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Ich liege jetzt stundenlang im Walde und träume mich völlig in sein reiches Leben hinein. Oft blicke ich verwundert auf, wenn mein Ohr einen fremden menschlichen Laut auffängt, dessen Sinn, mir zwar verständlich, meinem Denken so seltsam artfremd vorkommt, so, als hätte kein Mensch gesprochen, sondern ein anderes Lebewesen, oder auch, wenn mein Mund unwillkürlich Worte zu einem Liede formt und meine Seele dann aufstaunt über die Gabe meines Körpers, sprechen zu können.
Sonderbar, ich habe geglaubt, steif und fest, eine Tanne zu sein. Die Hände betasten zweifelnd die Formen meines Leibes; ich beschaue mich in dem klaren Spiegel eines vorbeispielenden Baches, rufe: Hallo! Hallo und horche gespannt auf jeden Ton, der von außen in meine grüne Einsamkeit fällt. Es ist kein Fleckchen Zweifel mehr in mir. Ja, ich bin ein Mensch!
Die Moosdecke umsamtet aufs neue meine sich behaglich ausstreckenden Glieder, meine Blicke springen zurück in das zärtlich verschlungene Äste- und Blättergewirr oberhalb meines Kopfes, das trotz seiner Nähe und niederen Wölbung etwas von der Unendlichkeit eines stahlblauen Morgenhimmels hat. Das macht wohl die ewige leise Bewegung der zahllosen Blätter. In diesem lebendigen Dome, an dem die Ornamente sachte hin und her schwingende Wesen sind, flattern meine Augen gleich den lustigen Finken, Meisen, Grasmücken und Hänflingen selig herum. Mein Geist folgt ihnen nach und fängt wunderliche Gedanken ein, über deren Absonderlichkeit ich früher herzlich gelacht hätte, dieweil sie mir nun als sehr vernünftig und wirklich vorkommen.
So wächst auf einmal in mir die Vorstellung auf, einmal vor undenklichen Zeiten ein Baum gewesen zu sein, eine starke, langmächtige Eiche, die alle anderen Bäume überragte, mit ihrem Wipfel immerfort in Sonne und Sterne gucken durfte und alles Ferne und Niedere erschauen.
Mir kommt es vor, als wäre der schwellende, fruchtbare Boden unter mir durch tausend unsichtbare Wurzelstränge mit meinem Leibe verbunden, der durch sie eine in Millionen Jahren aufgespeicherte Kraft in seine schlaffen Muskeln und müden Sinne herüberströmen fühlt und sich – herausgerissen aus der Schwäche seiner verbildeten, kulturgeschwächten Menschheit – in dem Besitz neuer, ungeahnter Lebensenergien sieht, mit denen er noch einmal so höhenstolz aufzustreben meint, um so wie einst als Baum der Sonne wieder in die heilige Glut sehen zu können. Ein Erinnern, das durch die nächtige Vergangenheit vieler Tausender Jahre wandern muß, löst in mir ein eigenartiges, bis jetzt noch nie gefühltes Wohlbefinden aus und hüllt mich in eine gesunde Müdigkeit ein.
Meine Augen haben sich fest geschlossen, leben aber das bewußte Dasein der sehenden, atmenden und fühlenden Blüten einer lieblichen Wiesenblume; sie trinken Sonne und Luft und machen die kleine, unscheinbare Blume unendlich glücklich, die nichts anderes zu tun hat, als sanft in dem linden Sommerhauch, der aus dem Walde über die Wiese streicht, hin und her zu schaukeln. Dabei berührt sie bei jeder anmutigen Neigung des Köpfchens nach rechts in ihrem Schaukeltanz den prachtvoll blauen Scheitel eines Schwesterchens.
Der wunderbar feintönige Glöckchenschall von Küssen schwebt über die Wiese. Die stutzerhaften Heuschrecken fangen schrill meckernd zu lachen an, die Grillen berechnen mit scharfsinniger Logik: Wenn sich zwei küssen, muß Glück oder Freude vorhanden sein, und wo diese sind, darf die schöne Musik nicht fehlen; ergo greifen sie hurtig zu ihren zierlichen Violinen, rufen den Bienen und Hummeln zu, ihre Violas und Baßgeigen bereit zu halten, und eins, zwei, drei umjauchzt ein festlicher Brautwalzer die sich immer und immer wieder innig küssenden Blumen inmitten des Rispentanzes der Wiese.
