Edgar Allan Poe
Die denkwürdigen Erlebnisse des Artur Gordon Pym
Edgar Allan Poe

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Während der nächsten sechs oder sieben Tage blieben wir in unserm Bergversteck und wagten uns nur zuweilen und mit großer Vorsicht heraus, um Wasser und Nüsse zu holen. Wir hatten uns auf der Plattform eine Art Schutzdach errichtet; darunter war ein Lager aus trocknen Blättern; drei große flache Steine dienten uns als Herd und Tisch. Feuer erzeugten wir mit vieler Mühe durch Aneinanderreihen zweier Stückchen Holz, eines weichen und eines harten. Der Vogel, den uns ein glücklicher Zufall gesandt hatte, erwies sich als ein trefflicher, nur etwas zäher Braten. Es war kein Seevogel, sondern eine Art Rohrdommel oder Nachtrabe, mit kohlschwarzem, leicht angegrautem Gefieder und Flügeln, die im Verhältnis zu seinem Körper winzig schienen. Später sahen wir noch drei Vögel dieser Gattung in der Nähe unsrer Schlucht, sie suchten offenbar nach dem erlegten Genossen; da sie sich jedoch nicht niederlassen mochten, so konnten wir ihrer nicht habhaft werden.

Nun war der eine Vogel aufgegessen, und wir sahen uns gezwungen, nach neuen Lebensmitteln zu fahnden. Die Nüsse reichten zur Sättigung nicht aus, auch verursachten sie uns arges Bauchgrimmen und nach übermäßigem Genuß heftiges Kopfweh. Am Strand östlich vom Berg hatten wir ein paar große Schildkröten bemerkt und meinten, sie leicht fangen zu können, falls wir den Augen der Wilden entgehen würden. Wir beschlossen daher, den Abstieg zu versuchen.

Zuerst stiegen wir auf der Südseite hinab, da es hier am wenigsten schwierig schien, aber kaum waren wir hundert Ellen weit gelangt, als – wie wir eigentlich erwarten mußten – eine Abzweigung der Klamm, in der unsre Kameraden den Untergang gefunden hatten, den Weg vollkommen abschnitt. Wir folgten dem Rand dieser Kluft etwa eine Viertelmeile weit – da sperrte uns abermals ein Abgrund von schauerlicher Tiefe den Pfad, und wir mußten unverrichteterdinge zurückkehren, es war unmöglich, auf dem schmalen Brink Fuß zu fassen.

Jetzt wandten wir uns ostwärts, hatten aber den gleichen Mißerfolg zu verzeichnen. Nach einstündigem Klettern, währenddessen wir beständig in Gefahr waren, den Hals zu brechen, befanden wir uns in einem riesigen Kessel aus schwarzem Granit, dessen Grund ein feiner Staub bedeckte; der einzige Ausgang aber war der rauhe Pfad, auf dem wir herabgestiegen waren. Wir kletterten mühevoll zurück und versuchten es nun mit dem nördlichen Rand der Anhöhe. Hier war größte Vorsicht vonnöten, da die geringste Unachtsamkeit uns in den Gesichtskreis der Wilden bringen mußte. Wir stahlen uns daher auf Händen und Füßen fort und waren sogar wiederholt genötigt, uns der Länge nach hinzulegen und unsre Leiber flach durchs Gestrüpp zu schieben. Auf diese sorgfältige Weise bewegten wir uns eine Zeitlang fort. Dann kamen wir an eine Kluft, die alle andern an Tiefe übertraf und unmittelbar mit der großen Klamm zusammenhing. So zeigte sich's denn, daß wir mit unsern Befürchtungen recht gehabt hatten. Wir waren von der Welt da unten gänzlich abgeschnitten. Vollkommen durch unsre Anstrengungen erschöpft, krochen wir, so gut wir konnten, nach unsrer Plattform zurück, warfen uns auf die Streu und genossen ein paar Stunden süßen und tiefen Schlafes.

