Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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XXII.

Die Taufe hatte an einem Freitage stattgefunden; am Sonntage darauf, im Frühgottesdienste, empfing Gertrud in Gesellschaft Marthas zum ersten Male das heilige Abendmahl aus der Hand ihres Bräutigams.

Noch während der Feier erschien in der Sakristei eine dem jungen Geistlichen wohlbekannte Persönlichkeit: Superintendent Großer.

»Ich werde dem Gottesdienste beiwohnen,« meinte der Oberhirte, nachdem Gerland sich zu ihm begeben und ihn begrüßt hatte. »Lassen Sie sich in keiner Weise durch meine Anwesenheit beeinflussen, Pfarrer Gerland! – Alles soll den gewohnten Gang gehen. – Mein Wunsch ist es gerade, Sie in der Ausübung Ihres Amtes vor der Gemeinde zu sehen – in der gewohnten Weise – wie gesagt!« –

Also eine Visitation! –

Der Superintendent hätte sich die Mahnungen ersparen können; Gerland lag die Absicht sehr fern, seinem Oberen Sand in die Augen zu streuen.

»Wer sind denn die beiden Damen da drüben?« – fragte der Prälat und wies nach der Haußnerschen Loge. »Sie fielen mir schon während der Abendmahlsfeier auf.«

»Die jüngere ist meine Braut – die ältere deren Tante.«

»Sehen Sie einmal an – Ihre Braut – so so!« Der Superintendent fixierte die beiden Frauen mit neugierigen Blicken. –

Gerland betrat die Kanzel in ziemlicher Ruhe – das Examengefühl quälte ihn nicht. – Er hielt seine Predigt so, wie er sie sich im Kopfe zurechtgelegt hatte, noch ehe er ahnen konnte, daß sein Oberer ihn visitieren würde. –

Als der junge Geistliche nach dem Segen in die Sakristei zurückkehrte, nickte der Prälat anscheinend zufriedengestellt und erklärte, im Pfarrhause das weitere mit Gerland besprechen zu wollen. –

»Es freut mich, Herr Amtsbruder!« begann er seine Kritik – nachdem er im bequemsten Stuhle von Gerlands Studierzimmer Platz genommen hatte. – »Es freut mich von Herzen, Ihnen meine volle Zufriedenheit aussprechen zu können über das, was ich heute gesehen und gehört habe. Die Form des Gottesdienstes ist würdig und weihevoll – die Liturgie angemessen – mit Ihrer Homiletik bin ich durchaus einverstanden – ich habe alles korrekt und der Agenda gemäß befunden. – Ganz besonders erfreut hat mich auch die gutbesuchte Kirche und die zahlreichen Abendmahlsgänger. Dergleichen ist in unserer Zeit ein herzerhebender Anblick und spricht dafür, daß der Diener am Worte seines Amtes in Treue waltet. – Nun, wie gesagt, es ist mir eine große Freude, solches Ihnen gegenüber aussprechen zu können, mein lieber Pfarrer! – Nachdem ich Sie kürzlich mit ernsten Worten vermahnen und warnen mußte und noch manche andere – Trübungen – will ich es nennen – zwischen Ihnen und Ihren Vorgesetzten eingetreten waren. – Nun ist Hoffnung vorhanden, daß sich das beilegen lassen wird, zu Ihrem eigenen Besten und zu Nutz und Frommen der Sache, der wir dienen.« –

Der Prälat ließ nach diesen Worten eine längere Pause eintreten – wohl um seine Gedanken, die ihm gelegentlich entschlüpften, zu sammeln.

