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Vorbericht.
Marianens Geschichte ist buchstäblich wahr; der Freund dieser Unglücklichen, der sie aufgesezt hat, haftet mit seiner Ehre für ihre Aechtheit. Mehrere noch lebende Zeugen und verschiedene unverwerfliche Briefe könnten, wenn es nöthig wäre, seine Bürgschaft unterstützen. Als Dichtung würde sie wenig Werth haben, als Thatsache kann und muß sie jede fühlende Seele interessiren. Um alles sagen zu können, sind die Namen der Personen und Orte, den der Heldin ausgenommen, verschwiegen, und nicht einmal mit ihren wahren Anfangsbuchstaben bezeichnet worden. Der Verfasser hatte hiezu Ursachen, die ihm persönlich sind, und sich zugleich auf Marianens jezige Lage beziehen. Er würde sich sogar nicht einmal erlaubt haben, die Schiksale dieser bedauernswürdigen Dulderin bekannt zu machen, wenn er vermuthen könnte, daß ein Exemplar dieses Aufsatzes sich an den Ort ihres jezigen Aufenthalts verirren sollte. Ihr aber, denen weder Mariane noch die Theilhaber ihres Schiksals fremd sind, verlezet, wenn Ihr die Geschichte leset, das heilige Siegel nicht, unter welchem die wahren Namen Euch anvertraut wurden!!! 2
Erster Brief.
Endlich, theure Freundin, kann ich mein längstgeleistetes Versprechen halten, und Ihnen die Geschichte meiner unglüklichen Mariane niederschreiben, deren mündliche Erzählung Ihrem edeln Herzen so viele Thränen ausgepreßt hat. Sie haben durch diesen Aufschub nichts verloren; der Tod verschiedener Hauptpersonen dieses schauerlichen Drama läßt mir nun die Freiheit, sie Ihnen in ihrer wahren Gestalt darzustellen, ohne die arme Märtyrin neuen Verfolgungen auszusezen.
Ich will Ihnen von ihrer Geburt und von ihren Eltern nichts sagen, was ich nicht zuverläßig weiß. Ich habe bey verschiedenen Gelegenheiten mancherley Bruchstücke aufgefaßt, die entweder zu widersprechend, oder zu wenig verbürgt sind, als daß ich die reine Wahrheit meiner Erzählung dadurch verunstalten sollte. Gewiß ists, daß Mariane die Frucht einer Verbindung war, bey der die Liebe alles und die Vernunft nichts gethan hatte. Gewiß ists, daß Marianens Mutter die Tochter eines teutschen Grafen war, welcher aus einer erlauchten ausländischen Familie abstammte, deren Ahnen sich mit den Vorfahren eines regierenden Hauses in einem Stammvater vereinigen. Gewiß ists, daß Marianens Vater ein Franzose 3 war, der an dem deutschen Hofe in Diensten stand, wo der Vater der jungen Gräfin eine der ansehnlichsten Stellen bekleidete. Sonst weiß ich Ihnen wenig von diesem leztern zu erzählen. Anfänglich sagte man mir, er sey kurz vor oder nach Marianens Geburt ein Opfer der Rache des Grafen geworden. Spätere Nachrichten versichern mich, er sey erst mehrere Jahre nachher an einem ausgezeichneten Posten eines ganz natürlichen Todes gestorben. Ich habe weder ihn, noch die Mutter, noch die Groseltern meiner Mariane gekannt, noch einigen Briefwechsel mit ihnen gehabt. Denn, ungeachtet ich eine Zeitlang mit der alten Gräfin in Verhältnis stand, so hat sie doch meine Berichte nie unmittelbar, sondern stets durch die dritte Person beantwortet, an die ich sie abschiken mußte. Uebrigens war diese Grosmutter das einzige Glied der Familie, das sich des armen Mädchens thätig annahm. So lange Mariane unter meiner Pflege stand, mußte sie verschiedene Briefe an sie schreiben, aber blos unter dem Titel einer Beschützerin, die ihr als einer verlassenen Waise Wohlthaten erzeigte. Marianens Mutter hatte noch einen einzigen Bruder, dessen Jugend sehr stürmisch war und dem Vater manche verdrüßliche Stunde machte. Er stand anfänglich in auswärtigen Kriegsdiensten und erhielt endlich ein Regiment unter den 4 Truppen seines Landesherrn. Wo ich nicht irre, so ist er vor ungefähr zwey Jahren gestorben.
Die Entrüstung des alten Grafen über seine Tochter kannte anfänglich keine Grenzen. Er verbannte sie auf ein entferntes Landgut und ihr Kind ward gleich nach seiner Geburt einer Amme übergeben, die in einer abgelegenen Gegend der Residenz wohnte. Es sey nun, daß Marianens Mutter die unschuldige Zeugin ihrer Schwäche als die Ursächerin ihrer Verbannung betrachtete, oder daß ihr leichtsinniges, üppiges Temperament sie keiner mütterlichen Gefühle fähig machte, kurz sie bekümmerte sich wenig um ihr Kind, dessen Unterhalt die alte Gräfin bezahlte, und es mit allen Nothwendigkeiten versorgte.
Mariane wußte mir nichts, weder von ihrer Mutter, noch von ihrer Grosmutter zu erzählen. Sie hatte sie mit ihrem Wissen nie gesehen, und noch weniger gekannt. Nie hatte sie den süßen Mutternamen ausgesprochen. Und wie konnte sie es, da sie von ihrer Geburt an mit dem Brandmahl der Verstoßung bezeichnet und zu einer ewigen Dunkelheit verurtheilt war.
Doch diese Dunkelheit wäre vielleicht ihr Glük gewesen, wenn man sie nicht aus derselben hervorgezogen, oder wenn sie eine arme Bäuerin zur Mutter gehabt hätte. Diese würde Marianen als 5 Mutter geliebt haben, nach dem Ausspruche des Fürsten im Edelknaben: »Was sich das liebt, weil es arm ist;« der natürlichen Tochter einer Gräfin hingegen wurden mit den Rechten ihrer Geburt auch die Rechte der Natur entrissen.
Zweyter Brief.
Als Mariane ihr viertes Jahr zurükgelegt hatte, wurde sie in ein Nonnenkloster auf der französischen Grenze gebracht. Man sezte ein gewisses Jahrgeld aus, für welches sie Nahrung, Kleider und Unterricht empfangen sollte. Nach Verfliessung eines jeden Quartals erschien ein Kaufmann in der Sprachstube, das Kind wurde ihm hinter dem Gegitter vorgezeigt, der Mann zahlte den Termin des Kostgeldes, und gieng wieder fort, ohne sich um das kleine Geschöpf zu bekümmern, dessen Abkunft ihm gänzlich unbekannt blieb. Zwölf Jahre brachte Mariane im Kloster zu, ohne daß sie sich erinnerte mehr als zweymal dieses Gefängniß auf einige Stunden verlassen zu haben. Das erstemal geschah es in ihrer zartesten Kindheit, und sie wußte nicht mehr bey welchem Anlasse. Das anderemal erhielt sie die Erlaubniß mit einer ihrer kleinen Gespielinnen ihre Eltern in der Stadt zu besuchen. Sie war damals acht bis neun Jahr alt. In spätern Zeiten wäre es dem Plane der Nonnen 6 zuwider gewesen, ihr auch nur einen Tag die Ketten abzunehmen. Die Priorin hoffte dieses Pflegkind für ihr Kloster zu gewinnen, und alles wurde darauf angelegt, sie in einer unglaublichen Unwissenheit zu erziehen, und ihre Gefangenschaft ihr als die höchste Glükseligkeit der weiblichen Existenz vorzumahlen. Sie lernte nur nothdürftig lesen und schreiben, aber desto gründlicher lernte sie die Pantomimen des äußerlichen Gottesdiensts, und die lateinischen Gebete, wovon das Chorgewölbe Tag und Nacht wiederhallte. Sie wurde allen möglichen Brüderschaften einverleibt, und zur strengsten Beobachtung ihrer Regeln angehalten. An Busübungen und Züchtigungen fehlte es auch nicht. Noch in ihrem fünfzehnten Jahr wurde sie für jeden Fehler, der den Nonnen wichtig vorkam, mit Ruthen gestrichen. Einst ward ihr bey ihrer Einkleidung, worauf ein Gastmahl folgte, dem verschiedene fremde Personen beywohnten, ihre schwarze seidene Mantille verwechselt. Dafür mußte Mariane acht Tage lang im harten Winter die Messe auf dem kalten Pflaster des Chores knieend anhören.
Die gewöhnlichsten Strafen waren die Casteyungen des Magens, und sie mögen wohl das meiste dazu beygetragen haben, die Gesundheit des armen Geschöpfes auf immer zu zerrütten. Doch nicht nur aufs Strafen verstunden sich die Nonnen, sondern 7 auch aufs Brandschatzen. Mariane erzählte mir in ihrer frommen Einfalt, sie habe ein Rökchen von Silberstoff mit ins Kloster gebracht, und es auf den Rath der Priorin der Mutter Gottes verehrt, die noch bisweilen damit gepuzt werde. – Lassen Sie sich meine Freundin dieses Rökchen von Silberstoff in der Garderobe eines verlassenen Kindes nicht irre machen. Mariane erhielt während ihres hiesigen Aufenthalts einst unter meiner Adresse nebst andern Geräthschaften auch ein abgelegtes Hofkleid ihrer Grosmutter, das mit goldenen und silbernen Blumen durchwirkt war. Dieses beweist weiter nichts, als daß der Enkelin bisweilen und zwar aus Sparsamkeit gleiche Rechte mit der Kammerjungfer eingeräumt wurden. Nichts aber glich der Oekonomie der Nonnen in diesem Punkte. Als sie sieben bis acht Jahre alt war, ließen sie ihr für den Winter einen Unterrok machen, und je nachdem sie grösser wuchs, wurde immer eine Handbreite Streife von dem ersten besten Zeuge unten angeflikt. Als Mariane das Kloster verlies, hatte dieser Rok vier dergleichen Anschiebsel, wovon jeder eine halbe oder ganze Olympiade ihres Lebens bezeichnete.
Uebrigens hatte auch ihr Gefängnis seine Annehmlichkeiten. Verschiedene ihrer Gespielinnen, besonders eine junge Gräfin von T. aus M. 8 erzeigte ihr viele Liebe, und theilte oft die Näschereyen mit ihr, zu deren Ankauf ihr reichliches Taschengeld sie privilegirte. Von dieser Freundin und von einer Nonne, die sie Schwester Rosalie nannte, und die ihr manche Züchtigung ersparte, sprach sie mit Thränen im Auge. Die Gräfin war älter als Mariane, und verließ vor ihr das Kloster. Nun hieng ihr Herz allein an Rosalien. Aus den Briefen, die sie nachher mit ihr wechselte, habe ich ersehen, daß sie ein gutes weiches Geschöpf war, das aber mit ganzer Seele an den kleinlichen Pflichten des Klosters klebte. Sie kannte nur die Religion des Rosenkranzes, und sandte ihrer jungen Freundin einst verschiedene Reliquien, die sie ihr nachdrüklich empfahl an ihr Bette zu hängen; vermuthlich weil dieses Bette damals unter einem Dache stand, das von Kezern bewohnt wurde.
Dritter Brief.
Bisher, meine theure Freundin, habe ich Ihnen lauter Dinge erzählt, die vor meiner Bekanntschaft mit Marianen vorgefallen sind. Nun komme ich auf die Epoche, die uns zusammenführte, und auf Begebenheiten, wovon ich ein unmittelbarer Zeuge war.
Im Frühling des 1765sten Jahrs, bekam ich von 9 einem nahen Verwandten, der damals in einem öffentlichen Charakter am . . . . schen Hofe stand, den Auftrag, in hiesiger Stadt für ein junges Frauenzimmer, das bisher in einem Kloster erzogen worden, in einem ehrbaren bürgerlichen Hause katholischer Religion eine Kost zu suchen. Ich wandte mich an mehrere vernünftige Hausmütter, sobald sie aber hörten, daß meine Pflegbefohlene aus einem Kloster komme, erhielt ich eine abschlägige Antwort. Wir wissen aus Erfahrung, sagten sie, wie schwer es ist, dergleichen Mädchen zu hüten, über dieses sind sie meist aller Ränke voll, und da wir selbst Töchter haben, so mögen wir sie den Gefahren eines bösen Beyspiels nicht aussezen. Das bewilligte Kostgeld von zweyhundert Gulden war auch nicht beträchtlich genug, um den Eigennuz zu reizen. Dennoch gelang es mir endlich, meine Candidatin bey sehr wakern Leuten unterzubringen. Der Mann führte einen Tabakhandel, und seine Gattin, die Mutter einer zahlreichen Familie, war eine Puzmacherin. Sie besas viel Lebensart, einen sanften liebevollen Charakter und untadelhafte Sitten. Dieses wakere Weib sagte: ich will es auf einige Monate versuchen. Das junge Frauenzimmer wird wohl keine Mutter haben, meine Kinder können auch zu Waisen werden, und dann würde mein Mann froh seyn, ihnen eine Pflegemutter zu 10 finden. Ich gab meinem Verwandten von dem Erfolge meiner Unterhandlung Nachricht, und da er bald darauf selbst eine Reise in unsere Gegend unternahm, wurde Mariane, die er aus Freundschaft für ihre Grosmutter in ihrem Kloster abgelangt hatte, mir von ihm übergeben. Er sagte mir von ihren Umständen, was er wußte, vielleicht auch weniger, als er wußte, und empfahl mir das arme Mädchen mit aller Wärme seines guten Herzens.
