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IX

Dezember dann und Neujahr, alles ging vorüber; aber seitdem Blanche fort war, strich die Zeit mühselig dahin, als fehlte es auch ihr an Schwung.

Eines Tages, um vier Uhr nachmittag, kam Berthe auf dem Boulevard Sebastopol an der Kirche Saint-Leu vorbei. Das ist eine Kirche aus grauen Quadern wie alles rings um die Hallen, wo die Häuser an den Fischmarkt und das große Mundwerk der Händlerinnen erinnern. In den letzten Tagen spürte Berthe ein gewisses Schauern zwischen Zwerchfell und Herzen, ein Spiel der Organe, von dem sie nicht erriet, was es zu bedeuten habe. Manchmal kamen ihr komische Gedanken, die einen Anfang, aber kein Ende hatten und dennoch einen süßen und lieblichen Nachgeschmack hinterließen. Als sie an der Kirche Saint-Leu vorbeikam, durchlief sie das Erschauern und umfing sie. Sie lächelte, indem sie sich ihm hingab, und sagte sich: »Gehn wir hinein!«

Sie durchschritt zweimal die Kirche und war verwundert. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl und wußte einen Augenblick nicht, was sagen:

»Mein Gott, ich bin nur eine liederliche Dirne. Heute abend mußte ich in die Kirche Saint-Leu treten, ohne zu wissen, warum. Da bin ich in Deiner Kirche, mein Gott, ich denke an Dich. Du siehst uns nicht einmal an, denn wir tun alles das, was Du verboten hast. Maurice sagte: Es gibt keinen, aber ich sage Dir: Es gibt einen guten Gott. Mir ist, als wenn ich den Boulevard Sebastopol lange verlassen hätte. Weil ich am Tag meiner ersten Kommunion krank war, nahm ich meine erste Kommunion zwei Wochen später. Wir waren zwei Kleine in Weiß, aus derselben Schule: die Schwester nahm einen Fiaker und führte uns zur Kommunion nach Notre-Dame. Wir waren sehr glücklich, im Fiaker zu fahren. Und dann hat mich meine Mutter am liebsten gehabt. Sie sagte zu mir: Komm her, Berthe, ich mach dir Locken und frisier dich schön. Ich bin in die Katechismusstunden gegangen und liebe noch die Marienmonate sehr. Meine Mutter war sehr gütig, sie war nicht wie die andern Frauen und war Italienerin. Am Tag, wo sie gestorben ist, war ich im Spital. Meine beiden Schwestern besuchten mich: Marthe war ganz blaß, aber Blanche kratzte sich am Kopf und schien sich nicht viel daraus zu machen. Auf der Stelle bereitete es mir nicht soviel Kummer, wie ich geglaubt hätte. Mein Gott, ich denke an meine Mutter. Ich wäre so glücklich, wenn ich sie wiedersehen würde, aber ich frage mich, ob es nicht Dummheiten sind, was ich Dir sage. Ich will zu Dir beten, mein Gott, denn das Gebet tut mir wohl. Wenn meine Bekannten wüßten, daß ich bete, sie würden es lächerlich finden, und ich will trotzdem zu Dir beten. Ich bin nur eine liederliche Dirne, aber ich bin noch nicht schlecht. Du wirst mich ansehen und sagen: Ach, die kleine Berthe Méténier betet da.«

Sie ließ sich auf die Kniee nieder und sprach das »Vaterunser« und »Gegrüßt seist Du, Maria«, aber sie konnte sich nicht an das »Ich bekenne« erinnern. Kurz darauf setzte sie sich und blieb in ihrem Winkel sitzen, ganz allein und ganz bescheiden wie ein kleines Kind, das ein gutes Beispiel geben will.

Sie trat hinaus und ging geraden Wegs zu Pierre Hardy. Sie erzählte ihm:

»Weißt du, was ich heute gemacht habe? Ich kam an der Kirche Saint-Leu vorüber. Da bin ich hineingegangen und hab für meine Mutter zum lieben Gott gebetet!«

In ihm war ein Rest seiner katholischen Erziehung:

»Dafür wird dir vieles vergeben werden, meine kleine Berthe.«

Dann wurde er sich bewußt, daß diese Worte nichtssagend waren.

Nach dem Essen, während sie im Kaffeehaus saßen, packte es Berthe:

»Ach was, es ist blöd, daß ich mich gräme.«

Sie ergriff das Kognakfläschchen und schüttete es in die Tasse mit entschlossener Gebärde und plötzlichem Kopfnicken. Wahrhaftig, komische Einfälle trieben sie an, wirbelten durcheinander, man sah sie in ihren Augen blitzen. Sie brach in Gelächter aus: Ja, manchmal packt es mich. Sie trank den Alkohol aus wie nichts, und das genügte ihr nicht.

