch Interessantes erlebt haben! Aber auf einen solchen Einfall schien er nicht zu kommen. Anna hätte weinen können vor Verdruß über die Geringschätzung. Manches an ihm gefiel ihr trotzdem recht gut. Er kleidete sich nach Art der Forstleute, aber in Stoff, Farbe und Schnitt 46 seiner Kleidung lag doch etwas Gewähltes, Verfeinertes. Seine ganze Erscheinung drückte Vornehmheit aus, ohne daß man zu sagen gewußt hätte, worin sie eigentlich liege. – Diese Hände! Anna konnte sich nicht entsinnen, je so etwas Gepflegtes gesehen zu haben. Und wie er mit diesen Händen umging, wie er ein Glas, eine Gabel damit ergriff, als sei es eine Ehre für den Gegenstand, von ihm berührt zu werden! Und was mochte der Mann mit seinem Haar anstellen, daß es diesen seidenartigen Glanz hatte? Sie war allerdings durch Seltmann nicht verwöhnt. Er war nie sonderlich für das Feine eingenommen gewesen, und jetzt im Alter ließ er sich erst recht gehen in Kleidung, Eßweise und Ausdrücken. Anna hatte das immer mit heimlichem Kummer gesehen, ohne hoffen zu dürfen, etwas daran zu ändern. Sie war wohl selbst auch schon so geworden? Womöglich verachtete sie dieser feine Herr, sah in ihr nur eine kleine, ordinär gekleidete, schlecht frisierte Person, nicht viel besser als die gewöhnlichen Dorffrauen; wenn er sie überhaupt sah! Denn der umflorte Blick seiner grauen, träumerischen Augen glitt über sie hinweg, an ihr vorbei, als sei sie für ihn das gleichgültigste Ding der Welt. Sein Verhalten ärgerte sie auch noch in andrer Weise, als Hausfrau. Nach Tisch wurde in der Quellenhayner Oberförsterei Kaffee getrunken. Anna besaß ein echt Meißener Kaffeegeschirr von gewähltem Muster, ein Hochzeitsgeschenk. 47 Obgleich bereits einigemal zum Kaffeestündchen eingeladen, hatte der Major stets dankend abgelehnt: er vertrage Kaffee nicht. Sie glaubte ihm das nicht; wahrscheinlich traute er ihrem Kaffee nicht. Aber wie man durch das neue Mädchen, die an der alten Franziska Stelle angenommen war, erfuhr, kochte er sich auf seinem Zimmer Thee. Ja, er hatte verschiedene Büchsen mitgebracht, Konserven enthaltend; also die Kost war ihm auch nicht mal recht. Dabei war noch niemals im Quellenhayner Forsthause so opulent gelebt worden wie jetzt, wo man solchen Herrn in Pension hatte. Daß der Major jeden Morgen um fünf Uhr heißes Wasser zum Bade verlangte, erleichterte den Gang des Hauswesens auch nicht gerade. Von seinem Zimmer ging in den Abendstunden, wo er dort allein war, ein feiner aromatischer Tabaksgeruch aus, der das ganze Haus erfüllte.
Anna vermied es anfangs peinlich, sein Zimmer zu betreten, das doch in ihrem Hause lag. Aber das neue Mädchen redete ihr zu, sie müsse sich einmal die Sachen ansehen, die der Herr habe. Wunderdinge wußte die Person davon zu erzählen. Endlich ließ ihr die Neugier doch keine Ruhe, und eines Morgens, als Rüstädt mit dem Oberförster ins Revier gegangen war, trat Anna in das Zimmer, klopfenden Herzens. Das Mädchen, das in den Sachen des Fremden schon ganz zu Haus war, gab die Erklärung dazu. Er ließ ja 48 alles unverschlossen liegen: Toilettengegenstände, Geld, selbst Briefe. In einem Kasten von Olivenholz lagen Photographien aufgeschichtet, Bilder von Damen und Herren, Ansichten von Plätzen, bunt durcheinander; viele trugen Unterschriften, auch solche von fürstlichen Persönlichkeiten waren darunter. In einem Etui lagen die Orden und Ehrenzeichen. Dann gab es ein kostbares Reisenecessaire von Juchtenleder, mit Krystallglas, Silberdeckeln und Elfenbein. Auf einem an verborgener Stelle angebrachten Schilde hatte das Auge der indiskreten Hausmagd folgende Inschrift entdeckt;»Die Prinzessen Luise und Ernestine ihrem besorgten Reisemarschall Freiherrn von Rüstädt«. Ferner waren da Bücher mit und ohne Abbildungen; vor allem französische Romane in gelben Umschlägen schien der Major zu bevorzugen. Auch in die Briefgeheimnisse des Herrn wollte die Person ihre Herrin einweihen, denn da seien erst interessante Geschichten drin, – aber da wurde Anna sich mit einem Male bewußt, was sie thue. Sie erschrak vor sich selbst und verließ das Zimmer, das nie wieder zu betreten, solange der Major im Hause sei, sie sich fest vornahm.
Die Anwesenheit des Fremden hatte den Zwiespalt in ihrem Wesen vermehrt. Durch das Eintreten dieses Mannes in ihren Gesichtskreis, der aus einer fremden, glänzenden Welt gleichsam herniedergestiegen kam zu ihnen, wurde die Erinnerung an jene verfeinerte 49 Lebensweise wieder in ihr wach gerufen, die sie in ihrer Mädchenzeit gekannt hatte. Da gingen mit einem Male viele alte Wunden in ihrem Innern auf, die nur oberflächlich verheilt gewesen waren. Warum mußte sie über all das jetzt wieder grübeln, jetzt, wo nichts mehr zu ändern war?
Sie mußte ihre Mutter anklagen, die auf dem kleinen Friedhofe des nächsten Kirchdorfes schlummerte, ihre Mutter, der zuliebe sie diesen Schritt gethan, einen Mann zu nehmen, den sie im besten Falle achten konnte, wie vielleicht eine Tochter ihren Vater achtet. Was hatte sie nun, wo ihre Mutter tot war? Ihren Jungen! Aber auch der war ihr genommen worden. Auch Hellmut stand schon da draußen in jener großen Welt, jenseits des Waldes, in der sie auch einmal gelebt hatte, die ihr jetzt wie ein verlorenes Paradies erschien. Jeder, der von da draußen zurückkam, brachte etwas mit von dem Glanz, dem Duft des wirklichen Lebens. Ja, da draußen gab es Schönheit und die Befriedigung von tausend Wünschen!
Sie war doch noch jung! Der Spiegel sagte es ihr täglich, daß sie noch nicht zu den Alten gehöre. Das Klopfen ihres Blutes sagte es ihr, das Vibrieren ihrer Nerven. Sie sehnte sich nach so vielem, was ihr das Leben noch schuldig war. Manches Glück war ihr gezeigt worden von ferne, aber so oft sie sich anschicken wollte, danach zu greifen, ward es ihr grausam entrissen. 50 Nun saß sie hier oben im düsteren Waldreviere wie ein Vogel hinter den Stäben seines einsamen Käfigs. Sollte das das Ende sein? Sollte sie weiter so leben in dieser zermürbenden, die Nerven auf die Folter spannenden Einsamkeit der Waldeseinöde, bis sie wirklich eine alte Frau sein würde?
In ihrem innersten Herzen glaubte sie daran selbst nicht. Es war etwas in ihr: eine Hoffnung, unausgesprochen, scheu, und doch im geheimen innig von ihr geliebkost, daß es für sie noch einmal Frühling werden müsse nach so langem Winter.