»Ja – wegen dieser Beschwerde, die neulich bei dem Herrn Grafen einlief – von seiten der Gemeinde –«

»Um Verzeihung, Herr Superintendent, wenn ich Sie unterbreche – von einer Beschwerde von seiten der Gemeinde kann doch wohl nicht die Rede sein. – Das Schriftstück war anonym!«

»Wir wollen hier keine Silbenstecherei treiben, lieber Amtsbruder! – Ob anonym oder nicht anonym, ist schließlich gleichgiltig. Thatsache ist, daß sich eine Anzahl Mitglieder Ihrer Gemeinde durch Vorkommnisse – Handlungen von Ihrer Seite – befremdet und verletzt gefühlt haben, und darüber bei dem Patron vorstellig geworden sind. Diese Angelegenheit ist ja nun zu meiner größten Freude mehr oder weniger als erledigt zu betrachten. Denn das hauptsächlichste Gravamen war doch eben, daß sich die Gemeinde durch den intimen Verkehr ihres Hirten mit einem ungetauften Mädchen irritiert und gekränkt fühlte. Diese Anklage fällt in sich selbst zusammen, seit der bedenkliche Punkt des Nichtgetauftseins weggeräumt ist. Der Erfolg hat Sie gerechtfertigt, Herr Amtsbruder! – Sie haben erreicht, was niemand für möglich hielt. Die Tochter des Dissidenten, des bekannten Kirchenfeindes, haben Sie in den Schoß der Kirche zurückgeführt. – Nun erkenne ich auch darin das Walten der göttlichen Vorsehung. – Daß gerade Doktor Haußner das an seinem Kinde erleben muß! – Der Mann, der unserer Sache so vielen und so argen Schaden gethan hat – der auch ganz besonders mir viele schwere Stunden bereitet hat. – Liegt nicht eine wunderbare Gerechtigkeit in dem, was der Mann jetzt erleben muß? Sein Lebenszweck, sein Ideal: das einzige Kind in kirchenfeindlichen Traditionen zu erziehen und vom Christentum fernzuhalten, ist vereitelt. Ich will dem Manne gewiß nichts nachsagen – aber – recht blamiert – geradezu lächerlich, steht er doch jetzt da!« –

Der Superintendent kicherte in sich hinein. Er mochte wohl eigentlich erwarten, daß der jüngere Geistliche, ermutigt durch die kordiale Stimmung seines Oberen, in dieses Lachen mit einstimmen solle; aber Gerland that ihm nicht den Gefallen, wahrte im Gegenteil eine ernste Haltung.

»Die Sache hat berechtigtes Aufsehen gemacht, weit über die Diözese hinaus,« fuhr der alte Mann fort; »die Taufe einer erwachsenen Person ist ja immerhin ein äußerst seltener Fall bei uns – und nun besonders unter solchen Umständen. Dieses Ereignis ist ein Pendant im Guten zu der unseligen Affäre Fröschel im vorigen Frühjahre – stellt – möchte ich sagen – gewissermaßen eine Antwort dar, auf die Vorwürfe, die uns damals gemacht worden sind. Von seiten Roms wird uns ja immer spottend vorgehalten, daß wir gänzlich unfähig seien, Proselyten zu machen. Und gerade hier so nahe der Diaspora, wo man so manchen Übertritt zur römischen Kirche blutenden Herzens hat erleben müssen. – Da ist es um so wertvoller, wenn endlich einmal wieder durch einen eklatanten Fall dargethan wird, daß wir auch noch am Leben sind. – Auch oben wird der Eindruck ein äußerst günstiger sein. Kurz, mein lieber Pastor, Sie können mit Ihrem Erfolge zufrieden sein – und ich beglückwünsche Sie von ganzem Herzen!« –

Gerland machte einen Versuch, die Ansicht zu berichtigen, als sei Gertruds Taufe sein Werk. –