Sie rief: »Vorwärts! Musik!« und stürzte noch eins hinunter. Ein Irrsinn überkam sie, den Ellbogen immer wieder zu heben, ein förmlicher Irrsinn in Ellbogen und Kopf, in dem Trinken Lust bereitete und die Lust vervielfachte. Sie trank mit einer Geste, wie wenn ein Gärtner sein Blumenbeet begießt, es erhielt sie im Zuge, es trieb sie weiter und mischte eine unbekannte Kraft in ihr Blut. Sie schüttete alles hinab, was da war, und man hätte gedacht, sie schütte etwas zu.

An der Straßenecke stand ein kleiner Knirps. Berthe balancierte, geradezu tanzend, wie ein Seiltänzer. Sie schwang ihm das Bein über den Kopf und rief: »He, hopp!« Der Junge lachte auf, Berthe bückte sich, um ihn zu küssen, und sagte: »Wie lieb er ist!«

Einen Augenblick war die ganze Welt lieb. Sie erfüllte alles mit Leben, teilte allem ihre Lustigkeit mit und hätte am liebsten alles in ihren Wirbel hineingerissen:

»Mein Mädel, mit der Garde
Marschieren wir herum,
Tra ra tra ra bum bum!«

sang sie und stürzte sich in die offene Tür eines Kaffeehauses:

»Ich pfeif drauf, ich pfeif drauf. Das dauert mir schon zu lang. Die ganze Komödie ödet mich an. Man spuckt in die Luft und es fällt einem auf die Nase. Ich pfeif jetzt auf alles, und das ist das Beste. Sie sagen mir: Was haben Sie für eine glückliche Natur, Sie lachen in einem fort. Ich pfeif auf sie. Jetzt will ich mich amüsieren. Gewiß, ich hab einen Nervenanfall gehabt heute abend, und ich möchte wissen, wozu mir das gut ist. Geld bringt's nicht in die Tasche, wenn man sich grämt. Ach, schau bloß mal den Schädel des Alten an! Wenn er trinkt, läßt er das Bier herunterrinnen. Dann soll er keine Regenwürmer haben im Bart! Die sind gut, die Alten. Man sagt zu ihnen: ›Zahl mir vierzig Sous drauf und ich küß dich.‹ Was muß Maurice da unten nicht alles schlucken? Seit einer Woche wartet er, daß ich von mir hören lasse. Ich hab es satt. Komisch, wie man aus der Ferne alle Fehler sieht. Da sagt mir unlängst sein Kamrad: ›Was du treibst, ist nicht recht.‹ Was hat er sich reinzumischen?«

Aber Pierre, der steif dasaß, öffnete den Mund, und sie schwieg schon. In der Luft lag etwas andres:

»Nein, der dein Mann ist, ist nur ein Mensch; ein Leib, der leidet, und eine Seele darin, die büßt, sollen unserm Herzen teurer sein, als alle Begierde und aller Haß und sollen wie ein ausgestoßener Schrei sein, der so lange fortgellt, bis wir ihm unsre Liebe entgegenbringen. Ich weiß, daß ein Mann dir weh getan hat, aber ich weiß auch, daß dieser Mann allein ist. Ist dein Schmerz groß, so sei er auch schön, neige dein Haupt wie ein guter Engel über Gottes Gerechtigkeit, dann erhebe dein Haupt und lächle deinem Bruder Satan zu. Er brachte dir das Licht, als du siebzehn Jahre warst, er setzte sich des Morgens neben dich und sprach, deine Hände nehmend: ›Schwester meiner Seele, begreifst du meine Liebe?‹ Berthe und Maurice, als die Tage euch zusammenbanden, hat ein Wunder sich erfüllt des Heiligen Geistes, der euch an jenem Tage vermählte und für immer die Stunde eures Glücks eingrub in dein Gedächtnis. Heute ist der Mann hinausgehetzt. Ich sage dir: Du sollst den Mann vergessen, da er den Fluch seines Geschlechts auf dein Haupt geladen hat, aber ich kniee zu deinen Füßen und flehe zu dir: Still ihm das Blut seiner Wunden. Sprich zu ihm: ›Ich gedenke deiner, der du in der Tiefe der Hölle bist, und ich sende meinen Odem zu dir, deine Flammen zu kühlen.‹ Und da der Tag der Auferstehung kommen wird, da die Buße nicht ewig ist, so wirst du dein Haupt erheben und sprechen: ›Ich war eine barmherzige Schwester und verband Wunden. Ich bin ein Weib, das du verwundet hast und das leben will; ich will genesen und kenne dich nicht mehr.‹«

Pierre sprach nicht so, Berthe vernahm dieses nicht, aber die Worte schwebten in der Luft rund um ihre Gesichter und strichen über sie wie ein Hauch, der erhabener ist als Menschenworte.