»Kui, kiu, kiu, kui!« Auffahrend aus meinem holden Dahinträumen reiße ich erschreckt die Augen auf. Die füllen sich mit mattgetöntem grünen Waldlicht. In seinem milden Geleuchte erspähe ich den Störenfried, einen Nußhäher, den Papageistrolch des deutschen Waldes, der mir aus der Sicherheit einer Laubnische sein arglos spottlustiges »Kiu kni« in die Ohren schreit.
Ich lächle vor mich hin. Schon wieder geträumt? Und ich wundere mich über die plastische Gestaltungskraft meines doch anscheinend während des Schlummers untätig gewesenen Gehirns.
Wie war doch dieser Blumentraum nach allen Gesetzen der Naturwissenschaft erlebt worden! Alles Fühlen in mir war dem Leben einer Wiesenblume angepaßt gewesen. Die psychischen und physischen Daseinsäußerungen der Grillen, Heuschrecken, Bienen und Hummeln waren mir als etwas Selbstverständliches, mir schon lange Vertrautes vorgekommen.
War es dennoch – trotz allem spöttischen Gelächter der großen Masse und dem mitleidigen Achselzucken der Gelehrten aller Richtungen – wahr, was ein kühner, als Narr verschriener Philosoph und Dichterdenker behauptete:
Unser Traum und transzendentales Wesen ist die eigentliche gelebte Wirklichkeit. Was wir so unter unserem sogenannten materiellen Dasein verstehen, ist nur das verzerrte Spiegelbild dieser Wirklichkeit, die unsere groben und niedrigen Instinkte nicht anerkennen wollen. Wir alle sind unerlöste Märchenprinzessinnen und Prinzen, die in dem furchtbaren Elend der Drachenhöhle »Zeit« schmachten und unablässig nach Befreiung wimmern, aber nicht den Mut haben, sich selbst die Freiheit der Ewigkeit zu erkämpfen. Unsere Augen sind blind, unsere Ohren taub, weil wir nur gewohnt sind, die äußere Form eines Dinges, seine einfachsten Naturlaute und Tätigkeiten wahrzunehmen. Uns ist es durch eigene Schuld, durch die Trägheit und den Hochmut unserer Art versagt worden, die Innerlichkeit aller Wesen und Gegenstände mit unseren Blicken zu erfassen, ihre geheimsten Lebensäußerungen zu erhorchen und für uns wertvoll zu machen.
Nur in sogenannten Träumen, Ekstasen und Verzückungen wird uns dieses so natürliche Wunder zuteil: aber in den meisten Fällen wird es von uns mit einem verschämten Lächeln des Mitleids abgetan oder mit einer blödsinnigen Furcht als Tabu behandelt.
Solange wir Menschen nicht helläugig und tiefhorchend werden, wie es das winzigste Käferchen und Blütenblatt ist, wird es uns unmöglich sein, trotz Flugmaschine und Riesenfernrohr das Letzte des Lebens, seine weise Harmonie zu erforschen. Alles Wühlen und Grübeln wird nur armselige Spekulation bleiben, die zuletzt keinen Hund hinterm Ofen hervorlockt.
Das mißtönende Geschrei der sich längst schon heiser geschrienen Anstaltsglocke, die zum Mittagessen ruft, weckt mich aus meinem Nachsinnen über das Neue, das mir Wald und Wiese ins Herz singen. Ich schaue verwirrt auf meine Zylinderuhr. Was? Drei Stunden liege ich schon hier? Nicht möglich! Mir ist es, als wäre es erst eine halbe Stunde. Die Glocke gellt noch einmal. Schrill beißt sich der scharfe Ton in mein Gehirn ein. Ich kenne es der alten eisernen Glockenhexe an, daß sie erzürnt ist, weil ich nicht sofort ihrem ersten Rufe folgte. Aber sie soll und mag nur weiterplärren. Heute will ich im Walde bleiben bis zum Abend. Ich habe etwas Brot und Fleisch bei mir, und unweit meines Ruheortes quillt klares Wasser, also genug, um mir das bißchen Hunger und Durst zu stillen. Zwar wird die Aufsichtsschwester mein Vermissen anzeigen, und es wird mir abends eine tüchtige Nase und Verwarnung vom Arzte eintragen, aber was liegt mir daran, wenn ich dem Menschengewühl bei der Fütterung einmal fern und in meinem lieben Walde bleiben kann, darin es sich so gut und wahr leben läßt.
