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Am Zwanzigsten des Monats entschlossen wir uns endlich, auf jede Gefahr hin den Abstieg zu wagen, da wir mit den Nüssen, die uns höllische Qualen verursachten, nicht länger unser Leben fristen konnten. Die Wand des südlichen Abhangs bestand aus weichstem Speckstein, fiel jedoch mindestens hundertundfünfzig Fuß tief beinahe lotrecht ab und überwölbte sogar an manchen Stellen den Abgrund. Nach langem Suchen entdeckten wir zuletzt ein schmales Band, etwa zwanzig Fuß unterhalb des Randes; es gelang Peters, sich mit meiner Hilfe an unseren zusammengeknoteten Taschentüchern auf diesen Fleck hinabzulassen. Mit größerer Mühe gelangte auch ich hinunter. Und nun erkannten wir, daß es möglich sei, den ganzen Weg auf die gleiche Art zurückzulegen, in der wir aus der verschütteten Kluft zum Licht aufgestiegen waren: indem wir nämlich mit unseren Messern in den Speckstein Stufen schnitten. Für die Gefährlichkeit des Unternehmens gibt es keine Worte, aber ein anderer Ausweg war nicht vorhanden. Unseren Entschluß konnte deshalb nichts mehr erschüttern.
Auf dem Band, von dem ich eben sprach, wuchsen einige Nußstauden; an eine davon knüpften wir unseren Strick aus Taschentüchern. Sein anderes Ende wurde um Peters' Hüften gebunden, und ich ließ ihn über den Rand des Absturzes hinab, bis die Tücher sich strammzogen. Jetzt bohrte er ein tiefes Loch in den Speckstein – ungefähr acht bis zehn Zoll tief – und hämmerte dann mit seiner Pistole einen starken Pflock in die Bergwand. Ich hob ihn nun etwa vier Fuß höher, worauf er einen zweiten Pflock einschlug, so daß er einen Halt für Hände und Füße besaß. Jetzt löste ich die Taschentücher vom Strauch ab und warf ihm das Ende des Seiles zu; er band es an den oberen Pflock und ließ sich dann um drei Fuß unter den unteren Pflock hinab; so weit nämlich reichte der Strick. Als es aber nötig wurde, die Taschentücher vom obersten Pflock loszubinden, zeigte es sich, daß wir die Löcher in zu großem Abstand voneinander angebracht hatten. Daher durchschnitt er das Seil sechs Zoll unterhalb der Stütze und band die Taschentücher an den zweiten Pflock. Ich wäre nie auf diese Methode gekommen, die allein der Klugheit und Entschlossenheit meines Gefährten zu verdanken ist. Mit Hilfe einiger Vorsprünge an der Wand erreichte er ohne Unfall die Talsohle.
Es dauerte eine Weile, bevor ich mich entschließen konnte, ihm nachzufolgen. Peters hatte sich vor dem Abstieg seines Hemdes entledigt; dies mußte nun, zusammen mit meinem, das Seil bilden, an dem ich mich hinablassen sollte. Ich warf die Muskete hinunter, befestigte mein Seil an den Sträuchern und ließ mich rasch hinab; hoffte ich doch durch die Entschiedenheit meiner Bewegungen die Zaghaftigkeit zu bannen, die mich unversehens befallen hatte und mit jedem Augenblick zunahm. Es gelang mir auch für die ersten vier, fünf Stufen. Dann fühlte ich, daß meine Einbildungskraft sich immer lebhafter mit der unter mir gähnenden Tiefe, der geringen Haltbarkeit der Pflöcke und der Nachgiebigkeit des Specksteines zu beschäftigen anfing. Umsonst strengte ich mich an, meine Augen unverrückt auf die Bergwand zu richten. Je mehr ich mir Mühe gab, nicht zu denken, desto mehr gewannen jene Vorstellungen volles Leben und erschreckende Deutlichkeit. Endlich trat die so gefährliche, in allen Lagen dieser Art so verhängnisvolle Krisis ein, in der man die Empfindung des Fallens vorauszukosten beginnt, in der man sich die Übelkeit, den Schwindel, den letzten Kampf gegen solche Schwäche, die halbe Ohnmacht und zuletzt die grausame Qual des rasend ungestümen Sturzes in furchtbaren Farben ausmalt. Und diese Phantasien schufen sich jetzt eine Wirklichkeit, und alle Schrecknisse, die ich mir eingebildet hatte, stürmten leibhaftig auf mich ein. Meine Knie schlugen heftig aneinander, langsam, aber mit unfehlbarer Gewißheit lockerten sich meine Finger. Ich hörte Geläut in meinen Ohren und sagte zu mir: »Das ist meine Totenglocke.