Mariane trug noch die violenblaue Uniform der Kostgängerinnen ihres Klosters. Sie war von mittlerer Grösse, nicht schön aber von einer angenehmen und edeln Bildung. Ihr Gesicht war blaß, aber nicht eingefallen, ihr Blik war schüchtern, schmachtend und etwas schwärmerisch, kurz eben der, den lange nachher Nicolai mit so vieler Wahrheit als einen charakteristischen Zug in den Physiognomien des katholischen Frauenzimmers bemerkte, und den auch ich vornämlich unter den niedern Classen häufig beobachtet habe. Sie sprach sehr wenig, und befand sich in einer sichtbaren Verlegenheit. Sie gerieth auf einmal bey mir in eine ziemlich grosse Gesellschaft, und hatte wohl in ihrem Leben noch nie in einem so bunten und zahlreichen Zirkel gesessen, worinn eine Sprache geredet wurde, die ihr beynahe völlig fremd war. Sie hatte das Deutsche fast gänzlich vergessen, und ob sie gleich in ihrem 11 Kloster Gelegenheit hatte, sich darinn zu üben, so erlaubten doch die Criminalgeseze des Instituts keine andere als die französische Sprache zu reden. Als wir dieses erfuhren, sezten wir die Unterredung französisch fort: Allein Mariane war zu betäubt, und von der kleinen Reise von sieben Meilen zu ermüdet, um einigen Antheil daran zu nehmen. Nach der Abendmahlzeit begleiteten wir sie in ihre neue Wohnung. Kaum trat sie auf die Strasse, so blieb sie wie versteinert stehen, und sah in einer Art von Entzükung um sich her. Endlich rief sie aus: Ah! welch eine schöne Illumination! Es waren die Lichter, die überall durch die Fenster schimmerten. Das arme Kind hatte hinter den Klostermauern dieses Schauspiel nie gesehen. Nun gieng der Zug vor sich: es war aber beynah nicht möglich sie von der Stelle zu bringen. Sie strauchelte bey jedem Schritte, weil sie das Pflaster nicht gewohnt war, und als wir an eine Gosse kamen, hatte sie das Herz nicht hinüber zu schreiten, wir mußten schwebend sie hinüber heben. Endlich übergaben wir sie der guten Madam A–, ihrer Wirthin, die sie sehr liebreich aufnahm. Als wir allein waren, erfuhr ich von ihrem Begleiter, daß die Priorin der alten Gräfin gar viel Schönes von dem Berufe des Mädchens zum Kloster vorgepredigt, und daß die Grosmutter sich wirklich in 12 Traktaten mit ihr eingelassen hatte. Viertausend Gulden waren bestimmt, das arme Kind in ein ewiges Gefängniß einzukaufen, doch hatte die Gräfin die Gewissenhaftigkeit, zuvor den Beruf des Mädchens prüfen zu wollen, und daher den Entschluß gefaßt, es auf sechs oder acht Monate in die Welt zu verpflanzen. Wenn Mariane in dieser neuen Laufbahn ihren Hang zum Klosterleben beybehielte, so sollte sie auf immer in dasselbe zurükkehren. Fände sie hingegen Geschmak an der Welt, so war die Gräfin entschlossen, die ihr bestimmten viertausend Gulden zu ihrer Verheurathung mit einem braven Mann aus dem Bürgerstande herzugeben. Die Folge meiner Erzählung wird Sie, theure Freundin, belehren, in wiefern dieser Plan, der freylich nicht von der Grosmutter allein abhieng, ausgeführt wurde.
Des andern Morgens war Mariane zeitig bey uns. Sie mußte sich in einer Senfte tragen lassen, weil sie auf dem Pflaster schlechterdings nicht fortkommen konnte. Sie hatte ausgeruht, und war weit heiterer, als des vorigen Abends. Das Bedürfniß, sich mitzutheilen, fieng an, ihre Schüchternheit zu besiegen, und ihr mit jeder Stunde mehr Vertrauen in mich und die meinigen einzuflößen. Wir waren um die Wette bemüht, es zu gewinnen, und als mein Verwandter ihr nach 13 Tische vorschlug, sich in einem benachbarten Kaufladen ein Kleid auszunehmen, bat sie mich und meine Gattin, sie dahin zu begleiten. Es wurden ihr allerhand bunte Zeuge vorgelegt, doch sie hatten keinen Reiz für ihr Auge. Sie blieb unabänderlich bey der schwarzen Farbe. Man versicherte sie, daß diese Farbe in der Welt blos zur Trauer diene, und daß sie sich durchaus eine andere wählen müsse. Wenn das ist, sagte sie, so möchte ich wohl ein Kleid von dieser haben: es war ein rosenfarbigter Tafft, auf den sie zeigte. Indem der Kaufmann mit dem Ausmessen beschäftigt war, sprang sie plözlich ganz erschroken auf mich zu, und wollte sich hinter mich verbergen. – Was haben Sie? fragte ich. – Ey mein Gott! erwiederte sie mit leiser bebender Stimme. Ein Kapuziner in Mannskleidern. (Sie würden es wohl schwerlich errathen, meine Freundin, daß es ein langbärtiger Jude war, der diesen Augenblik in den Kaufladen trat.) Offenbar ists, daß nicht der Bart, sondern der Bart ohne sein gewöhnliches Attribut, die Kutte, Marianens Entsezen erregte. Bey einem protestantischen Naturkinde würde der erste Anblik eines Kapuziners eben den Schreken hervorbringen. Sie freute sich sonst über jede neue Entdekung, allein über diese freute sie sich nicht. Ich bin überzeugt, daß sie damals zu sich selbst sagte: das ist also 14 einer von den bösen Menschen, die unsern Heiland gekreuzigt haben. Einen Monat später sah ich sie in unbefangener Vertraulichkeit mit einer Judenfamilie umgehen, und sie beynahe täglich besuchen. Ueberhaupt war das Naturell des Mädchens so gut, daß es selbst im Schoose der Bigotterie und des Religionshasses nicht vergiftet wurde. Doch vielleicht haben die Nonnen diesen Theil ihrer geistlichen Erziehung vernachläßigt, weil sie hofften, sie auf immer in ihren Mauern zu behalten.
Vierter Brief.
Ich habe es oft bereuet, daß ich nicht jeden Zug aus dem neuen Leben meiner Mariane, so wie ich ihn bemerkte, aufgezeichnet habe, ich verließ mich auf mein Gedächtniß, und dieses hat mein Vertrauen getäuscht. Doch die wichtigsten Scenen sind und bleiben mir unvergeßlich, weil sie nicht in meinem Kopfe, sondern in meinem Herzen verwahrt liegen.
Am dritten oder vierten Tage nach Marianens Ankunft saßen wir in heiterer Vertraulichkeit beysammen. Sie war sehr munter, man sah ihr an, daß ihr wohl bey uns war. Meine kleine Neffen und ihre liebenswürdige Mutter befanden sich mit in unserm Zirkel. Auf einmal wurde das Mädchen stille. Man sah ihr an, daß ihre Dialektik 15 arbeitete. Es ist doch so hübsch, sagte sie endlich, daß hier alle Leute miteinander verwandt sind. Ich möchte wohl auch, wie diese Kleinen, Oncle und Tante zu Ihnen sagen! darf ich? die lezten Worte sagte sie in einem Tone und mit einer Grazie, die ich Ihnen nicht beschreiben kann. Herzlich gern! war unsere Antwort, und von nun an waren wir Oncle und Tante. Das arme Kind war so froh, so stolz, jemanden in der Welt anzugehören, und als sie uns mit einer so kindlichen Hingebung umarmte, hatten wir Mühe, unsere Thränen zu verbergen.
Mein Verwandter kehrte an seinen Posten zurück. Um ihn noch acht bis zehn Meilen weit begleiten zu können, hatte ich die Reise, die ich jährlich mit meiner Familie zu meinen Schwiegerältern unternahm, auf eben die Zeit festgesezt. Mariane erschrak bey der Nachricht von unserer Abreise. Sie wurde traurig und nachdenkend. Es entfielen ihr stille Thränen, und wir konnten sie nicht bereden, den Abend bey uns zuzubringen. Des folgenden Tages lies uns Madam A– sagen, daß Mariane krank sey. Wir eilten zu ihr hin; der Arzt, den man gerufen hatte, sagte uns, sie habe ein leichtes Fieber, das aber überhand nehmen könnte, wenn die heftige Gemüthsbewegung, davon es herzurühren schiene, nicht 16 besänftigt würde. Madame A– berichtete uns, sie habe ihr gestern mit der größten Betrübniß angekündigt, daß wir alle fortgehen, und sie allein zurücklassen würden. Unser Besuch machte ihr eine sichtbare Freude. Sie müssen nicht krank werden, sagte ich zu ihr, wenn Sie mit uns auf das Land reisen wollen. Wir kommen, Ihnen diese kleine Luftveränderung vorzuschlagen. Diese Worte würkten mehr als alle Recepte, ihr Gesicht erheiterte sich, sie richtete sich auf ihrem Lager empor, und ergriff unsere Hände, die sie küssen wollte. In zween Tagen war sie hergestellt. Der Arzt fand für nöthig, ihr den Gebrauch des Selterswassers, zur Verdünnung ihres Blutes, vorzuschreiben, und es wurde beschlossen, daß sie diese Kur bey uns auf dem Lande nehmen sollte. Nach einigen Tagen gieng die Reise vor sich. Da es sehr heiß war, wählten wir die Nacht dazu; ein Umstand, den ich nicht vergessen darf, weil er Marianen die Gelegenheit benahm, die Gegend zu beobachten. Bey ihrer Reise zu uns war sie ohnehin zu betäubt, um darauf Achtung zu geben. Des folgenden Tages kamen wir zeitig in F– an, einem sehr angenehmen Dorfe am rechten Ufer des Rheins, an dessen nördlicher Seite sich ein Wald hinzieht, der kaum eine Viertelstunde davon entfernt liegt. Unsere junge Gefährtin wurde von den Eltern meiner 17 Gattin und von ihren Geschwistern so wohl empfangen, daß das gute liebende Geschöpf in wenig Stunden zu Hause war. Noch denselben Abend besuchte mich ein alter rascher Offizier. Als er hörte, daß sie aus dem Kloster komme, sagte er zu ihr: ich will doch nicht hoffen, daß Sie wieder zu ihren Nonnen zurückkehren werden. Ach Gott nein! antwortete sie, und, als ob sie gefürchtet hätte, daß der alte Krieger sie ins Kloster zurückführen wollte, packte sie mich fest am Arme. – Bey der Abendmahlzeit erschienen einige herumstreichende Musikanten vor dem Speisezimmer, das ebenen Fußes auf die Landstraße stieß. Mariane sas neben mir bey Tische, sie hörte den Fiedlern mit Entzücken zu. Als sie fertig waren, rief sie ganz außer sich: Ach es ist doch etwas herrliches um die große Welt! – Ich, meine Frau und ihre Schwester, begleiteten sie auf ihr Schlafzimmer. Sie sah sich einige Augenblicke begierig an den Wänden um, als ob sie etwas suchte. Endlich sagte sie leise zu mir: Wie kömmt es lieber Oncle, daß ich nirgends einen Weihkessel antreffe? die Frage überraschte mich. Mein Kind, antwortete ich, ich muß Ihnen sagen, daß wir nicht von Ihrer Religion sind. Unsere Religion aber gebietet uns, Sie zu lieben, und Sie sollen 18 sehen, daß wir dieses Gebot gern erfüllen. O das thut nichts, das thut nichts, versezte sie, und zudem können Sie noch immer katholisch werden. Wenn Sie uns näher kennen, erwiederte ich, so sollen Sie urtheilen, ob wir es nöthig haben. – Indessen hatte meine kleine Schwägerin bey einer katholischen Frau des Dorfes einen Weihkessel geborgt, und kam damit herbeygehüpft. Dieser heilige Hausrath machte Marianen eine unbeschreibliche Freude. Sie hieng das Ding neben ihrem Bette an die Wand, und wir wünschten ihr eine gute Nacht. Nach einer Viertelstunde ließ sie mich durch die Magd auf ihr Zimmer rufen. Ach, lieber Oncle, rief sie mit erstikter Stimme mir entgegen, ich verbrenne unter diesen Federn. Sie war im Kloster gewohnt, unter einer wollenen Decke zu schlafen, und bey Madam A– hatte sie eine ähnliche angetroffen. Hier fand sie ein deutsches Deckbette, dessen Last ihr größtentheils auf dem Leibe lag. Dem Uebel ist leicht abzuhelfen, sagte ich, indem ich die Federn mit der Hand nach den Füssen heruntertrieb. Ey Gott was das artig ist! sprach sie mit Lachen, sezte sich aufrecht, und machte mir das Kunststück mit der Freude eines Kindes nach. Ich verließ sie, indem ich ihr auf die folgende Nacht eine wollene Decke versprach. Erinnern Sie sich hier, meine Freundin, an die 19 Worte des Boileau: »Oft hat die Wahrheit selbst den Schein der Wahrheit nicht.«
In meinem nächsten Briefe werde ich Ihnen noch mehr als Ein Beyspiel anführen, das diesen Ausspruch bestätigen kann.