Wie ich doch den Wald liebe!
Unersättlich bin ich nun in seinem Genießen. Die starke Liebe, die ich schon seit meiner frühesten Kindheit für ihn fühlte und viele, viele Jahre verborgen halten und zurückdrängen mußte, strömt jetzt ungehemmt aus mir und umarmt alle seine Geschöpfe, von denen mir jedes ein neues, seligmachendes Wunder kündet.
Lange, sehr lange Zeit durfte ich dich, mein Wald, nur von der Ferne sehen. Wie ein schüchtern Liebender das Kleid seiner stolzen Geliebten nur mit scheuer Sehnsucht berühren darf, so durfte ich deinen grünglänzenden Rand mit zitterndem Leibe nur streifen.
Als ich noch ein Kind war, ein kränkliches, bleichsüchtiges Bübchen, das jedes Jahr zehnmal überlegte, ob es nicht doch gescheiter wäre, den Tod für das Leben einzutauschen, da war es die Hand der besorgten Mutter, die mich vom Walde wegzog, in Ängsten, mir könnte sein kühler, erquickender Atem schaden. Oft und oft weinte ich bittere Tränen darüber, grollte tagelang der guten Mutter und vergrub meine Sehnsucht in die Märchenbücher, in denen mir zum Glück so viel vom Wald erzählt stand.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich in meiner ersten Schulzeit einmal unter der Leitung des Lehrers mit der ganzen Klasse in den Wald gehen durfte. Indes die anderen Knaben herumtollten und spielten, war ich all die Zeit in einem Gebüsch gelegen und hatte nichts getan, als immer nur die Sträucher, Bäume und Blumen angeschaut, um davon meine Augen recht viel heimbringen zu lassen. Damals hatte ich mir auch eine kleine grüne Eidechse gefangen. Die sperrte ich mir zu Hause in einen großen, selbstverfertigten Käfig. Ward es mir recht traurig zumute und wollte mir die Sehnsucht nach dem Walde allzu stark werden, so stieg ich heimlich mit meinem Eidechschen auf den hohen Dachboden, von dessen Luke aus ich die fernen Waldberge sehen konnte; und droben plauderte ich dann mit dem kleinen Tiere von seiner Heimat, die ich so liebte.
Bei der Gesangsstunde in der Schule summte ich meistens wegen meiner schwachen Brust, die mich bei der geringsten andauernden Anstrengung zu schmerzen anfing, nur leise die Melodie mit; als aber einmal das herrliche Lied von Eichendorff-Mendelssohn-Bartholdy: »Wer hat dich, du schöner Wald …« geübt wurde, sang ich jedes Wort mit heller Stimme inbrünstig wie ein Gotteslied durch das Klassenzimmer, daß der Lehrer seine Violine senkte und verwundert aufhorchte und zu mir herübersah, der ich wie ein verzückter Chorknabe dastand, keine Schmerzen spürte und der Meinung war, ich wandere durch den grünen Säulensaal der Bäume.
Und wie schon alles, was mit dem Begriff Wald zusammenhängt, dem Kinde seine Schmerzen nahm, so gab später der bloße Anblick des Waldes dem hart mit dem Leben kämpfenden Jüngling und Mann gar oft die verlorene Ruhe und Zuversicht, die magere Daseinsfreude auf ein Stündlein wieder und löste von seiner Seele das fesselnde Band der Trostlosigkeit und lebenvergiftenden Weltverachtung.
