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VI

Berthe blieb anderthalb Monate im Krankenhaus.

Maurice wartete auf sie, wie man auf das tägliche Brot wartet, und besuchte sie jeden Donnerstag und Sonntag. Sie sagte: »Die Ärzte wollen mich noch einen Monat behalten.«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Maurice.

»Was willst du, ich muß mich kurieren.«

Er antwortete: »Oh, ich weiß, du willst alles nach deinem Kopf machen.«

Im Hotelzimmer saß er, trank das Wasser aus der Flasche und wartete auf sie. Manchmal aß er nur Käse. Für drei Francs verkaufte er seinen Regenschirm und wartete mit einem gewissen Vertrauen zwei Tage. Dann tauchte ein Kamerad mit fünf Francs auf, der ihm das Zimmer bezahlte. Er aß etwas bei der Mutter, aber Geld verweigerte sie ihm. Er sagte: »Du könntest mich krepieren sehen!« Sie erwiderte: »Arbeite!«

Berthe konnte ihm ein paar Zehnsousstücke geben: im Krankenhaus braucht man nichts. Es fanden sich zwei oder drei Frauen, die ihm ein Frühstück anboten und ihm den Tabak bezahlten, aber keine von ihnen konnte das Leben mit ihm teilen, denn er hatte gewählt, wie Männer wählen – für immer. Er saß und wartete, die Fäuste an den Kinnbacken, trockenes Brot kauend.

Er wartete ganze Nachmittage in den Straßen, wo er zwecklos herumging. Manchmal wurde ihm die Zeit trüb und blieb unbeweglich ihm zu Häupten schweben wie ein Schleier der Öde, wie etwas Gleichgültiges und Totes. Die Tage, an denen er mit den Kameraden zusammen gearbeitet hatte, und die Abenteuer schienen ihm vergangene Tage zu sein, Tage alter Zeiten, da man noch unter Menschen gelebt. Er hegte zwei oder drei Erinnerungen: Berthe schleppte sich gähnend durch das Zimmer und rekelte sich. »Mir ist es fad!« sagte sie. Er antwortete: »Wenn es dir fad ist, hau ich dir eine übers Maul.« Er begriff nicht, wie man einen ganzen Abend lang mutlos bleiben kann, während das Leben fiebert und die Welt voll Taten ist.

Jetzt begriff er dies besser. Ein wenig Leid klärt uns auf und weist uns die Schmerzen, die wir zu sehen nicht verstanden haben als ewige und bessere Brüder. Er fühlte noch, daß das Glück unzuverlässig ist und unser Herz ein schwankendes schwarzes Wrack. Er verlor seine Zuversicht und schrieb an Berthe: »Ich sehne mich nach dir. Es ist das erstemal, daß wir getrennt sind, und mir ist, als wären wir für immer getrennt.« Ihm zogen nicht Gedichte durchs Herz, weil er keine kannte, aber eins nach dem andern fielen ihm all die Liebeslieder wieder ein, die er gehört hatte. Die schönsten und die lautersten waren die besten. Er fühlte mehr als jemals, was Schönheit ist. Vor allem das Lied Lakmés fällt uns ein und legt sich auf die Wunde, die uns schmerzt. Es kam von seinen Lippen wie ein Schrei, wie ein Hauch und wie ein guter Duft:

»Ja, ich finde dein Lächeln wieder
Und will in deinem Aug' den Himmel schau'n.«

Aber es kam ein Tag, an dem Maurice des Wartens noch müder wurde. Seit vierzehn Tagen war Berthe im Spital, das Elend schien ihm schon lang. Die ersten Tage haben Freunde und Hilfsquellen, aber bald, wenn die Schuhe durchgetreten sind und die Kleider zerfransen, wird das Elend des trockenen Brotes zum Elend in Lumpen, gegen das die Freunde nicht mehr aufkommen. Einst glaubte man an die Möglichkeit der Abenteuer. Stehlen ist schön, solang man es zu seinem Vergnügen macht, wer aber aus Bedürfnis stiehlt, wird zu erregt für seine Abenteuer, um sie sicher zu bestehen. Dann macht trockenes Brot kraftlos. Er spürte einen Nachgeschmack von alledem im Magen, einen lächerlichen Druck vom Käse, die Schwere von schlechter Nahrung und Hunger. Der Aufruhr durchstürmte seinen Körper, der Käsegeruch verursachte ihm Übelkeiten, der starke Mann blickte mit durchdringenden Augen um sich.