Fünfter Brief.
Mariane ruhte trefflich unter ihrem Federbette. Des folgenden Morgens nach dem Frühstück schlugen wir ihr einen Spaziergang vor. Nachdem wir eine Weile gegangen waren, sezten wir uns auf einem angenehmen Rasenplatze nieder. Mariane wollte sich nicht eher dazu verstehen, als bis wir alle ihr das Beyspiel dazu gegeben hatten. Das Gras war etwas hoch, und als sie fühlte, daß es sich unter ihren Füssen niederbeugte, scheute sie sich, entweder es zu verderben, oder sie mochte gar einige Gefahr dabey ahnen. Ich wollte sie nicht um die Ursache ihrer Bedenklichkeit fragen, um nicht jemanden von der Gesellschaft Gelegenheit zu geben, über sie zu lachen. Meine kleine Schwägerin, ein sehr lebhaftes Mädchen von ungefähr zwölf Jahren, hatte sich bereits gestern an der Geschichte mit dem Deckbette auf eine sehr verzeihliche Art belustigt, die aber doch mein armes Nönnchen sehr beschämt hätte, wenn sie Zeugin davon gewesen wäre. Mariane sah 20 mit stummem Erstaunen in der herrlichen Gegend umher. Endlich sagte sie zu mir: Lieber Oncle, was sind doch das dort unten für blaue Maschinen; sie wies nach den Gebirgen des Schwarzwaldes, die den Horizont begränzten. Ey das sind Berge. – Ach so, Berge! Ich bin doch froh, einmal Berge zu sehen, ich habe schon so viel davon gehört.
Mariane beobachtete alles, und wollte alles nachthun. Bey Tische wollte sie die Teller herumgeben, und mir gar vorlegen. Sind Sie Liebhaberin (Amatrice) von diesem? fragte sie mich. Sie war gewohnt, nur unter Weibspersonen zu leben, und es währte lange, bis sie den grammatikalischen Unterschied der beyden Geschlechter begriff, so gut sie sich sonst im französischen ausdrückte. Auch gab sie jedem Dinge die Namen, die es im Kloster führte. Das Speisezimmer war das Refectorium, und wenn sie mich auf meiner Stube besuchte, strekte sie den Kopf zu der halbgeöffneten Thüre herein, und fragte: Ist es erlaubt, in Ihre Zelle zu kommen? Sie sprach oft bey mir zu. Durch eine besondere Veranlassung arbeitete ich damals an der Uebersetzung einer katholischen Kirchenhistorie. Wenn ich nun mit meinem Sekretär meine Arbeit mit dem Original verglich, so bat sie mich inständig um die Erlaubniß, die schönen 21 Geschichten von Märtyrern und Heiligen anzuhören. Dann legte sie ihr Strikzeug, oder ihr Filet auf ihren Schoos, und horchte mit gefaltenen Händen so andächtig auf, als ob sie in der Messe wäre.
Gleich am ersten Abend nach dem oberwähnten Spaziergange stand sie unter der Thüre, und kam plözlich mit großem Schrecken in die Stube gelaufen. Was haben Sie? fragte meine Gattin, beynah eben so erschrocken, als sie. Ach Gott! rief sie, ein Thier, ein Thier mit, mit . . . . hier hob sie beyde Arme an ihrem Kopfe in die Höhe. Man sah nach dem Fenster, es war eine Kuh. Ey um des Himmels willen, sagte meine Frau, haben Sie denn noch keine Kuh gesehen? Freylich wohl, antwortete sie mit Erröthen, aber nur in einem Bilderbuche, und diese war lebendig und so schwarz!
Eines Tages fragte sie mich bey Tische: Sagen, Sie mir doch, lieber Oncle, wie hießen Sie, ehe Sie sich verheyratheten? – Welche Frage! ich hieß wie ich noch jezt heiße. – Das kann nicht seyn, denn ich weiß ganz sicher, daß meine Tante, ehe sie Ihre Frau wurde, Mademoiselle D– hies . . . Ich erspare Ihnen, meine Freundin, die Erklärung, die darauf folgte. Mehr als einmal erfuhr ich bey solchen Gelegenheiten, daß auf der Welt nichts schwerer ist, als alltägliche Dinge zu erklären.
Ich begleitete Marianen jeden Sonntag in 22 eine katholische Kirche, die eine Meile von unserm Dorfe lag, und immer leistete uns jemand von meiner Familie Gesellschaft. Diese Gefälligkeit, und die vernünftige Denkungsart des Pfarrers trug nicht wenig dazu bey, uns das Herz des Mädchens zu gewinnen, und alle Spuren einer religiosen Abneigung daraus zu verwischen. Schon in den ersten vierzehn Tagen gieng ihre Toleranz so weit, daß sie mit uns den evangelischen Prediger des Dorfes besuchte, und kurz darauf, als eine Leiche in unserer Nachbarschaft war, sich von der Thüre wegstahl, und mit dem Rosenkranz in der Hand neben dem Pfarrer hinter dem Sarge herstieg. Die Zuschauer konnten nur einen Augenblick über diesen Auftritt lachen. Denn die unschuldige Miene des Mädchens und ihre feyerliche Andacht wirkten mit unwiderstehlicher Gewalt auf die Gemüther. Sie begleitete den Zug bis auf den Kirchhof, und war in diesem Augenblicke, des Rosenkranzes ungeachtet, so wenig Katholikin, daß sie bey der Leichenceremonie das Weihwasser nicht vermißte.
Sie brauchte ihre Brunnenkur mit gutem Erfolge, allein das ohnehin schwächliche Geschöpf wurde sehr davon abgemattet. Eines Abends, da meine Frau und ihre Schwester mit einem meiner Kinder beschäftigt waren, das eine ziemlich ernstliche Unpäßlichkeit hatte, schlug Mariane mir 23 einen Spaziergang vor. Es war schon neun Uhr, ich ließ mich aber um desto williger dazu finden, da die große Hitze mir noch nicht erlaubt hatte, auszugehen. Wir wandelten hinter dem Dorfe auf einem ebenen Pfade dem Wäldchen zu, das, wie ich schon gemeldet habe, eine Viertelstunde davon entfernt lag. Mariane klagte über Müdigkeit; wir sezten uns auf das Geländer einer Brücke. Nach einigen Minuten sagte ich, daß es Zeit sey, aufzubrechen. Kaum waren wir ein paar hundert Schritte weiter gegangen, so versicherte sie mich mit einem tiefen Seufzer, es sey ihr unmöglich, weiter zu gehen. Ich ließ sie wieder eine Weile ausruhen; dann sezten wir unsere Wallfahrt fort, allein es währte nicht lange, so sagte sie mir mit Thränen: Wahrlich lieber Oncle, ich kann nicht mehr. Es war schon dunkel, und ich hatte keine Lust, unter dem freyen Himmel zu übernachten. Kein Fuhrwerk, ja keine menschliche Seele war in der Gegend. Kurz, es blieb mir nichts übrig, als das Mädchen auf den Rücken zu laden, und mit ihr, wie der fromme Aeneas mit seinem Vater, ächzend und in Schweis gebadet nach Hause zu wandern. Mariane dankte mir beynahe auf den Knieen für meine Gefälligkeit, und ich that in der Stille das Gelübde, keinen einsamen Spaziergang mehr mit ihr vorzunehmen. 24
Sechster Brief.
Erwarten Sie, theure Freundin, keine chronologische Ordnung in meinen Erzählungen. Es wäre mir unmöglich, die Begebenheiten nach ihrer Zeitfolge aneinander zu reihen. Genug, daß alles, was ich ihnen bisher erzählt habe, und bis zu unserer Rückreise in die Stadt erzählen werde, in einem Zeitraume von sechs bis sieben Wochen vorgieng. Hätte ich voraus sehen können, daß Mariane mir eine so wichtige Person werden würde, mit welcher strengen Sorgfalt würde ich auch die leichtesten Züge ihres Charakters nachgezeichnet haben.
In den ersten Wochen unsers Aufenthalts in F– empfiengen meine Schwiegereltern einen Besuch von ihrem Neffen, der ihnen seine junge Frau zuführte. Beyde waren von hier, und schon lange durch die Bande der Freundschaft mit mir verbunden. Wir sassen am folgenden Morgen nach dem Frühstück ganz vergnügt beysammen, in einem obern Zimmer des Hauses, als Mariane todtenblaß und athemlos hereinstürmte, und zum jungen Weibe sagte: »Um Gotteswillen, Madam, kommen Sie, man schneidet Ihrem Manne die Kehle ab!« Wir stürzten alle die Treppe hinunter, und fanden unsern Vetter unter den Händen des Barbiers. Durch einen bloßen Zufall hatte Mariane 25 die Operation noch nie gesehen, weil sie in den vorigen Tagen gemeiniglich in den Stunden vorgieng, da sie mit ihrer Brunnenkur beschäftigt war.
Eines Abends verlor sie sich aus dem Hause. Wir suchten sie überall, aber vergebens auf. Man hatte sie auf der Bank an der Thüre sitzen gesehen, das war alles, was wir erfragen konnten. Unsere Unruhe stieg mit jedem Augenblicke. Nach einer halben Stunde brachte sie mein Sekretär aus einem Wirthshause zurück, wo er sie über dem Tanze mit einem österreichischen Cadetten betreten hatte, der mit einem Unteroffizier seit kurzem dort auf Werbung lag. Die arme Gefangene wurde vor mich geführt, und ich gestehe Ihnen, daß sie jezt zum ersten- aber auch zum leztenmale meinen Unwillen erregte. Hier ist das peinliche Verhör.
Ich. Sind Sie schon lange von Hause weg?
Sie. O ja, wohl eine halbe Stunde.
Ich. Warum giengen Sie fort, ohne etwas zu sagen? Sie haben uns allen sehr bange gemacht.
Sie. Ach das ist mir sehr leid. Hören Sie nur, ich will Ihnen sagen, wie das kam: ich sas vor der Thüre, und arbeitete, da kriegte ich Lust, ein wenig auf der Straße auf- und abzugehen. Als ich dort unten an jenes Wirthshaus kam, hörte ich eine schöne Musik, da blieb ich vor dem Fenster stehen, um zuzuhören. Da sah ich, daß einige 26 Herren und Jungfern miteinander tanzten, da kam ein junger Herr in einem weisen Rocke mit roth hier, (sie fuhr mir mit der Hand um den Aufschlag,) und fragte mich: ob ich Liebhaberin der Musik sey? O ja! sagte ich. Da fragte er mich, ob ich auch den Tanz liebe? O ja! sagte ich. Da führte er mich in die Stube, und ich tanzte zween oder drei Tänze mit ihm: da kam Ihr Hr. N– und rief mich ab. – Sagen Sie nun, lieber Oncle, ob das etwas Böses ist.
Ich. Gerade nichts Böses, mein Kind, aber etwas sehr Unbesonnenes: ein junges Frauenzimmer soll sich nie in eine Gesellschaft begeben, die sie nicht kennt.
Sie. Ey das wußte ich nicht.
Ich. Sie haben mit Werbern und Rekruten getanzt. Das mögen brave Leute seyn, allein wenn Sie das in einer Stadt gethan hätten, so würde es ihrem guten Namen auf immer schaden; das heißt, man würde sagen: das Fräulein von B– führt sich schlecht auf.
Sie. Ey, lieber Gott, wer konnte das wissen? Es ist doch ein Glük, daß wir nicht in der Stadt sind. O, vergeben Sie mirs, lieber Oncle, vergeben Sie mirs. Nicht wahr, Sie werden es niemanden sagen.