« Und jetzt verzehrte mich ein unwiderstehliches Verlangen, hinabzuschauen. Ich konnte, ich wollte meinen Blick nicht mehr auf die Bergwand beschränken; und mit einem tollen, nicht zu schildernden Gefühl des Grauens und der Erleichterung schaute ich tief in den Abgrund hinab. Einen Augenblick krampften sich die Finger wütend an ihrem Halt fest, während ein ganz leiser und schwacher Gedanke an die Möglichkeit des Entrinnens wie ein Schatten durch meine Seele flog; gleich darauf kannte mein Gemüt nur einen einzigen Wunsch – die Sehnsucht, das Verlangen, das völlig zügellose Begehren, zu fallen, zu fallen! Ich ließ den Pflock los und verblieb, indem ich mich halb von der Tiefe abwandte, eine Sekunde schwankend vor dem Angesicht des Felsens. Jetzt aber fing mein Hirn zu wirbeln an; eine schrilltönende und geisterhafte Stimme kreischte in meinen Ohren; eine finstere, unholde und nebelhafte Gestalt stand gerade unter mir; ich seufzte, mein Herz schien zu zerspringen, und ich stürzte schwer und leblos der düsteren Erscheinung in die Arme.
Es war eine Ohnmacht gewesen. Peters hatte mich im Sturz aufgefangen. Er hatte vom Fuß der Bergwand aus meine Bewegungen betrachtet, und da er sah, in welcher Gefahr ich mich befand, hatte er sich nach Kräften bemüht, mir Mut einzuflößen, aber meine Geistesverwirrung war so groß, daß ich ihn gar nicht hörte, daß mir gar nicht zum Bewußtsein kam, wie einer da überhaupt zu mir sprach. Endlich sah er mich wanken und beeilte sich, mir entgegenzuklettern; er kam gerade recht, um mich vor dem Tod zu bewahren. Wäre ich mit meinem vollen Gewicht hinabgestürzt, so hätte der leinene Strick unfehlbar zerreißen müssen, ich wäre in die Tiefe geschleudert worden. So aber gelang es Peters, mich sanft aufzufangen; ich hing in Sicherheit an der Felswand, bis ich mein Bewußtsein wiedererlangt hatte. Das dauerte etwa eine Viertelstunde. Als ich zu mir kam, war meine Angst völlig geschwunden; ich fühlte mich wie neugeboren und erreichte, von meinem Gefährten leicht unterstützt, wohlbehalten den Fuß der Felsenwand.
Wir befanden uns jetzt in der Nähe jener Klamm, die unseren Kameraden zum Grab geworden war, und zwar auf der südlichen Seite des Bergrutsches. Die Landschaft besaß eine eigentümliche Wildheit, und ihr Anblick rief mir die Schilderungen ins Gedächtnis, in denen die Reisenden das verheerte Babylon uns vor Augen zu führen suchen. Im Norden bildeten die Ruinen zerrissener Felswände einen chaotischen Hintergrund; in jeder anderen Richtung lag der Boden mit ungeheuren Schutthügeln bedeckt, die die Überbleibsel riesenhafter Bauwerke zu sein schienen, obwohl man in den Einzelheiten dieser Tumuli nur wenig Kunst zu bemerken vermochte. Schlacken waren in Menge verstreut; dazwischen ragten große, gestaltlose Blöcke schwarzen Granits, dann wieder Mergeltürme auf; alle diese Erhebungen waren metallisch getönt. Denn hier ist auch der Mergel schwarz; es gab auf der ganzen Insel keine lichtfarbige Substanz. Dieses riesenhafte Trümmerfeld zeigte weit und breit keine Spur eines Pflanzenwuchses. Ein paar erschreckend große Skorpione trieben darin ihr Wesen sowie einige Reptile, die man sonst in diesen Breiten nicht anzutreffen gewohnt ist.
