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Der Boulevard Sebastopol war am Tage nach dem vierzehnten Juli noch lebendig. Halb zehn Uhr abends. Die Bogenlampen, schreiend weiß zwischen den Baumreihen, überschneiden die Schatten oder sind im Blattwerk verloren. Die Warenhäuser sind geschlossen: »Pygmalion«, die »Lämmlein«, der »Holländische Hof«, »Zur billigsten Quelle der Welt«, und ihre finstern Fassaden, die soeben den Bürgersteig erhellten, verdunkeln ihn jetzt gleichsam. Die hohen vergoldeten Aufschriften, die an den Balkonen in der Sonne glänzten, im ersten Stock, im zweiten und in den andern, verlieren sich in dem Schwarz mit ihren Buchstaben aus gelbem Holz und scheinen am Abend auszuruhen wie der Großhandel. Blumen und Federn, Ausverkäufe, Lebensmittel, Stoffe haben auf dem Boulevard Sebastopol ihre Rolläden heruntergelassen und sind verstummt.
Zu dieser Stunde betrachten die Fußgänger nicht mehr die Schaufenster. Das Nachtleben beginnt, mit andern Zwecken. Die Wagen haben Laternen: die Fiaker strahlende Lichter wie zwei vergnügte Augen und die Tramways ein rotes oder grünes Feuer, und sie heulen wie eine erregte Menschenmenge. Sie folgen einander, kreuzen sich, stampfen und rollen. Am Horizont gegen die großen Boulevards erhellt die Luft sich stark, erhebt sich zum Himmel und ist wie von leuchtendem Geist belebt. Das Ziel ist nicht hier, auf dem Boulevard Sebastopol, wo die Warenhäuser geschlossen sind. Die Wagen eilen. Die nach den großen Boulevards wollen, fahren in das Licht hinein und hasten dahin wie Menschen, die ein Schauspiel anzieht.
Der Boulevard Sebastopol lebt ganz und gar auf dem Bürgersteig. Auf dem breiten Steig, in der blauen Luft einer Sommernacht, verbringt Paris und verlängert am Tage nach dem vierzehnten Juli einen Überrest des Festes. Die Bogenlampen, das Laub der Bäume, die Wagen, die rollen, und die ganze Erregung der Fußgänger wirken zusammen so scharf und schwer wie Rausch und Ermüdung. Es ist das übliche Schauspiel aller Abende, aber es gibt Straßenecken oder Häuserfronten, die noch die Erinnerung an die gestrigen Tänze bewahren. Es gibt gewisse Geräusche oder gewisse Schreie, die an die Lieder der Betrunkenen denken lassen. Es gibt Laternen oder Fahnen, die in den Fenstern zurückgeblieben sind und eine Fortsetzung der Fröhlichkeit zu fordern scheinen. Man errät, was in den Seelen vorgeht. Die einen, die sich gestern vergnügt haben, blicken noch nach einem Vergnügen aus, dem sie sich hingeben könnten. Denn die Menschen, die einmal die Freude kennen gelernt haben, rufen sie ewig herbei. Die andern, die arm sind, die häßlich sind und die ängstlich sind, ergehen sich zwischen den Überresten des Festes und suchen in den Winkeln nach übriggelassenen Brosamen. Denn die Menschen, die niemals die Freude kennen gelernt haben, sind gequält und suchen sie immerfort, bis sie davon müde geworden sind, leer ausgegangen zu sein.
