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XXXXVIII.

Aus der silbernen Ferne des Horizonts kommen Schleppzüge. Unterhalb der hohen, ungeheuren Bogenspanne der Rheinbrücke, an deren Enden die belgischen Posten unbehaglich den Weg nach Homberg bewachen, liegen Kähne schwer wie Inseln im Strome. Um die Eingänge des Ruhrorter Hafens ist ein unablässiges Begegnen eilender kleiner Dampfboote und gleitender Kähne. Und auf den Brücken schweben die Elektrischen hoch über den kreuzförmigen Verdecken der Dampfer, über geöffneten Frachträumen, über dem Bordleben des Schiffsvolkes, über dem Takelwerk der aus Kristiania und London gekommenen Seeschiffe hin. In der locker bewegten Menge grüßen einander die Leute der Industrie und der Reedereien, die streng blickenden Schiffer mit dem Glanzlederschild an der blauen Mütze, die Zollbeamten, die blonden, weitgereisten Zimmerleute mit ihren riesigen Schlapphüten, funkelnden Ohrringen und flatternden Hosenbeinen. Hinter den jungen Baumreihen und den Bretterzäunen der Straßen stehen Neubauten aus rötlichem Gestein mit himmelblauen Fensterhöhlen. Reste von Bauernhöfen stecken zwischen schmucklosen Häusern und einem Nebeneinander von Kneipen, die ohne Speise, doch reich an nassen Gläschen sind. Am Ende der grauen und linealmäßigen Hauptstraße von Ruhrort führt die Straßenbiegung an Werkstatthöfen und weißbestaubten Gebäuden vorüber, an kleinen Werften mit rostigen und erloschenen Dampfern.

Nicht weit von dem alten Gebäude des Hafenamtes über dem Rheinufer ist die Schifferbörse. Dort in der Gasse treffen einander vor Mittag die Schiffer und die Angestellten der Kontore und besprechen die Frachtpreise des Tages. An das schwarze Brett des Amtsgebäudes sind mit Kreide die Zahlen geschrieben, die in der Frühe von allen Stationen zwischen Konstanz und Tiel gemeldet wurden. Lohr am Main, Trier an der Mosel, selbst die holländischen Beobachter an der Waal, am Lek und an der Yssel melden durch Telegramme den Wasserstand, den Wind und das Wetter. Gletscherschmelze, Frost und Regengüsse, Gewittertage und trockene Wochen haben unmittelbare Wirkung auf das Anschwellen oder Trägwerden des Flusses. Dieser Wetterdienst ist einstweilen nur ein Handwerksbehelf an der Stelle der exakten Beobachtungen, die von allen Rheinstaaten durchzuführen wären, die aber allein das kleine Baden mit den dreiundneunzig Pegelstellen und Meßschleusen an den Bächen und Flüßchen des Schwarzwalds eingerichtet hat. Die einheitliche Durchführung wäre nicht nur der Schiffahrt nützlich, sie würde auch die Städte und Dörfer am Strome mehr als bisher vor den Gefahren der Ueberschwemmung und des Eisgangs bewahren. Den großen jahreszeitlichen Perioden sind die täglichen Schwankungen des Wasserspiegels untergeordnet. Doch nach den unablässigen und aufmerksamen Messungen am Puls des Flusses richtet sich, was in der Gasse hier besprochen wird, die Zusammenstellung der Schleppzüge, die Belastung der Fahrzeuge. Die Schiffer überblicken das Ungefähre, die Dauer und den Arbeitsaufwand ihrer Reisen.

Im Hafen zeigen sich alle Flaggen, die den Rhein befahren; es sind viele, aber das Schiffsvolk, nur mit wenig Holländern und Flamen vermischt, ist deutsch. Seine Einheit ist in mächtigen Bünden befestigt, sie umfaßt auch die Genossenschaften der Heizer und Maschinisten. Die Reeder in ihren eigenen Verbänden und Gruppen sind das Glied, das die Dinge des Rheins mit den Dingen des Weltverkehrs verbindet. Für den Außenstehenden trägt das Ganze zuweilen das Gepräge einer einzigen gewaltigen und elastischen Gilde. Die Männer, die hier in Haufen beieinanderstehen, sind morgen wieder andere: die Einzelnen sind morgen wieder in die Begegnungen am Rheinufer von Emmerich oder in Andernach gemischt, nur ihre Zusammensetzung bleibt dieselbe. Der Beruf macht sie einander ähnlich. Sie sprechen alle Mundarten des Rheinlandes; die oberdeutschen und niederdeutschen Dialekte gehen ineinander über, noch ungeschieden durch die längst vollzogene Trennung der Schriftsprachen. Die Franzosen, die begonnen haben, den Rhein zu befahren, haben, um diese Gilde zu brechen, in Straßburg eine eigene Schifferschule gegründet. Der Versuch ist fehlgeschlagen. Auch die deutschen Schiffe unter der Trikolore fahren mit deutschen Schiffern. Diese Männer allein verstehen den Rhein zu gebrauchen; sie kennen die grauglänzenden Meeresarme unter den fetten Wolken von Seeland und das knappe springende Wasser vor Basel. Sie allein führen die Ruder im ewig schlüpfenden Strom und haben in ihren Fäusten, die wie Schraubstöcke sind, die Kraft des Rheines.

