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Krieg mobil.

Wie einst zwischen Odins Adler und dem Drachen Nidhöggr das Eichhörnchen Ratatösker am Stamme der Weltesche auf und nieder springend Zankworte hin und her trug, den nimmermüden Streit zwischen den Kämpfern des Lichtes und den dunklen Mächten immer aufs neue entfachend, so weckte der elektrische Funke jetzt den Drachen der Zwietracht aus seinem Schlummer. An allen Kontaktpunkten, da wo die Midgardschlange der modernen Welt, die alle Länder umschlingt, ihren Rachen öffnet und ihre blanken Zähne bleckt, leuchtete jetzt der kleine, grüne Funke des Unheils auf. In der Abendstunde des 19. März rasselten an allen Apparaten die elektrischen Glocken, tönte das ratternde Geräusch des Morsetelegraphen, ein kurzer Streifen weißen Papieres erschien mit den inhaltschweren Worten: Krieg mobil.

Auf allen Redaktionen tönten in später Abendstunde die Telephonklingeln: Extrablattmeldung aus Berlin, und mit zitternden Federzügen entstanden auf dem Papier die wenigen Zeilen, die 60 Millionen die Kunde zutragen sollten, daß der Kaiser die Mobilisierung der Land- und Seemacht befohlen habe.

Noch war man außer stande, die ganze Wucht dieses Ereignisses zu erfassen und schon lag das weiße Blatt am Rande des Setzerkastens, die bleiernen Lettern fügten sich aneinander, und hinein gingen diese kurzen Metallstreifen in die Maschine, die mit sausendem Schwunge diesen unscheinbaren Bissen erfaßte und herumwirbelte. Und heraus flatterten die weißen, gedruckten Papierfetzen, von Dutzenden geschäftiger Hände erfaßt, die sie hinaustrugen auf die Straße, wo sie den Strom des Lebens plötzlich zum Stillstand brachten.

Krieg mobil! – Die Extrablätter klebten bereits an allen Straßenecken und an allen Schaufenstern, wo sich die Menge vor ihnen staute und wo man mit starren Augen immer wieder die wenigen Worte las, daß der Kaiser sein Volk rufe.

Als erster Tag der Mobilmachung galt der 20. März. Das ganze friedliche Leben des Volkes stand still. Der Arbeiter legte sein Werkzeug nieder und ging heim. In allen Schreibstuben und Kontoren ward es leer und in der stillen Arbeitsklause des Gelehrten hatte die Feder Ruhe. Des Kaisers Ruf war durch das Land gegangen und man bestellte sein Haus, um morgen hinauszuziehen auf die Sammelplätze, auf die Kasernenhöfe, um sich dort als wehrhafter Mann einzureihen und des Befehles zu harren, der das Volk in Waffen an die Grenzen führen sollte.

Die Grenzkorps waren so gut wie mobil und standen nach 24 Stunden, am Abend des 20. März, bereits in klirrender Rüstung da, bereit, dem Angriff des Feindes zu begegnen. Auf allen Bahnstationen des Reiches aber begannen bereits am Mittag und Abend des 20. März die ersten Truppentransporte. Es war fast überall das gleiche Bild. Eine kurze Ansprache der Truppenführer auf dem Kasernenhofe, die mit einem Hurra auf den obersten Kriegsherrn schloß. Dann: Still gestanden! … Bataillon marsch! … Die Musik setzte ein und hinaus ging's auf die Straße, wo die Truppe von einer dicht gedrängten Menschenmenge mit lauten Rufen empfangen wurde. Die flotten Armeemärsche entfachten schnell eine patriotische Stimmung, die Straßenjugend ließ es sich nicht nehmen, jedes Bataillon bis zum Bahnhof zu geleiten, und man sah darüber hinweg, daß die Ordnung im Glied nicht so streng aufrecht erhalten wurde, wenn Mütter und Bräute sich an die Reihen der marschierenden Leute herandrängten, um noch einen letzten Händedruck zu erhaschen. Auf den Bahnhöfen hatte die Bevölkerung dafür gesorgt, daß den Truppen noch ein letzter Trunk und eine letzte Liebesgabe gereicht wurde.