Da suchte er seine Freunde wieder auf. Er suchte sie nicht auf wie einst, da seine Seele an lustigen Nachmittagen unter ihnen sorgenfrei war. Sie gingen damals in den Hinterraum der Weinstuben, ließen sich nieder, die Ellbogen auf den Tisch, die Faust unters Kinn, plauderten und tranken Rotwein. Er litt unter einer empfindlichen Melancholie, die ihn an der täglichen Arbeit hinderte, und so bedurfte er eines Kampfes, um entzündet zu werden, eines großen Abenteuers, das ihn aufrüttelte und überwältigte, damit er eines Tages all die Energie Bübüs wiederfinden und auf einmal wieder seine tägliche Arbeit verrichten konnte. Er bedurfte eines großen Diebstahls, der ihm die Taschen hinlänglich mit Gold füllte, daß er warten konnte wie ein Rentner der Liebe, wie ein Dichter der Melancholie, der an nichts andres denkt, als wie seine Schöne eines herrlichen Morgens zurückkehrt, und an neue Hochzeitsfreuden.

 

Es war eine einfache und traurige Geschichte. Sie ereignete sich in einem Tabakladen um drei Uhr morgens, mitten in verlassenen Straßen, wo die Stille die Menschen ermutigt und so gut zu sein scheint wie ein letzter Rat. Sie gingen dahin, die Kehle trocken und Blut in den Fäusten. Los endlich, alle drei, meine Brüder, dämpft das Herz und paßt auf beim Stehlen, wenn man zittert, wenn man sucht und wenn man findet.

Alles ging gut bis zur Kasse: die Tür und die Schubfächer widerstanden nicht. Sie hatten kein Glück, weder er noch die andern! Maurice hatte es sich immer gedacht. Die Kasse enthielt sechzehn Francs, nur sechzehn Francs! So nahmen sie alles mit: die Briefmarken, die Stempelbogen, die Zigarren, die Zigaretten und den Tabak. Sie stopften damit die Taschen voll, dann das Hemd, dann packten sie in die Taschentücher. Als sie sich entfernten, war die Straße noch leer, und sie trennten sich alle drei, den Himmel zu Häupten und die Gedanken schwer.

Nach zwei Tagen hatten sie nicht viele Briefmarken verkauft und konnten den Tabak nicht an den Mann bringen. Das Losschlagen gestohlener Sachen ist unsicher wie der Diebstahl selbst, und die Tage sind schrecklich, sobald die Nerven beim Anblick des Schatzes zu tanzen beginnen. Maurice ging umher, die Taschen voll Briefmarken und Zigarettenpakete an der Brust. Er hatte vielleicht Freunde. Am Morgen des dritten Tages, als er auf dem Quai de l'Horloge dahinschritt, traten an einer Ecke zwei Männer hervor. Er hatte sie schon am Tage vorher getroffen und ihre breiten Schultern und ihr Maul bemerkt. Ein Blick rückwärts, die beiden Männer folgten ihm. Er hörte ihre Schuhe wie einen Überfall, fühlte sie dröhnen wie Fäuste und gewichtig wie die Polizei, die alles weiß. Er versuchte rascher und unbefangener auszuschreiten. Dann erstarrt einem das Blut im Leibe, es war vorauszusehen, zwei furchtbare Fäuste packen einen, zwei Schultern stoßen mit namenloser Brutalität vorwärts und auf zwei Stimmen ist keine Antwort möglich: »Marsch! Keinen Laut!«

Er hatte die Taschen voll Briefmarken und Zigarettenpakete an der Brust.