XXXXIX.

An dem verrosteten Turmgerüst der ehemaligen Eisenbahnfähre von Ruhrort dehnten sich noch vor wenigen Jahren die Wiesen. Diese flachen, weit ausgezogenen Ufer des Niederrheins säumen jetzt Fabrikgebäude und gleichförmige Arbeiterwohnungen, weiß mit roten Dächern in der Ferne. Die Städte des Randes fügen sich an eine einzige, ununterbrochene Straße; die Elektrische, die von der Ruhrbrücke abfährt, endet mitten in Hamborn und findet dort den Anschluß zu neuen stundenweiten Fahrten ins Land. Diese junge Großstadt ist bereits verstaubt und von flockiger Rauchluft überzogen wie die ewig grauen und gedrängten Städte des Wuppertales. Sie ist ein geistesschwaches Durcheinander von eintönig lallenden und aufdröhnenden Werkstätten hinter Gefängnismauern, von kostspieligen und freudlosen Verwaltungsbauten, von unansehnlichen Wohnhäusern mit den blinden Scheiben der Konsumvereine. Unterführungen gähnen zum Tageslicht herauf mit ewig brennenden Lämpchen. Vor den rohen Häuserfronten stehen schwarzbelaubte Bäume. Mageres Vieh, mit Sackleinen zugedeckt, grast in verwilderten Gärten. Schlackenhügel, wie von Grünspan überzogen, trostlose Kohlfelder und Fußballplätze mit verwitterten Zuschauerbühnen liegen am Wege, im Horizont ragen die Kühltürme, die schwerfälligen Kelche der Wasserbehälter und die Stellwerke mit ihren emporgehobenen Kammern. Groß angelegte Straßenzüge brechen ab mit nackten breiten Wandflächen ohne Anschluß. In den Schaufenstern hängen Zettel von Zaubervorträgen, kommunistischen Versammlungen, Volkshochschulkursen, Liederabenden und Kinos. Es ist eine Wiederholung von Ludwigshafen an einem breiteren, noch gewaltsamer verdeckten Rhein, amerikanischer, doch ohne Verschwendung im Aeußeren, ohne Sattheit im Innern, und ihre neugebauten Straßen sind Slums, ihre vieldeutigen Arbeiterkolonien, so hübsch und neu sie aussehen, sind durch die Zusammendrängung zu Wohnhöhlen geworden. Die Menschen dienen grimmig der Maschine. Die Stadt überwölbt die tief hinabgebohrten Keller des Kohlenbergbaues, sie ist nur eine Wucherung der einzigen, auf Kohlenfeldern ruhenden Achtmillionenstadt zwischen Aachen und Dortmund mit dem Rhein in ihrer Mitte. So entstehen am Bodensee, wenn erst die halberschlossenen Pforten sich öffnen, die Voraussetzungen einer neuen Siedelung, deren Gewerblichkeit nach allen Seiten Europas ausstrahlen wird. Aber diese Landschaft am Niederrhein lebt nicht von den elektrischen Zeugungen des Wassers, sondern von dem fett und finster glänzenden Brenngestein. Ihr Leben ist die Nacht, der Widerschein ihrer Bessemerbirnen und ihrer Hochöfen zuckt in den Wolken und im nächtlichen Spiegel des Rheines; in ihre grauen unendlichen Abende legt sich das frostigtrübe Licht der Glashallen. Die Städte dieser Landschaft sind im Licht des Tages wie ein Unrat; ihre Lavahügel gleichen dem Rückstand der abgebrannten Magnesiumflammen. Erschreckender Gedanke, daß in diese Welt mit ihren gestanzten und zerstückten Formen das Schicksal von Millionen Menschen gebunden sei. Diese Menschen leben am Flusse, doch ohne ihn zu kennen; sie leben bei den Feuern, doch ohne eine Deutung des Lichtes; sie wiegen schwer im Körper des Reiches, doch ungestaltet. Diese Menschen leben von der Kohle, die ihren qualmenden und schmierigen Charakter einer ganzen Landschaft aufprägt; der Charakter des Glut erzeugenden Brennstoffes wird luziferisch bleiben bis in die Feinchemie seiner Materie hinein, die immer neue Industrien anlockt. Die kleinen Kirchen in diesem Chaos sind ohne Kraft in den Windstößen des Klassenkampfes, der das Land zerwühlt; das Seufzen der Menschen zerstört die Heimat. Im rheinischen Industriegebiet, das sich ins Wuppertal und in das Ruhrrevier erweitert, wurden einst die großen Arbeiterparteien geboren, hier führten sie die ersten Kämpfe. Heinrich Heine und Karl Marx und Friedrich Engels waren Rheinländer. In den Exilen des vom Elend seiner Arbeiter und seiner Kolonialvölker reich gewordenen England, in dem von Bürgerkriegen erschütterten Frankreich wurden sie zu Propheten der inneren Kämpfe, denen der Westen entgegengeht. Zuerst die immer engere Verflechtung des Rheinlandes mit den Entwicklungen der Großindustrien und des Seehandels, dann der Rhein als Beute, nun die Kanonen in den äußersten Vergewaltigungen. Wird sich einst am Rhein der Kampf entscheiden, der aller Machtgier das Grab bereitet? Wird einst hier das erste Land der Erde sein, auf dem kein Soldat mehr steht? Wird es das erste sein, das die Klugheit der Völker erneuert? Von der helfenden Kraft des Ostens lebt im Rheinland nur der Nachhall der alten römischen Botschaft, doch daneben ein neues Ahnen, das in die dumpfen Fernen des Festlandes horcht. Römisch sind hier noch die erkaltenden Reste einstiger Glaubensbrüderschaft in der Partei eines politisch gewordenen Klerus. Weder die südliche Ferne jenseits der Alpen, noch die nordwestliche, die jenseits des Meeres ist, wird diesem Lande das Heil senden, auf das es wartet. Aber vielleicht wird es unter dem eigenen Himmel das Wort des Lichtes wiederfinden, das seine Mystiker gestammelt, das seine Ketzer gesucht, wonach seine Maler gegriffen und das die Erbauer seiner größten Denkmäler gestaltet haben.