Mehrere Tage nach jener vergeblichen Suche waren wir damit beschäftigt, den Berggipfel nach jeder Richtung zu erkunden, um über etwaige Hilfsquellen unterrichtet zu sein. Außer den ungesunden Nüssen und einer saueren Art des Skorbutgrases, die auf einem wenige Ruten im Geviert messenden Fleckchen wuchs und auch bald aufgebraucht sein würde, bot uns die Höhe keinerlei Nahrung. Am 15. Februar, glaub' ich, war kein Halm davon übrig, auch die Nüsse fingen an, selten zu werden, und unsre Lage konnte sich kaum noch trauriger gestalten. (Dieser Tag war dadurch denkwürdig, daß wir im Süden einige ungeheure Streifen jenes weißgrauen Dunstes erblickten, von dem ich schon gesprochen habe.) Am Sechzehnten umschritten wir abermals die Wälle unsres Gefängnisses, in der Hoffnung, einen Ausweg zu entdecken; doch es war umsonst. Wir stiegen auch in die Kluft hinunter, in der wir verschüttet worden waren, in der geheimen Erwartung, hier würde sich ein Zugang zur großen Klamm erschließen. Auch darin täuschten wir uns; doch fanden wir eine Muskete und nahmen sie mit.

Am Siebzehnten rückten wir aus mit dem Entschluß, die Kule schwarzen Granits, in die wir auch auf unsrer ersten Expedition gekommen waren, genauer zu untersuchen. Wir erinnerten uns, daß eine der Spalten in der Wand dieses Kessels nicht genugsam erforscht worden war, und wünschten daher, sie recht sorgfältig abzusuchen, obwohl wir nicht hoffen durften, hier einen Ausgang zu finden.

Ohne große Schwierigkeit erreichten wir wieder den Boden der Kule, und heute besaßen wir die nötige Ruhe, um alles aufmerksam zu besichtigen. Wir waren hier an einem höchst eigentümlichen Ort und vermochten kaum zu glauben, daß er natürlichen Ursprungs war. Diese Kule maß vom östlichen bis zum westlichen Ende etwa fünfhundert Ellen, wenn man alle ihre Biegungen mitrechnete; die Länge in gerader Linie betrug nach meiner Schätzung kaum mehr als fünfzig Ellen. Im obersten Abstieg, das heißt etwa hundert Fuß bergabwärts, zeigten die beiden Flanken gar keine Ähnlichkeit miteinander und waren offenbar immer voneinander getrennt gewesen, da die eine Seite aus Speckstein, die andre aus Mergel bestand, der eine Art metallischer Körnung aufwies. Der Abstand zwischen beiden Wänden mochte hier sechzig Fuß betragen, aber es fehlte an einer regelmäßigen Gestaltung. Sobald man jedoch unter jene Grenze hinabstieg, nahm die Entfernung der Flanken sehr schnell ab, sie fingen an, einander parallel zu laufen, obwohl sie noch, was Gestaltung der Oberfläche und Art des Gesteins anbelangt, von verschiedenem Charakter blieben. Aber in einer Höhe von fünfzig Fuß über der Sohle setzte plötzlich eine verblüffende Regelmäßigkeit ein. Die Seiten glichen eine der andern vollständig im Gestein, in der Farbe, in der Richtung; es war ein sehr schwarzer und sehr glänzender Granit, und der Abstand zwischen beiden Wänden betrug an jedem Punkt genau zwanzig Ellen. Ich hatte Taschenbuch und Bleistift bei mir; beide habe ich mit der größten Sorgfalt unter tausend Abenteuern bei mir getragen, und ich verdanke ihnen die Bewahrung vieler Einzelheiten, die sonst aus meinem Gedächtnis verdrängt worden wären.

