Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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V.

Der Morgen war heraufgekommen: durch die herabgelassenen Vorhänge drängte sich fahles Licht in das Zimmer; Gerland löschte die Lampe aus.

Er war übernächtig. Das Zimmer mit seiner lieblosen Unordnung machte in der blassen Beleuchtung des anbrechenden Tages einen unendlich trostlosen Eindruck.

Die Leiche hatte er jetzt wieder ganz zugedeckt; er wollte nicht Zeuge der unausbleiblichen Veränderung sein, die mit diesen Zügen bald vor sich gehen mußte.

Seine Uhr hatte er nicht aufgezogen; sie war gegen vier Uhr stehen geblieben. Er ahnte nicht, wie spät es sei. Endlich wurde Leben im Hause, das beruhigte ihn. Gerland sehnte sich danach, menschliche Gesichter zu sehen nach dieser Nacht.

Aus dem Hausflur tönten Stimmen herauf, Thüren gingen, bald ertönten auch Schritte auf der Treppe und im Vorzimmer. Der Lokalarzt und die Leichenfrau traten auf.

Nach kurzer Verständigung überließ sie Gerland ihren Geschäften; er wollte an die frische Luft gehen.

In der Küche war Leben. Der aromatische Geruch gebrannten Kaffees traf den Vorüberschreitenden, das wirkte anreizend auf seinen Appetit. Er dachte daran, daß er am Abend vorher nichts genossen habe, und bat die Aufwartung um etwas Frühstück. Die Person erkannte ihn, hielt es für nötig, einigemale die Schürze an die Augen zu führen, und fragte dann, ob der Herr Pfarrer wisse, wann Frau Oberlehrer zurückkommen werde. Gerland konnte ihr bloß mitteilen, was er darüber während der Nacht von Polani erfahren hatte.

Er überließ die Person ihren Jeremiaden und begab sich durch die hintere Hausthür in den kleinen, an das Diakonat anstoßenden Garten. Frische Morgenluft umfächelte sein unbedecktes Haupt. Er blickte nach dem Himmel aus; es versprach ein schöner Tag zu werden. Hier in geschützter Lage sproßten wahrhaftig schon die ersten Frühlingsblumen: Schneeglöckchen, Leberblümchen, Krokus, in kleinen von Buchsbaum umsäumten Quartieren. Harmlos zutraulich streckten sie ihre jungen Köpfchen der aufsteigenden Sonne entgegen. –

Gerlands Gedanken waren bei der Mutter des Toten, deren Ankunft er jeden Augenblick erwarten durfte.

»Sie wird das nicht überleben,« hatte Polani gesagt. Auch Gerland vermochte sich keine Vorstellung zu machen, wie sie den Schlag ertragen würde. Der einzige Sohn – und welch ein Sohn! – Sie liebte ihr Kind, und die Liebe hatte in diesem selbstbewußten Charakter eine ganz besondere verhängnisvolle Form angenommen; unterjochen hatte sie ihn wollen – Vernunft und Willen des Sohnes in Bahnen zwingen, die ihr als die rechten erschienen. Bei Hunderten wäre ihr das gelungen, aber nicht bei ihm, der selbst zuviel von ihrer geistigen Selbständigkeit geerbt hatte, und der mit dem freieren, rücksichtsloseren Verstande des Mannes die letzte Schranke bald überflog, vor der die weibliche Zahmheit anbetend Halt machte.

Von dem frühzeitig verstorbenen Vater hatte der Knabe die traurige Mitgift eines zweifelnden, unzufriedenen, grübelnden Sinnes ins Leben mitbekommen. Mit Stumpf und Stiel wollte die Mutter die skeptische Anlage, die ihr ein Greuel war, bei dem Kinde ausrotten – sie wollte den Zweifel von vornherein abschnüren, daß er gar nicht erst in das junge Reis dringen könne – und darum hatte sie den Sohn der Kirche dargebracht. Der Priestertalar, meinte sie, sei der beste Schutz gegen die Versuchungen moderner Häresie. Sie ahnte nicht, daß sie dadurch den Feuerbrand zur Pulvermine heranbringe. – In der erzwungenen Beschäftigung mit dem Supranaturalistischen, für das seiner Natur die Organe fehlten, wurde aus religiöser Gleichgültigkeit Haß gegen die Religion, in der er nur eine Fessel erblicken konnte. Ein Blick hinter die Kulissen der Dogmatik machte ihn vollends zum Ketzer. Sein nüchterner, scharfer Verstand, gereizt durch den Schematismus einer gemüt- und gedankenlosen Theologie, erhob sich zum Widerspruch – und bald war das fadenscheinige Gewebe von der scharfen Säure durchätzt und zerlöchert. – Aber nicht bei Vernichtung der Hülle blieb er stehen, mit ihr zerstörte er den in der Tiefe verborgenen edlen Kern – verlor in diesem Prozesse Glauben – Hoffnung – Lebensfreude.