L.

Zuerst die rötlich bewachsene Heide mit ihren bleichen ermatteten Sandhöhen. Dann die Wildnis der Sümpfe mit den zerrissenen Föhrenwäldern und den Binsenschleiern um dunkle Wasser, die unheimlich sind wie erblindete Spiegel. Jenseits dieser verödeten alten Mündungslandschaft des Rheines liegt die neue: das lebendige Holland, oben das fressende Vieh, unten die feuchtgesättigte Krume, die angeschwemmte, immergrüne Fläche. Auf den verrollenden Hügeln des Binnenlandes, von Wäldern still umzogen, liegen die letzten Rheinstädte. Der Anblick von Nymegen mit den schönen Türmen auf der Anhöhe und der stolzen Häuserreihe ist wie der von Potsdam an der spiegelnden, breiten Fläche der Havel. Hier führt die dreimal gebogene Brücke über den Strom, die Schienen strahlen über das Tiefland der batavischen Insel nach Arnheim, das mit luftig hellen Straßen und mit der Anmut seiner Gärten in dünenartige Höhen eingebettet ist. Die beiden belebten und wohlgefüllten Städte liegen am auseinandergespaltenen Strom. Die große Aue zwischen ihnen trägt auf der südlichen Spitze die Schwellen der Festung wie zur Abwehr in das Festland zurückgewendet. Der Rhein ist angefüllt von Staubgewölk des gewanderten Weges. Die alten Schanzen, von Bord des Schiffes kaum wahrzunehmen, beherrschen mitten in der breiten und erdfarbenen Wassertafel den Zugang nach Holland. Die Wälle ruhen auf aneinandergeflochtenen Pfählen im schlammigen Boden, man pflegte sie in Kriegszeiten, sobald der Strom gefror, mit Wasser zu beschütten, damit das Glatteis sie unbesteiglich mache. Die rheinischen Städtenamen Worms, Mainz, Neumagen, Remagen, Dormagen, Nymegen, alle verbergen Andeutungen eines gemeinsamen Ursprungs in frühen Jahren, deren Sprache vergessen ist und der römischen wie der deutschen vorausging. Später waren Nymegen, Aachen und Ingelheim die drei Pfalzen Karls des Großen, noch heute läutet die Hauptglocke des Domes den alten Namen in den Abend. Den vom Park überzogenen Hügelrand am Ufer bedecken noch die heidnischen und kirchlichen Mauerreste. Die zierlich geschnittene Buchenlaube dort oben bietet Ausblick über die Dächer der unteren Stadt, auf den blaugelben Glanz des Stromes, auf die ins Land verstreuten Teiche. Eine Inschrift am Geländer bewahrt die Worte des Geschichtsschreibers: Hier sah der Verteidiger zähneknirschend das Nahen der römischen Flotte. Wie geschlossene Höfe sind die kleinen Plätze der Hügelstadt. Nicht weit vom Bahnhof aber, zwischen blanken Villen und bunten Blumenflächen, ragt am Boulevard das Standbild eines Missionsbischofs der römischen Kirche, der um 1900 in China erschlagen wurde; er scheint einer von jenen Märtyrern gewesen zu sein, deren Leben den Großmächten so kostbar war, daß sie China den Krieg erklärten.