Einsteigen! hieß es dann, noch ein Kuß, eine Umarmung, hinein dann in die Wagen, die auf Tage hinaus oft das Heim der Ausziehenden bilden sollten. Immer wieder reichte man sich die Hände durch die Fenster, dann ein schriller Pfiff der Lokomotive, ein brausender Hurraruf der Menge und unter Tücherschwenken ging es fort, immer weiter und immer schneller, bis der Zug den Blicken der Zurückgebliebenen entschwand. Es war ganz wie anno 70, nur daß man damals, verwöhnt durch die Erfolge von 64 und 66, mit dem sicheren Gefühl des Erfolges ins Feld zog, während jetzt die Ungewißheit über die Zahl und Stärke der Gegner das freudige Siegesgefühl und die nationale Begeisterung etwas dämpfte.

Daheim saß man wieder zwischen den leeren Wänden und zergrübelte sich den Kopf über das, was werden mochte, während die, die jetzt der Grenze zueilten, doch wenigstens der Gefahr frisch und klar ins Auge sehen konnten. Man ließ die Arbeit ruhen, die Erschütterung für das gesamte wirtschaftliche Leben war zu groß, als daß man gleichmütig wieder zum Werkzeug der täglichen Arbeit greifen konnte. Man hatte das Bedürfnis sich mitzuteilen und auszusprechen, trieb sich planlos auf den Gassen herum, schloß sich jeder marschierenden Soldatenabteilung ohne weiteres an und kehrte dann immer wieder dahin zurück, wo die neuesten Extrablätter ausgegeben wurden.

Was man aus ihnen erfuhr, war jedoch wenig genug, denn durch die Erfahrungen des russisch-japanischen Krieges und auch des Burenkrieges gewitzigt, hatte die deutsche Regierung auch ihrerseits eine scharfe Depeschenzensur für alles, was im Inlande vorging und auch nur im entferntesten mit der Mobilmachung zusammenhing, eingeführt. So erfuhr das Volk eigentlich nur das, was es mit Augen sah, und selbst die entsprechenden Vorgänge in den benachbarten Städten wurden erst tagelang nachher bekannt. Denn wenn auch der Feind darüber unterrichtet war, daß die Mobilisierung beschlossen war und ausgeführt wurde, so lag doch ein hinreichender Grund vor, alle Nachrichten über die Abfahrt von Truppenkörpern, über alle Bahntransporte und ihre Richtung, vorläufig zu unterdrücken, damit der Feind keinen Anhalt dafür hatte, welche Truppen und wohin sie bereits unterwegs waren.

Der Reichskanzler hatte sofort dafür gesorgt, daß gleichzeitig mit dem Telegramm, welches die Mobilmachung bekannt gab, an sämtliche Telegraphenstationen und an sämtliche Zeitungen eine Mitteilung ergangen war, des Inhaltes: Er müsse darum ersuchen, alles, was sich auf die Truppenmobilisierung beziehe, mit der größten Diskretion zu behandeln, und auch die Berichte über Vorgänge in der eigenen Stadt so abzufassen, daß die Richtung der Eisenbahntransporte und ihre Stärke, sowie die Namen der Truppenführer nicht genannt würden. Er ersuche die Redaktionen, diesem Wunsche Folge zu leisten in der Erwägung, daß dem Feinde durch eine allzu reichliche Berichterstattung leicht wertvolles Material zugehen könnte. Er habe dafür gesorgt, daß der Verkauf von Zeitungen und ihre Versendung durch die Post an der Landesgrenze überall sistiert würde. Er bäte aber auch seinerseits, seinem Wunsche Folge zu leisten, damit nicht durch irgendwelche Indiskretionen Preßmeldungen über die Grenze gelangen könnten. Er hatte diese amtliche Mitteilung auch an die sozialdemokratische Presse gerichtet und dabei erwähnt, daß er von jedem deutschen Blatte, einerlei, welcher Parteirichtung es angehöre, erwarte, daß es dieser Regierungsverfügung Folge leiste. Er bäte, die Leser davon zu unterrichten, daß sie vorläufig über die Truppentransporte und den Aufmarsch der Armeen nichts erfahren könnten und sie darauf hinzuweisen, daß dies im Interesse der militärischen Verteidigung geschehe. Er werde jedoch dafür sorgen, daß alles Wissenswerte über die Vorgänge auf dem voraussichtlichen Kriegsschauplatze der Presse rechtzeitig zugehe; dagegen, habe er die lokalen Polizeiverwaltungen damit beauftragt, darauf zu achten, daß seine Anordnungen über den Nachrichtendienst aufs Genaueste befolgt würden; er hoffe, daß es nicht nötig sein werde, von Zwangsmaßregeln Gebrauch zu machen.