Freilich, auch dem Erwachsenen war es versagt geblieben, seine Sehnsucht nach dem grünen Blättermeer voll zu stillen. Seine Liebe zum Walde mußte vielmals unterdrückt und eingekerkert werden. Ich war Großstadtarbeiter geworden, und was weiß ein solch sonn- und wanderarmer Proletarier von den Wäldern?
Ein Waldparadies ist die frauenschöne und süße Umgebung Wiens, und der äußerste Häuserring dieser Stadt muß um jede Straßenverlängerung mit Baum und Strauch kämpfen. Von jedem Fenster, das seine Schau nicht in schmutzige Hofschachte senden muß, sondern straßenweit richten kann, kann man hier das Weingelände, das Winken und Locken von Millionen Bäumen erschauen; aber gerade dieses Winken und Locken darf der Arbeiter nicht sehen, es geht ihn nichts an, für ihn rauschen diese Wälder nicht, wachsen nicht diese Rebstöcke, blühen nicht diese weiten Wiesen, er hat die Fabrik zu kennen, nur die Fabrik, nicht das Rauschen der Blätter, nur das Sausen der Schwungräder, nicht den Gesang der Vögel, nur das Schwirren der Transmissionen. Hier im Gestank des Öles, im Gebrüll eiserner Mächte ohne Herz und Schönheit muß er sein Menschendasein verbringen, und draußen in naher Ferne, wartet der Wald, wartet immerzu auf ihn, dem er so gern ein lieber Bruder sein möchte und der ihn wohl am besten verstehen und schätzen würde.
Zu nahe steht mir noch die Zeit meiner tiefsten menschlichen Erniedrigung, zu fest ist mir das Brandmal der Qual vieler Jahre eingeprägt, als daß jede Erinnerung daran in mir erloschen wäre. Mit Schaudern denke ich noch immer an diesen Sklavendienst zurück, aus dem ich wie durch ein Wunder mein besseres Ich gerettet habe, und mit unaussprechlicher Dankbarkeit gedenke ich dabei des Waldes, der mir bei dieser Rettung mit seiner grünen Kraft aus der Ferne geholfen hat.
Ging ich des Morgens mit zagen Schritten und trüben Auges in die Fabrik, so reckte ich mein Haupt und blickte immer noch, ehe mich das schwarze Riesentor verschlang, über die Häuser hinweg zu den Bergen hin, auf deren Rücken die Wälder grüßend standen. Ich nahm das frohe Bild mit hinein in den öldurchdunsteten grauen Maschinensaal. Meine Glieder, Augen und Ohren taten mechanisch ihr schweres Werk, aber meine Seele lag indes zwischen Tannen, Eichen und Buchen und spielte mit Eichkätzchen.
Spie mich des Abends das graue Fabrikstor müde, zerkaut und zerschunden aus, so brauchte ich wieder nur einen Blick zu meinem Walde zu machen, um frisch und lebendig an Geist und Körper zu werden.
War ich an Sonntagen noch so müde vom harten Wochenschaffen, meinen Wald mußte ich besuchen gehen und ihm Dank bringen für seine trostbereite Kameradschaft. Dann lag ich unter einem seiner Bäume und träumte mich reich und mächtig.
Eines aber war in solchen schönen Stunden immer noch, was mich nicht vollends glücklich sein ließ. Ich fühlte mich so einsam, ich hatte noch nicht die Seele des Waldes gefunden. Nun aber, da die Liebe zu Elisabeth mir neues Hören und Sehen schenkte, nun habe ich dich ganz, du lieber, herrlicher Wald!
Lange Stunden, viele Tage hindurch darf ich nun bei dir sein, in deine weisheittiefen Augen schauen, deinen kräftigen Atem einsaugen und deine große bebende Stimme hören. Hätte ich dich früher so gehabt, ich wäre nicht krank und kein Zweifler an den Menschen und der Erde geworden. Nun das letztere bin ich nicht mehr, und wegen der Krankheit will ich nicht klagen, sondern eher nur danken, daß sie mir Elisabeth und dich gegeben, dich, an dessen Herzen ich nun liege mit einer Seele, die voll Verstehen und Liebe ist.