Ich. Nein, wenn Sie mir in die Hand 27 versprechen, daß Sie, ohne meine, oder ihrer Tante Erlaubniß nirgends mehr hingehen wollen.
Sie versprach es, und der Friede wurde geschlossen. Zum Glüke war die Frau des Wirthshauses eine gute Bekannte meiner Schwiegereltern, bey der dem Mädchen kein Leid hätte geschehen dürfen. – Ueberhaupt muß ich hier anmerken, daß ich dem guten Kinde eine Sache nie mehr als einmal untersagen, und selten mehr als einmal erklären durfte. Sie faßte alle Lehren mit der liebenswürdigsten Folgsamkeit auf, und man sah es ihr oft ganz deutlich an, wie ihre dämmernde Vernunft arbeitete, um eine Wahrheit zu zerlegen, oder aus den Gesprächen, die sie hörte, ein für sie neues Resultat zu ziehen.
Siebenter Brief.
Gegen das Ende unsers Aufenthalts in F– besuchte uns der brave Pfarrer, bey dem Mariane die Messe zu hören pflegte. Er sagte uns, er sey in unser Dorf berufen worden, um einem reisenden Cattundruker seiner Religion, der an einem hizigen Fieber darnieder lag, das Nachtmahl zu reichen. Wir behielten ihn bey Tische, und ich nahm Gelegenheit, ihn über eine Geschichte zu befragen, die man mir von ihm erzählt hatte, und die ich in einen meiner folgenden Briefe verweise. – Da 28 Mariane immer sehr kläglich that, wenn die Witterung oder ihre Kur die Reise nach der Kirche unmöglich machte, so bat ich den Geistlichen sie zu beruhigen, und ihre Begriffe über diesen Punkt aufzuklären. Der wakere Mann that es mit vieler Klugheit, und mit ziemlich gutem Erfolge. Mariane meinte nur, es würde noch viel besser seyn, wenn sie, so oft sie nicht selbst in die Kirche käme, eine Messe für sich lesen liesse. Gegen diesen Vorschlag hatte der Pfarrer nicht viel einzuwenden, und wir sezten ihn vor Marianens Augen in den Stand, dem Himmel die verlangten Sühnopfer zu bringen. Ehe er nach seinem Dorfe zurükkehrte, besuchte er seinen Kranken noch einmal, und kam nach einer Stunde mit der Nachricht zurük, daß er gestorben sey.
Ich saß auf meinem Zimmer über einem Briefe, als Mariane hereintrat, und mich in jenem schmeichlerisch-flehenden Tone, der allen Pflegetöchtern des Klosters eigen ist, um die Erlaubniß bat, den verstorbenen Cattundrucker zu sehen, und neben seinem Leichname zu beten.
Das geht nicht an! sagte ich: Sie können zu Hause für ihn beten. Sie haben nichts bey den Todten zu thun.
Ach, lieber Oncle, erwiederte sie, ich habe schon todte Nonnen gesehen, aber noch keinen 29 todten Mann; o ich bitte, ich bitte, lassen Sie mich diesen sehen!
Ich wiederholte meine abschlägige Antwort, allein – das Mädchen wollte sich nicht abweisen lassen. Sie bettelte so inständig, so dringend, daß ich ihr endlich erlaubte, mit unserer Magd höchstens auf eine Viertelstunde hinzugehen. – Sie werden sehen, sezte ich hinzu, daß ich Recht hatte, es Ihnen abzurathen. Ihr Vorwitz wird sie gereuen.
Oh ich wohl that, ihr nachzugeben, das überlasse ich Ihnen, meine Freundin, zu entscheiden. Ich gesteh' Ihnen zum Voraus, daß es vornämlich in der Absicht geschah, ihrer los zu werden, weil ich meinen Brief noch vor der Abendmahlzeit fertig machen mußte. Bey Tische war Mariane lange nicht so geschwätzig, als sie es seit einiger Zeit immer war, und nach der Mahlzeit wich sie keinen Schritt von unserer Seite. Von dem Todtenbesuche wurde kein Wort gesprochen. Nach zehn Uhr trennten wir uns, um zu Bette zu gehen. Unsere Zimmer lagen auf Einem Stockwerk, sie waren aber durch eine Flur getrennt, auf der wir uns gewöhnlich gute Nacht sagten. Dieses geschah auch jezt. Mariane umarmte erst meine Gattin, dann mich, und indem sie mich bey der Hand ergriff, sagte sie zu mir: ich hätte noch ein 30 Wörtchen mit Ihnen zu sprechen. – Ich folgte ihr auf ihr Zimmer.
Mariane. Lieber Oncle, ich möchte Sie um eine große Gefälligkeit bitten. Sie müssen mir sie aber nicht abschlagen.
Ich. Ich muß zuerst wissen, ob sie in meiner Gewalt steht.
Mariane. (Freudig.) Ach Gott ja! Nicht wahr Sie wollen es thun?
Ich. Zuvor muß ich wissen, was es ist.
Mariane. Sie hatten wohl recht, lieber Oncle, als Sie mir sagten, daß mein Vorwiz, den todten Mann zu sehen, mich gereuen würde. Nun schwebt er mir immer vor den Augen, und ich fürchte mich, zu Bette zu gehen.
Ich. Da haben wirs. Ihre Furcht ist eben so kindisch, als es Ihr Vorwiz war. Gehen Sie zu Bette!
Mariane. Ach Gott! Sie haben mir ja versprochen, meine Bitte zu gewähren.
Ich. Was wollen Sie, mein Kind?
Mariane. O ich bitte Sie, lieber Oncle, schlafen Sie bey mir.
Ich. Sind Sie klug? das kann unmöglich seyn.
Mariane. (äußerst betrübt.) Warum denn nicht?
Ich. Morgen, meine Freundin, werde ich es 31 Ihnen sagen. Schlafen Sie ruhig. Ich schwöre Ihnen, daß Sie nichts zu fürchten haben.
Ich gieng auf mein Zimmer. Sie kam mir aber nachgelaufen, und klagte es meiner Frau mit vielen Thränen, daß ich nicht bey ihr schlafen wolle. – Diese wußte ihr anfänglich vor Ueberraschung nichts zu antworten. Daß wir dabey Mühe hatten, das Lachen zu verhalten, brauche ich wohl nicht zu sagen. – Endlich nahm sie das Mädchen bey der Hand: Kommen Sie, sprach sie zu ihr, meine ältere Schwester soll ihr Bette mit Ihnen theilen. – Sie ließ sich ungern wegführen., und ich mußte ihr das Versprechen wiederholen, daß ich ihr am folgenden Morgen die Ursache meiner Weigerung entdecken würde. Sie können leicht denken, meine Freundin, daß die Betrachtungen, die ich mit meiner Frau über diese Scene anstellte, bey weitem nicht alle belustigend waren, und daß ich dabey die Nonnen nicht verschonte, ungeachtet sich manches zu ihrer Rechtfertigung sagen ließ. Sie durften über diesen Punkt gegen eine Klosterschwester, denn das war Mariane in ihren Augen, etwas flüchtiger wegschlüpfen, und diese Zurückhaltung konnte sogar eine Art von Barmherzigkeit heißen, die sie an dem armen Schlachtopfer ausübten.
Meine vornehmste Sorge war, durch eine 32 vorsichtige Belehrung die Unschuld des armen Mädchens sicher zu stellen, und die bevorstehende Unterredung also einzuleiten, daß sie über kurz oder lang beym Andenken derselben nicht erröthen dürfte. Doch nicht nur Marianens wegen, sondern selbst um meinetwillen lag mir unendlich viel daran, sie nicht zurückzuscheuchen, noch ein Vertrauen zu schwächen, das mir um so heiliger seyn mußte, je weniger es Grenzen kannte.
Achter Brief.
Schon vor sieben Uhr des Morgens hörte ich Marianen auf der Flur herumtrippeln, bisweilen blieb sie an meiner Thüre stehen, um zu horchen, ob ich nichts von mir vernehmen ließe. Sie durfte nicht lange warten; sie hieng sich mir an den Arm, und ich schlug ihr einen Spaziergang auf die Landstraße vor. Seit meinem nächtlichen Abenteuer nahm ich mich wohl in Acht, einen andern mit ihr zu wagen. Der Weg war sehr angenehm, und da unsere Wohnung die äußerste im Dorfe war, so befanden wir uns mit dem ersten Schritte auf dem Felde. Ich bemächtigte mich mit Vorsaz des Gespräches, um es nach meiner Absicht lenken zu können, und nach einigen gleichgültigen Fragen, worauf ich Marianen nur zu kurzen 33 Antworten Zeit ließ, sezten wir die Unterredung folgender Gestalt fort:
Ich. Allein sagen Sie mir denn, meine Freundin! Was Sie alles in Ihrem Kloster gelernt haben?
Sie. O vielerley Sachen: Die Geographie, die biblische Historie, den Catechismus.
Ich. So? also die Geographie. Können Sie mir sagen: wo Rouen liegt?
Sie. Rouen . . . . Ja, lieber Oncle! ich muß zuerst wissen, in welchem Lande Rouen gelegen ist?
Ich. Ey das ist es ja, was ich von Ihnen wissen will!
Sie. Ich meine nur so, daß ich wissen muß, ob Rouen in Frankreich, oder in Spanien oder in Deutschland liegt.
Ich. Nun Rouen liegt in Frankreich.
Sie. Frankreich ist ein Königreich, seine Grenzen sind, gegen Mitternacht der Kanal oder La Manche und die Niederlande, gegen Morgen Deutschland, die Schweiz und Italien, gegen Mittag das mittelländische Meer, und das pyrenäische Gebirge, wodurch es von Spanien abgesondert wird, und gegen Abend das aquitanische Meer. –
Dieses und noch weit mehr, besonders die Größe des Landes, seine Flüsse, seine Eintheilung in Gouvernements u. s. w. betete sie in einem Tone, und mit unglaublicher Geschwindigkeit wie ein 34 Ave Maria her. Bey jedem Gouvernement nennte sie sogleich die Hauptstadt.: z. B. Bretagne . . . Rennes, und hierauf Normandie Rouen, und nun wiederholte sie im Triumph – Rouen ist die Hauptstadt der Normandie.
Nach diesem Pröbchen, meine theure Freundin, habe ich nicht nöthig, Ihnen anzumerken, daß das arme Kind nichts als Worte daherplappern konnte, und die Provinzen, Städte und Flüsse, ungefähr so, wie eine Drehorgel die Töne eines Walzers, angab. Demungeachtet bezeugte ich ihr meine Zufriedenheit und fuhr fort:
Ich. Gut, mein Kind. Allein sagten Sie mir nicht, Sie hätten auch den Catechismus gelernt?
Sie. Ey freylich, alle Tage!
Ich. So werden Sie auch die zehn Gebote Gottes wissen?
Sie. Und auch die sieben Gebote der Kirche.
Ich. Wir wollen für dasmal nur bey den zehn Geboten Gottes stehen bleiben. Wie heißen die?
Nun fieng das Räderwerk wieder an zu laufen. Sie sagte die zehn Gebote in französischen Knittelversen her, so wie sie in allen Catechismen stehen.
Das sechste Gebot lautete also:
Luxurie ne commettras,
De Corps ni de consentement.
Halt . . . . sagte ich hier, ich sehe schon, daß 35 Sie die zehn Gebote können. Allein, haben die Nonnen sie Ihnen auch erklärt?
Sie. Ja freylich, warum denn das nicht!
Ich. Was heißt denn: Luxurie ne commettras?
Mariane schwieg. – Ich vereinfachte meint, Frage: Was heißt Luxurie?
Sie. Luxurie, ey Luxurie heißt . . . Luxurie.
Ich. Das heißt nichts. Was verstehen Sie unter diesem Worte?
Sie. Das weiß ich nicht, lieber Oncle.
Ich. Soll ich Ihnen sagen, was Luxurie heißt?
Sie. O ja, wenn Sie die Güte haben wollen.
Ich. So viel wissen Sie aber doch, daß Gott verboten hat, das zu thun, was unter Luxurie verstanden wird?
Sie. Ja wohl, denn es heißt: Luxurie ne commettras.
Ich. Nun so muß ich Ihnen sagen, mein Kind, daß durch diese Worte allen Mannspersonen und Weibspersonen, die nicht verheyrathet sind, verboten wird, beysammen zu schlafen.
Plözlich zog Mariane ihren Arm unter dem meinigen hervor, drehte sich gegen mich, hob beyde Hände bis in die Höhe der Brust empor, und sagte in einem erschrockenen, halbleisen, aber dabey über allen Ausdruck feyerlichen Tone: Ach Gott! 36 so haben Sie, lieber Oncle, mich gestern Abend vor einer großen Sünde bewahret.