Wir mußten etwas zu essen haben, dies war das allerdringendste Gebot. So traten wir den Weg nach der Küste an, die etwa eine halbe Meile entfernt lag, um dort Jagd auf Schildkröten zu machen. Wir waren vielleicht hundert Ellen weit zwischen den Felsen und Schutthügeln behutsam vorgedrungen. Jetzt wanden wir uns um eine Ecke, da stürzten aus einer kleinen Höhle fünf Wilde über uns her, und ein Keulenschlag schmetterte Peters zu Boden. Die ganze Rotte warf sich auf das Opfer, so daß ich Zeit hatte, mich von meiner Überraschung zu erholen. Ich besaß noch die Muskete, aber beim Fall von der Bergwand war das Rohr beschädigt worden; daher ließ ich sie fahren und verließ mich ganz auf meine Pistolen, die ich in gutem Zustand wußte. Ich rückte den Angreifern damit auf den Leib; zwei fielen, und einer, der Peters gerade mit dem Speer durchbohren wollte, sprang auf, ohne sein Vorhaben auszuführen. Nun gab es weiter keine Schwierigkeiten mehr für uns. Mein Gefährte war befreit, hielt es aber für klüger, seine Pistole noch nicht abzufeuern; er verließ sich auf seine große Körperstärke; habe ich doch nie einen Menschen gekannt, der ähnliche Kräfte besessen hätte. Er entriß einem gefallenen Wilden die Keule und schlug damit den drei Übrigbleibenden die Schädel ein. Ein Schlag genügte für jeden von ihnen; sie waren augenblicklich tot; wir standen als Sieger auf dem Kampfplatz.
Diese Ereignisse hatten sich so schnell vollzogen, daß wir kaum an ihre Wirklichkeit zu glauben vermochten, und wir beugten uns noch in einer Art dumpfen Staunens über die erschlagenen Feinde, als ein fernes Geschrei uns zur Besinnung brachte. Offenbar hatten unsere Schüsse die Wilden alarmiert, und wir konnten schwerlich unentdeckt bleiben. Um die Bergwand wieder zu erreichen, mußten wir uns nach der Richtung wenden, aus der die Rufe gekommen waren; und selbst wenn wir unbelästigt den Fuß der Anhöhe erreichten, konnten wir sie nicht erklettern, ohne gesehen zu werden. Unsere Lage war im höchsten Grade bedenklich, und noch zögerten wir, auf welchem Wege wir entfliehen sollten, als einer der Wilden, den ich getroffen und für tot gehalten hatte, behende aufsprang und sich anschickte, davonzulaufen. Wir holten ihn nach wenigen Schritten ein und wollten ihm schon den Garaus machen, als Peters den Einfall hatte, jener könne uns von Nutzen sein, falls wir ihn mit uns zu entfliehen zwängen. Wir schleppten ihn also mit, indem wir ihm zu verstehen gaben, daß er beim ersten Versuch, sich zu wehren, erschossen würde. Er ergab sich rasch in sein Schicksal und lief neben uns her, während wir zwischen den Felsblöcken dem Strand zustrebten.
Bis jetzt hatten die unregelmäßigen Erhebungen des Bodens das Meer nur hie und da durchblicken lassen; als es endlich offen vor uns da lag, waren wir vielleicht noch zweihundert Ellen entfernt. Als wir auf den freien Strand hinauseilten, sahen wir zu unserer großen Besorgnis eine Unzahl Eingeborener sowohl vom Dorf wie von allen sichtbaren Punkten der Insel her mit allen Zeichen äußerster Wut und dem Geheul wilder Tiere auf uns losstürmen. Schon wollten wir umkehren und hinter den Felsenburgen der unebenen Gegend eine Deckung suchen, als ich hinter einem weit ins Wasser vorspringenden Steinblock die Vorderteile zweier Kanus erblickte. Wir rasten dorthin und fanden die Fahrzeuge ohne Besatzung und mit keiner anderen Ladung als drei großen Galapagos-Schildkröten und dem gewöhnlichen Vorrat an Riemen, der für sechzig Ruderer berechnet war. Wir bemächtigten uns augenblicklich des einen Kanus, drängten unseren Gefangenen an Bord und stießen mit aller Kraft vom Land ab.