Manches hier im Ansatz von Holland scheint noch auf das innere Europa bezogen. Nymegen und Arnheim führen beide in ihrem vergoldeten Wappen den Adler des Reiches, ihre Rathäuser tragen noch die Bildnisse der Kaiser, deren Stamm in das salische Land der Yssel zurückführt und sie mit dem ganzen Rheinvolk verbindet. Sicherlich gedenkt das heutige Holland seiner einst großen Seemacht dankbarer als seiner Zugehörigkeit zu den Deutschen, die fast vergessen ist. Denn seine lebendigsten Städte liegen nah am Meere, dort schauen von den Strandwegen die Denkmäler seiner großen Admirale über die Brandung. Das Gedächtnis der Feldzüge dagegen ist im Hinterland geblieben, wo der Krieg den Charakter der Fußmärsche trug, und das Genießen des kolonialen Reichtums hat sich in die Rosengärten und schloßähnlichen Landsitze der verhätschelten Umgebung von Arnheim zurückgezogen. Nicht alle die vom Kaufmannsvolk gering geachteten Soldaten des kleinen Kolonialheeres, das draußen die tropischen Paradiese Hollands in fiebernden Garnisonen, mit blutigen Streifzügen und militärischen Glanzentfaltungen verteidigt, verbringen ihren Lebensabend in dem sorgenlosen, weißen, von Blumen und Denkmälern umgebenen Landhaus von Bronbeek, das die Invaliden in seine Schlafsäle, in seine mit exotischen Trophäen gefüllten Hallen, in seine schattigen Parkwege aufnimmt. Niemals fehlte es übrigens an Deutschen aus dem Rheinland und aus Schwaben, die sich zu dem Abenteuer drängten, für ein paar Jahre des Anteils am Glanz und am Elend der fernen Inseln ihr Blut zu opfern.

Noch gibt es in dieser Gegend die kurzen Hügelhorizonte. Der Rhein, der hier fließt, ist nur ein Kleinbild des alten, der von Köln kommt. Die majestätische Middachter Allee, die stolzen Buchenhaine, die Schweizerpartien und Wasserfälle im Park von Sonsbeek sind wie ein Erinnern an die Wälder und Alleen in Deutschland, an die springende Silberjugend des Rheines. Der Güterhafen vor den schönen stillen Häusern von Arnheim ist nichts als ein paar Mauern von Torf und Ziegeln, ein Knäuel von Masten und hängenden Tauen, von Schiffsaufbauten, Pferdekarren in der Staubwolke, Bugsprieten und Arbeitergruppen mit schwarzen, explodierenden Konturen in der Morgensonne. Erst der Einschnitt der Hügel und der Wälder über dem Velper Straatweg öffnet einen Blick in das grüne, von blauen Strichen zerlegte Tiefland. Dort unten drehen die Mühlen ihre Flügel. Hohe, flaschenähnliche Turmgerippe senden einander über die Ferne hinweg die unsichtbaren Drähte. Die Lanze der drahtlosen Station, dünn wie ein Faden, erweckt den Eindruck von der eigenen Beziehung dieses Landes in die Welt.

LI.