Diese Verfügung des Reichskanzlers über eine freiwillige Preßzensur im militärischen Interesse wurde bekanntlich von allen Zeitungen aufs Gewissenhafteste befolgt, so daß ein Eingreifen der Behörden nirgends nötig wurde.

Antwerpen von den Engländern besetzt.

Das Nachrichtenmaterial aus dem Auslande war mehr als dürftig, aber immerhin drang einiges auf Umwegen über die Grenze. So hieß es, die englische Flotte sei vor Antwerpen erschienen und habe die Festung, ohne Widerstand zu finden, besetzt. Diese Meldung, die über Amsterdam einlief und mehrfach von anderen Orten bestätigt wurde, gab verschiedenen liberalen Blättern Anlaß, sich in langen, theoretischen Artikeln über die Neutralitätsfrage an sich und insbesondere Belgiens Neutralität zu verbreiten. Diese Schreibtischpolitiker konnten sich auch jetzt noch immer nicht zu der Erkenntnis aufraffen, daß die Flut eines Krieges nicht vor papiernen Wänden Halt macht, sondern schonungslos über alle Verträge über Neutralität und derlei schöne Sachen hinwegrauscht. Es konnte kaum noch einem Zweifel unterliegen, daß sich England in Antwerpen eine Operationsbasis für den Landfeldzug gesichert hatte, gewissermaßen einen festländischen Brückenkopf für Truppentransporte. Welche Stellung die belgische Regierung dazu einnahm, war nicht zu ersehen, bis unser Gesandter am 21. März mittags in Aachen eintraf und der Berliner Regierung mitteilte, man habe ihm in Brüssel einfach seine Pässe zugestellt, mit dem Ersuchen, das Land zu verlassen; somit stand auch Belgien in der Reihe der Gegner, es war von Frankreich und England vor die Frage gestellt worden, freiwillig oder unfreiwillig seine Grenzen den einmarschierenden Truppen zu öffnen.

Die Stellung der Niederlande.