Die Luft scheint sich um sie zu regen. Gutgekleidete junge Leute kommen zu zweit oder zu dritt und gehen von hinnen. Sie haben neue Kragen, elegante und einfache Krawatten mit glitzernder Nadel und eilen dem Lichte zu, Geld in den Taschen. Handelsangestellte plaudern unter ihnen: »Wir haben bis Mitternacht getanzt. Sie hat allerhand mit sich machen lassen. Ich habe sie in ein Hotel in der Rue Quincampoix gebracht, wie hat sie darauf Lust gehabt!« Zwei Freunde heften ihre Schritte an zwei kleine Frauen, die, als sie von ihnen angeredet werden, sich mit ersticktem Lachen anschauen. Junge Leute mit phosphoreszierenden Augen blicken die Frau an, so oft ein Paar vorübergeht. Dicke Männer rauchen eine Zigarre mit Genugtuung und denken: »Ich bin ein mächtiger Beamter mit zwölftausend Francs Jahresgehalt.« Paare gehen vorüber. Eine elegante junge Frau am Arm eines eleganten jungen Herrn: sie ist glücklich darüber, reich auszusehen; er ist glücklich, beneidet zu werden. Ein weniger elegantes junges Mädchen mit ihrem Geliebten, der zu ihr spricht, indem er an die Liebe denkt. Andre Paare endlich, Ehemann und Frau, blicken jeder auf seine Seite, wechseln nur dann und wann ein Wort: ihr Geist und ihr Leib sind aneinander gewöhnt.
Sie gingen vorüber. Waren die einen entschwunden, sah man wieder andre. Geschäftsleute schritten auf der Straße so weit auf und ab, als die Auslage ihrer Läden breit war. Ein junger Mann preßte den Arm einer Frau und folgte ihr unterwürfig. Man glaubte, er würde ihr bis ans Ende der Welt folgen. Die Eitelkeit, die Heiterkeit, das Wohlleben spazierten im Licht. Die Luft ward davon erhitzt. Ach, was hatte die Müdigkeit von gestern zu sagen! Warme Wellen kamen bei der Erinnerung an die Orgie, und die Herzen zogen sich vor Verlangen zusammen. Paris war wie ein müder Hund, der weiter seiner Hündin nachläuft.
Die öffentlichen Mädchen übten ihr Gewerbe aus. Da ist die kleine Gabrielle, die zwei Jahre mit Robert lebte, dem Mörder der Constance. Ihr Liebhaber ist soeben ins Zuchthaus gekommen. Da ist die kleine Jeanne, die siebzehn Jahre sein soll. Seit einem Monat geht sie auf dem Boulevard Sebastopol. Sie hat auf ihrem Antlitz nur ein wenig Reispuder, und ihre Augen glänzen von den ersten Feuern der Lust. Viele Leute halten sie nicht für eine Prostituierte. Da sind Mädchen mit bloßem Haar und Mädchen mit Hut. Die einen haben den schweren Gang von Kühen und sprechen die Männer schamlos an. Andre zieren sich, zwinkern mit den Augen und bereiten ihr Lächeln vor. An der Ecke der Rue Rambuteau hat sich eine Gruppe gebildet. Sie reden alle zugleich. Man sieht die feuchten Markthallen zur Linken, man denkt an Abfälle von Kohl. Man möchte sagen: Frösche, die an einem Sumpfe quaken.
Die Geheimen der Sittenpolizei gehen zu zweien. Es ist leicht, sie an ihrem Blick, an ihren unsaubern Kleidern und ihrem schweren Gang zu erkennen. Sie sind unsauber wie ihr Beruf. Sie schreiten hölzern wie Leute, die ein Amt ausüben. Sie messen die Frauen vom Kopf bis zu den Zehen mit festem Auge. Der Blick der Vorübergehenden schaut, der der Geheimen überwacht. Geschmückt mit einer Militärmedaille, schreitet ein dicker Brauner, dessen starker Bart den Mund hervorhebt, dahin mit ausladenden Schultern. Die öffentlichen Mädchen gehen steif, ohne den Kopf zu wenden, mit ihrer Seele eines Sklaven, der weiß, daß der Stärkere recht behält.
Die Rufe der Camelots. Sobald ein Schutzmann sich entfernt, taucht ein Camelot auf. Die Mütze auf dem Kopf, das Gesicht erregt, den Bart farblos, schreien sie voll Glut, denn ihre Leidenschaften sind heftig, und sie wollen ihr Essen und Trinken verdienen. Jener dort, vielleicht keine achtzehn Jahre alt, die Mütze bis an die Ohren gezogen, in Röhrenstiefeln, umkreist eine Schar von Neugierigen, indem er seine Stiefel hebt. Er verkauft um zwei Sous ein Heft mit durchscheinenden Bildern und hält sie mit Taschenspielergebärden den Leuten vor die Augen: »Und wenn Sie einen Schutzmann anrücken sehen, meine Herren und Damen, so machen Sie mich aufmerksam, nur damit ich ihm entgegenspazieren kann.« Die Polizei verfolgt sie wie die öffentlichen Mädchen, deren Herzauserwählte sie sind.