Ich habe in meinem Leben mehrere Frauenzimmer gekannt, die wie Sie, meine Freundin, unter die ersten Ihres Geschlechts gehörten, allein, ich gestehe Ihnen, daß ich selbst für die erste unter den ersten nie die Ehrfurcht empfand, die ich in diesem Augenblicke für den Engel fühlte. Wären wir nicht auf der Landstraße gewesen, ich hätte Marianen an mein Herz gedrückt. Ich drückte ihre Hand, indem ich ihren Arm wieder unter den meinigen schob, und richtete unsern Weg nach unserer Wohnung zurück. – Ich wollte die Unterredung nicht länger fortsetzen. Ich unterbrach sogar den heissen innigen Dank, den sie mir für diese Belehrung abstattete, und bat sie blos, sie nie zu vergessen. O gewiß nicht, gewiß nicht, erwiederte sie, und die reinste Thräne der Andacht floß über ihre Wange.
In der leztern Hälfte des Augusts verliessen wir unsern ländlichen Aufenthalt, um in die Stadt zurück zu kehren. Marianens Abschied von meinen Schwiegereltern und ihren Töchtern war sehr rührend. Nie hörte ich die Dankbarkeit eine kunstlosere und dennoch beredtere Sprache führen. Auch unser wackerer Pfarrer in H– wurde nicht 37 vergessen. Er hatte würklich Marianens Religionsbegriffe in manchem Punkt berichtigt, und interessirte mich auch wegen einer sonderbaren Begebenheit, die ich Ihnen, meine Freundin, mitzutheilen versprochen habe. Sie schikt sich als Episode in die Geschichte meiner Mariane; denn es ist auch die Geschichte einer Unglücklichen, von der mir damals nicht ahnete, daß ich sie einst persönlich würde kennen lernen.
Der Pfarrer von H– lebte sehr still und eingezogen mit einer Schwester, die ihm seine kleine Haushaltung führte. Seine Pfründe war schlecht, und seine Gemeinde zu arm, um sie zu verbessern. Eines Tages kam ein verschlossener Wagen vor seine Wohnung gefahren. Ein ansehnlicher wohlgekleideter Mann von mehr als mittlerm Alter, und ein sehr schönes Frauenzimmer stiegen heraus. Der Pfarrer gieng ihnen entgegen, und fragte sie um ihr Begehren. Wir wünschten Sie allein zu sprechen, antwortete der Fremde. Der Pfarrer führte sie auf sein Zimmer.
Wir kommen, uns von Ihnen trauen zu lassen! sprach der Mann. – Hierzu wird ein Ausrufschein und die Erlaubniß des Bischofs erfordert, erwiederte der Geistliche, haben Sie die, so kann es geschehen. – Fragen Sie mich nach nichts, sprach der Fremde, und wählen Sie. – Bey diesen 38 Worten legte er mit der einen Hand zwölf Louisd'or auf den Tisch, und zog mit der andern ein Pistol aus der Tasche. Der Pfarrer wollte nach der Thüre gehen, der Fremde eilte ihm zuvor, und schloß sie ab. – Sie setzen mich, mein Herr, der größten Verantwortung bey dem Bischoff aus, sagte der bestürzte Geistliche. – Ich nehme alle Verantwortung auf mich, versezte der Fremde. Lassen Sie mich aber nicht lange warten! – Der Pfarrer machte noch einige Einwendungen. Der Fremde wiederholte seine Drohungen, und machte mit seinem Pistol eine sehr bedeutende Pantomime. Ich will glauben, daß die Armuth des Pfarrers eben so viel als seine Furcht zu dem Entschlusse beytrug, den er faßte, die Trauung zu vollziehen. Nach beendigter Ceremonie nahm das Brautpaar Abschied; der Mann ließ die zwölf Louisd'or auf dem Tische liegen, und der Wagen eilte mit größter Schnelligkeit davon.
Nach einigen Wochen wurde der Pfarrer in die bischöffliche Residenz beschieden. Der Bischoff, der von dem ganzen Vorfalle unterrichtet war, hielt ihm sein Vergehen mit größter Strenge vor, und verurtheilte ihn zu einer sechsmonatlichen Buße im Seminarium. Der Bräutigam selbst war, ohne es zu wissen, sein Ankläger. Er vermuthete, der Pfarrer würde die Begebenheit an seinen geistlichen 39 Obern berichten, und schrieb zur Steuer der Wahrheit an den Bischoff, daß er wirklich den armen Mann durch Furcht vermocht habe, ihn mit seiner Nichte zu trauen. Er bat daher für ihn um Gnade, und fügte hinzu, er habe bereits nach Rom geschrieben, um sich die päpstliche Dispensation zu seiner Heyrath auszuwirken. – Da nun der Pfarrer dem Bischoffe den Vorfall verschwiegen hatte, so konnte das Bekenntniß und die Fürbitte des Fremden ihm nichts helfen. Er mußte seine Bußzeit aushalten, und dem Vikar, den man indeß auf seine Pfarre sezte, eine Belohnung von hundert Thalern geben.
Einige Jahre hernach führte mich der Zufall mit der jungen Frau auf der Postkutsche von G– zusammen. Ich kannte sie nicht; sie war in tiefer Trauer, und ihr ganzes Wesen zeugte von einer noch größern Betrübniß, als ihre Kleider. Sie hatte das Herz voll, und ich erfuhr bald von ihr, daß ihre Reise einen schweren Prozeß zum Gegenstande habe. So wenig ich auch Vorwiz blicken ließ, so erzählte sie mir dennoch, ohne lange Vorbereitung, genug von ihrer Geschichte, um sie mir vollkommen kenntlich zu machen. Sie fügte hinzu, ihr Mann sey gestorben, und habe ihr einen kleinen Sohn und ein ziemlich beträchtliches Vermögen hinterlassen, welches seine nächsten Erben ihr 40 streitig machten. Wenn ich mich noch recht erinnere, so fochten sie die Gültigkeit ihrer Ehe aus dem Grunde an, daß die würklich erhaltene päpstliche Dispensation nicht bey dem Obergerichtshofe der Provinz protokollirt worden sey. Die nähern Umstände dieses Prozesses sind mir unbekannt, so viel aber weiß ich ganz gewiß, daß er verloren gieng, daß die Ehe für ungültig, und das Kind für einen Bastard erklärt wurde. Das arme junge Weib gerieth darüber in Verzweiflung. Ihre Seele erlag unter der Last des Kummers. Sie wurde rasend, und starb nach langem Leiden im Tollhause.
Zehnter Brief.
Lassen Sie uns, meine Freundin, zu Marianen zurückkehren. – Wir nahmen unsern Heimweg über G–, wo wir uns ein paar Tage aufhielten. Mariane bezeugte die größte Lust, ihr Kloster zu besuchen, um von den Nonnen noch einige Kleinigkeiten abzufordern, die sie zurückgelassen hatte. Ich merkte gar wohl, daß weder diese Geräthschaften, noch die Liebe zu den heiligen Schwestern, die, außer der guten Rosalie, ihr wenig am Herzen lagen, der vornehmste Bewegungsgrund dieses Besuches waren. Mariane wollte sich den Nonnen und ihren jungen Gespielinnen in ihrem rosenfarbenen Putze zeigen, und 41 da sie zu fühlen anfieng, daß man ihre Erziehung verwahrlost hatte, so mochte sie wohl auch die Absicht haben, die Fortschritte ihrer Cultur sehen zu lassen.
Meine Frau begleitete sie in das Kloster. Rosaliens Empfang war gutmüthig und zärtlich. Die übrigen Nonnen, besonders die Priorin, begegneten ihr ziemlich frostig, und diese leztere sogar mit einer Art von Verachtung. Ihre Miene schien zu sagen: Du bist ein Weltkind, das nicht würdig war, in unsern heiligen Mauern zu bleiben. – Rosalie gab Marianen wieder einige Reliquien, wofür ihr das Mädchen sehr freundlich dankte, allein kaum war sie zu Hause, so theilte sie diese Herrlichkeiten unter meine beyden Kinder aus.
Mariane kehrte sehr ungern zu Madam A– zurück, die sie ganz aus dem Gesichte verlohren hatte. Beynah zween Monate hatte sie in unserer Gesellschaft zugebracht, und ihr einziger Wunsch war, ihre beständige Wohnung in meinem Hause aufzuschlagen. Ich that was ich konnte, um diesen Wunsch zu ersticken. Ich sagte ihr, der ausdrückliche Befehl ihrer Beschützerin sey, daß sie bey katholischen Personen Kost und Wohnung haben solle. Um ihr aber den Gehorsam unter diesen Befehl, so viel als es an mir lag, zu erleichtern, ertheilte ich ihr die Vollmacht, uns jeden Nachmittag mit ihrer Arbeit zu besuchen. Sie benuzte so 42 buchstäblich, daß wenige Tage vergiengen, da wir sie nicht bey uns sahen, und ich kann sagen, daß wir bey jedem Besuche einen neuen Strahl ihres aufglimmenden Verstandes, oder einen neuen Zug ihres treflichen Herzens an ihr bemerkten. Zu lieben, und geliebt zu seyn, war das dringendste Bedürfniß ihrer Seele. Oft äußerte sie es mit der reizenden Unbefangenheit eines Naturkindes, oft durch schmeichlerische Liebkosungen, die sie nach dem Exempel ihrer Klostergespielinnen anwenden mußte, um sich bey den Nonnen in Gunst zu setzen.
Der Weg in die protestantische Kirche führte an ihrer Wohnung vorbey. So oft sie des Sonntags die Gloke hörte, stellte sie sich auf die Lauer, und wenn sie mich oder meine Gattin erblikte, kam sie uns wie ein sechsjähriges Kind entgegen gelaufen, und rief schon auf halbem Wege: Guten Tag, lieber Oncle, liebe Tante! Immer wurde der Gruß mit einigen Küssen versiegelt. Ich ergriff die nächste beste Gelegenheit, ihr mit möglichster Schonung zu verstehen zu geben, daß dergleichen Bewillkommungen auf öffentlicher Strasse sich nicht schikten. Ey warum nicht, antwortete sie, das schadet ja keinem Menschen was, und niemand wird mir verbieten, meinen Oncle, oder meine Tante zu grüssen.
Ihre Freundschaft ist uns sehr theuer, versezte ich, und kann freylich niemanden schaden, allein, 43 in den Städten ist es nun so einmal der Gebrauch, daß man sich in seiner Art zu grüssen nach andern richten muß.
Das ist ein einfältiger Gebrauch, sagte sie, und ich mußte sie mehr als einmal daran erinnern, ehe sie sich demselben unterwarf.
Ungefähr vierzehn Tage nach ihrer Rükkunft vom Lande traf ich sie bey meiner Gattin auf ihrem Zimmer an, wo sie wechselsweise Filet machte, und mit meinen Kindern spielte. Man kam, ich weiß nicht mehr wie, auf eine Hochzeit zu sprechen.
Ich werde mich nun auch bald verheyrathen, sagte Mariane.
Ich. Darf ich wissen, mit wem?
Sie. O ja, Sie dürfen und müssen es wissen.
Ich. Nun mit wem denn?
Sie. Mit Ihnen.
Ich. Also, mein Kind, wollen Sie den Tod Ihrer guten Tante.
Sie. Ich? Bewahre Gott! O, lieber Oncle, wie können Sie das von mir denken?
Ich. Ey es muß wohl seyn. Haben Sie schon einen Mann gesehen, der zwey Weiber hatte?
Sie. (Nach einem kurzen Nachdenken) Ich glaube nein.
Ich. Das glaube ich auch. Es ist den Christen verboten, zwey Weiber zu nehmen. 44
Mariane (halbleise) Das ist Schade. – Dann sprang sie auf meine Gattin zu, fiel ihr um den Hals: Ach liebe, liebe Tante, vergeben Sie mir, ich bedachte das alles nicht. – Ein inniger schwesterlicher Kuß der Tante stellte sie zufrieden.
Einst wollte sie uns besuchen. Wir waren beyde ausgegangen. Sie kam in mein Cabinet, wo mein Sekretär schrieb. Sie wollte ihm nicht glauben, daß wir nicht zu Hause wären. Sie öffnete den Alkof, und suchte alles aus. Endlich trat sie vor meinen Lehnstuhl, der neben dem Schreibtische stand. Nun sagte sie, weil er nicht hier ist, so will ich doch die Arme des Stuhles küssen, in dem er zu sizen pflegt. Sie neigte sich auf die Kniee, und that es. Dann sezte sie sich in den Stuhl, zog ein kleines Döschen aus der Tasche, und sagte zum Sekretär, hier habe ich eine Reliquie, eine Reliquie, die mir um keinen Preiß feil wäre. – Nun lassen Sie mich sie sehen? sprach dieser. Das thue ich nicht, erwiederte sie, und drükte das Döschen in ihre Hände. Der Sekretär, der sie bisweilen zu neken pflegte, lauschte den Augenblik ab, und nahm ihr das Döschen. – Er öffnete es, und fand – eine Besuchkarte mit meinem Namen. Der Anblik rührte ihn zu sehr, als daß er die Reliquie nicht auf der Stelle zurükgegeben hätte, wenn er auch nicht durch ihr Geschrey dazu wäre gezwungen 45 worden. Ich erinnerte mich, einst als ich sie nicht zu Hause antraf, zum Scherz diese Karte bey ihrer Wirthin zurükgelassen zu haben.