Doch als wir etwa fünfzig Ellen zurückgelegt hatten, kehrte unsere Besonnenheit wieder, und wir erkannten, daß es ein arges Versehen gewesen war, das andere Kanu im Besitz der Wilden zu lassen. Ihre Schar war nur mehr doppelt so weit als wir vom Strand entfernt und hätte sich rasch an die Verfolgung gemacht. Da war keine Zeit zu verlieren. Es schien mehr als fraglich, ob wir ihnen im Ergreifen des Kanus zuvorkommen würden; aber die Möglichkeit war immerhin vorhanden. Falls es uns gelang, konnten wir auf Rettung hoffen; sonst blieb uns keine andere Aussicht als die, von den Unholden niedergemetzelt zu werden.
Das Kanu war an Bug und Stern von gleicher Bauart, so daß wir, anstatt es zu drehen, nur unsere Stellung an den Riemen zu wechseln brauchten. Als die Wilden dies bemerkten, verdoppelten sie ihr Wutgeheul und rückten mit fabelhafter Geschwindigkeit dem Strand näher. Doch ruderten wir mit der Kraft der Verzweiflung und erreichten so die umstrittene Stelle früher als unsere Gegner, abgesehen von einem einzigen, der seinen Rekord teuer bezahlen mußte, da Peters ihm eine Kugel durch den Kopf schoß, gerade, als er den Fuß auf den Strand setzte. Die übrigen waren ungefähr zwanzig oder dreißig Schritte hinter ihm. Wir bemächtigten uns des Kanus und versuchten zuerst, es ins tiefe Wasser zu schleppen; aber es saß zu fest auf dem Strand, und Zeit war nicht zu verlieren. Peters zertrümmerte also mit dem Kolben der Muskete einen großen Teil der einen Flanke und des Bugs. Dann stießen wir ab. Zwei Wilde hatten inzwischen unser Kanu gepackt und ließen es in ihrem Trotz nicht eher los, als bis sie von unseren Messern abgetan waren. Jetzt lag unser Weg frei, und wir ruderten in die See hinaus. Als die Hauptmasse der Wilden das zerbrochene Kanu erreichte, brach sie in ein gar nicht zu beschreibendes Geheul der Wut und Enttäuschung aus; in der Tat waren diese Elenden nach allem, was ich an ihnen beobachtet habe, die schlimmste, heuchlerischste, rachsüchtigste, blutdürstigste und überhaupt verruchteste Menschenrasse auf dem Rund der Erde. Wir hätten sicher keine Gnade bei ihnen gefunden. Sie machten einen wahnsinnigen Versuch, uns in dem zertrümmerten Kanu zu folgen, sahen aber bald ein, daß sie uns nicht mehr erreichen konnten; sie gaben ihrer Wut in einem neuen, fürchterlichen Gebrüll Ausdruck und stürzten dann ihren Bergen zu.
Die unmittelbar drohende Gefahr war überwunden; aber unsere Lage schien noch immer traurig genug. Wir wußten, daß die Wilden vier Kanus besessen hatten, wußten aber damals noch nicht, daß, wie wir dann später von unserem Gefangenen erfuhren, zwei von ihnen beim Auffliegen der ›Jane Guy‹ zerstört worden waren. Wir rechneten daher mit der Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung; nur mußten unsere Feinde erst die an drei Meilen entfernte Bucht erreichen, in der die Boote zu liegen pflegten. In dieser Befürchtung bemühten wir uns mit dem Aufwand aller Kräfte, uns möglichst rasch von der Insel zu entfernen, und auch der gefangene Wilde mußte sich als Ruderer nützlich machen. Nach einer halben Stunde, als wir schon fünf oder sechs Meilen weiter im Süden waren, zeigte sich am Ausgang der Bucht eine ganze Flotte jener Flachboote oder Flöße, die offenbar bestimmt schienen, uns zu verfolgen. Auf einmal machten die Wilden kehrt; sie hatten wahrscheinlich die Hoffnung, uns einzuholen, vollständig aufgegeben.