Aber es erging ihm hier gerade so, wie schon neulich Polani gegenüber; der Superintendent meinte mit wohlwollendem Lächeln: »Lassen Sie's gut sein, lieber Amtsbruder – lassen Sie's gut sein! Sie brauchen sich nicht zu schämen; diesen Ruhm können Sie getrost auf sich sitzen lassen. – Ich denke, die Gemeinde wird sich auch zufrieden geben. Der Anlaß des Ärgernisses ist ja nun weggeräumt, da die junge Dame der christlichen Gemeinschaft angehört. – Jetzt verstehe ich auch Ihr Verhalten mir und dem Grafen gegenüber – damals! – Ich bitte Sie, mein lieber, junger Freund, warum ließen Sie mich denn nicht durch eine Andeutung merken, was im Werke sei. – Wenn ich gewußt hätte, was Sie vorhatten,« – wieder lachte der Alte und nickte Gerland in kordialer Weise zu – »soviel Vertrauen durften Sie doch schließlich zu Ihrem Oberen haben, daß ich nichts ausplaudern würde. Wahrhaftig, ich wäre der letzte gewesen, der Ihnen etwas in den Weg gelegt hätte, und wir hätten uns manches Mißverständnis – und vor allem diese ganze Differenz mit Ihrem Patron erspart. Mir gegenüber – wie gesagt – sind Sie gerechtfertigt, und mit Ihrem Patron werden Sie gut thun, sobald wie möglich ein Aussöhnung zu suchen.« –

Gerland wandte ein, daß er keine Veranlassung habe, Graf Mahdem gegenüber den ersten Schritt zu thun, da er selbst und nicht der Graf der Beleidigte sei.

»Nun, da wollen wir doch nicht so hartköpfig sein, mein Lieber!« fiel ihm der Superintendent ins Wort. – »Sie vergeben sich durchaus nichts, wenn Sie versuchen, sich mit einem solchen Herrn zu stellen. Wir Geistliche müssen mit den weltlichen Autoritäten rechnen und mit ihnen leben. – ›Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe‹. – Nicht wahr, mein lieber Pastor?« –

Gerland ließ ihn reden, nur noch mit halbem Ohre hinhörend. Ernste Erwägungen beschäftigten seinen Sinn.

Was der Superintendent im Laufe der letzten Stunde vorgebracht hatte, bewies ihm von neuem, wie himmelweit entfernt seine eigne Auffassung von der seines Oberen entfernt war. Was jenem Alten als der Kernpunkt pastoraler Thätigkeit, was ihm wichtig und erstrebenswert galt, erschien ihm bedeutungslos und abgeschmackt.

Es war ein Gegensatz der Weltanschauungen. –

Gerland hatte die Überzeugung, daß jener gar nicht imstande sei, sich in seinen Seelenzustand zu versetzen. – Dieser Mann war irgendwo stehen geblieben in seiner Entwickelung. Bequem und selbstzufrieden lebte er dahin in flacher Mittelmäßigkeit, verknöchert an Herz und Geist. – Dabei war er durchaus von der gottgefälligen Wichtigkeit seiner Person durchdrungen. – So führte er eine behagliche Philisterexistenz, immer mit einem Auge nach oben, mit dem andern nach der öffentlichen Meinung schielend, über nichts glücklicher, als daß er nicht nachzudenken brauchte, daß es Autoritäten gab, daß alle Welträtsel gelöst und alle Fragen schon vorgekaut waren, und daß man niemals fehlgehen konnte, wenn man nur das that, was bei den Menschen für gut und richtig galt. –

Als dieser Alte sich heute in seiner ganzen Trivialität so vor ihm entkleidete, fühlte Gerland recht, daß er von dem offiziellen Kirchentum durch eine tiefe Kluft getrennt sei.

Schon während der Predigt hatte ihn das Gefühl bedrückt, daß er seinem Oberen gegenüber eine falsche Rolle spiele; aber erst während dieses Gespräches war die innere Unruhe zum unleidlichen Drucke geworden. –

Daß dieser Zustand der Zweideutigkeit auf die Dauer nicht bestehen konnte und durfte, wußte er nur zu gut. Er trug schwer an der Lüge, Diener einer Sache zu sein, von der er innerlich längst abgefallen war.

In der letzten Zeit hatte es geschienen, als trieben die Verhältnisse einer Entscheidung entgegen; und er hatte geradezu auf das Ereignis gewartet, das ihn zur Aussprache seiner innersten Meinung zwingen sollte. Loyalität, ein gewisser tiefeingewurzelter Respekt vor dem Institut der Kirche, der er solange gedient, hielt ihn schließlich noch immer davon zurück, frei von der Leber weg zu sprechen. Er wünschte einen äußeren Anlaß, der ihm gewissermaßen vor sich selbst ein Recht zum Vorgehen geben sollte. Die Differenz mit dem Patron und der vorgesetzten Behörde, glaubte er, würde den Prozeß beschleunigen. Und nun war, dank der Leisetreterei und des stets zur Versöhnung bereiten Opportunismus des Superintendenten, wieder ein fauler Frieden in Aussicht.