Und die Mutter stand dabei, wollte löschen, und merkte nicht, daß sie statt Wassers Öl in die Flammen gieße.

Mit allen Mitteln, die nur der anschlägige Kopf einer Frau ersinnen kann, suchte sie den Sohn an das zu fesseln, was in ihren Augen das Heil war. Sie vertuschte, stützte, linderte – denn die Fesseln des verhaßten Berufes, in den sie ihn gezwängt, schnürten ihm immer tiefer ins Fleisch. – Er fühlte sich entmannt, geschändet, entwürdigt im Joch erniedrigender Heuchelei, unter das ihn jede Handlung seines Amtes zwang. Und die Mutter sah es mit an, wie sich der Sohn prostituierte, wie er verzweifelt an den Ketten riß – und sie betete, pries ihren Gott und hoffte – züchtete in verzücktem Eifer den Widerspruch größer und größer, an dem der Sohn zu Grunde gehen mußte. Lüge glaubte sie in Wahrheit, Heuchelei in Wahrhaftigkeit umwandeln zu können, durch den guten Zweck. – Zu solchem Jesuitismus würdigte die fanatische Protestantin ihre Überzeugung herab; sie pochte auf ihre evangelische Gesinnung und vergaß die vornehmsten evangelischen Tugenden: Gerechtigkeit und Freiheit. Sie übersah, daß sich Glaube nicht erzwingen läßt, und daß Liebe nicht in Tyrannei ausarten soll – daß man die Denkfreiheit eines jeden, und stünde er uns noch so nahe, respektieren muß.

In ihrer Verblendung hatte diese Mutter geglaubt, den Sohn zur Seligkeit hinanzuführen, und sie hatte ihn hineingetrieben in die Verzweiflung, welche ihn das Nichtsein einem Leben voll Selbstverachtung vorziehen ließ. –

Wie eine Gerichtete – so wollte es Gerland erscheinen – würde die Mutter vor der Leiche des Sohnes stehen. –

Die nahe Kirchenuhr verkündete ihm, daß es acht Uhr sei. Der Geistliche begab sich ins Haus zurück und nahm sein Frühstück ein.

Ein Wagen rollte vor. Gerland eilte ans Fenster; es war die Mutter. – In diesem Augenblicke fiel es ihm wie Centnerschwere auf die Seele – sie wußte das Schlimmste noch gar nicht. – Polanis Telegramm hatte ihr ja nur von einer schweren Erkrankung des Sohnes berichtet. – Wer sollte der unglücklichen Frau die ganze schreckliche Wahrheit beibringen?

Gerland konnte darüber nicht lange im Zweifel sein – das war sein Amt.

Er eilte, so schnell ihn die Füße trugen, die Treppe hinab, um dem Dienstmädchen, dessen klagende Stimme er bereits im Hause vernahm, zuvorzukommen. Atemlos stand er im Augenblick darauf der Mutter gegenüber.

Die Frau mußte Böses ahnen. »Wie steht's – wie steht's?« fragte sie hastig mit verängsteter Miene.

Eine Thür im Parterre öffnete sich; eine Anzahl weiblicher Personen, die Gerland nicht kannte, drängten sich herbei. Ein sinnloses Klagen, Schluchzen und Durcheinanderreden begann. – Der Geistliche schob die heulenden Weiber beiseite und bot der Matrone den Arm. »Kommen Sie mit mir, Frau Oberlehrer!« –

»Herr Pfarrer – Herr Pfarrer Gerland!« – brachte sie nur hervor. –

Er führte sie die Treppe hinan. Oben angekommen, sah er sie wanken; schnell öffnete er das Vorzimmer und ließ sie niedersitzen. In das Zimmer durfte sie unvorbereitet um keinen Preis.

»Ich muß Sie auf das Schlimmste vorbereiten,« – begann er, und verfing sich in Redensarten, die in ihrer Gesuchtheit dieses Schlimmste nur allzu deutlich durchblicken ließen.

»Er ist tot!« sagte sie tonlos – so, daß es geradezu ruhig klang.

Gerland schwieg. Sie senkte das Haupt und verharrte eine Weile so – nur an dem Zittern, das ihren ganzen Körper konvulsivisch bewegte, erkannte er den Grad ihrer Bewegung. Dann warf sie den Kopf plötzlich zurück – mit hilfeflehenden, verstörten Blicken, den Mund geöffnet, das Kinn krampfartig bewegend, als wolle sie sprechen – die Augen ohne Thränen.