Pierre Hardy, der den ganzen Tag in seiner Kanzlei gearbeitet hatte, erging sich unter den Passanten des Boulevards Sebastopol. Ein junger Mann von zwanzig Jahren, erst seit sechs Monaten in Paris, schreitet unsicher durch das Pariser Schauspiel. Die Wagen, die rollen, die grellen Lichter, die Menge in den Straßen, der Luxus und der Lärm bilden eine babylonische Verwirrung, die bestürzt und einen Wirbel allzuvieler Gedanken auf einmal entfesselt. Alle Provinzler haben dieses Unbehagen gefühlt und sind darüber linkisch und traurig geworden. Ich versichere Ihnen, daß die hübschen Dorfburschen, die zu Hause auf den Tanzböden prächtig aussehen, auf den Boulevards eine trübselige Figur machen.
Ein Mensch, der geht, trägt alle Dinge seines Lebens und bewegt sie in seinem Kopfe. Ein Schauspiel weckt sie, ein andres löscht sie aus. Unser Körper hat alle unsre Erinnerungen bewahrt, wir vermengen sie mit unsern Wünschen. Wir durchlaufen die Gegenwart mit unserm Gepäck, wir gehen und haben es in jedem Augenblick bei uns.
Hier die Gedanken, die Pierre Hardy diesen Abend spazieren führte:
In das Haus eines Städtchens im Osten, wo seine Eltern Holzhandel treiben, kehrt Pierre Hardy gern in Gedanken zurück, denn er ist zwanzig Jahre und lebt erst seit dem Monat Januar in Paris. Es ist ein Haus auf einer Anhöhe, ein wenig abseits von der Stadt und von einem Garten umgeben. Dort ist gut sein an den Sommerabenden, wenn eine Brise die Dämmerung durchweht und man sich im Garten niederläßt, um die Nacht einzuatmen. Die Sterne ziehen die Gedanken an; es wetterleuchtet ein paarmal, »Entladungen der Hitze«, und man lebt, die ersten Zigaretten rauchend, friedlich unter den Seinen. Alle Einzelheiten sind reizend. Wenn es zu heiß ist, trinkt man am Abend, statt Suppe zu essen, Milch; das erfrischt bis ins Herz hinein. Oft kamen seine ältere verheiratete Schwester und seine kleine Nichte auf eine Woche zu Besuch. Man kochte ein wenig mehr, war ein wenig heiterer. Die jüngere Schwester spielte die Mama der kleinen Juliette. Sie ging mit ihr aus und kaufte ihr Näschereien. Nichts fehlte ihnen. Alle Mitglieder dieser Familie fühlten klar, daß sie ein Ganzes in der glücklichen Natur bildeten.
Er dachte noch an seine drei Jahre Fachschule. Er hatte Brücken und Maschinen von verwickeltem Aussehen zeichnen gelernt und säuberliche und bewunderungswürdige Tuschzeichnungen mit Farbe decken. Seine Eltern hatten sich in ihr Zimmer eine schöne Zeichnung einrahmen lassen, die einen Bahnhof zwischen zwei Hügeln darstellte. Er hatte die Schule mit Nummer 2 verlassen, mit einem Diplom und einer vergoldeten Medaille.
Er konnte als Zeichner mit hundertfünfzig Francs monatlich in eine Eisenbahngesellschaft eintreten. Er bedauerte, nicht in die Ingenieur-Fachschule eingetreten zu sein, wie seine Professoren ihm geraten hatten. Seine Eltern hätten sich dies Opfer auferlegt und er hätte rasch den Grad eines Bureauleiters erlangt.