Der schweizerische Rhein spaltet wie ein Blitz das Felsgebirge. Der deutsche Rhein durchfährt den Leib des Landes magnetisch wie ein sammelndes Gefühl. Dem niederländischen Rhein gaben schon die Alten den Namen Rhenus bicornis, des Zweihörnigen. Denn ihn teilt sogleich die größte seiner Inseln, die fast ein Land für sich ist. Auf einem jener Weltbilder, mit denen Beatus, ein Mönchsgeograph des siebten Jahrhunderts, die Erde in der Form eines Eies darstellte, von der Schale des Meeres umgeben, in der die Fische und die Inseln in der gleichen körnigen Weise eingezeichnet sind, empfing der nördliche Rhein einen anderen Strom von jeder Seite, ehe er als ein doppelter Fluß durch das Land der Friesen in das Meer sank. Man kann an Maas und Lippe denken. In der Tat, die heutige Forschung liest in den Schichten von Ton und Schlammsand, die unter der Sichtbarkeit der jetzigen Rheinteilung liegen, eine verwischte ältere Schrift der Erde, deren Deutung das Bild des römischen Geographen bestätigt. Der Strom in Holland ist nun der klargeschnittene Rhein nicht mehr. Er trifft, schon ehe er das Meer berührt, die Nullhöhe; seine Auflösung, die beginnen muß, wird zu Teilen und Strecken des Wasserstaates, er durchfließt ein verwirrendes Netz von Gewässern. Von äußeren Linien her ist das amphibische Land von Wasserbändern durchflochten, zwischen den grünen und den blauen Flächen liegen die weithin gedehnten Kurven der Deiche. Kanäle, von der Seite einfallend wie der schmale Arm der Maas, der nicht tief genug ist, um auch nur den normalen Kähnen der Rheinschiffahrt einen Zutritt ins flandrische und französische Flußnetz zu geben, vergrößern den Strom, andere entziehen ihm das Wasser. Meeresarme, in das Land ausgestreckt, fügen ihn unversehens in das kosmische Gesetz der Flut und der Ebbe, die eigenkräftige Nähe des Meeres entführt ihn seitwärts in verwirrende Inselwelten. Wie durch ein Uhrwerk die Zeit rinnt, so rinnt der wasserreiche Strom durch das gewaltige und sorgsam angepaßte Uhrwerk, das geschaffen ist, das Nasse vom Trocknen auszuschließen. Ihn beherrschen die doppelten und dreifachen Deiche, die Pumpen und die Schleusen. Ein unablässiges Eintauchen der Meßinstrumente, ein ewiges und überlistendes Studium der Bewegungen von Wasser und Schlammerde, ein hartnäckiges Werk des Pfahlbaues und des Deichgrabens vollzieht sich und setzt das Arbeitserbe der Jahrhunderte ständig fort. Am oberen Rhein beschränkt sich der Strombau darauf, die Serpentinen wegzuschneiden, das Krumme zu strecken und zu kürzen; fast zu sehr beeilten sich dort die Ingenieure, den Abfluß des Wassers zu erleichtern. In den Niederlanden schufen die Baumeister seit Jahrhunderten die Molen und die langgezogenen Dämme, die den Hauptstrom erst nach Osten, dann westwärts richteten und ihn aufhalten. Mit der Waffe des Flusses führten die Holländer in der Vergangenheit gegen Römer und spanische Eroberer ihren Kampf. Kanäle wurden gegraben, um den Kriegsflotten bis ins Herz des Landes Zutritt zu geben, die Handelsflotten folgten nach. Ueberschwemmungen glänzten auf wie große Seen, Dörfer und Städte ertranken, aus einer Lache wurde der Lekstrom, dessen Breite ohne Tiefgang vor Rotterdam in den Rhein zurückfließt, und aus dem großen Bett des Stromes, der einmal zur Zuidersee hinfloß, tauchten Grasländer. Von dem Wasser, das durch den Kanal von Pannerden beiseite fließt, um sich in gekrümmten, kleinen und versickernden Rheinen bis an die See zu verlieren, bleibt der Waalstrom übrig. Zwischen flachen Ufern schaukeln gemächlich die rundlich gebauten Boote auf der milchkaffeefarbenen Flut. Die Schleppzüge, deren Kähne groß und aufgetaucht mit asphaltglänzenden, aus Eimern begossenen und mit Schrubbern bearbeiteten Rücken vorübergleiten, begegnen dem grün, weiß und rosa bemalten Raddampfer der Niederländischen Dampfschiffahrt. Durch Wolken schwarzen Rauches flattern Möwenscharen im salzigfeuchten Nordwestwind. Eine blanke Wasserfläche, von rauhen Schäumen überzogen, umgibt dann das von Kanälen und Brücken durchflochtene, von braunen Segeln besuchte Dordrecht. Vor dem breiten und dunklen Kirchturm ragt das Gehölz der Masten; bei den Seedampfern liegen die Flöße des Schwarzwaldes, die auseinandergenommen und auf die Werften, die Bauplätze und Sägemühlen des Landes verteilt werden. Eine Bucht, ein Wasserdurchbruch glänzt zur Schelde hin; die Schiffer auf der Fahrt nach Antwerpen reisen an den Inseln von Seeland vorüber, die Ebbe entblößt die ungeheueren, mit Muschelkolonien bedeckten Schlamm- und Tonbänke der Scheldemündungen, die braunsilbernen Schilfwiesen, die mit Algen bewachsenen Deiche des Archipels. Die steigende Flut hebt das Fahrzeug hoch und zeigt dem Schiffer über die Deiche hinweg die roten Dächer der Inseln, die grünen Weiden, das bunte Vieh, die bis zum Rand gefüllten Kanäle. Vor Dordrecht stellen die englischen Matrosen ihre dunkeln Segel, um über das Aermelmeer zu kreuzen. Regelmäßig nehmen die alten wohlbekannten Lastboote, die ihre Seile vom Ufer in Remagen lösten, die »Maggie« und die »Consul« mit einigen hunderttausend Apollinarisflaschen im plombierten Laderaum diesen Kurs. Die Ingenieure wollen dem alten Dordrecht eine neue kurze und offene Verbindung mit dem Meere geben. Draußen am Rand der Inseln richtet das altberühmte Vlissingen seinen Außenhafen zum Treffpunkt des großen Ozeanverkehrs mit den Schnellzügen des Festlandes, und es bietet dem atlantischen Luftweg nach den Alpen seine Ebene mit dem Flugzeugschuppen zur Landung.

LII.