Sein Oberer hatte ihm volle Zufriedenheit ausgedrückt. Befremdend genug berührte den jungen Geistlichen dieses Lob; ja, es war beinahe wie ein Vorwurf auf seine Seele gefallen. Mehr denn je war es ihm gerade heute zum Bewußtsein gekommen, daß er vor der Gemeinde als ein Schauspieler agiere.

Was andres bedeutete das, als Menschenfurcht – Feigheit in der niedersten Form! – Mußte mit diesem Zustande der Heuchelei nicht endlich einmal gebrochen werden, wenn er nicht vor sich selbst sinken und seine Seele Schaden leiden sollte! –

Hier schien endlich die Gelegenheit gekommen, die er schon lange im geheimen ersehnt – die Gelegenheit zu sprechen – seinem Oberen gegenüber frei zu bekennen, wie es um ihn eigentlich bestellt sei. –

Superintendent Großer nahm eine sehr erstaunte Miene an, als Gerland mit seinem Geständnisse herauskam. Völlig aus dem Konzepte gebracht war er, wußte gar nicht, was er sagen sollte.

Das war ihm doch noch nicht vorgekommen, daß einer seiner Ephoren ihn frank und frei mit seinen religiösen Zweifeln bekannt machte.

»Nun hören Sie aber auf!« war das erste Wort, welches der Superintendent fand. »Das ist ja geradezu – geradezu – –«

Er schien keinen Ausdruck ersinnen zu können, der seiner Entrüstung entsprochen hätte.

»Was glauben Sie denn eigentlich noch! – Was bleibt denn dann übrig vom Christentum!« –

»Der Unterschied zwischen meinem Glauben und dem kirchlich erforderten ist nicht ein quantitativer, Herr Superintendent. In Grund und Herkunft meines Glaubens liegt der Unterschied begründet.« –

Aus dem leeren Blicke, mit dem ihn der Alte ansah, erkannte Gerland, daß das zu hoch gegriffen sei.

»Mein Glaube unterscheidet sich eben darin von dem offiziellen, daß ich ihn mir nicht binden lassen will und kann. Regeln und Lehrsätze, welche Menschen aufgestellt haben, sind für mich kein Glaube. Nur das kann ich glauben, was mich Gott selbst erkennen läßt.«

»Also vollständige Häresie – überhaupt Anarchie!« –

»Ich weiß mich darin mit den besten Menschen aller Zeiten und Völker einig – Christus und sämtliche Reformatoren eingeschlossen!«

»Und warum glauben Sie denn nicht, was Christus und die Reformatoren aufgestellt und in allezeit giltiger Norm niedergelegt haben?« –

»Weil das der geistigen Freiheit widerspricht. – Nirgends hat Christus das Forschen und Suchen verdammt. Im Gegenteil! Er ist uns das große Beispiel zur Entfaltung unserer Innenanschauungen, das Beispiel, wie jeder Einzelne Gott suchen soll. – Hätte der Herr Engherzigkeit, Verknöcherung und geistige Knechtung gewollt, so hätte er uns nicht von dem alten Bunde befreit und einen neuen gestiftet – hätte nicht gesagt: ›Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, die sollen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.‹«

»Hören Sie auf, Herr Pfarrer! Ich bin nicht gewillt, so etwas länger mit anzuhören!« rief der Superintendent jetzt in heller Wut. »Sie scheinen vollständig irrige Begriffe über Ihre dienstliche Stellung zu hegen, daß Sie es wagen, Ihrem Vorgesetzten mit derartig schamlosen Enthüllungen unter die Augen zu treten!« –

Gerland erklärte, daß ihn weiter nichts geleitet habe, als das Verlangen, der Wahrheit die Ehre zu geben, sein Gewissen zu entlasten und um Rat zu bitten, was er thun solle, um sich nicht an dem Predigtamte zu versündigen.