Eilfter Brief.
Der Sommer war verstrichen, Mariane hatte beynahe vier Monate ausser dem Kloster zugebracht und zeigte täglich mehr Abneigung, in dasselbe zurükzukehren. Sie wiederholte mir von Zeit zu Zeit und immer dringender ihre alte Bitte, unter meine Hausgenossen aufgenommen zu werden. Meine Antwort war immer dieselbe, und in meinen Briefen, die der alten Gräfin mitgetheilt wurden, nahm ich mich wohl in Acht, dieser Bitte mit einem Worte zu erwähnen. Meine Beharrlichkeit kostete dem guten Mädchen manche Thräne, und ich gesteh es, meine Freundin, mir selbst manchen Kampf. Ich und meine Gattin hätten das gute Kind so gerne ganz glüklich gesehen. Allein es wird sich bald zeigen, daß diese Beharrlichkeit mir manchen quälenden Vorwurf erspart hat, den ich mir in der Folge mit oder ohne Grund gemacht haben würde.
Mariane hatte mit uns das Vergnügen der Weinlese genossen, und befand sich eben bey meiner Frau, als ich von meinem Verwandten einen Brief erhielt, darinn er mir meldete, Marianens Grosvater, ein Greis von fünf und 46 siebenzig Jahren, habe einen Fall gethan, der sein Leben in Gefahr sezte; die Annäherung des Todes habe sein Gewissen aufgewekt, und ihm den Entschluß eingegeben, Marianen für seine Enkelin zu erklären, und sie aus ihrem Exil zurükzurufen. Zu diesem Ende ertheile man mir den Auftrag, sie von dieser Veränderung ihres Schiksals zu unterrichten, und alles zu ihrer Abreise bereit zu halten. Man bestimmte mir den Tag, da eine Kammerfrau der alten Gräfin ihr bis nach G– entgegen kommen würde, und ersuchte mich, sie wo möglich bis dahin zu begleiten. Auf jeden Fall aber würde die Kammerfrau mir eine Vollmacht übergeben, wodurch das Fräulein von mir zurükgefordert, und ich für ihre Auslieferung quittirt werden sollte.
Dieser Brief fiel mir auf, obgleich der Augenblik noch nicht erschienen war, da ich ihn völlig verstehen konnte. Ich mußte seinen Inhalt Marianen mittheilen. Ich gieng also damit auf das Zimmer meiner Frau, wo ich das gute Mädchen in einem sehr aufgeräumten Gespräche antraf. –
Ich bringe Ihnen eine Nachricht, sagte ich zu ihr, die Ihnen angenehm seyn wird. –
Sie kam mir entgegengehüpft: Nicht wahr, ich bekomme eine Uhr? – Sie hatte mich schon mehrmals gebeten, ihr die Erlaubniß auszuwirken, eine zu kaufen.
47 Meine Zeitung ist wichtiger, erwiederte ich. Sie sollen verreisen, mein Kind, in ihr Vaterland, zu den Ihrigen sollen Sie verreisen.
Sie. Gehen Sie mit, lieber Oncle?
Ich. Nein, man verlangt es nicht, und es könnt' auch nicht seyn.
Sie. So geh ich nicht fort.
Ich. Setzen Sie sich hier neben mich, meine Freundin, und hören sie mich aufmerksam an. Es ist mir eine innige Freude, Ihnen sagen zu dürfen, daß Sie eine Mutter, eine Großmutter, einen Großvater haben. Dieser leztere ist alt und kränklich, und möchte Sie noch vor seinem Tode sehen.
Mariane (ernsthaft). Eine Mutter, eine Großmutter, einen Großvater.
Ich. Ja, meine Freundin, und Ihre Großmutter ist eben die Gräfin von –, die bisher Ihre Wohlthäterin war. Es erwartet Sie ein Glück, von dem Sie jezt noch keinen Begriff haben. Sie können sich wohl noch andere Kostbarkeiten als eine Uhr versprechen.
Mariane. Ganz gut, lieber Oncle, allein ich reise nicht.
Ich. Warum nicht, mein Kind? Wissen Sie wohl, daß eine Kammerfrau Ihrer Großmama bereits unterwegs ist, Sie abzuholen, und daß 48 ich Sie nicht hier behalten dürfte, wenn ich auch wollte.
Mariane weinte bitterlich. Ach, lieber Oncle, ich verlange keine Uhr, keine Kostbarkeiten, ich will hier bey Ihnen, und bey meiner Tante bleiben.
Ich. Sie sollen uns immer diesen – süssen Namen geben, allein, Sie wissen, daß wir Ihnen nicht verwandt sind. Ihre eigentlichen Verwandten, Ihre Mutter und Ihre Großeltern sind in N– und wollen Sie nun bey sich haben.
Mariane schwieg einige Augenblicke, dann sagte sie in einem äußerst betrübten, aber festen Tone:
Lieber Oncle, diese Leute haben mich nicht lieb. Warum hätten Sie mich sonst siebzehn Jahr alt werden lassen, ohne mir zu sagen, was sie mir sind. Meine Großmutter hat mir zwar Gutes gethan, allein, hat sie mir ein einzigesmal geschrieben, oder sagen lassen, daß ich ihre Enkelin sey?
Ich. Dazu können sie Ursachen gehabt haben, die sie Ihnen schon eröffnen werden.
Mariane. Kann es solche Ursachen geben? Ich glaube es nicht. (Sie weinte von neuem.) Ach, lieber Oncle, ich kann, ich will nicht fort, ich will hier bleiben. Dann wandte sie sich zu meiner Frau: O meine gute Tante, behalten Sie mich, 49 behalten Sie mich, ich will bey Ihnen dienen, ich will Ihr Kindsmädchen werden.
Diese Scene zerriß uns das Herz. Wir konnten lange nicht sprechen, und hielten das arme Kind in unsern Armen. Endlich sagte ich zu ihr: Reisen Sie, meine Theure, wir wollen Sie bis G– begleiten. Wenn es Ihnen bey Ihrer Familie nicht wohl geht, und Sie mir ein Verlangen bezeugen, zu uns zurückzukehren, so schwöre ich Ihnen, daß ich Ihre Großmama um diese Erlaubniß bitten, und Sie, liebe Mariane, als unsere Freundin, als unsere Schwester in mein Haus aufnehmen werde.
Mariane antwortete nicht, sie schlug ihre Arme um uns, und drückte uns mit convulsivischer Gewalt an ihr Herz. Nach und nach wurde sie ruhiger, aber von dieser Unterredung an, bis auf den Augenblick unserer Trennung, war ihre Seele düster, und äußerst niedergeschlagen. Ihre Angen stunden immer voll Wasser, und sie sprach nur, wenn sie sprechen mußte. Ich begleitete sie nach Hause, um der Madam A– die eingelaufene Nachricht mitzutheilen, und sie zu bitten, alles zu Marianens Abreise bereit zu halten, welche auf den dritten Tag festgesezt wurde. – Hier gieng der Jammer von neuem an, ich will aber Ihnen, meine Freundin, und mir selbst ein Gemälde 50 ersparen, das immer unter der Wahrheit bleiben, und dennoch eine bloße Wiederholung desjenigen seyn würde, das ich Ihnen bereits entworfen habe.
Zwölfter Brief.
Den ganzen folgenden Tag brachte Mariane bey uns zu. Sie hatte die Nacht mit Weinen und Seufzen durchgewacht, und war blaß wie eine Leiche. Als ihr Friseur zu ihr kam, befahl sie ihm, ihr die Haare zu verschneiden. – Das haben Sie nicht nöthig, sagte er, wenn Sie in das Kloster gehen. – Ich . . . in das Kloster! erwiederte sie hastig, eher werde ich mich in einen Brunnen stürzen als mich wieder einsperren lassen! – Bey Tische genoß sie nichts, und sprach kein Wort. Da sie sehr schwach war, führte ich sie auf mein Cabinet, und rieth ihr, ein wenig auf dem Kanapee auszuruhen, das im Alkove stand. Dieser mochte bey ihr die Idee einer Klosterzelle rege machen. – Nicht wahr, lieber Oncle, sagte sie mit Schluchzen, ich werde in kein Kloster gebracht? Nein, mein Kind, war meine Antwort, und wenn Sie es begehren, so will ich zum Ueberflusse an Ihre Großmutter schreiben, und sie beschwören, Sie uns zurückzusenden. Ach ja, thun Sie das, antwortete sie mit einem tiefen Seufzer. Sie weinte immer fort. Zufälligerweise besuchte 51 mich ein katholischer Geistlicher, den Mariane kannte, weil er eine Schwester in ihrem Kloster hatte. Ich empfieng ihn an der Thüre, und bat ihn leise, das arme Mädchen zu trösten, und ihr vornämlich die Furcht vor dem Kloster auszureden. Der Mann that sein Möglichstes, allein, alle seine Beredtsamkeit gieng verloren. Mariane kehrte des Abends eben so betrübt auf ihr Zimmer zurück, als sie es verlassen hatte. Um sie ein wenig zu zerstreuen, schlug ich ihr des folgenden Tages vor, mit meiner Frau einen Abschiedsbesuch bey einigen Freundinnen zu machen, die ihr viel Liebe erzeigt hatten. Sie waren vom Zwecke dieses Besuches unterrichtet, und wandten alles an, um sie durch die Hoffnung eines baldigen Wiedersehens zu erheitern. Wir erreichten unsere Absicht, so gut es möglich war. Mariane schien ziemlich gelassen, bis auf den Augenblick, da sie sich von meiner ehrwürdigen Mutter beurlaubte, die sie, wie meine Kinder, ihre Großmama nannte. Sie brachte die lezte Nacht in meinem Hause zu, und des folgenden Morgens reisten wir in der Frühe nach G– ab.
Unsere Gesellschaft wurde durch einen meiner Freunde vermehrt, der in hessischen Kriegsdiensten stand, und mit seiner Gattin denselben Weg nahm. Da er einen besondern Wagen hatte, so trafen wir nur in dem ersten Gasthofe zusammen, wo wir 52 gemeinschaftlich frühstückten. Die muntere Laune meines Freundes, seine Gefälligkeit gegen Marianen, und die Schönheit des Tages, die uns während der Abfütterung der Pferde zu einem kleinen Spaziergang einlud, versezten das Mädchen in eine ziemlich heitere Stimmung, die sich bis M–, einem Dorfe, dritthalb Meilen von G–, erhielt, wo wir zu Mittage zu speisen gedachten. Am Eingange des Dorfes begegnete uns die Schwägerin meines Verwandten, mit einem sehr wohlgekleideten Frauenzimmer, deren Physiognomie aber zu einem Grenadier nichts als der Schnurbart fehlte. Ihre Begleiterin stellte sie uns als die Kammerfrau der Gräfin von – vor, welche den Auftrag habe, das Fräulein von J– abzuholen. Bey diesen Worten überreichte mir die Fremde den Auslieferungsschein, wovon ich Ihnen oben gesprochen habe, und complimentirte mich in einem so possierlichen Salzburger Dialect, daß es mir unmöglich gewesen wäre, das Lachen zu verhalten, wenn nicht in diesem Augenblicke Mariane sich an mich angeschmiegt, und meinen Arm aus aller Kräften an ihr zitterndes Herz gedrückt hätte. Sie hatte einen Theil dieses Auftritts errathen, und sich den Rest durch meine Frau erklären lassen. Denn von der Rede der Kammerfrau war es ihr unmöglich, ein Wort zu verstehen. Wir sezten 53 unsern Weg zu Fusse, nach dem Gasthofe fort. Ich gesellte mich zu der Reisegefärthin der Fremden. Es war eine Freundin meiner Gattin, durch die sie die meinige wurde, und es noch ist. Sie flüsterte mir ins Ohr, das ist ein sonderbares Geschöpf, ein wahrer Pandur. Sie wurde von meinem Schwager an meinen Vater addressirt. Als sie Marianen noch nicht antraf, wollte sie schlechterdings bis zu Ihnen reisen, und bat mich, sie zu begleiten.