Durch die Okkupierung oder den Anschluß Belgiens an die Verbündeten – Genaueres war am 20. März noch nicht darüber bekannt – waren die Niederlande in eine sehr prekäre Lage versetzt worden. Sie hingen gewissermaßen zwischen den Kriegführenden in der Luft. Außer stande durch ihre kleine Armee, die Landesgrenzen zu verteidigen und den Volksheeren der großen Nachbarreiche somit widerstandslos preisgegeben, schwankte die niederländische Regierung zwischen einem Versuch, ihre Neutralität zu bewahren und der Entscheidung, zu welcher von beiden Parteien sie sich schlagen sollte. Folgte man Englands Fahnen, so konnte man vielleicht hoffen, den ostindischen Kolonialbesitz aus dem Trümmersturz zu retten. Schloß man sich dem deutschen Nachbar an, so bestand eine Möglichkeit, daß Deutschland auch die niederländische Grenze schützte. Andererseits war dann die kleine niederländische Flotte in Gefahr, von den Engländern ohne weiteres überrannt zu werden, wodurch dann auch die Seestädte in die Gewalt der Engländer fielen. Wohl war man sich im Haag jetzt über die Versäumnisse der letzten Jahre klar, als man die Hände, die sich von Osten hilfreich darboten, immer wieder eigensinnig zurückwies und durch das Beharren auf einer mißtrauischen, chauvinistischen Politik glaubte, die Rolle einer politischen Macht spielen zu können. Jetzt fielen die Entscheidungen, ohne daß man im Haag eine Möglichkeit hatte, sie irgendwie beeinflussen zu können. Man ging über das Bestehen des niederländischen Staates einfach zur Tagesordnung über. Holland hatte dasselbe Geschick, wie das benachbarte Belgien, und ohne daß weitere Schritte von der Regierung – das Ministerium hielt zwar dauernd Sitzungen ab, wurde aber schließlich von den Ereignissen überrascht – ergriffen wurden, ohne daß überhaupt ein diplomatisches Aktenstück mit dem Auslande gewechselt wurde, hatte sich das Schicksal des Staates bereits erfüllt. Noch ehe ein sentimentaler Protest der Niederlande in London eintraf, waren die Engländer bereits vor Vlissingen erschienen und im südlichen Teile des Landes standen bereits deutsche Truppen auf niederländischem Boden. Daß man jetzt das tat, was man rechtzeitig hätte vorbereiten sollen, hatte kaum noch einen Wert; der Anschluß der Niederlande an Deutschland verstärkte die Wehrkraft des Reiches nur um die völlig unvorbereitete, kleine niederländische Armee und einige Küstenpanzerschiffe, die nicht einmal mehr die deutschen Häfen erreichten, sondern auf der Höhe von Texel von einem Detachement der englischen Flotte nach einem halbstündigen Kampfe abgetan wurden. Der Rest der niederländischen Marine wurde in den Kriegshäfen einfach von den Engländern abgewürgt. Der englische Admiral rüstete diese Fahrzeuge noch auf den niederländischen Werften mit den dortigen Beständen aus und reihte sie dann dem englischen Reservegeschwader ein.

Anfang April erschienen vor Batavia einige englische Schiffe. Das Gefecht auf der Reede endete mit der Vernichtung der geringen niederländischen Streitkräfte. Nach Verlust zweier kleiner Kreuzer besetzten die Engländer Batavia und machten die Stadt zu einer englischen Flottenbasis. Die Gefechte der (von Hongkong aus) gelandeten englischen Truppen mit der niederländischen Kolonialarmee dauerten bekanntlich noch einige Monate, dann aber zogen die Niederländer es vor, eingeengt zwischen einem europäischen Feind und den grausamen Banden der eingeborenen Volksstämme, zu kapitulieren, um ihr Leben nicht nutzlos an eine verlorene Sache zu setzen. Im Mai existierten niederländische Kolonien nicht mehr und das kleine Mutterland ward mit zum Schauplatz der Kämpfe, die hier, auf dem Grenzgebiet zwischen West und Ost, die friedlichen Bewohner furchtbar in Mitleidenschaft zogen. Über dem Grabe der niederländischen Selbständigkeit aber prangte die Inschrift: »Eine versäumte Gelegenheit«.

Alarmierende Nachrichten.

Am Abend des 20. März waren überall an der westlichen Grenze vom Dollartbusen an bis hinunter nach Lörrach, alle Stationen der Grenzpolizei bereits von militärischen Kommandos besetzt. Der gesamte Grenzverkehr hatte schon um die Mittagsstunde völlig aufgehört. Wer sich von den eintreffenden Reisenden nicht als Reichsangehöriger ausweisen konnte, wurde zurückgeschickt, und andererseits ließ man niemand, auch keinen Fremden mehr von diesseits über die Grenze, schon um Indiskretionen von seiten Privatpersonen hinsichtlich der Mobilmachung zu verhindern.