»Rat wollen Sie haben!? – Stecken Sie die Nase in die Bibel, das ist der Rat, den ich Ihnen erteile, mein Lieber!«

Gerland erklärte, daß er eifrig in der Bibel geforscht habe und täglich so thue, und daß gerade mit dem Verstehen der Schrift die Überzeugung in ihm gewachsen sei, daß die kirchlichen Dogmen nicht göttlichen Ursprungs seien.

Er war nun einmal im Zuge. Er legte alles dar: seine Vorstellung vom Wesen Gottes – seine Stellung zur Person Christi – seine Auffassung von den Sakramenten – vom Wunder – von Sünde und Gnade.

Sein Oberer saß mit offenem Munde da; offenbar rauschten die Gedanken, welche der junge Mann aussprach, an seinen Ohren vorbei. – Er vermochte nur das eine zu fassen: den Abfall von der Autorität der Kirche.

»Sie werden begreifen, Herr Superintendent,« schloß Gerland, »welch einen Gewissenszwang es bedeutet, mit solchen Anschauungen allsonntäglich vor die Gemeinde zu treten und das Apostolikum zu sprechen. – Die Gemeinde muß doch annehmen – und sie nimmt es an – daß sich mein Glaube mit dem Bekenntnis deckt. Ich belüge also meine Beichtkinder, belüge sie in den größten und heiligsten Dingen. Zu einer solchen Entwürdigung zwingt mich die Satzung der Kirche. – Wie rette ich mich vor meinem eignen Gewissen? – Darf ich das Priesteramt unter solchen Umstanden noch länger verwalten?« –

Es entstand eine längere Pause nach dieser gewichtigen Frage.

Gerland sah gespannt in die Züge seines Oberen. – Der alte Mann blickte hilflos drein. – Er schüttelte den Kopf und brach schließlich in eine Jeremiade aus.

»Schon wieder eine solche Sache!« rief er. »Man kommt aus den Skandalen nicht heraus! – Aber das ist der Geist unserer Zeit – das ist die Verführung – das ist die Freigeisterei – die wissenschaftlichen Theorieen – die Naturwissenschaft. – Das sind die Verführer der Jugend!«

Gerland wandte ein, daß es nicht Theorieen gewesen seien, die etwa von außen in ihn hineingetragen worden, nein! – Das Leben selbst sei es gewesen, mit inneren und äußeren Erlebnissen, das diese Entwickelung in ihm gezeitigt und ihn dahin geleitet hatte, wo er jetzt stehe.

»Aber so versuchen Sie es doch nur – nehmen Sie sich doch vor, glauben zu wollen!« rief der Superintendent in komischer Verzweiflung. »Was für mich, für uns andere genügt, wird doch für Sie jungen Menschen wirklich auch noch gut genug sein!« –

Was sollte Gerland darauf sagen?

Der alte Mann konnte oder wollte den Kernpunkt der Frage nicht begreifen. Für ihn hatten Gerlands Enthüllungen nur die Bedeutung: ein neuer Skandal – eine Fortsetzung des Falles Fröschel – ein Affront, den ihm einer seiner Ephoren anthat. – Er faßte die Sache rein von seinem persönlichen Standpunkte auf; war unwillig mit Gerland, daß er ihn in seiner Ruhe störte. – Im Geiste sah der Alte schon wieder die öffentliche Meinung, aufgeregt; Anfragen von oben – Visitationen! Lauter Dinge, vor denen er eine heilige Angst hegte. Und das alles, weil dieser junge Mensch an einzelnen Glaubenssätzen irre geworden war. Warum konnte er das nicht in Gottes Namen für sich behalten? Es gab genug Geistliche, die nicht alles wörtlich nahmen, was in der Schrift und der Augustana steht. – Aber die hielten wenigstens den Mund, brachten ihre Vorgesetzten nicht in die unangenehme Lage, zu solchen heiklen Dingen Stellung zu nehmen. –

Gerland hatte auf die Frage, über welche vor allem er eine bündige Antwort von seinem Oberen hören wollte – auf die Frage, ob er mit seinen abweichenden Anschauungen noch länger das Seelsorgeramt verwalten dürfe – noch immer keine Antwort erhalten. Er stellte die Frage noch einmal.

