Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

1.

Ich nannte sie Elisabeth.

Sie hieß eigentlich nicht so, aber als mir das erstemal ihr Bild in mein Schauen fiel, gab ich ihr unwillkürlich diesen heiligen Namen, der so ganz nach deutschem Wald, blühenden Wiesen und fröhlichem Abendfrieden tönt. Und sie trat auch späterhin mit Rosen und dem Brote, das die Seele nährt und stark macht, in mein bis dahin armes, hungerndes Leben, so wie einst die thüringische Sankta Elisabeth in den Kreis der Dorfarmen wie ein Licht trat.

Doch warum diese Worte? Hat jemand von euch, die ihr die Augen in diese Blätter senkt, danach gefragt? Vielleicht, daß ich mir diese Frage nur vortäuschte, in der alten feigen, knechtischen menschlichen Gewohnheit, jede Tat mit einer Entschuldigung ins Dasein zu stellen. Nun will ich aber einmal kühn sein und gleich im Anfang dieses Buches sagen:

Ihr sollt an keiner Stelle der folgenden Aufzeichnungen irgend eine Frage an mich oder an das Buch richten, denn wir beide werden nicht eine davon beantworten können. Dabei möchte ich euch auch noch um eins bitten:

Legt dieses Buch mit dem gleichen innerlichen Lächeln des Verstehens aus den Händen, mit dem Lächeln der ausgleichenden, harmonischen Ruhe, mit dem ich es niedergeschrieben und das über allem schwebt, was an echtem und gutem Menschentum in diesen Blättern lebt und in mir weiterwirkt bis an das Ende meiner menschlichen Tage.

Ich sah Elisabeth das erstemal an dem Morgen eines der letzten Maitage des vergangenen Jahres. Es war auf der breiten Terrasse der großen Volksheilstätte für Lungenkranke, in der ich mich seit vier Wochen aufhielt, um von einem langwierigen Lungenleiden zu genesen.

Ich kann mich an alles noch sehr genau erinnern, so, als wenn es erst gestern gewesen wäre. Ich saß auf der grünen Bank unter einem der wundervoll blühenden Mangobäume, die ihre gesunde tropische Pracht an armselige kranke Nordländer verschenken und las gerade in dem deutschesten Buche Amerikas: Walden von Thoreau, da hörte ich Schritte, ein seltsamer Befehl des Herzens hieß mich aus meiner Lektüre aufschauen, und ich erblickte Elisabeth, die mit einigen anderen, mir vom Sehen aus bekannten Patienten an mir vorbeischritt. Von dem schweren, satten Grün des Rasens, von dem von Sonnengold überglänzten Weggürtel hob sich plastisch schön und sanft ihre Gestalt ab. Sie ging mit einem ruhigen Gleichmaß der Schritte vorüber, so daß meine entzückten Augen sie gut betrachten konnten.

Aber in dieser schicksalbauenden Minute des ersten Erschauens sah ich nur ihre Augen.

Diese waren groß und blau. Und ein Leuchten kam aus ihnen, das trug die weiche Klarheit und feste Milde eines sonnendurchjubelten Frühlingstages in sich.

Und dieses Leuchten flutete zu mir.

Meine Blicke tranken es, wie der Mund eines Sterbenden Wasser aus dem Gesundbrunnen trinkt – gierig und zugleich andächtig und voll von dem Fühlen der Nähe eines großen Begebnisses, das aus dem geheimnisvollen Dunkel der Ewigkeit herausgetreten war, um zeitlich zu werden.

In meinem Innern begann eine Glocke zu tönen, und eine Nachtigall sang – ja, eine richtige Nachtigall sang gerade in dieser Morgenminute ihr trunkenes Lied irgendwo in einem nahen Busch.

Noch immer sah ich diese Augen vor mir, trotzdem ihre Besitzerin längst verschwunden war. Ich hatte ihr nicht nachgesehen und mußte nur immer der Glocke in mir und der Nachtigall lauschen. Sie sangen beide sehr lange, Stunde um Stunde fort – den ganzen Tag.

Von diesem singenden Tag weiß ich noch, daß er voll prunkender Sonne war, so von früh bis in den späten Abend hinein; alles um mich herum, Menschen, Bäume und Gegenstände, stand in einem Glanz, wie ich ihn vordem nie erblickt hatte. Und immerzu hatten Glocke und Nachtigall gesungen.

Die Nacht, die diesem schönen Tage folgte, war für mich eine heilige, denn ich fühlte in mir alles gut, vergessen und ausgeglichen.

Der Mond regierte diese Nacht, deren Himmel eine einzige riesige, silberne Flamme schien.

Die Sterne blauten wie köstliche Blumen und sprühten Duft auf die Erde.

Als ich mich in dem todstillen Krankenschlafsaal, den ich mit zehn Leidensgefährten bewohnte, im Bett aufrichtete und zum breiten Fenster hinaussah, grüßte mich ein liebes, mir vertrautes Leuchten.

Der gelbe Mond und die blauen Sterne erglänzten wie die Augen des Mädchens vom Morgen des vergangenen Tages, das ich in dieser Nacht Elisabeth taufte.

Ob nicht in dieser Nacht die Sterne sangen?

Ich möchte es wohl glauben.

Ich lag ruhig und lächelte frohbewegt in die Dunkelheit des Saales und fragte nicht einmal, warum ich mich so glücklich fühlte.

Meine Hände lagen auf der schweren Filzdecke. Mir war es, als lägen sie auf weichem Frauenhaar.

Endlich war ich eingeschlafen und träumte, der Herrgott lehne in dieser Nacht an der Tür der Erde, um zu lauschen, ob seine Menschen glücklich seien.


 << zurück weiter >>