Besonders in den Hafenstädten, wo die Nachrichten aus aller Welt bis dahin zusammengeflossen waren, empfand man das plötzliche Abschnappen der Kabelmeldungen als störend. Man war von der Außenwelt völlig abgeschnitten, und wenn man auch das gewöhnliche Depeschenmaterial, soweit es sich auf politische Vorgänge bezog, nicht gerade sehr entbehrte, so erzeugte doch das Ausbleiben der Meldungen über den Schiffsverkehr im Auslande große Beunruhigung. Nach dem Stand der Meldungen vom 18. März wußten die Dampfergesellschaften und Reedereien der Seestädte zwar, wo sich an diesem Tage ihre Schiffe befunden hatten, man war jedoch jetzt völlig außer stande, zu kontrollieren, was aus diesen schwimmenden Millionen des Nationalvermögens geworden war. Die Vorkehrungen zur Sicherheit, die man treffen konnte, waren verschwindend gering. Man hielt alle auslaufenden Schiffe zurück und schickte sie von Bremerhaven und Cuxhaven usw. wieder stromaufwärts, um sie von dem Schauplatz voraussichtlicher baldiger Kämpfe zu entfernen. Das war aber auch alles, was sich anordnen ließ. Der Verkehr nach den Nordseeinseln und die Küstenschiffahrt wurden sofort eingestellt. Der Hamburger und Bremer Senat hatte in Berlin angefragt, wie man sich gegenüber den in den Häfen liegenden englischen und französischen Schiffen verhalten sollte. Einige englische Dampfer hatten ohne weiteres den Hafen bereits verlassen ohne Rücksicht darauf, ob sie Ladung oder Löschung bereits beendet hatten.

Von Berlin aus kam die Anweisung, alle französischen und englischen Schiffe einstweilen im Hafen zurückzuhalten und weitere Anordnungen abzuwarten. Man beabsichtige dieses Schiffsmaterial als ein Pfandobjekt zu benutzen, falls die fremden Regierungen deutsches Privateigentum zur See aufbringen sollten. Eine entsprechende Note sei dem abreisenden englischen und französischen Botschafter vor ihrer Abfahrt aus Berlin zugestellt worden, mit der Bemerkung, daß die deutsche Regierung gesonnen sei, sich in dieser Frage nach dem Verhalten der fremden Regierungen zu richten. Man blieb hierüber nicht lange im unklaren.

Selbst wenn man den zahlreichen Meldungen, daß deutsche Dampfer und Segelschiffe auf der Nordsee und im Kanal, sowie an der englischen Küste bereits von englischen Kreuzern und Torpedobooten aufgebracht sein sollten, einstweilen keinen Glauben beimessen wollte, so lag doch andererseits von Amsterdam aus schon die Meldung vor, daß der Dampfer »Gretchen Bohlen«, sowie der Dampfer der Deutsch-Ostafrikalinie »Bundesrat« (Durbaner Andenkens) sofort nach dem Verlassen des Hafens von Rotterdam von einem englischen Kriegsfahrzeuge aufgebracht waren. Ferner wurde gemeldet, daß der Norddeutsche Lloyd-Dampfer »Kronprinz Wilhelm«, auf der Rückfahrt von New York, auf der Höhe von Dover angehalten und in den Hafen geschleppt worden sei. Es wurde auch noch von mehreren Schiffen berichtet; so sollten auf der Höhe von Texel der Touristendampfer »Therapia« von der Levantelinie und mehrere kleine Hamburger und Bremer Dampfer von einem großen englischen Kreuzer gekapert worden sein. Alle diese Nachrichten wirkten sehr alarmierend, und an der Börse von Hamburg herrschte große Aufregung. Dazu kamen noch andere Meldungen, so hieß es, die englische Flotte liege bereits auf der Höhe von Norderney. Dann wurde aus Frederikshavn (Nordküste Jütlands) gemeldet, eine schwimmende Batterie ohne Landesflagge habe in einer Entfernung von vier Seemeilen südlich steuernd die jütische Ostküste passiert. Ein in Esbjerg eingetroffener dänischer Fischdampfer wollte ferner unweit der Doggersbank ein englisches Geschwader manöverierend und nach Osten steuernd angetroffen haben; diese Meldung war bereits drei Tage alt. Schließlich wollte ein in Cuxhaven am Mittag des 19. aus Hull angekommener schwedischer Dampfer auf der Reede von Hull und im Hafen nicht weniger als 30 große Passagierdampfer gesehen haben. Es war dem Dampfer, ohne Hull anzulaufen, gelungen, beim Anbruch der Nacht heimlich davonzukommen. So verging der 20. März.