Sie verlangte Tinte und Feder, und im Schreiben war noch die Tollheit der Dirne und Betrügerin. Sie nannte ihn »mein liebes Männchen« und fuhr fort: »Ich weine, während ich diese Worte schreibe«, und sie lachte darüber. Sie war schmeichlerisch nach der Sitte von Paris, wo man den Straßenpassanten zulächelt und alles sich mit französischer Ironie abspielt.

Sie begann nochmals zu trinken, kräftigen Schnaps, den sie kurz umstülpte und mit einem Kosenamen belegte: kleines Schnäpschen. Die Gläschen reihten sich im Gänsemarsch aneinander wie Kinder, die spielen; sie nahm sie und goß sie tief in sich hinein in der Wut, alles zu ersticken, was noch drinnen übrig geblieben sein konnte. Als sie bezecht war, durchlief der Rausch sie ganz, folgte den Nerven entlang und erregte ihr ein Gelächter, das sie schüttelte und aufkreischen ließ wie eine zusammengepreßte Springfeder. Die Welt war drollig, die Streichholzständer auf den Tischen, die Gaslampen, die Gäste und die Bänke blickten sie mit einem Ausdruck an, den sie noch nicht kannte, sie zu Grimassen herausforderte und stoßweise zum Lachen zwang.

Sie gingen endlich. Die Nacht war feuchtschwarz, die Sterne durchlöcherten den Himmel und sanken wie Hagel herab, der Lärm rollte wie Gottes Donner. Berthe sagte in ihrer arglosen und jähen Trunkenheit:

»Ich weiß nicht, was mit mir los ist, nie bin ich so traurig gewesen wie heute.«

Er führte sie nach Hause, und als sie eintraten, löste sich die Spannung. Die Wirtin erwartete sie:

»Fräulein, Ihr Bruder hat Sie hier gesucht. Er hat einen Brief da gelassen.«

Sie las den Brief und begriff alle ihre Ahnungen.

Ihr Vater war gestorben.

Jean Méténier war, neunundvierzig Jahre alt, im Spital gestorben. Er hatte sich eines Abends zu Bett gelegt, schwer wie ein Stein, und wand sich vier Tage unter seiner Bleivergiftung. Dann verkrampfte er die Fäuste, streckte sich auf den Rücken und fühlte die Schwere seiner sieben Kinder in seinem Schädel: Marthe mit zwei Rangen, Berthe mit Bübü, Blanche und Saint-Lazare mit dem ganzen Bettel, Gustave, der mit der langen Marie, der Müßiggängerin, zusammenlebte, die drei kleinen Jungen, die soviel Brot aßen und mit ihren offenen Spatzenschnäbeln hier zurückblieben,– und er starb mit zusammengebissenen Zähnen und vorgestrecktem Kinn.

 

In diesen Tagen war Berthe so unglücklich. Man hofft auf ein Wiedersehen, um sagen zu können: »Ich habe geirrt, aber habe dich dennoch geliebt. Ich kehre zurück und nun wird die Familie wieder vollzählig sein.« Er war tot, und Berthe erinnerte sich besonders eines Ereignisses, das ihr Gustave erzählt hatte. Eines Tages überraschte der Vater Blanche in der Rue Gaîté, wie sie am Arm eines Zuhälters ging. Er kam nach Hause, setzte sich an den Tisch und sagte: »Ich habe drei Töchter gehabt; mußten aus ihnen drei Huren werden?« Und große Männertränen fielen ihm in den Bart. Er war tot, und das war etwas Unabänderliches und Unerwartetes. Sie hatte viel von ihren Kindergefühlen eingebüßt, aber als sie das ernste und gerechte Totenantlitz erblickte, empfand sie einen Geißelhieb wie von einem ewigen Vorwurf. Sie hatte Furcht, wie man sich nachts bei Albdrücken fürchtet, bei Gewissensbissen, wenn die Finsternis nach dem Verbrechen dicht und schwer ist gleich einer Strafe. Berthe empfand Scham über ihre Vergangenheit, sie sah sie blitzartig beleuchtet und dachte: »Ich bin die letzte der Letzten.«