Der Anblick schnitt ins Herz. – Und dabei wußte sie das Schrecklichste noch immer nicht.

Oder ahnte sie etwas? – Das Entsetzen in ihren Zügen – die Beängstigung, die sie keine Worte finden ließ, deuteten darauf hin.

»Aber – Moritz war ja gar nicht krank, als ich fortging.«

»Ihr Sohn – Frau Oberlehrer – ist – ist nicht eines natürlichen Todes gestorben.« –

Sie packte seinen Arm und preßte ihn mit solcher Gewalt, daß er heftigen Schmerz empfand.

»Selbst – selbst!« – mehr brachte sie nicht hervor.

Gerland nickte und wandte das Gesicht ab. – Alles blieb still. – Als er wieder nach ihr hinblickte, erschreckte ihn der Ausdruck: ein leerer, irrender Blick – starre, wie im Schrecken versteinerte Züge. – Er fürchtete einen Augenblick für ihren Verstand.

»Frau Oberlehrer – aber, Frau Oberlehrer –«

Einige unartikulierte Töne wurden laut. Sie schnappte nach Luft – machte den Versuch aufzustehen. Ihr Blick war nach der Thür des Wohnzimmers gerichtet; dorthin wollte sie. – Aber sie kam nicht weit – knickte ein – Gerland sprang hinzu, schob ihr den Stuhl unter, dann lief er selbst in das Zimmer und rief die Leichenfrau.

Von unten kam auch das Mädchen jetzt herbei – man war um die unglückliche Mutter bemüht. Die Frauen schafften die Ohnmächtige in ihr Schlafgemach. –

* * *

Die Kunde von dem außergewöhnlichen Ereignisse mußte sich schnell verbreitet haben. Die verschiedensten Leute kamen, Neugierige aller Art. Bald glich das Diakonat einem Bienenkorb.

Auch die offiziellen Persönlichkeiten traten auf; der Bürgermeister, der Amtsrichter, der Superintendent in Begleitung Polanis.

Es war ein Zusammenlauf profaner und geistlicher Personen, wie ihn das kleine Haus wohl noch nicht erlebt haben mochte. – Unendlich viel wurde argumentiert, debattiert, Müßiges gefragt und Unnützes geschwätzt. – Der Fall werde sehr viel unliebsames Aufsehen erregen, das war das Wort, welches, wie eine gegebene Parole, von Mund zu Mund ging.

Aus den benachbarten Ortschaften kamen eine Anzahl Geistlicher herbei, zu denen das Außerordentliche gerüchtweise gedrungen war. Mit bestürzt neugierigen Mienen traten die Herren auf. »Weshalb hat er sich denn erschossen?« war die Frage, auf die jeder zuerst Antwort haben wollte. – »Religöser Zweifel halber!« – hieß es. Verdutzte Gesichter, beunruhigtes Durcheinanderflüstern, scheue Blicke nach der Leiche, die inzwischen aufgebahrt worden war.

Es wurde viel getuschelt und mit den Köpfen geschüttelt. »Religöse Zweifel!« welchen Ausdruck naiven Staunens zeigten die meisten Mienen bei dem Worte.

Auch der katholische Ortsgeistliche erschien; ein großer, starker Mann mit einer soliden Bauernphysiognomie und der selbstbewußten Würde im Wesen, welche Rom den niedrigsten seiner Diener verleiht.

Er trat nahe an die Leiche heran, machte fast unmerklich das Zeichen des Kreuzes und murmelte ein kurzes Gebet. Ernst ruhte sein Blick auf dem Angesicht des Toten; doch besaß er Haltung genug, um sich äußerlich kein Zeichen des Triumphes anmerken zu lassen. Die Schar der evangelischen Kollegen beobachtete den Fremdling voll nervöser Unruhe. Mit einem leichten Neigen des Kopfes nach den Klerikern hin, entfernte sich der Mann schweigend, wie er gekommen war. –

In einer Ecke des Zimmers standen die wichtigen Persönlichkeiten bei einander: der Superintendent, Polani und die Vertreter der weltlichen Behörden. Mit gewichtigen Mienen besprachen sie den Fall und seine möglichen Folgen. –

Gerlands größte Sorge war immer noch, wie es der Mutter gehen möge; der Arzt war inzwischen bei ihr gewesen. Es hieß, sie habe sich von ihrem Anfalle erholt, sei aber noch sehr schwach und weine viel. Später brachte das Dienstmädchen die Kunde, Frau Oberlehrer wünsche den Herrn Pfarrer Polani zu sprechen. Polani leistete dem Rufe ungesäumt Folge. –

Die Offiziellen blieben noch länger in lebhafter Diskussion beieinander stehen; Gerland empörte ihr rücksichtslos lautes Durcheinanderreden in Gegenwart der Leiche.