Die Reede von Cuxhaven und die Elbmündung war völlig verlassen, nur nahe am Ufer waren noch einige Fischerboote von Finkenwärder und Blankenese verankert, die sich nicht getraut hatten, gewarnt von der Hafenbehörde, draußen ihrem Fang nachzugehen. In dem kleinen Hafen lagen zwei Dampfer der Nordseelinie, die ihre regelmäßigen Fahrten nach Helgoland usw. bereits eingestellt hatten. Draußen auf der Reede sah man den Lotsendampfer »Kapitän Karpfanger« langsam in die Elbmündung zurückdampfen. Er hatte im Schlepp die drei Feuerschiffe, die auf Anordnung der Marinebehörde eingezogen wurden. Zwei andere Dampfer, darunter ein weißgestrichenes Marineboot, sah man draußen die Seezeichen einsammeln. Mitten im Fahrwasser lag der »Pelikan« von der Kaiserlichen Marine, von Booten umschwärmt, und weiter stromabwärts sah man mehrere Minenleger, die der Hamburger so drastisch Eierleger nennt, das Fahrwasser bereits mit einer Minensperre versehen. Zu demselben Zwecke wurden einige Fischdampfer und Torpedoboote verwendet. In den Batterien von Kugelbaake und Grimmerhörn herrschte reges Leben, und von den Kasernen tönten Signale herüber. Die Küstenbahn hatte ihren Betrieb eingeschränkt und war ausschließlich für Militärtransporte zur Verfügung gestellt worden.

Was landeinwärts von Cuxhaven vorging, davon wurden unberufene Augen durch eine doppelte Postenlinie ferngehalten; das eine war klar, daß dort hinten etwas vorging, aber die vielen morgens nach Cuxhaven gefahrenen Hamburger waren infolge der strengen Absperrung nicht in der Lage, ihre Neugierde zu befriedigen. Sie hielten sich dafür schadlos, indem sie vor den beiden Batterien, deren gewaltige Rohre zwischen den Erdtraversen hervorschauten, auf der Strandpromenade auf und ab patrouillierten, die Möglichkeiten eines feindlichen Angriffes erwägend. Mittags liefen zwei Torpedodivisionen aus Cuxhaven aus. Von der Flotte sah man sonst weiter nichts, es hieß nur, in Brunsbüttel werde die Durchfahrt mehrerer Schiffe erwartet. Der Kanal war seit morgens um 6 Uhr für jedes Handelsschiff gesperrt. So verging der 20. März, ohne daß man über den Fortgang der Ereignisse etwas Positives erfuhr, unter größter Spannung. Der Transport von Marinekommandos und ihre Verteilung auf die einzelnen Befestigungen an der Elbmündung entzog sich der Beobachtung, da über alle diese Transporte nichts in der Presse mitgeteilt wurde, der Dienst auf der Küstenbahn sich unter einer strengen Aufsicht vollzog und von lokalen Ereignissen nur die Zuschauer an Ort und Stelle erfuhren.

Im Dom.

Der 21. März war durch kaiserliche Verordnung zum allgemeinen Buß- und Bettag bestimmt. Noch einmal wollte man den Schutz des Höchsten auf die deutschen Waffen herabflehen, noch einmal wollte man eine Stunde ruhiger Sammlung haben, bevor der Sturm losbrauste. Der Gottesdienst im Berliner Dom war auf 10 Uhr vormittags angesetzt. Der Kaiser hatte seine Residenz um 8 Uhr morgens verlassen und war mit der Kaiserin und dem Kronprinzen hinausgefahren nach Charlottenburg und Potsdam, um in den beiden stillen Kapellen, die die Gräber der beiden ersten Hohenzollernkaiser bergen, einen stillen Abschied zu nehmen. Niemand war Zeuge gewesen dieser Stunden, da des Reiches Herrscher mit den Seinen an jenen, durch große Erinnerungen geweihten, Stätten weilte.