Fig. 1

Vorstehende Figur zeigt die allgemeinen Umrisse der Schlucht mit Ausnahme verschiedener kleiner Höhlungen, die sich in den Seitenwänden befanden und deren jeder ein Vorsprung auf der gegenüberliegenden Wand entsprach. Die Sohle des Schlundes war drei oder vier Zoll hoch mit einem fast unfühlbar feinen Pulver bedeckt, unter dem sich der schwarze Granit fortsetzte. Am rechten Ende befand sich der Spalt, von dem ich oben gesprochen habe; ihn näher zu untersuchen, war der Zweck unseres Ausfluges. Wir drangen jetzt kräftig in ihn ein, mähten die hindernden Dornsträucher zu Boden und entfernten einen Haufen scharfer Feuersteine, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Pfeilspitzen hatten. Ein Lichtschimmer am Ende des Spaltes gab uns neuen Mut. Endlich preßten wir uns etwa dreißig Fuß weit hinein und fanden, daß die Öffnung in einem niedrigen, regelmäßig gebildeten Bogen bestand, dessen Sohle mit dem gleichen überfeinen Pulver bedeckt war. Jetzt wurde es wieder ganz hell, und nach einer kurzen Biegung betraten wir ein zweites hochwandiges Gemach, das sich von dem ersten nur durch seine längliche Form unterschied. Seine Gestalt entsprach im allgemeinen der zweiten Skizze (Figur 2).

Fig. 2

Die Länge dieser Kluft betrug vom Eingang (a) um die Kurve (b) herum bis zum äußersten Ende (d) fünfhundertfünfzig Ellen. Wir entdeckten (bei c) eine Öffnung, die ebenso wie die erste mit Gestrüpp und einer Menge weißer, pfeilspitzenähnlicher Feuersteine verstopft war. Wir zwängten uns durch; die Spalte war vierzig Fuß lang und mündete in eine dritte Schlucht. Sie glich genau der ersten, abgesehen von ihrer länglichen Gestalt, die nachstehender Zeichnung entsprach (Figur 3).

Fig. 3

Fig. 5

Dieser Abgrund war dreihundertzwanzig Ellen lang. An der Stelle bei a befand sich eine Öffnung, die etwa sechs Fuß breit war und fünfzehn Fuß tief in den Felsen eindrang, um in eine Mergelschicht zu münden; es folgte, wie wir erwartet hatten, keine weitere Kluft. Wir waren im Begriff, diese Spalte, in die nur ein schwaches Licht fiel, zu verlassen, als Peters meine Aufmerksamkeit auf eine Reihe eigentümlich aussehender Einschnitte lenkte, die auf jener die Sackgasse schließenden Mergelwand zu sehen waren. Mit einiger Einbildungskraft konnte man die nördlichste der Runzeln als die roh ausgeführte Darstellung einer mit ausgestrecktem Arm dastehenden Menschengestalt ansprechen. Die übrigen Linien hatten eine Ähnlichkeit mit Buchstaben eines fremdartigen Alphabetes, und Peters war geneigt, die törichte Meinung zu vertreten, daß es wirklich solche Zeichen seien. Ich überführte ihn schließlich seines Irrtums, indem ich ihm den Boden der Spalte zeigte, von dem wir mehrere Blätter Mergel aufhoben, die offenbar durch irgendeine Erderschütterung von der Wand abgelöst worden waren und vollständig in die Vertiefungen hineinpaßten, die folglich natürlichen Ursprungs waren. Die Zeichnung hier (Figur 4) gibt die Form der Vertiefung genau wieder.

Fig. 4

Nachdem wir uns überzeugt hatten, daß diese seltsamen Pingen uns keinen Ausgang aus unserem Gefängnis eröffnen würden, kehrten wir gedrückt und mutlos nach der Höhe des Berges zurück. In den nächsten vierundzwanzig Stunden ereignete sich nichts Bemerkenswertes, außer daß wir bei der Durchforschung des Geländes hinter der dritten Schlucht zwei dreieckige Löcher fanden, deren Tiefe sehr groß schien; ihre Wandung bestand ebenfalls aus schwarzem Granit. Wir hielten es für unnütz, in diese Löcher hinabzusteigen, denn sie hatten das Aussehen natürlicher Zisternen und schienen ohne Abfluß zu sein. Jedes maß beiläufig zwanzig Ellen im Umfang; ihre Gestalt und ihre Lage zur dritten Schlucht sind aus der Skizze (Figur 5, oben) zu ersehen.


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