»Er hat Schriften hinterlassen – jawohl – er hat Schriften hinterlassen,« – hörte Gerland aus dem Stimmengewirr heraus; das näselnde Organ des Grafen war nicht zu verkennen. »Jawohl – Polani hat die Manuskripte selbst gesehen!« –

Gerland schoß das Blut in die Wangen, als er vernahm, wie das ihm anvertraute Geheimnis des Toten bereits in aller Munde war.

Gleich darauf hörte er seinen Namen nennen und bemerkte, daß man auf ihn blicke. Der Superintendent trennte sich von der Gruppe und kam auf Gerland zu, ihn mit verbindlicher Miene begrüßend: »Eine traurige Veranlassung – lieber Pfarrer Gerland – eine traurige, tief beklagenswerte Veranlassung, die uns heute hier zusammenführt, lieber Amtsbruder.« – Dann kam die halblaut gesprochene Aufforderung zu einem Gespräche unter vier Augen.

Sie traten ins Nebenzimmer, das leer war. Fröschels Schreibtisch stand noch mit geöffneter Klappe, wie ihn Gerland verlassen hatte. Der Superintendent ließ sich daran nieder.

Nachdem der alte Mann seinem Schmerze über den Fall unter vielem Seufzen, Kopfschütteln und feuchten Blicken nach oben genügenden Ausdruck gegeben, fragte er: »Übrigens – Pastor Gerland – Sie haben den Unglücklichen ja wohl, wie ich höre, näher gekannt – nicht wahr?«

»Er war mein Freund, Herr Superintendent.«

»Hm – dann könnte man also annehmen, daß Ihnen der religiöse Standpunkt des Toten nicht ganz unbekannt gewesen ist – Herr Pfarrer?« –

Gerland fühlte die persönliche Bedeutung wohl heraus, die für ihn in dieser Frage seines Oberen lag. Nur für einen Augenblick kam ihm die Versuchung, hier mit Vorsicht zu Werke zu gehen; dann beschloß er, der Wahrheit die Ehre zu geben. »Allerdings, Herr Superintendent; ich war mit den religiösen Zweifeln Fröschels vollauf vertraut – er hatte mich selbst eingeweiht.«

»So, so – hm – wissen Sie, mein lieber Pastor – wissen Sie, was ich da eigentlich von Ihnen erwarten konnte? – Daß Sie mir Meldung von dem machten, was Sie erfahren. – Das hätte ich von Ihnen erwartet, und konnte und durfte ich erwarten von jedem meiner Diöcesanen. Denn hier kamen höhere Interessen in Betracht, die der Kirche. Wenn ich rechtzeitig avertiert worden wäre, hätte ich Schritte thun können – man würde auf den jungen Menschen aufgepaßt – würde ihn zum guten geleitet haben – es hätten sich Wege gefunden, das Schlimmste zu verhüten. So hat man nichts erfahren, und das Unglück, der Skandal ist da – großer Schaden ist angerichtet. Gerade in unserer Gegend, wo der Katholizismus soviel Macht besitzt, ein solcher Fall! – Wie wird man diese Affäre ausnutzen was für Waffen wird man daraus gegen uns schmieden! – Die Katholiken, die immer behaupten wollen, der Protestantismus sei nur die Vorstufe zur Irreligiosität. – Ist das nicht Wasser auf ihre Mühle? Ich sehe sie schon mit Fingern auf uns weisen, höre wie Rom sich brüstet: seht da habt ihr's, eure Priester fallen bereits dem Atheismus anheim. – Und oben ist man gerade jetzt so sehr empfindlich – so sehr nervös in solchen Dingen. Die Affäre wird aufs peinlichste berühren – ich weiß das. Und auf wen wird schließlich die ganze Schuld kommen? – Auf mich!«

Gerland schwieg dazu. Alles Reden schien hier verlorene Mühe. Fröschel auf den rechten Weg zurückführen – große Worte! Dieser Alte sah wahrhaftig nicht danach aus.