Auf dem Boulevard Sebastopol, dessen elektrische Bogenlampen schnurgerade liefen, erging er sich unter Tausenden von Fußgängern. Die Lichter durchdrangen das Laubwerk der Bäume und fielen mit den Schatten der Zweige auf den Bürgersteig. Es schien ihm, als wären die Lichter glänzender und die Menge noch zahlreicher. Die jungen Leute aus der Provinz glauben sich verloren inmitten der hunderttausend Menschen. Er kannte niemand und ging immerzu, und neue Passanten schritten vorüber, alle einander ähnlich in ihrer Gleichgültigkeit, und sahen ihn nicht einmal an. Ihr Lärm umringte ihn wie das Tosen einer Vielheit, an der er nicht teil hatte. Er sah sich in der Menge, die wirbelte und gestikulierte und heiter war wie manches Lachen, das er im Vorübergehen erschallen hörte, und strahlend wie mancher Frauenblick, den er auffing.
Er versuchte sich an etwas festzuklammern, um nicht zu versinken. Er hatte das Bedürfnis, in sich selbst hinabzusteigen und dort, während all dies ringsum geschah, irgend eine Freude zu finden, um mitten in der allgemeinen Fröhlichkeit nicht verloren zu sein.
Er wollte einen Damm aufrichten gegen die steigende Flut und schreien: »Ich bin auch da. Mit Stein und Zement stemme ich mich euch entgegen und halte euch auf, wenn ihr auf mich einbrüllt!«
Er bewohnte in einem Hotel der Rue de l'Arbre-Sec ein Zimmer im fünften Stock. Diese Hotelzimmer sind stets unsauber, weil allzu viele Mieter darin gelebt haben. Das Bett, der Spiegelschrank, die beiden Stühle und der Tisch auf Rädchen füllen sie. So klein sind sie, daß diese vier Möbel sie übervoll zu machen scheinen. Hier lebt man für fünfundzwanzig Francs im Monat ein Leben ohne Würde. Die Bettmatratzen sind schmutzig, die Fenstervorhänge sind grau wie ein Armeleutetag. Der Kellner hat einen Hauptschlüssel, der ihm erlaubt, jeden Augenblick in dein Zimmer einzutreten. Deine Nachbarn wechseln alle vierzehn Tage und du hörst sie durch die Scheidewand. Die einen sind Trinkerpaare, die sich streiten, die andern riechen nach Prostitution, und sind manche ordentlich, so flößen sie doch kein Vertrauen ein. Die armen Mieter in den Hotels haben kein Daheim. Pierre Hardy konnte nicht sagen: »Ich habe eine Zuflucht, wo ich unter Dingen bin, die mich anheimeln, wenn ich traurig werde«.
Die einzige Zuflucht war ihm sein Freund Louis Buisson, dem er sich seit dem ersten Tage anschloß. Louis Buisson war fünfundzwanzig Jahre alt und arbeitete als Zeichner in demselben Büro wie Pierre Hardy. Dieses Männchen von 1 Meter 35 Höhe war wegen seines kleinen Wuchses vom Militärdienst zurückgewiesen worden. Darum genoß er nicht viel Achtung bei seinen Kameraden, die ihn für einen guten Burschen hielten, dessen Bedeutung aber nur 1 Meter 35 maß. Ehemals hatte er beabsichtigt, die polytechnische Hochschule zu besuchen, und Mathematik studiert, was ihn daran gewöhnt hatte, alles zu analysieren, und bis zu zwanzig Jahren war er in einem Provinzgymnasium gewesen, was ihn daran gewöhnt hatte, zu dulden. Der Zusammenbruch seiner schönen Zukunftsträume machte ihn bescheiden. Er dachte: »Ich verdiene hundertachtzig Francs monatlich. Ich bin wie ein Mann aus dem Volke und arbeite, um das Brot zu verdienen, das ich esse.