Die belebten, nebeneinander liegenden Brücken von Rotterdam und die stolzen Häusertürme dieser Stadt sind die Torbogen des Rheines vor seinem Ende. Bis an den großen letzten Haken, den der Strom hier schlägt, schimmert die Merwede in dem weit auseinanderklaffenden Tiefland. Schönster Sport in Europa, auf dem dröhnenden Eis dieser klaren, freien Fläche hinzusausen, einen strengen Wind im Rücken, der das Segel des Schlittens wie einen Riß durch die Luft in zwanzig Minuten bis Dordrecht treibt. Auf den Deichen des majestätischen Stromstückes stehen saubere alte Städtchen, Häuser, deren Giebel umgestülpten Kähnen ähnlich sind, Ziegeleien, die chinesischen Dörfern gleichen. Kleine Wasserflächen strahlen als Fabrikhöfe in das Land, in der Ferne kriechen die Raupen windgekrümmter Alleen. Ländliche Kähne, mit Rüben beladen, liegen vor den Aeckern; hohe Schiffsrümpfe, mennigrot, ragen mit ihren schirmartig ausgespannten Gerüsten, im Rappeln der elektrischen Hämmer, hoch über das Baumgebüsch. Gewölbte Scheunen, untersetzte Windmühlen, deren Kreuze leer wie Gräten in die Luft starren, leicht wogende Binsenwälder, Arbeiterkolonien mit leuchtend roten Dächern, mit Alteisen und halbfertigen Schiffen gefüllte Werften, begonnene Uferbauten mit Kippwagenzügen und seichten Wasserflächen hinter dem Weidendickicht. Kleine schwarze Marktdampfer mit ländlichen Reisenden eilen dem von Masten und Türmen starrenden Horizonte zu. Mathematisch gebaute Fabriken, gläserne Dächer, sägenartig abgesetzte Profile neuer Arbeitshallen reihen sich enger, dann ordnen sich die Schlote und das Takelwerk der Seeschiffe zu Bündeln. Die Fensterreihen am Stromufer von Rotterdam schauen zu den Docks hinüber, sie beobachten das Anlegen und Wegfahren der Flußdampfer und der zugedeckten Kähne. Unablässiger Verkehr der Eisenbahnzüge, der Fußgängerscharen und der Lastwagen auf den Brücken und der quer gelenkten Fähren, von denen jede eine Versammlung von Seeleuten, Werftarbeitern, Angestellten, Drehorgelspielern und Hausiererkarren zum Ufer der Docks hinüberträgt. Die verwitterten Rheinboote im Hafen tragen am Heck ihre Heimatorte, die Namen von Heilbronn und Basel, von Antwerpen, Mülheim-Ruhr, Waspik, Homberg, Okriftel, Tiel, Straßburg, Mannheim, Oberwesel. Die Hütten der Holländerkähne sind grün und weiß lackiert wie Hochzeitstruhen oder glänzen dunkelgelb wie neue Möbel. Hundert offene Schiffsgefäße liegen unter den Seilen der Ladebäume vor haushohen, salzüberzogenen Dampferwänden. Aus den steifen Schläuchen, die über die Reling lehnen und in die tiefen Räume der Südamerikadampfer hinunterreichen, strömt das Getreide. Und die geschlossenen Schachteln der Kähne, die der kleine Dampfer stromauf schleppt, bringen den Margarinefabriken des Niederrheins die Palmkerne afrikanischer Wälder, den Schokoladefabriken von Köln und von Bern die mit Kakaobohnen gefüllten Säcke, sie führen Farbholz, Tabak, Kautschuk, Erze, Pflanzenfasern in den unermeßlichen Verbrauch. Aus den Fenstern des hohen Eckhauses am Stromufer schaut der Besucher über den Hafen. Hier oben in den stillen Sälen sind die alten Stadtpläne von Rotterdam mit den spitzen Bastionen an allen Ecken, die Modelle der Kauffahrteischiffe und der Kriegsfregatten, der javanischen Hausboote, der vergoldeten Staatsbarken, der modernen Schleusen, Bagger und Schiffsmaschinen. In diesem Museum sind die heroischen Marinen, die Gallionsfiguren, die Wimpel, alle die beiseitegestellten Dinge, in denen sich die ältere Beziehung Hollands zur See ausdrückt. Und drüben, jenseits des Wassers, hinter den aus Beton gebauten, mit Nummern bemalten Kolonnaden der Dockhöfe und der geschlossenen Speicher erheben sich die nüchtern hohen, ziegelroten Häuserblocks der Arbeiterviertel. Aus der griechischen Herberge »Peiraios«, aus dem Eiscreamgeschäft mit dem amerikanisch bemalten Schaufenster schallt Grammophongesang. Neben der Wirtschaft »Germania« sind die Läden von Hop Jee, Wong Sin und Kow Yun mit verstaubten Fischkonservendosen, mit chinesischen Zigaretten, Oel- und Saucenfläschchen in der Auslage und den gelben, insekthaft beschriebenen Speisezetteln an der Tür. Proletarisch gekleidete Chinesen stehen um das Billard im Kaffeehaus und hinter der Theke des Grünkramhändlers an der Ecke; ein paar rote Blusen und hochblonde Frisuren in der verschwiegenen Opiumluft eines Hausgangs verraten das übrige. Welche Stadt, bedrängt von allen Kräften der Gegenwart, genötigt, dem Problem der großen Verkehrsabwicklungen mit den weitesten Plänen zu begegnen. An den verworrenen, von Lärm erfüllten und altgewordenen Bau ihres Innern schließen sich die Massenquartiere des Randes. Das Wachstum dieser Stadt drängt sich unbestimmbaren Zielen der Weltwirtschaft entgegen, es ist ständig in Gefahr, in ein Chaos zu entgleiten. Der Gegensatz dieser motorischen Stadt zum übrigen Holland verlangt nach Ausgleich. Wie wird sie in zwanzig Jahren aussehen? In jenen Seestädten, die um das europäische Festland den Ring bilden, ist Rotterdam zwischen Hamburg und Antwerpen eine der kräftigsten. Das ganze Rheinland ist hinter ihr. Jede dieser Städte, am Ausgang ihres Hinterlandes gelegen, alle durch die Girlande der Schiffslinien miteinander verbunden, öffnet einem Ausschnitt des europäischen Raumes das Meer. Diese Seestädte strahlen ihre gewölbten Routen zu den Häfen des Erdballes über See. Das Salzwasser trägt alle Lasten leichter, Schiffe machen die Völker auch für andere Dinge bereit, deren Träger die Meerflut ist. Alle diese Städte, Empfänger und Sender in einem, stehen als die vordersten im Zeichen jenes Sehertums, das hinter dem Wettstreit der Volkswirtschaften die Einheit kommen sieht.