Und dann wollte sie ein Trauerkleid haben. Nachts verließ sie unter einem Vorwand die andern und ging los, um sich das Trauerkleid zu verdienen. Sie strich wie gewöhnlich über den Boulevard Sebastopol. Drei Stunden schritt sie dahin, die Füße auf den Steinen, in der schrecklichen Todesnacht, und schließlich war es ihr, als schleifte sie den Leichnam durch die Straße. Sie ging mit zwei Männern. Der erste gab ihr zehn Francs, und als sie sich aufs Bett gelegt hatte, genoß Berthe, das empfindungslose und unbeteiligte Freudenmädchen, den Mann und spürte Liebeslust. Der zweite gab ihr hundert Sous und feilschte. Niemals könnte sie den Mann vergessen. Er hatte einen roten Bart, sie hätte ihn am liebsten gebissen und ihm gesagt: »Begreif doch die Gemeinheit, dich auf mir herumzuwälzen am Tag, wo ich meinen Vater verloren habe!«

Diese Nacht rettete sie. Wenn die Schande so groß ist, daß man sie nicht mehr ertragen kann, läßt man sich nieder, errötet noch, blickt aber auf und flieht vor der Schande weit weg und kann nicht anders. Sie hatte den Geschmack von all dem Erleben der so langen Tage, da der Vater starb, im Munde, den Geschmack von Stein und Asche, vom Boulevard Sebastopol und vom Spital, wo man verendet. Und ihr ganzer Beruf war davon erfüllt, all ihre Tage der Krankheit und der Schmach, und die Hotelzimmer, wo man sich aufs Bett legt, bewußtlos und gedankenlos wie ein Tier. Sie sah die unnennbaren Gegenstände wieder, die Waschbecken und die herumliegenden Sachen und das ausgehöhlte Kreuz in den feilen Nächten. Sie erinnerte sich an alles: an das Auf- und Abgehen auf den Boulevards, den Alkohol in den Cafés, die Küsse ohne Geschmack, mengte alles durcheinander, verschmolz es in eine einzige Masse, und all die Nächte wurden in ihrem Gedächtnis die Nacht, in der ihr Vater begraben werden sollte.

Die Familie hatte sich versammelt. Die Großmutter blickte sie mit scharfen Augen an wie eine böse Hexe. Sie sagte: »Saumädel!« Berthe erwiderte: »Und ich weiß nicht, was du gemacht hast, wie du jung warst.« Der Bruder sagte: »Du schweig vor allem.« Man hatte über die drei kleinen Kinder verfügt: Marthe nahm das zweite, Gustave die beiden andern zu sich. Man hatte so vor ihr verfügt, ohne sie zu befragen, ohne sie mitreden zu lassen, als gehörte sie nicht zur Familie. Als sie anbot, mitunter auszuhelfen, antwortete Gustave mit einer Gebärde: »Hilf dir zuerst selber!«

Sie litt unter all dem in der unsagbaren Angst der Verstoßenen und in einem Entsetzen, das sie leise beben ließ. Sie fühlte, daß sie nicht ehrsam war, und begriff unter den Ihrigen, die sich um einen Toten scharten, wie schön es war, ehrsam zu sein. Zu gleicher Zeit wanderten ihre Gedanken zu den Zuhältern und zum Laster. Die ununterbrochene Verknüpfung von Gemeinheit und Kummer brachte sie in schwärzeste Betrübnis, bis an einen verlorenen großen Abgrund, dessen bitteres Wasser ihre Brust überflutete. In ihrem ungelenken Geiste formte das Leben ein Bild, sie sah vor ihren Augen zwei gebrechliche Schultern und auf sie Schläge niedersausen. Sie klagte über sich selbst mit Worten wie zu Kindern: Arme kleine Berthe!

 

Da sah sie große Gefühle sich in den Tag erheben gleich der aufgehenden Sonne. Sie ward erleuchtet, Magdalena, und als sie sich aufrichtete, um ihr feuchtes Antlitz abzuwischen, schien ihr das Herz vom ersten Licht erhellt zu sein. Sie sah jenseits der Dinge eine tiefe Liebe, eine große Güte, die schwebte und mit den ganz leise bewegten Flügeln um ihre Stirn schlug. Sie sah dies, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, doch ihre Seele war erfrischt, wie wenn man Früchte genossen hat. Halleluja! sangen die Engel. Auf Erden war ein Duften wie im Marienmonat. Wenn sie an Pierre dachte, so dachte sie an ihre Eltern, an die Kunstblumen und die gute Gewißheit eines Daseins an gleichmäßigen und friedlichen Tagen. Wie begehrte sie danach, niederzusitzen und die Zeit verfließen zu sehen, ohne Gebärde und gesammelt in Gedanken, die mit der Zeit dahinströmten! Gleichwohl, wenn es mir jemand vor einer Woche prophezeit hätte, ich hätte ihm nicht geglaubt, denn das Unglück verfolgt mich zu lange. Ich hätte ihm gesagt: »Aufschneider! Hält man mal dort, wo ich bin, so weiß man, daß es für immer ist. Schließlich, man kann nicht mehr anders.« Sie dachte schon daran, am Sonntag aufs Land zu gehen, und sie würde sich Blumen mitbringen. Wenn man das Spital fast geheilt verläßt, so fühlt man sich rein gewaschen. Sie fühlte sich rein gewaschen!