« Am Abend beschäftigte er sich mit Literatur und Philosophie, nachdem er auf der Straße spazieren gegangen war und die jungen Frauen betrachtet hatte. Er sagte: »Sie laufen allem nach, was glänzt, den reichen jungen Leuten und den schönen jungen Leuten. Die reichen jungen Leute erziehen die Frauen zum Luxus, und die schönen jungen Leute, von denen sie betrogen werden, lehren sie, daß die Liebe nur ein simples Vergnügen sei. Sie kehren später zu uns zurück. Sie richten uns durch Toiletten und Theater zugrunde und haben nicht mehr Glut genug, um unsre Geliebten und unsre Gefährtinnen zu werden. Ich für meine Person korrespondiere mit einer kleinen Bonne. Da sie schlicht und arbeitsam ist, werden wir uns heiraten. Ich will wie ein Mann aus dem Volke leben, mit einem Weibe aus dem Volke. Im übrigen hasse ich die Reichen, die uns unsre Freuden stehlen.«
Er besaß seine Möbel und wohnte am Quai du Louvre in einem Zimmer im fünften Stock. Pierre Hardy erstattete ihm Bericht von allen seinen Stimmungen und allen seinen Abenteuern, und Louis Buisson legte ihm gleiche Geständnisse ab. Solch eine Freundschaft gibt uns Lebensmut, indem sie unsre Freuden verlängert und uns in unserm Kummer tröstet. Man sagt sich: Das werde ich Louis erzählen, der mir sagen wird: »Mein lieber Freund, wir leiden, weil wir arm und schüchtern sind und hauptsächlich, weil wir ein reines Herz haben«. Sie waren durch einen kleinen Unterschied in der Erziehung voneinander getrennt. Pierre Hardy wohnte in der Rue de l'Arbre-Sec, die eine Pariser Straße ist. Louis Buisson wohnte am Quai du Louvre, wo die Luft viel freier ist.
Aber es gibt Abende, an denen die Freundschaft nicht genügt. Die Worte und der gewöhnliche Anblick der Freundschaft beruhigen uns. Wir haben aber auch das Bedürfnis, uns zu ermüden. Pierre Hardy empfand inmitten der Flut ein wenig Freude, die ihm sein Freund bereitete, und er betrachtete die Menge, indem er dachte: »Ihr habt keinen Freund wie Louis Buisson.« Aber das tröstete ihn nicht, und der ganze Lärm des Boulevards sprach: »Besser ist, eine Frau zu haben.« Er dachte noch: »Ich bereite mich auf die Prüfung für Brücken- und Straßenbau vor, ich werde gewiß zum Bureauchef ernannt werden. So viele Männer, die da mit Frauen am Arm vorübergehen, werden kleine Angestellte bleiben!« Aber die ganze Menge schrie ihm im Vorübergehen zu: »Was macht das! Wir haben Frauen und lachen.« Er antwortete: »Ich habe einen Vater und eine Mutter, die mich mehr lieben, als euch eure Frauen!« »Was macht das!« sprach die Menge. »Du bist allein und langweilst dich. Wir haben Frauen und lachen.«
So wurde er gezwungen, zu verstehen, daß die ganze Festfreude wertvoller sei als sein einsames Dasein. Er konnte dem Lichterglanz und der entfesselten Lust nichts entgegensetzen. Louis Buisson, der von zwei oder drei philosophischen Grundsätzen passioniert war, schöpfte daraus Kraft genug, den Menschen ins Gesicht zu sehen. Übrigens suchte er darin irgendwelche weitere Grundsätze zu entdecken. Pierre Hardy war zwanzig Jahre alt und fand sich mit tausend Wünschen ganz allein mitten in einem sehr verführerischen Paris.
Und oft hatten seine Wünsche ihn geleitet. An manchen Abenden, wenn er bis elf Uhr gearbeitet, schloß er seine Bücher und fühlte sich traurig mit all ihrer Wissenschaft. Alle Diplome wogen das Glück nicht auf, zu leben. Zwei oder drei Bilder von Frauen, die ihm begegnet waren, tauchten in seiner Phantasie auf, und er hing ihnen zunächst nach, um sich zu entspannen. Dann flammte das ganze Feuer seiner zwanzig Jahre empor, alle seine Sinne empfanden, was eine vorüberschreitende Frau in sich schließt. Da richtete er sich auf, die Kehle trocken und das Herz zusammengepreßt, löschte die Lampe aus und ging auf die Straße hinunter.