»Was wollen Sie denn nur eigentlich!« rief der alte Mann, als ihm jener so auf den Leib rückte. »Ich verstehe absolut nicht, was Sie eigentlich von mir wollen. – Ihr Gewissen entlasten! – Was heißt das? – Ich gebe Ihnen eben den Rat: Forschen Sie in der Schrift, wie es unser Herr und Meister selbst vorgeschrieben hat – dann werden Ihnen schon andere Gedanken kommen. Glauben Sie! Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Demütigen Sie sich! Nehmen Sie die Gnade an, die sich Ihnen durch Gottes Güte ebenso reichlich bietet, wie jedem von uns. – Beten Sie! – Beten Sie vor allem – mein Lieber – um Glauben!« –

Das also war der Rat, den ihm die Kirche auf seine Zweifel gab; dies das Mittel, welches sie ihm zur Beschwichtigung seiner Sorgen und Gewissensängste verordnete! –

Der Superintendent mochte Gerlands Schweigen und nachdenkliche Miene anders deuten. – Er meinte wohl, jenem die Unklugheit seines Verhaltens nahe geführt zu haben, und begann sofort, die Situation in seiner Weise auszunutzen.

»Das sind so Trübungen, mein lieber Amtsbruder!« ließ er sich vernehmen. »Momentane Versuchungen, die man niederringen muß. Und mit Gottes Hilfe gelinge einem das ja auch. Freilich, wollen muß man – wollen! – Sie sind noch sehr jung. – Gott, wenn man jung ist, da ist man meistens stürmisch. – Mit dem Alter wird man positiver; das ist ein Erfahrungssatz, der für das religiöse Leben ebenso gilt, wie für das politische.«

Nach dieser Vorbereitung kam er endlich mit einer Antwort auf Gerlands Frage.

Der Amtsbruder solle im Amte bleiben – versuchsweise – nicht voreilige Schritte thun, die ihn später gereuen könnten. Mit der Zeit würden sich seine Zweifel schon legen. – Gott würde ihn erleuchten – er würde einsehen, daß der kirchliche Glaube der Felsengrund sei, auf dem alles ruhe: Staat, Gesellschaft und das Schicksal des Einzelnen. –

»Ich weiß es, lieber Amtsbruder, Sie werden sehr bald zu mir kommen und mir die Eröffnung machen, daß Sie die Bedenken, mit denen Sie sich heute quälen, als das durchschaut haben, was sie sind: Irrtümer! – Einstweilen denken Sie über das nach, was ich Ihnen gesagt habe – geschweigen Sie Ihre Zunge – und thun Sie, was Ihr Amt Ihnen auferlegt.« –

* * *

Damit war der Würfel endgiltig gefallen.

Gerland sah nun, was er bisher nur geahnt und gefürchtet hatte, als unabänderliche Thatsache vor sich stehen: er konnte nicht länger im Amte bleiben.

Es wäre ein Unrecht gewesen gegen die Kirche, gegen die Gemeinde, und vor allem gegen die eigene Person.

Nicht die kleinliche Lächerlichkeit, in der sich ihm sein Vorgesetzter gezeigt, war für ihn das Maßgebende bei diesem Entschlusse. Es gab bessere Männer in der evangelischen Kirche, als Superintendent Großer; das wußte Gerland wohl. – Nein! Dem jungen Geistlichen war bei dieser Gelegenheit klar zum Bewußtsein gekommen, daß ihn von den Vorgesetzten – den Amtsbrüdern – von der Kirche überhaupt eine tiefe Kluft trenne. – Daß zwischen ihrer und seiner Anschauung ein fundamentaler Unterschied bestehe – ein Unterschied der Grundprinzipien. –

Die Kirche verlangte Festhalten am Gegebenen – Unterwerfen unter ein Gesetz – Knechtung der Gedanken.