Sie dachte: Gewiß, ich werde weniger Geld verdienen, und das wird schwer sein, denn Geld bereitet Glück. Ich werde nicht mehr Tage zu zehn Francs haben wie auf dem Sebastopol; aber wenn ich daran denke, macht mir der Sebasto Herzleid. Offenbar, weil ich nicht so stark bin wie meine Schwester Blanche. Übrigens hab ich nichts davon gehabt. Ich weiß nicht, was im Menschen steckt, wenn er das Handwerk betreibt. Es ist richtig, daß unrecht Gut nicht gedeiht. Mir ist, als würde ich ruhig sein, wenn ich wieder Blumen mache. Ich werde den ganzen Tag zu tun haben, und so werde ich keine Lust haben, viel Geld auszugeben. Schließlich, wenn man ordentlich ist, so ist man immer belohnt. Ich werde noch jemand finden, der sich für mein Los interessieren wird und mir wird helfen wollen. Wahrhaftig, ich glaube, daß ich anständig sein werde. Ich stehe nicht darum, zu heiraten, denn alle Männer haben ihre Mucken.

Sie ging die Maueranschläge in der Rue Réaumur nachsehen und fand sofort Arbeit. Alles vollzog sich wie in den Büchern, wo man die Sonne die Genesenden erwärmen sieht. Der Frühling schien den Winter abzulösen, und der Himmel spendete blaue Lüfte, die in der Sonne zitterten, über die Dächer sich breiteten und Gedanken an junge Liebende erweckten. In den Straßen gingen die Passanten auf der Sonnenseite. Sie war frisch und lebhaft und gut, von einer so großen Güte, daß man geglaubt hätte, all das schöne Wetter komme aus ihrem Herzen. Sie arbeitete in einer finstern Werkstatt, wo alte Winterreste in den Winkeln moderten, und die bissige Besitzerin und all die Närrinnen mit ihren verliebten Albernheiten schienen ihr anfangs schlimme Dinge zu sein, die sie schon einst im Backfischalter erlebt hatte. Sie hatte sie sich eben abgewöhnt, aber in einer Woche war sie wieder darin.

 

Abends, wenn sie von der Arbeit kam, ging sie zu Pierre. Sie erzählte ihm die großen Neuigkeiten:

»Weißt du, ich hab es satt gehabt ... Hör, was ich tun will: ich nehme mir ein kleines Zimmer für fünf Francs in der Woche, nicht mehr. Ich werde in diesem Viertel wohnen. Du wirst sehn, mein alter Pierre. Eines Tages endet das mit einer Heirat. Jeden Abend machen wir, wenn du willst, einen Spaziergang durch die Rue de Rivoli und gehn dann jeder nach Hause. Manchmal begleite ich dich in dein Zimmer, aber nicht alle Tage, denn man darf sich nicht zu sehr müde machen. Doch vorläufig mußt du mich aufnehmen, bis ich den ersten Wochenlohn bekommen habe. Du wirst mich ins Restaurant führen. Übrigens mach ich dir keine großen Ausgaben. Wir werden uns gut unterhalten. Wir wollen den Einzug einweihen. Ich kaufe ein Huhn und laß es irgendwo braten, und Gemüse, das wird ein feines kleines Abendessen sein. Ich will mir einen Seiher verschaffen, damit ich Kaffee kochen kann. Du wirst sehn, mein Alter, ich werde ein fabelhaftes Essen bereiten.«

Und Pierre dachte:

»Ich habe kein Weib gehabt. Ich bin mit gesenktem Kopf herumgegangen und wiederholte mir: ich habe kein Weib. Das Unglück unterbricht sich nicht, so daß man glaubt, es sei schlimm, zu leben. Das ist vorüber. Ich fühle jetzt, daß alles, was mir gefehlt hat, nun kommt und daß die Welt in Ordnung ist. Aber das Gleichgewicht findet man nicht auf einmal. Ich frage mich: Was habe ich denn getan, was ist denn mein Verdienst, daß mir solch ein Glück beschieden wird?«


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