Der Superintendent fuhr jetzt in milderem, väterlichem Tone fort: »Nehmen Sie sich eine rechte Lehre aus der ganzen Sache, lieber Amtsbruder! Ihr jungen Leute seid heutzutage alle zu einer freieren Auffassung geneigt. Ich kenne diese Bestrebungen gar wohl. Kritisch-historische Auffassung des Dogmas – Reinigung der Symbole – Weiterentwickelung des Reformationsgedankens – und unter welcher Flagge die Neuerungsgelüste immer steuern mögen! – Mit Kleinigkeiten fängt es an – man treibt allerhand Wissenschaften nebenbei, spielt den gelehrten, aufgeklärten Mann, liest moderne Bücher, statt in der Schrift zu forschen und sich theologisch weiterzubilden – so kommt man Schritt für Schritt von der ewigen Wahrheit ab, bis man endlich draußen steht in der Nacht.«

Der Superintendent legte das Prälatengesicht in ernste Falten und blickte sorgenvoll drein.

»Herr Superintendent,« begann Gerland, »ich wollte mir erlauben, das eine zu bemerken – zur Verteidigung meines Freundes Fröschel – Frivolität kann ihm nicht wohl zum Vorwurfe gemacht werden. Er hat schwer mit sich gerungen, dessen bin ich Zeuge. Ehrlich hat er gesucht und gekämpft.«

»Wollen Sie seine That beschönigen, Pfarrer Gerland!«

»Nein, Herr Superintendent, ich wollte versuchen, sie zu erklären; als Freund des Verstorbenen glaubte ich ein Recht dazu zu haben.« –

Die runden Augen des Superintendenten nahmen einen erstaunten Ausdruck an. Er maß Gerland mit mißtrauischen Blicken.

»Ich höre, Pfarrer Gerland, Sie haben einen Brief von dem Verstorbenen erhalten, den er kurz vor seinem Ende geschrieben hat. Aus verschiedenen Gründen würde es mich interessieren, diesen Brief zu lesen. – Ferner erfahre ich, daß der Tote eine Anzahl Manuskripte hinterlassen hat, in deren Besitz Sie sich gesetzt haben, Herr Pastor.« –

»Mein Freund hatte mir in seinem Briefe den Auftrag gegeben, die Manuskripte ohne Verzug an mich zu nehmen, Herr Superintendent.«

»Jedenfalls würde es mir von Wert sein, Einsicht in diese Manuskripte zu nehmen. Haben Sie die Schriftstücke bei sich?«

»Jawohl, Herr Superintendent! Aber ich weiß, es wäre nicht im Sinne des Verstorbenen, wenn der Inhalt seiner Schriften bekannt würde.«

»Ich habe Sie bereits vorhin darauf hingewiesen, Pfarrer Gerland, daß höhere Interessen vorliegen. Vieles in dieser unseligen Affäre ist noch im dunklen. Diese Schriftstücke können uns vielleicht am ersten Aufschluß darüber geben, was eigentlich den unglücklichen Menschen zum Selbstmord getrieben hat. Es werden bereits jetzt allerhand Hypothesen aufgestellt über die Motive seiner That. Besonders aus dem römischen Lager wird es an Verdächtigungen nicht fehlen, und auch oben wird man eine befriedigende Antwort verlangen – nun – da muß man sich also rechtzeitig vorsehen – vorbereiten. Man muß doch etwas Stichhaltiges erwidern können. Und dazu mag vielleicht der Nachlaß diese oder jene Handhabe bieten.«

»Ich halte mich nicht für berechtigt, Herr Superintendent, ein Geheimnis zu brechen, das der Tote gewahrt wissen wollte.«

Der Prälat war aufgestanden und ging erregt im Zimmer auf und ab. Die Blicke, mit denen er den jungen Geistlichen maß, waren nicht besonders freundlich.

Dann schien er es für rätlich zu halten, andere Saiten aufzuziehen. – Plötzlich vor Gerland stehen bleibend, legte er diesem beide Hände auf die Schultern und begann in vertraulichem Tone: »Mein lieber Pfarrer, ich denke, Sie werden sich die Sache noch überlegen; ich lasse Ihnen Bedenkzeit, Sie werden sich davon überzeugen, daß Sie keine Pflicht verletzen, wenn Sie mir die Schriftstücke anvertrauen. Es ist ja nur um der guten Sache willen. – Um die kirchliche Autorität – um Ruf und Ansehen unseres Standes handelt es sich – verstehen Sie? – um das Renommee des geistlichen Standes, der arg genug gelästert und angefeindet wird in unserer Zeit. – Morgen erwarte ich eine Antwort hierauf.«

Er versuchte sogar, huldvoll zu lächeln, aber seine blinzelnden Augen straften ihn Lüge; dort leuchtete etwas von geheimem Ärger und verstecktem Groll. Gerland fühlte instinktiv, daß er sich diesem Manne für immer verdächtig gemacht habe. –

Gleich darauf öffnete sich die Thür, Polani trat ein.