Er schritt aus. Prostituierte tänzelten an den Straßenecken in ihren ärmlichen Röcken und mit ihren fragenden Augen: er beachtete sie gar nicht. Er schritt dahin, wie die Hoffnung schreitet. Irgendeine Frau mit geschnürter Taille ging vor ihm her, da verlangsamte er den Schritt, um sie besser zu sehen. Darauf lächelte sie ihm zu. Da beschleunigte er den Schritt, um ihr rascher zu entfliehen, und weil schon eine andre Frau mit geschnürter Taille ... Er schritt dahin wie die Hoffnung schreitet, von Frau zu Frau. Er wollte die einen nicht, weil sie zu leicht zu haben waren. Er wagte nicht, die andern anzusprechen, weil sie nicht den Eindruck machten, als wären sie leicht zu haben. Er schritt dahin, wie die Hoffnung schreitet, von Frau zu Frau, bis ihm keine Hoffnung mehr blieb.
Manchmal überholte ihn eine verspätete junge Arbeiterin, die schnell ging, um nach Hause zu kommen. Sie hatte einen schwarzen Rock, eine schlichte Bluse und einen schmucklosen Hut. Es war ein junges Mädchen, das wie ein junger Mann arbeitet und an die Liebe denkt. Pierre Hardy sagte sich dies naiv und folgte ihr, folgte ihr sehr schnell. Er prüfte sie, schätzte in Gedanken die Menge Glück ab, die sie spenden könnte. Wenn er neben ihr war, sagte er sich: »Ich will sie nicht jetzt ansprechen, denn wir sind in einer zu belebten Straße«. Er folgte ihr Schritt für Schritt, alle seine Gedanken aufrührend, und folgte ihr mit großen Schritten, wie man ein Ideal verfolgt. Er wäre ihr sehr weit in die Nacht gefolgt, denn sie war ihm das Licht. Alle seine Abenteuer nahmen den gleichen Ausgang. Unerwartet läutete das junge Mädchen an einer Haustür. Sie war zu Hause. Er sah sie ein letztesmal an und setzte seinen Weg fort, indem er an morgen dachte und an alle die morgen, an denen er dem Glück nicht begegnen sollte, das er soeben hatte entfliehen lassen.
Und am Ende fühlte er noch, ermüdet von dem Marsch, das alte Verlangen, das ihn vorwärtstrieb. Um Ruhe zu haben, nahm er die erste, die daherkam, und in einem Hotel auf einem Bett um vierzig Sous ergoß er sich in ein Mädchen, das schmutzig war wie ein öffentlicher Ausguß.
Am Abend des fünfzehnten Juli war der Boulevard Sebastopol viel lebendiger. Die einen schlenderten paarweise und schienen ihre Liebe auszuführen. Junge Leute sagten: »Sie hatte feste kleine Brüste. Ich möchte sie doch wiederfinden.« Paris war unterwegs mit Wagen, die rollen, mit Liedern der Betrunkenen und mit so vielen Straßenmädchen, daß unter ihnen auch ein paar verführerische waren. Die Bogenlampen umgaben sich mit einem Hof und bildeten, eine hinter der andern die Luft zwischen den Häusern erhellend, einen großen leuchtenden Kanal, der die Dächer säumte, bis zum Himmel stieg und ihm sein Feuer zuwarf. Diese Atmosphäre badete einen in zartem Fluidum, in einem elektrischen durchdringenden Bade. Dann verwandelten warme Winde, der Atem einer Sommernacht, Paris gleichsam in ein brüllendes Tier, das, schweißbedeckt und mit wahnsinnigen Augen, solange keucht, bis es ohnmächtig wird. Ein Schrei antwortete dem andern, ein Fußgänger weckte das Verlangen des andern, die Lichter entzündeten ihn wie einen Strohhalm, jedes Leben schwoll auf dem Boulevard an und schrie wie das brünstige Tier bis in die Tiefe der vergehenden Herzen.