Reges Leben herrschte in der Reichshauptstadt, als die kaiserliche Equipage sich dem Brandenburger Tore wieder näherte. Ohne allen militärischen Pomp durchfuhr der Kaiser die Linden, überall von der Menge mit donnernden Zurufen begrüßt. Zahllose Blumen flogen in den kaiserlichen Wagen, man hatte das Bedürfnis, dem Monarchen seine Liebe und Anhänglichkeit durch diese letzten Spenden zu bezeichnen, denn am Tage darauf wollte der Kaiser zur Armee abreisen. Am Morgen hatte ein Berliner Blatt berichtet, ein Großindustrieller habe ein Gesuch an den Kaiser gerichtet, er wolle eine Million für die verwundeten Krieger zur Verfügung stellen, wenn sein einziger Sohn von der Dienstpflicht befreit werde. Der Kaiser habe am Rande der Bittschrift bemerkt: Ablehnen, mein Sohn muß auch mit.

Der gewaltige Prachtbau des Berliner Domes war bis auf den letzten Platz gefüllt. Fast nur Uniformen; hier war noch einmal die Führerschaft der Armee, soweit sie nicht schon an der Grenze stand, um ihren Kaiser versammelt. Als die kaiserliche Familie ihre Loge betrat, ging ein Gemurmel durch die Versammlung. Ein metallisches Klirren und Knirschen des kriegerischen Schmuckes, aller Augen wandten sich einen Moment dem Herrscher zu und eine rauschende Bewegung ging durch die Menge.

Die Worte des Predigers waren in dem weiten Gotteshaus verhallt; und während alle, die hier die Kniee gebeugt hatten vor dem Gott, der die Geschicke der Völker in seiner Hand hält, noch ihren Gedanken nachhingen und von der Vergangenheit Abschied nahmen, begann leise die Orgel mit ganz leisen, kaum hörbaren perlenden Akkorden, bald anschwellend zu brausenden Tönen, bald fast verklingend in den Wölbungen der Decke und in den Kapellen und Nischen ein leises Echo weckend. Dann setzte die Orgel wieder machtvoll ein und der Sturmgesang, der einst ein armes Volk begeistert und geführt hatte zum Kampfe gegen den übermächtigen Feind, er brach hervor mit ergreifender Gewalt, und jetzt begann der Domchor, und er klang hinaus wie Donnerhall dieser Schlachtensang, dieser eifernde Schrei um Hilfe: »Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten« und hinaus sangen sie es alle und fromme Begeisterung, die dem Höchsten bekennt, daß ohne ihn kein Sieg, erklang hinaus, daß die gewaltigen Mauern dieser Trutzkirche des protestantischen Glaubens erdröhnten.

Leise öffneten sich die Türen, die ersten Bänke leerten sich bereits, in den breiten Eingangspforten drängten sich glitzernde Uniformen, da mischte sich in die Töne des verhallenden Chorals von draußen her ein scharfer, heller Klang. Der Gottesfrieden ward durch einen rauhen Ton zerrissen, die Gotteswelt versank, ein Rasseln wie von klirrendem Metall. Als die Ersten hinaustraten in den sonnigen, strahlenden Frühlingstag, hielten ihnen tausend Hände etwas entgegen, was, rasch entziffert, die Meldung trug: » Die Engländer bombardieren Cuxhaven«. Donnernde Zurufe empfingen den Kaiser, als er das Gotteshaus verließ und rasch zu Fuß, die Kaiserin am Arm, die Straße überschritt und im Portal des kaiserlichen Schlosses verschwand.

Der erste Blitz war herniedergefahren, zündend, vernichtend, verwüstend und zertrümmernd, wann folgte der zweite und wohin traf er?


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