Gerland begann zu empfinden, daß er überflüssig geworden sei. Er sah allerhand unlautere Kräfte am Werke, das traurige Ereignis in selbstischer Weise auszubeuten.

Noch einen Blick warf er in das Zimmer, wo die Leiche aufgebahrt stand. Ans Kopfende war das große Kruzifix gestellt worden, das den Toten hoch überragte. Und immer noch die frommen Bilder an den Wänden, auf dem Betpulte: Bibel und Gesangbuch. – Wohin das Auge blickte, Zeichen des religiösen Sinnes der Frau, die hier hauste. –

Die Leiche hatte nach wie vor ihren kindlich freundlichen Ausdruck. Niemand, der's nicht wußte, konnte von dem kleinen, kreisrunden Loche auf der Brust etwas ahnen, das einen Protest bedeutete gegen den falschen Frieden der Umgebung.

Gerland mochte das zufrieden lächelnde Gesicht nicht länger ansehen. Er wußte, wie zerrissen, gefoltert, verzweifelt die Seele gewesen, die in dieser Hülle gelebt; der Ausdruck erschien ihm wie eine Grimasse.

* * *

Im Vorzimmer traf Gerland auf Dornig. »Höre mal, Gerland, du mußt mir die Geschichte erzählen!« rief der Pfarrer von Färbersbach. »Du warst ja befreundet mit ihm, – weshalb, zum Teufel – hat sich der Mensch eigentlich erschossen?«

Gerland gab einige kurze Andeutungen über die seelische Verfassung seines toten Freundes, denen Dornig mit Kopfschütteln zuhörte.

Offenbar war ihm einer solchen Erscheinung gegenüber nicht recht behaglich zu Mute. Er begann zu erzählen, auf welche Weise das Gerücht von Fröschels Ende zu ihm gedrungen sei. Schon am frühen Morgen war's in Färbersbach verbreitet worden. Dornig hatte sich sofort aufgemacht, seinen Weg über Breitendorf nehmend. Dort erfuhr er, daß Gerland bereits am Abende zuvor nach Annenbad gefahren sei.

»Die Sache zieht Blasen,« bemerkte Dornig, während sie auf der Straße dem nahen Marktplatz zuschritten. »Ich habe im Adler gefrühstückt; wir waren wohl unserer zehn Geistliche; kommst du nicht mit zu Tisch, Gerland? Wir haben ein separates Zimmer bestellt.«

Gerland hatte Dornig im Verdacht, daß er das traurige Ereignis als eine kapitale Gelegenheit ansehe, sich auf seine Weise Unterhaltung zu schaffen; aber er fühlte in der That Hunger und schloß sich dem anderen an.

Im separaten Zimmer saß eine stattliche Korona von Schwarzröcken. Essen und Unterhaltung waren bereits im Gange. Natürlich drehte sich das Gespräch der Hauptsache nach um den »Fall Fröschel«.

Gerland nahm Platz, wo er gerade einen Stuhl leer fand. Sein Nachbar war einer von jenen verkümmerten Studierzimmererscheinungen, wie man sie nicht selten unter den evangelischen Klerikern findet.

Der Superintendent, den Gerland hier anzutreffen gefürchtet hatte, war nicht zugegen; er speiste, wie man gelegentlich erfuhr, bei Polani.

Gerland sah sich um; er kannte die wenigsten der Anwesenden. Ihm schräg gegenüber saß ein junger Mann, der durch seinen modischen Anzug und den wohlgepflegten braunen Vollbart auffiel. Gerland kam das Gesicht bekannt vor, er entsann sich, den Mann bei Gelegenheit einer Pastoralkonferenz gesehen zu haben. Er war erst kürzlich in die Gegend gekommen und hatte trotz seiner Jugend eine der reichdotiertesten Pfarrstellen in der Provinz inne.

Irgend eine unangenehme Erinnerung knüpfte sich für Gerland an diesen Menschen, über deren Grund er sich eine Zeit lang vergebens Rechenschaft zu geben versuchte. Endlich fiel's ihm ein: Fröschel hatte ihm von diesem Amtsbruder erzählt und ihn als den Typus des rücksichtslosen Strebers und Pfründenjägers hingestellt, der sich das Studium des Pfarralmanachs zur besonderen Aufgabe mache.

Pfarrer Roßbach – so hieß der bärtige Geistliche – führte an diesem Ende des Tisches das große Wort.

Er habe Fröschel besser gekannt, als irgend einer der Anwesenden, behauptete er. – Von Gerlands Freundschaft mit dem Toten schien er nichts zu ahnen.