Seine Religiosität war eine aus dem Innersten emporquellende fromme Gewalt – ein intimer Seelenprozeß – ein Element, das jedes Verhältnis befruchtete, und von jedem sich befruchten ließ – schmiegsam – warm – fließend, wie der Lavastrom – nicht ein erkalteter, toter Buchstabengehorsam.

Und trotz alledem hätte er sehr gut im Dienste der Kirche bleiben können. Sein Vorgesetzter selbst hatte es ihm ja so leicht gemacht. ›Nur nicht die Sache so ernst nehmen, junger Mann!‹ das war die Tendenz, die zwischen den Mahnungen des Prälaten zu lesen gewesen.

Das System war bereits so gelockert, daß jede Meinung freien Spielraum hatte, ja, daß der radikalste Zweifler sich darin getrost tummeln durfte, wenn er nur gewisse Anstandspflichten respektierte, wenn er die offene Ehrlichkeit vermied, wenn er mit Begriffen und Lehren so geschickt operierte, daß man ihnen jeden Sinn unterlegen konnte.

Und gerade darin fühlte sich der junge Geistliche auf sittlich anderem Boden, als die offizielle Kirche, welche aus Opportunitätsrücksichten, vor allem aus Furcht – Furcht vor Menschen und Verhältnissen – die Häresie in ihrem eignen Schoße mit dem vielfach geflickten Mantel eines fadenscheinigen Dogmas zu decken versuchte. –

Gerland wollte keine reservatio mentalis – erst recht dann nicht, wenn sie ihm von oben zugemutet wurde. Er wollte nicht länger eine Täuschung der Gemeinde, die – solange eines Mannes Wort dazu da ist, seine Gedanken zu äußern, nicht aber, sie zu verbergen, – ein Recht hatte anzunehmen, daß ihr Hirte die Wunder glaube, die er allsonntäglich von Altar und Kanzel aus bekannte. –

Warten, wie es ihm der Superintendent angeraten hatte – warten und beten, daß Gott ihm den Glauben stärken möge – das war eine naive Anschauung, wie sie nur in einem Kopfe entspringen konnte, dem Religion etwas außer dem Leben stehendes bedeutet, nicht eine naturnotwendige Bethätigung der Seele. Der Gott, mit dem er sich betend, wie atmend und in jeder Lebensfunktion eins wußte, der konnte ihn in all seiner Größe doch nicht zurückführen zum Glauben der Kindheit. Denn ein Stehenbleiben, ein Zurückschrauben und Zurücksinken in die frühere Verfassung gab es nicht mehr. Ein Halt machen auf der Bahn der Entwickelung war unmöglich, die ihn aus dem Joche der Menschenkirche zum Herzen Gottes trieb. –

So hatte es sich langsam in ihm vorbereitet.

Im Sonnenscheine der Liebe, in Sturm und Regen trüber Ereignisse, im Dunkel mancher trostlosen Nacht, mit ihrem herzbrechenden Gefühle des Gottverlassenseins, war die Frucht herangereift, bis der leiseste Luftzug sie abstreifen konnte. –

Ehe er sich niedersetzte, um sein Abschiedsgesuch zu schreiben, gab es eine Stunde, wo Gerland Halt machte und rückschauend sein Leben überdachte.

In wunderlichen Schlangenwindungen war er zu diesem Punkte gelangt. – Nun stand er, äußerlich betrachtet, wieder da, wo er vor Jahren schon gewesen. – Und doch ein ganz anderer! Zwar ein abtrünniger Priester – geschieden für alle Zeiten von der offiziellen Kirche – aber im Innern war etwas herangewachsen in den letzten Jahren – ein Ergebnis schwerer Kämpfe: die Frömmigkeit.

Er sah den Weg vor sich, der in die Zukunft hinausführte – nebelverhangen – nicht abgesteckt von fremden Händen, nicht geebnet, ausgemessen und mit Meilensteinen versehen. Aber in dieser Morgenstimmung ahnte er es: der Weg führte aufwärts. –



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