Als wir im Gasthofe angelangt waren, machte sich die Kammerfrau an das arme Mädchen, das beständig weinte, und verwieß ihr ihre kindische Weichherzigkeit in einem so polternden Tone, daß sie erschrocken zurücktrat, und sich hinter mich und meine Frau verbarg. Das Weib schwieg aber darum nicht, und trieb den Ungestüm so weit, daß mein Offizier sich nicht länger halten konnte, und ihr in einem nicht minder martialischen Tone anrieth, das Fräulein mit mehr Gelindigkeit zu behandeln. Allein, die Duenna schlug ein lautes Gelächter auf, und sagte, man brauche sie nicht zu lehren, wie sie sich zu verhalten habe. Ich hatte Mühe, meinen Freund zu besänftigen, der eben so sehr aus Mitleid gegen Marianen, als aus Unwillen über ihre ungeschliffene Hofmeisterin einen großen Beruf äußerte, sie, wie er sagte, 54 Lebensart zu lehren. Bey Tische sezte Mariane sich zwischen mich und meine Gattin; sie aß wenig, sprach nichts, und drückte uns wechselsweis die Hände. Das gab nun der Duenna einen netten Stoff zum Spotte. Ey, Fräulein, Fräulein, sagte sie, ich weiß halt gar nicht, wie Sie mir vorkommen. Was hilft das Heulen? Doch nur Geduld, ich will Ihnen Ihre Grillen schon vertreiben. Ich gab ihr zu verstehen, daß sie mit guten Worten alles bey dem Mädchen ausrichten würde, und bat sie, ihre Empfindlichkeit zu schonen. Das wird sich schon geben, antwortete sie, und so gieng die Mahlzeit vorbey.
Man schlug einen Spaziergang in den Garten vor, der hinten am Gasthofe lag. Die Gesellschaft verließ das Speisezimmer. Mariane hieng sich mir, ihrer Gewohnheit nach, an den Arm. Sie ließ jedermann vorangehen, und als ich mit ihr zur Thüre hinaus wollte, hielt sich mich zurück, und sprach leise: ich habe Ihnen etwas zu sagen. Das Zimmer lag im Erdgeschos, die Thüre gieng einwärts auf, und wenn sie offen stand, bildete sie mit der Mauer einen Winkel, so daß man hinter dieser beweglichen Wand, weder von dem Hausgange, noch von der Straße aus, gesehen werden konnte. In diesen Winkel zog mich Mariane; ich folgte ihr unwillkührlich. Sie faßte mich bey 55 beyden Händen: Lieber Oncle, sagte sie in einem feyerlichen Tone, Sie waren immer mein Freund, Sie haben mir nie eine Bitte versagt, ach meine lezte Bitte, werden Sie die mir versagen?
Ich. Nein, meine Freundin. Was ich für Sie thun kann, verspreche ich zu thun.
Sie. Ich fürchte mich vor dieser Frau, und noch mehr fürchte ich mich vor meinen Verwandten. Ich weiß gewiß, daß man mich in mein Unglück ruft; glauben Sie mir's, diese Reise ist mein Verderben. O, lieber Oncle, Sie können, Sie müssen mich befreyen. Ach, um Gotteswillen, tödten Sie mich. In diesem Augenblicke stürzte sie vor mir auf die Kniee, und legte mir ein Messer in die Hand, das sie unvermerkt von dem Tische genommen, und in der Tasche ihrer Schürze verborgen hatte. Ein Schauer des Entsetzens fuhr durch meine Glieder. Ich hielt mich mit der einen Hand an der Thüre, indeß ich mit der andern das Messer wegschleuderte. Dann hob ich die halb Wahnsinnige von der Erde. »Armes Kind! kommen Sie, wir wollen zur Gesellschaft gehen. Diesen Abend werde ich Ihnen erklären, was Sie thun wollten.« – Mit großer Mühe konnte ich diese Worte stammeln, und zog sie mit mir zum Zimmer hinaus.
56 Sie ließ sich wegführen, ohne ein Wort zu sprechen. Die Krise der Verzweiflung war vorüber, die tiefste Ermattung mußte darauf folgen. Mein Zustand war nicht weniger gewaltsam, als der ihrige, und so oft ich seitdem das Zimmer betrat, darin diese Scene vorfiel, ergriff mich ein leises Grauen, dessen Eindruck ich in den ersten Jahren mehrere Stunden fühlte. Gleichwohl bin ich nie durch M– gereißt, ohne diese feyerliche Stelle zu besuchen. Dieses ist wenigstens zwanzigmal geschehen, und wenn ich vollends einen Freund oder Freundin bey mir hatte, mit denen ich von Marianen sprechen konnte, so kostete es uns immer eine Art von Ueberwindung, einen Ort zu verlassen, der unsere Seelen in eine süße Schwermuth wiegte, und es uns begreiflich machte, wie es sogar Philosophen, heitere menschenfreundliche PhilosophenDemokrit. geben konnte, die eine Wollust darin fanden in Gräbern zu wohnen.
Dreizehnter Brief.
Daß der Rest unserer Reise höchst traurig war, darf ich Ihnen, meine Freundin, nach dem Auftritte, der meinen lezten Brief beschloß, wohl nicht anmerken. Wir kamen bey Thorschluß in 57 G– an, und traten bey den Eltern unserer Freundin ab, wo wir mit Marianen und ihrer Duenna zu Nacht speisten. Es war mir ein sehr langer Abend, und dennoch zitterte ich vor der Stunde, die uns trennen sollte. Mariane glaubte, wir würden bis zur weitern Fortsetzung ihrer Reise in G– bleiben, allein, das war uns unmöglich, und wäre auch nicht einmal gut für das arme Mädchen gewesen. Ihre Vorliebe zu uns hätte ihr bey ihrer Begleiterin noch mehr geschadet, und es war nöthig, daß sie vor der grössern Reise näher mit ihr bekannt wurde, ohne noch ganz von ihr abzuhängen. Unsere Freundin, und ihre ehrwürdigen Eltern, denen Mariane empfohlen war, konnten unsere Stelle bey ihr vertreten. Ich wollte aber dem armen Kinde seinen Irrthum nicht eher, als im Augenblicke des Abschieds benehmen, um ihr Herz nicht zweymal zu durchbohren.
Ueber der Mahlzeit entwischten der Duenna einige Worte, die mich in tiefes Nachdenken versetzten; indem sie von ihrem Reiseplan redete, sagte sie: in A– (einer Stadt vierzig Meilen von G–) werden wir ein paar Tage ausruhen, und da werde ich Briefe finden, die uns sagen werden, was wir weiter zu thun haben. Mariane gab zum Glücke nicht Achtung auf diese Rede, und hätte sie 58 wahrscheinlich nicht verstanden. Sie hatte zwar seit ihrem Austritt aus dem Kloster etwas mehr deutsch gelernt, aber lange nicht genug, um sich zusammenhängend auszudrücken, vielweniger, um den barbarischen Dialekt des Weibes zu verstehen. Wir saßen bis gegen eilf Uhr beysammen. Dann brach die Duenna auf, um sich mit Marianen in den Gasthof zu begeben, wo sie ihre Herberge genommen hatte. Als wir uns auf ihrem Zimmer befanden, fragte mich Mariane, wann sie uns Morgen besuchen könne. Ich trat mit ihr auf die Seite, und sagte leise zu ihr: Vor allen Dingen versprechen Sie mir in meine Hand, und vor dem Angesichte Gottes, daß Sie sich nie wieder so schröklichen Gedanken überlassen wollen, wie heute Mittag. Mariane seufzte: nun ja, ich verspreche es Ihnen. Ich drückte ihre Hand auf mein Herz, und fuhr fort: Nun, meine theure Freundin, habe ich Ihnen noch etwas zu sagen. Ich habe Sie nie hintergangen, und würde es mir zum Verbrechen machen, Sie in diesem Augenblicke zu hintergehen. Ich muß mich jezt von ihnen trennen. Ich schwöre Ihnen, daß ich mich unmöglich hier länger aufhalten kann. Leben Sie wohl, liebstes bestes Kind, Gott segne Sie, lieben Sie uns immer, so lange ich lebe, bleibe ich Ihr Freund. Mariane war sprachlos, ich schloß sie fest in 59 meine Arme, und winkte meiner Gattin, ebenfalls Abschied von ihr zu nehmen. Sie kam herbey und umarmte sie mit der Zärtlichkeit einer Schwester. Mariane war noch immer stumm. Wir giengen nach der Thüre, sie that einige Schritte, um uns zu folgen, und sank ohnmächtig zur Erde. Unsere Freundin half der Kammerfrau sie auf das Bette bringen, das im Zimmer stand. Wir empfahlen sie mit Thränen dem bestürzten Weibe, das in diesem Augenblicke doch auch einiges Erbarmen fühlte. Wir verließen in stummer Traurigkeit den Gasthof, und begaben uns zu den Eltern unserer Freundin, die unsere Betrübniß theilten, und mit uns den größten Theil der noch übrigen Nacht durchwachten. Sie versprachen uns, den folgenden Tag Marianen zu sich zu berufen, und alles anzuwenden, ihren Kummer zu lindern, und ihre liebenswürdige Tochter gelobte uns noch beym Abschiede, daß sie das arme Kind bis zu ihrer Abreise nicht verlassen wolle.
Ich überlasse es Ihrem Herzen, meine theure Freundin, Ihnen die Empfindungen mitzutheilen, die uns auf unserm Rückwege begleiteten. Wir sprachen wenig, und wenn wir sprachen, so geschah es, um uns die Besorgnisse zu eröffnen, welche die geheimnißvolle Rede der Kammerfrau in uns erregt hatte. Nun war es uns mehr als 60 wahrscheinlich, daß unser Verwandter in N. mit uns hintergangen worden, oder wenigstens daß die Krankheit des alten Grafen, wovon die Kammerfrau nur einmal und sehr gleichgültig sprach, von keiner Erheblichkeit, sondern ein bloßer Vorwand war, um die gute Mariane aus unsern Händen zu reissen. Mit dieser Muthmasung verbanden wir eine andere: ob nämlich unsere Freundschaft gegen das arme Mädchen nicht etwa die Priorin ihres Klosters bewogen habe, bey der bigotten Großmutter die Abrufung ihrer Enkelin aus dem Schoose der Ketzer zu betreiben? doch wir bedurften dieses Argwohns nicht, um uns das Räthsel zu erklären, und es ist weit wahrscheinlicher, daß nicht die alte Gräfin, sondern ihr Gemahl und Marianens eigene Mutter den Plan ihrer Entführung, denn das war es, entworfen haben. Diese leztere war seit verschiedenen Jahren in zweyter Ehe an einen Major von bürgerlicher Abkunft verheirathet, der täglich höher in der Gunst seines Schwiegervaters stieg, welcher sich anfangs dieser Misheirath aus allen Kräften widersetzt hatte. Natürlicherweise mußte dem Major und seiner Gattin viel daran gelegen seyn, aus ihrer Sippschaft einen Nebensprößling wegzuräumen, der schwerlich immer hätte verborgen bleiben, und niemals eine vortheilhafte Figur in der Familie machen können. Ich 61 verschweige noch andere Gründe, die unsere Vermuthung bestätigten, aber dem Andenken dieser unnatürlichen Mutter zu nachtheilig seyn würden, als daß ich mir erlauben sollte, sie anzuführen. Der Verfolg meiner Erzählung wird Ihnen, meine Freundin, ohnehin mehr Aufschluß in dieser Sache geben, als die Betrachtungen, die wir zu einer Zeit aufstellten, da die Decke noch nicht ganz von unsern Augen gefallen war.
Vierzehnter Brief.