Er sei mit Fröschel schon auf der Schule und später auch auf der Universität zusammen gewesen. Das Bild, welches er von dem Verstorbenen zeichnete, war kein sonderlich liebenswürdiges. Schon als Schüler sei Fröschel mißtrauisch, verstockt und menschenscheu gewesen. Weder mit Lehrern noch mit Mitschülern habe er sich zu stellen vermocht. Auf der Universität sei das noch schlimmer geworden. Wenn er gelegentlich einmal mit den Kommilitonen zusammengekommen, habe Fröschel durch sein spöttisches Wesen alle verletzt. Sein geistiger Hochmut sei grenzenlos gewesen. – Worauf er sich eigentlich soviel eingebildet, wäre gar nicht zu ersehen. Denn wenn er auch die Examina ganz leidlich bestanden, so habe er es schließlich nicht einmal zum ersten Geistlichen gebracht. – Kein Wunder – denn als Prediger sei er ja die reine Null gewesen.

Es lag Naivität darin, wie der vom Glücke begünstigte Streber über die Mißerfolge des toten Amtsbruders sich lustig machte. – Ja freilich, ein Stellenjäger war Fröschel nie gewesen, das war richtig.

Gerland glaubte es dem Andenken des Toten schuldig zu sein, dieses leichtfertige Urteil zu berichtigen.

Pfarrer Roßbach nahm eine sehr erstaunte Miene an, als hier dem Verstorbenen plötzlich ein gänzlich unerwarteter Verteidiger entstand.

Ein älterer Geistlicher, mit magerem, bartlosem Gesicht und dunklen, fanatischen Augen, der nicht weit von Gerland saß, mischte sich plötzlich in die Diskussion: »Dieser Fröschel soll womöglich noch zum Märtyrer gestempelt werden!« rief er. »Ich mag das Wort unglücklich, auf ihn angewandt, gar nicht hören. Ruchlos – ja – geradezu ruchlos ist seine That.«

Er blitzte Gerland mit seinen dunklen Augen vernichtend an.

»Das ist ein hartes Urteil über einen Toten, Herr Amtsbruder,« erwiderte Gerland mit erkünstelter Ruhe. Innerlich kochte er gegen die dünkelhafte Intoleranz.

»Hartes Urteil!« rief der andere, und sein mageres Gesicht färbte sich plötzlich dunkelrot. »Ein solcher Fall kann gar nicht hart genug beurteilt werden. – Mitleid ist hier geradezu Sünde.«

»Ich dachte, das Christentum sei die Religion des Mitleids,« hielt Gerland dem Eiferer entgegen.

Aber mit diesem Worte schien er den Mann an einer empfindlichen Stelle verletzt zu haben. Puterrot im Gesicht, beugte er sich über den Tisch und rief, seine Rede mit hitzigen Gesten begleitend: »Ich kenne diese Richtung: Toleranz – und nichts als Toleranz, bis schließlich vor lauter Toleranz Unrecht zu Recht, und Sünde zur Großthat wird. Das ist sentimentale Schwäche! Durch diesen Geist ist unsere protestantische Kirche soweit heruntergekommen – wie sie jetzt dasteht – ein Spott der Welt!« –

Von verschiedenen Seiten wurde Widerspruch gegen diese Behauptung laut.

»Allerdings ist die protestantische Kirche heruntergekommen – geradezu jämmerlich heruntergekommen!« rief der Zelot und wandte sich den neuen Gegnern zu.

»Beweise!« wurde ihm entgegengerufen.

»Beweise wollt ihr! – Genießen wir irgend welche Achtung bei der Laienwelt? – Sind wir nicht nach und nach aller Machtmittel entblößt worden? – Ja, spielen wir denn überhaupt noch irgend eine Rolle im öffentlichen Leben?«

»Macht und Ansehen sind nicht die Güter, auf die Christus die Seinen hingewiesen hat,« erwiderte ihm Gerlands bleicher Nachbar. »Es stünde besser um den Protestantismus, wenn er die Kirche nur in den Herzen seiner Anhänger aufgebaut hätte, statt so mancherlei von den Machtmitteln der mittelalterlichen Hierarchie beizubehalten. Unser Herr und Heiland hat von einer etablierten Landeskirche nichts gewußt. ›Im Geist und in der Wahrheit‹ sollten wir ihn anbeten – das war sein Wille.« –

»Wie, Sie wollen unserer evangelischen Kirche auch noch die wenigen Rechte, die sie besitzt, verkümmern – damit sie ganz ein Geist ohne Leib – ganz zum Schemen wird? Sie ist das Aschenbrödel sowieso. – Das weltliche Regiment, das, wie jetzt die Sachen liegen, uns nur duldet, müßte uns unterthan sein. Unsere Stellung einer ecclesia tolerata ist unwürdig. Ich bestreite dem Staate das jus inspectionis. Wir müssen uns selbst regieren, eher wird es nicht besser.«

»Das ist römisch gedacht,« hielt man ihm vor.