 

Berthe erfuhr dies durch ihre Schwester Blanche an einem Donnerstagabend im Sprechzimmer des Brocaspitals. Blanche wußte es von Charlot, der es vom langen Jules hatte, und man wußte ferner trotz den Gefängnismauern, daß Maurice mit Syphilis angesteckt war. Blanche redete als Bringerin einer großen Neuigkeit sehr wichtigtuerisch, mit Mienen und Gesten und einer Art von Großartigkeit, wie eine Zeitung eine Nachricht in die Welt setzt. Da trat in der schwarzen Spitalsluft, zwischen den vier Wänden des Sprechzimmers, tiefe Stille ein, während die Kranken rings um Berthe lebhaft waren und Berthe sich einsam fühlte. Dunkel sank auf die Häupter und verschleierte die Augen. Das Spital wurde noch mehr Spital, das Leben schien noch mehr das Leben zu sein, um das man ringt und das verwundet. Berthe begriff, daß ihr das Leben bis hierher allzu leicht erschienen war.

Aber Blanche sagte:

»Ach, was! Er hat dich lang genug geprügelt!«

 

In den folgenden Tagen richtete sich Berthe ihr Leben neu ein. Die Gewohnheiten Maurices waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen und formten ihren Leib und ihre Gedanken. Sie war zunächst Berthe, aber sie war auch die Frau, die ein Mann vier Jahre befruchtet hatte, wie der Nil die Erde Ägyptens überflutet. Sie hatte große Angst gehabt. Mit ihren siebzehn Jahren hatte er sie bei der Hand genommen und sie in die Welt geführt. Dann hatte er gesagt: »Hier mußt du hingehen!« Und er hatte sie bewacht auf ihrem Wege. Die Tage im Spital waren noch die Tage Maurices, denn jeden Donnerstag und Sonntag besuchte er sie im Sprechzimmer. Und dann wußte sie, daß sie ihn jeden Augenblick wiedersehen konnte. Nun drehte sich alles um sie: Paris, das Spital, die Gegenwart, die Zukunft, und die wirrsten Gefühle:

Ein Wesen schwand dir hin,
Und alles ist verödet.

In den folgenden Tagen versuchte Berthe, ihr Leben neu einzurichten. Sie richtete es mit ihrer Schwester Blanche ein, mit einer kleinen Freundin namens Adele, dann mit irgendwem, gleichgiltig wem, denn eine Frau soll nicht allein sein. Sie suchte Männer in ihren Erinnerungen. Sie dachte an Pierre, an ihn, den sie in ihrem Unglück angeklagt und der ihr beschwörend geschrieben hatte, daß er nicht der Schuldige sei. Er hatte geschworen, wie sie es gern hörte – beim Haupte seiner Mutter –, denn dann ist es die Wahrheit. Sie gedachte auch andrer Männer und ließ sie in Gedanken vorüberziehen, um sich zu betäuben und Hoffnungen zu schöpfen. Aber nichts vermochte die Erinnerung an Maurice auszulöschen, und hätte ein Gott sich an der Tür niedergelassen, hätte er sie zu seiner Gefährtin gemacht und sie zu höchster Herrlichkeit geleitet, hätte er sie sogar beschenkt und sie geliebt, nie – nie hätte sie den einen vergessen können, der sie zur seinen gemacht hatte und der mehr war als ein Gott, weil er ein Mann und sie eine Jungfrau gewesen war. Sein Leib war dem ihren viel tiefer eingeprägt als alle Gefühle und alle Wünsche. Sie wußte nicht, wie man die Leute im Gefängnis richtet, doch alles Leid, das sie erlebt hatte, flößte ihr ein großes Mißtrauen gegen die Zukunft ein und lehrte ihr, daß ein Unglück das andre nach sich zieht. Sie war krank geworden, weil sie kein Glück hatte, und aus demselben Grunde, glaubte sie, würde ihr Maurice jahrelang fernbleiben.

Da fühlte sie sich verloren, ihre Gedanken schweiften all die kommenden Tage entlang, um ein kleines Glück zu entdecken, das sie mit gierigen Händen ergriffen hätte, sie blieben vor allen möglichen Winkeln stehen, aber nichts genügte ihrem Herzen, denn sie kam aus einem schönen Lande, und das war sein Land.


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