Und Pierre Hardy erinnerte sich, wie er den Frauen nachgelaufen war. Er schämte sich der Erinnerung unter den Lichtern zwischen Tausenden von Passanten, aber er zürnte ihnen so, wie ein Mann großen Gedanken zürnt, die ihn locken. Vor seinen Augen schritt das Weib mit seinem Geschlecht, seinem offenen Geschlecht, wie Louis Buisson sagte. Pierre Hardy war nichts mehr. Das entfesselte Paris trug ihn, nahm ihn auf seine großen Fluten und entführte ihn, Pierre Hardy, den Sohn eines Holzhändlers, Freund Louis Buissons, den künftigen Brücken- und Straßenbaumeister, trug ihn zwischen den beiden verlorenen Ufern und entführte ihn bis ans Ende der Welt.
An der Ecke der Rue Greneta gab es eine Ansammlung um vier Sänger herum. Es war noch nicht zehn Uhr, und sie sangen an der letzten Straßenecke vielleicht ihr letztes Lied. Der Vater kratzte eine Geige aus rotem Holz, deren neue und kreischende Stimme nur ein Lärm war, und blickte auf den Kreis von Gaffern mit Augen, in denen man Funken und Blut laufen sah. Die Mutter, mit einem Bauch, geweitet von Geburten, mit den hängenden Brüsten eines abgenutzten Tieres, hatte in ihrem zerstörten Gesicht zwei Augen so blau wie zwei beschmutzte Blumen. Sie sang mit der spitzen Stimme eines keifenden Weibes. Und die beiden kleinen Kinder, die jeden Abend sangen, zitterten auf ihren Beinchen. Das eine von ihnen rollte die Augen wie ein böses Tier; es ähnelte dem Vater; es war so erschöpft, daß es hätte beißen mögen. Aber das kleinere, gelbhäutige, mit blauen Augen, hätte wie die Mutter auf den Rücken fallen und schlafen mögen. Paris hatte sie in seine zermalmende Hand genommen, und alle vier, die guten und die bösen, waren sie zermalmt worden.
»Erinnerst du dich noch, Lison,
In deinem Stübchen
Warf ich die Kleider rasch davon
Wie du, mein Liebchen.«
Mütter mit ihren Töchtern hörten zu. Drei kleine Arbeiterinnen, die das Lied sich gekauft hatten, folgten den Worten. Passanten waren müßig stehen geblieben, andre warfen einen Blick hin und gingen weiter. Es gab nicht viele Leute um die Sänger, weil es zuviele Lieder gab. Pierre Hardy machte Halt. Man schaut es sich an, weil man etwas anschauen muß. Ebenso mehrere öffentliche Mädchen, denn sie wissen, daß die Ansammlungen ausgezeichnete Gelegenheiten bieten. Und die ungelenke Stimme der roten Geige, über den drei andern Stimmen gleichgültig schwebend, mechanisch, ohne Feinheit:
»Du sagtest: ›Lieb, ich zeige Dir
Sehr lustige Dinge,
Doch leg in meine Büchse hier
Paar Silberlinge‹.«
»Zu kaufen für zwei Sous!« Pierre Hardy erwarb das Lied. Er las es ohne viel Aufmerksamkeit, als eine kleine Frau neben ihm, die mitgelesen hatte, sagte: »Das ist nicht richtig, das Lied«. Er sah sie an und bemerkte, daß das junge Weib schwarzes gescheiteltes Haar und ein hübsches Gesicht hatte.
Er war davon gerührt: »Und wie ist es richtig?«
Sie antwortete: »Richtig lautet das Lied:
Erinnerst du dich noch, Lison,
Ein Sonntag war es ...«
Ihm war's völlig gleichgültig, aber eine junge Frau mit gescheiteltem Haar macht uns vieles interessant. Da hörte Pierre nicht mehr die Sänger. Er sagte zu ihr: »Sie müssen schön singen, Fräulein.«
Sie antwortete: »Nicht jetzt, denn ich bin heiser.«
Es wurde zehn Uhr und die unglückselige Stimme der roten Geige schrie noch, bis ihr zu schreien verwehrt wurde. Sie verließen die Schar der Neugierigen, und da die junge Frau nicht schüchtern schien, bot er ihr ein Glas Bier an. Er hatte große Angst, daß sie nicht annehmen würde.
So begegnete Pierre am Abend des fünfzehnten Juli Berthe. Er lächelte über ihre Hübschheit und ihr gescheiteltes Haar.