»Allerdings! Und Rom kann uns darin ein Beispiel sein, wie man konsequent und ohne einen Schritt nachzugeben, seine Stellung wahrt. Freilich, dort ist Disziplin, dort ist Festigkeit, und dort ist Autorität.«

»Und dort ist Geld!« rief Dornig von der anderen Seite des Tisches herüber.

»Das ist nicht zum Lachen!« rief der Eiferer und wandte sich der anderen Tischecke zu, wo Dornig inmitten einer Anzahl jüngerer, offenbar zu Ulk aufgelegter Amtsbrüder saß. »Daß unsere Kirche arm ist, wie die Kirchenmaus, muß leider wahr sein; aber auch das bedeutet nur ein Symptom. Nichts sind wir – wir haben keinen Einfluß, weder auf das öffentliche noch auf das private Leben.«

»Wer so herb tadelt, müßte wenigstens Vorschläge zur Besserung haben,« meinte jemand.

»Gewiß, die werde ich auch vorbringen.«

»Na – lassen Sie mal anhören, Herr Amtsbruder!« rief einer von Dornigs Kumpanen dazwischen.

»Das jus circa sacra gestehe ich dem Staate gern zu, aber ich bestreite ihm das jus in sacra ganz energisch. Die weltliche Oberhoheit muß uns in unseren Rechten und Privilegien schützen, sie muß uns nach außen das Ansehen verschaffen, das uns gebührt; aber sie darf sich nicht in unsere inneren Angelegenheiten mischen, denn dazu fehlt ihr die Berufung. – Ich verlange auf der einen Seite Wegfall aller öffentlichen Bevormundung, wie sie durch das Laienelement in Ministerien und Synoden so unerträglich geübt wird, auf der anderen Seite fordre ich Wiedereinsetzung der Kirche in ihre alten Rechte. Die Jugenderziehung muß wieder unser ausschließliches Privileg werden – auf die Jurisdiktion müssen wir einen entscheidenden Einfluß bekommen; nur so können wir wieder ein christliches Geschlecht und christliche Zustände bekommen. Die Wiedereinführung von Tauf- und Trauzwang ist eine ganz selbstverständliche Forderung für jeden, dem das Heranwachsen von Heiden in unserem Volke eine Schmach erscheint. Um den Einfluß auf die Laienwelt, den wir fast ganz eingebüßt haben, wiederzugewinnen, müssen die Kirchenstrafen wieder eingeführt werden; nach innen und außen brauchen wir eine straffere Organisation, eine gute Disziplin – ein strammes Kirchenregiment.« –

»Und vor allem einen Papst,« warf Dornig dazwischen.

»Nein, keinen Papst, aber eine Regierung, die endlich einmal die Behauptung, wir hätten ein christliches Staats-Wesen, zur Wahrheit macht.«

Ein heftiger Streit entzündete sich bei dieser Frage, an der sich jetzt ziemlich die ganze Tischgesellschaft beteiligte; jeder ritt sein Steckenpferd. Der eine sah das Heil in der Staatskirche, der andere in der Trennung der Kirche vom Staate, ein dritter pries das Gemeindeideal, ein vierter das allgemeine Priestertum – einer plaidierte für das Episkopalsystem, der andere für die Presbyterialverfassung. – Soviel Köpfe, soviel Sinne; einig war man sich nur in einem Punkte, daß der gegenwärtige Zustand einer Wandlung dringend bedürfe.

Die Amtsbrüder unter sich! – Gerland hatte stets ein Grauen davor gehabt; es lag so etwas Würdeloses darin, wie man, sobald die beobachtenden Laien fehlten, das priesterliche Dekorum an den Nagel hängend, sich aneinander rieb. –

Er sehnte sich nach frischer Luft.

»Du wirst doch nicht etwa schon gehen!« rief ihm Dornig zu, als er bemerkte, daß der Amtsbruder seine Zeche berichtigte. »Ich weiß hier in Annenbad ein sehr anständiges Lokal, wo man abends hingehen kann.« –

Aber selbst diese Aussicht vermochte Gerland nicht zum Bleiben zu bewegen.

»Du bist wirklich ein toller Philister geworden!« damit entließ Hochwürden von Färbersbach den Amtsbruder von Breitendorf.



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