LIII.

In Holland sind die Städte so wohlerhalten, sie ruhen an den Wassern wie fette Lotosblüten. Die großen sind regsam wie die der Schweiz, die kleinen liegen ohne Armut in der Stille. Warum klagt dem Besucher der Wirt des Gasthauses so beweglich über die schlechten Zeiten? Ist nicht alles wunderbar ganz und sauber in dem schmalen Hause mit der steilen Kajütentreppe, in den winzigen Zimmern mit den orangefarbenen Wänden und den skandinavisch nüchternen Möbeln? Ist es nicht ein Ideal – Normal- und Temperenzhotel, was will er mehr? Warum die gefalteten Stirnen, die bretternen Gesichter in den Straßen? Warum weder Mißfallen noch Freude, wenn Battling Siki mit seiner holländischen Frau, dem Baby und den alten würdigen Schwiegereltern vierspännig und von berittenen Schutzleuten begleitet durch die Straßen von Rotterdam spazieren fährt? Ist Siki nicht der Held der Bioskoptheater? Hat er nicht mit seiner Negerwucht Carpentier niedergeboxt, zur herzlichen Freude von Millionen Zeitungslesern? Ja, der Genever ist teuer geworden. Aber warum Verdrossenheit, wo sich doch in diesem Lande jeder Mensch an Butterbrot und Käse und an burgunderfarbenen Beefsteaks erfreuen kann? Merkwürdig genug, es gibt auch Armut, Schmutz, Lumpen und schlechte Stimmungen in diesen reichen Städten, deren Schaufenster vollgestopft sind mit Frischgeschlachtetem, mit angeschnittenen Würsten, Leberkäse und Eiern. Und es gibt selbst mitten in dem alten Städtchen Hoorn, das mit seinen hohen, gemeißelten Giebeln, mit seinem vom goldenen Schiffszeichen gekrönten Hafenturm, dem von Alleebäumen beschatteten italienischen Kanal und den rostigen Ankern an der Wassermauer so viel Vertrauen und abgeklärte Ruhe ausströmt, den notleidenden Kellner, der mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers den Gast um einen Gulden beschwindelt. Auf dem Marktplatz dieser vergessenen Seestadt, mit den sonntäglichen Spaziergängern auf der Mole am Zuidersee, den der alte Zustrom des Rheines zum Versanden und zum Stillwerden brachte, steht das Denkmal des friesischen Eroberers von Java, Jan Pieterszoon Coen, mit dem ehernen Kraftwort als Inschrift: Despereert niet. Das ebenso würdige Enkhuizen an der Spitze der Halbinsel, die weit in den See stößt, ist unvergleichlich mit seinen schweren Türmen, seinem Chinaporzellan und seinen Stiftungen. Es liegt mit Hoorn durch einen Landweg verbunden, der mit Klinkern gepflastert ist und ohne Unterbrechung durch ein halbes Dutzend Dörfer über das fruchtbarste Land führt. Ueberall blinken die schmalen Kanäle zwischen den Kohlfeldern und den Blumengärten der villenähnlichen Bauernhäuser. In der alten roten Backsteinkirche dieser feierlichen Stadt versammelt sich am Sonntagmorgen das Friesenvolk wie zu der Väter Zeiten. Aus den gedunkelten Fresken des Faßgewölbes, von dem die prächtigen Messingleuchter herabhängen, leuchten die Heiligen weiß wie Segel zwischen den roten Gewändern der Knienden. Der Gemeindegesang erschallt in standfesten, langatmigen und kantigen Sätzen. Die steinernen Platten des Bodens sind besät mit Namen und Runenzeichen. Auf dem First der hohen, uralten Strohdächer in den Dörfern, die mit ihren kleineren Häusern, mit ihren Glastüren, mit ihren Bäckerläden, Kramhandlungen, Mechanikerwerkstätten und Kirchen den stundenlangen Fußmarsch durch das Land begleiten, über dem römischen I H S an den Haustüren, über dem Gewimmel von Radfahrern, den Gruppen von Kirchgängern und von feiernden Männern in dunklen Anzügen und weißen Hemdsärmeln ragen noch in den Windfahnen die älteren Symbole, das springende Pferd, die seltsam verschlungenen Buchstaben vergessener Alphabete, die bedeutungsvoll gesetzten Stäbe der Feme. Die Schilder der Dorfgemeinden tragen noch als Zeichen das aufgerichtete Pferd oder auch den Eschenbaum, dessen Krone zu einer Brezel verflochten ist. In dieser Friesenlandschaft lebt frisch und unfaßbar das uralte feste Wesen. Erscheint nicht auch in Alkmaar an den Tagen, wenn das Glockenspiel erschallt, wenn die Käsekugeln auf der Stadtwage leuchten, die alte Markthelfergilde der Blauhüte, der Rothüte und der Gelbhüte? Der Name dieser Genossenschaften bewahrt unverhüllt das Wort der Feme. Ein tiefes Vergessen ist über der Welt. Noch immer lebt ein zweites Wissen mit seinen eigenen Deutungen unter der Oberfläche sein magisches Leben. Wir möchten mehr wissen von dem Sinn, der in den Hieroglyphen der alten Wappen und Grabsteine, in den rätselhaften Hauszeichen und Zahlsymbolen enthalten ist, die von den steinernen Einöden um Disentis und Truns hinab in allen alten Orten des Rheintales bis Unkel und Emmerich und bis in das holländische Westfriesland wie eine einzige Urkunde unzerstörbar immer wiederkehren. Vielleicht künden sie von dem Glauben der Vorfahren, daß jeder Hügel, jedes Tal, jeder Berg und jeder Fluß eine Stätte Gottes sei, vielleicht verraten sie das unterirdische Rauschen, das in allen Sprachen wie ein gemeinsames Wasser und ein gemeinsamer Abglanz ist.