Am ersten Posttage nach meiner Rückkunft schrieb ich meinem Verwandten eine umständliche Nachricht von allem, was bey Marianens Abholung vorgefallen war, und legte meinem Briefe die Erklärung an ihre Groseltern bey, wozu ich mich gegen das gute Mädchen verpflichtet hatte. Sie war so bestimmt abgefaßt, daß sie zu keiner Ausflucht Raum übrig ließ. Ich habe aber nie eine Antwort darauf erhalten. Am folgenden Tag erhielt ich einen Brief von Marianen aus G– datirt, dessen Aufschrift aber gerade so lautet, als ob er vom Orte ihrer Bestimmung abgelaufen wäre. Das gute Kind hatte mir meine Addresse gefordert, und sie, ohne zu überlegen, daß sie noch in unserer Nachbarschaft war, mit allen Hinweisungen und Befreiungszeichen getreulich 62 abgeschrieben. Sie meldete mir, daß sie nach unserer Entfernung lange ohnmächtig, und die ganze Nacht sehr krank gewesen sey, daß sie den folgenden Tag bey unserer Freundin zugebracht, und mit ihr einen Abschiedsbesuch in ihrem Kloster abgestattet habe, aber ziemlich kaltsinnig empfangen worden sey: daß die Kammerfrau ihr ganz gut begegne, und daß ihre Abreise auf den morgenden Tag statt haben würde. Der Ausdruck ihrer Dankbarkeit war eben so naiv als zärtlich, und niemand in meinem Hause wurde mit ihren Grüssen vergessen. Der Styl war sehr nachlässig, die Handschrift erträglich, die Rechtschreibung aber äußerst fehlerhaft. Ich übersetze Ihnen keine Stelle daraus, weil sie in jeder andern Sprache ihr charakteristisches verlieren würde. Allein, wenn ich Sie, meine Freundin, einmal wieder besuche, so werde ich Ihnen diesen, und noch einige andere Briefe mitbringen, die ich von Marianen besitze, selbst das Dokument ihrer Auslieferung liegt noch in meinem Pulte verwahrt. Sie versprach mir gleich nach ihrer Ankunft in N– zu schreiben, allein ich erhielt keine Zeile von ihr. Ich schrieb an sie, und bekam keine Antwort. Ich fragte meinen Verwandten um Nachrichten von ihr, er meldete mir, er habe sie nicht gesehen, und man mache bey der Familie ein Geheimniß aus ihrem Aufenthalte. 63 Diese Ungewißheit war mir eine Folter, zu der ich kein Beywort finde. Ich durfte nun nicht mehr zweifeln, daß das unglückliche Mädchen aufgeopfert worden, und dieses wäre schon genug gewesen, mich zu quälen. Allein, der Gedanke, daß sie mich vielleicht für einen Mitschuldigen ihrer Henker halte, daß sie mir vielleicht in irgend einem düstern Kerker als ihrem Verräther fluche; dieser Gedanke, meine edle, gefühlvolle Freundin, peinigte mich oft ganze Nächte hindurch, und mehr als einmal trat die holde Märtyrin in rührender Leichengestalt im Traume vor meine Seele, und warf mir meine Grausamkeit, nicht in strafenden Worten, sondern in dem sanften, liebevollen Tone vor, der ihr natürlich war, und den ich nie wieder gehört habe.
Eine Nachricht, die ich etwa drey Jahre nachher von meinem Verwandten erfuhr, der von seinem bisherigen Posten nach Hofe berufen wurde, war nichts weniger als fähig, mein Herz zu beruhigen. Er sagte mir, Mariane sey zwar vor einiger Zeit in N– erschienen, aber bald darauf wieder verschwunden, und er wisse von sicherer Hand, daß sie bey einem Geistlichen in F– gesehen worden sey, wo sie die Dienste einer Magd verrichtete, und wo ein Augenzeuge sie über der Scheurung des Fußbodens angetroffen habe. 64 Dieser schreckliche Bericht brach mir vollends das Herz. Ich beschloß, alles zu versuchen, um das Schicksal des unschuldigen Schlachtopfers aufzuklären, und Marianen, es koste was es wolle, von meiner eigenen Unschuld zu überzeugen. Ich erinnerte mich eines Jugendfreundes, der jetzt bey unserer Gesandschaft an dem –schen Hofe stand. Ich wandte mich an ihn, mit der dringenden Bitte, mir von dem armen Mädchen eine zuverlässige Nachricht einzuziehen. Seine Erkundigungen hatten den gewünschten Erfolg. Er meldete mir, Mariane befinde sich seit einiger Zeit in dem –iner Kloster zu N–, wo sie zwar nicht als Nonne, dieses erlaubte ihre zerrüttete Gesundheit nicht, sondern als beständige Kostgängerin eingekauft worden sey, zugleich erbot er sich mit der edelsten Dienstwilligkeit mir einen Brief an sie zu bestellen. So traurig diese Entdeckung war, so kann ich Ihnen doch die Freude nicht ausdrucken, die sie mir verursachte. Ich antwortete ihm augenblicklich, und schloß ihm einige Zeilen an Marianen bey. Ich meldete ihr blos, daß ich seit unserer Trennung verschiedene Mal an sie geschrieben, und mich auch bey ihrer Familie nach ihr erkundigt, aber keine Antwort erhalten habe, daß ihr Aufenthalt mir erst seit heute bekannt sey, daß ich nicht geglaubt hätte, sie in einem Kloster zu finden, daß 65 unsere Freundschaft gegen sie, weder durch die Zeit, noch durch die Entfernung geschwächt worden, und daß ich nicht eher ruhig seyn könne, als bis ich eine Antwort von ihr erhalten hätte.
Diesen Brief gab mein Freund einer vertrauten Weibsperson, die Marianen an das Sprachgitter rufen ließ. Kaum hatte sie ihn eröfnet, so fieng sie bitterlich zu weinen an. Ach, um Gotteswillen! gute Frau, sprach sie zur Ueberbringerin, um Gotteswillen! komme sie morgen um diese Stunde wieder, ich werde ihr meine Antwort zustellen. Des folgenden Tages erschien die Frau wieder an dem Kloster. Kaum erblickte sie die Thürhüterin, so rief sie ihr zu, sie sollte sich gleich fortpacken, oder man würde sie fortprügeln lassen. Der verdammte Brief, den sie gestern dem Fräulein überbracht, sey Schuld, daß sie von dem Augenblick an nichts gethan habe, als weinen und ächzen, und daß sie wirklich das Bette hüten müsse.
Diesen Bericht schloß mein Freund mit der Bitte, ihn mit fernern Aufträgen von dieser Art zu verschonen, weil sie ohnehin vergebens seyn, und ihn mancherley Unannehmlichkeiten aussetzen würden. 66
Funfzehnter Brief.
Ich war nun in Marianens Augen gerechtfertigt, ihr Herz bürgte mir für meine Rechtfertigung. Allein, Sie können leicht denken, meine Freundin, daß meine Ungeduld nach einer Antwort von ihr sich durch einen fehlgeschlagenen Versuch nicht abschrecken ließ. Ich konnte aber nichts unternehmen, ehe sich eine sichere Gelegenheit dazu zeigte. Eben der Freund, der mir meinen ersten Brief bestellt hatte, gab sie mir endlich an die Hand. Zwey Jahre nach jenem Versuche, kam er in seine Vaterstadt zurück, um darinn ein öffentliches Amt anzutreten. Kaum hatte ich ihn von Marianens Schicksal umständlicher unterrichtet, als es in meinem Briefe geschehen war, so erbot er sich, mir eine Zuschrift an das unglückliche Geschöpf durch eine Freundin zu bestellen, die er in seiner Residenz zurückgelassen hatte. Mit der lebhaftesten Freude benutzte ich sein Anerbieten. Ich schrieb an Marianen. Mein Brief war so abgefaßt, daß er, weder ihr Herz zu sehr erschüttern, noch ihr einige Verdrüßlichkeit zuziehen konnte, falls er aufgefangen würde. Er kam glücklich in ihre Hände, und nach vierzehn Tagen erhielt ich eine Antwort. Aber, Gott! welche Antwort: sie zeugte zwar von ihrer Entzückung über den 67 neuen Beweis meines Andenkens, aber auch zugleich von einer augenscheinlichen Schwächung ihres Verstandes. Sie beschwor mich, nach N– zu kommen, sie aus dem Kloster zu erlösen, und ihr zu helfen, ihren Vater aufzusuchen. Auf der folgenden Seite erklärte sie mich selbst für diesen Vater, bat mich fußfällig, mich ihr zu erkennen zu geben, und sie nicht länger zu verstoßen; dann schilderte sie mir ihre Lage. Ihre Groseltern waren todt, ihre Mutter schien sie vergessen zu haben, und ihre Gesundheit war unwiederbringlich verloren. Ich habe, sagte sie, öftere Convulsionen, allein ich bin noch nicht gestorben, und endlich bat sie mich um ein Almosen.
Sie kennen mich, meine Freundin, und ich kenne Sie. Ich würde mich an Ihrem Herzen versündigen, wenn ich Ihnen den Eindruck schildern wollte, den dieser Brief auf das meinige machte. Ich antwortete Marianen durch den nämlichen Canal. Ich erinnerte sie an die ersten Monate unserer Bekanntschaft, an die Beweise der Freundschaft, die ich ihr gegeben hatte, an den Augenblick unserer Trennung, ich wünschte ihr Vater zu seyn, um sie erlösen zu können. Wäre ich's, fuhr ich fort, und hätte Sie von mir gelassen, oder ließe Sie jetzt im Kloster 68 verschmachten, so wäre ich das größte Ungeheuer auf Erden. Ich erinnerte sie, daß ich keine vierzehn Jahr älter bin, als sie, und in meinem Leben niemanden von den ihrigen gekannt habe. Ich nannte ihr ihren Vater, wozu ich mich bisher nicht berechtigt hielt, und erzählte ihr alles, was ich von ihm wußte. Ich schickte ihr eine kleine Unterstützung, die ich, leider, nicht so oft, als ich es wünschte, wiederholen konnte, und welche jedesmal durch unsere Freundin S– verstärkt wurde, deren große Seele Marianen unter die ersten Gegenstände ihrer Wohlthätigkeit geordnet hatte. Doch auch diese Stütze sollte die arme Dulderin verlieren. – Sie starb, und Mariane mußte sie überleben. Sie hat mir seitdem noch verschiedene Mal geschrieben. Ihre Briefe athmen die innigste Zärtlichkeit und den heissesten Dank, es herrscht weniger Unordnung darinn, als im ersten, und wenn sie mich jetzt bisweilen ihren Vater nennet, so geschieht es, weil ich der einzige Freund bin, den sie in der Welt hat. Ueber den Verlust ihrer unbekannten Wohlthäterin, ergoß sich ihr Herz in die rührendsten Klagen. In einem ihrer lezten Briefe meldete sie mir den Tod ihrer Mutter, die an einer langwierigen und sehr schmerzhaften Krankheit starb, ohne das Schicksal ihrer 69 bejammernswürdigen Tochter durch den geringsten Theil ihrer Reichthümer zu verbessern.
Mit welch einem leichten Herzen, meine Freundin, mit welch einer hohen heitern Freude würde ich Ihnen am Schlusse meiner Erzählung sagen – Mariane hat ausgerungen.– Mariane ist todt. Allein, Mariane lebt noch, wenigstens lebte sie noch im Jenner dieses Jahres.1793.
Eines der besten menschlichen Geschöpfe, das von dem ersten Augenblicke seiner Entstehung an dis auf diese Stunde, das ist, bis über die Helfte seiner irrdischen Laufbahn ein unschuldiges Schlachtopfer des Vorurtheils und der Grausamkeit war, dem selbst ein augenblicklicher Stillstand seiner Leiden seine nachherigen Qualen noch schrecklicher machen mußte, und das bis auf den lezten Hauch seines Erdenlebens keine Erleichterung seines Elendes voraus sieht, ein solches Geschöpf, zumal, wenn es wie Mariane, mit dem reinsten Herzen zugleich das zarteste Gefühl, die größte Empfänglichkeit für jeden physischen und moralischen Schmerz verbindet, ist für mich die lauterste, die überzeugendste Predigerin der Unsterblichkeit. Mariane muß in einer bessern Welt entschädigt, 70 sie muß, wie Abraham von Lazarus sagt, getröstet werden, oder es ist kein Gott.
Keine Metaphysik, keine Sophismen, können mir diese Wahrheit untergraben, die ich als meine individuelle Ueberzeugung freylich niemanden aufdringen will, aber doch Ihnen, meine edle Freundin, mittheilen darf, weil ich weiß, daß auch Sie das Gefühl unserer Unsterblichkeit weder für frommen Aberglauben noch für ein eitles Compliment halten, das unser Eigendünkel sich macht. Würden wir wohl ohne diese Harmonie unserer Empfindungen einander das geworden seyn, was wir uns sind, würden wir wohl in unserer Freundschaft unsere Glückseligkeit finden, wenn wir ihr nicht eine ewige Dauer versprechen könnten?
Mariane hat überwunden, meine theure Freundinn! aber erst nach einem langen, martervollen Kampfe. Ihre Leiden nahmen mit jedem Jahre zu. Im Jahr 1794 besuchte sie C. auf seiner Reise nach M. Er fand sie abgezehrt, gebückt, einem Schatten ähnlich. Ihr Gedächtniß war so sehr geschwächt, daß sie sich meiner nur noch dunkel zu erinnern wußte. Diesem Umstande noch mehr als dem Kriege, wovon Marianens Vaterland mehrmals der Schauplatz war, schreibe ich es zu, daß ich in den letzten Jahren keine Briefe 71 mehr von ihr erhielt. Ich erfuhr aber von Zeit zu Zeit, daß sie noch lebe. Sie hat ihr trauriges Daseyn mit in das neue Jahrhundert herüber gebracht. Sie starb im Frühling 1801.
Friede sey mit ihrer Asche.
1809.