LIV.

Frühmorgens komme ich mit einer Schar von Tagelöhnern, die zu den Fischhallen fahren, nach Ymuiden. Hier verbindet ein Kanal, der tief genug ist, um die größten Dampfer der Südamerikafahrt aufzunehmen, die Nordsee mit Amsterdam; ein kleinerer Kanal gibt dann dieser Stadt auch zur Merwede die rückwärtige Verbindung. Hinter dem weithin sichtbaren Rot des Leuchtturmes auf der Dünenspitze gleiten Seeschiffe aus dem Meer in die geräuschlos geöffneten Schleusenkammern, sie schwimmen ins Land, zu den inneren Wasserflächen emporgehoben, im Schutz der kyklopischen Steinwälle, die den Durchbruch der Dünen, das halbfertige Sandbecken der Kanalerweiterung beschützen. Ein Arbeitsmann, eine Prise geschnittenen Tabaks im zahnlosen Munde, führt mich freundlich über das Bahngeleise, ich sehe ihn nachher durchnäßt und schwitzend bei den Versteigerungen in der lärmenden, riesengroßen, vom frischen Geruch durchwehten Halle wieder. Der steinerne Boden hier ist mit tausenden hölzerner Kästen bedeckt. Alle sind gefüllt, alle von gleichem Maß. Hier liegt zu Füßen des Landes die gewaltige Meeresbeute. Vorn an der Rampe des Hafens steht ein schottischer Heringskutter vollgestopft mit seiner Last von Fischen; er glitzert von winzigem, silberfeuchtem Confetti bis über das Steuerdach und bis an den Rand des Schornsteins. Die Netzgewichte, rund wie Kanonenkugeln, hängen an den Bordwänden, die Zahnrädermaschine dampft unter der Winde, das Seil schwingt hochgefüllte Körbe auf das Pflaster. Eine Flotte von kleinen und großen Fischdampfern, die vor der weit geöffneten Halle liegen, ist in der Frühe von der See gekommen; die zusammengerollten schwarzen Netze hängen von den rostigen Pollern, von den verschabten Mastbäumen, von den mit Blut und Schuppen bespritzten Brüstungen herab. Aus den Laderäumen schweben die mit Fischen und Eisbrocken gefüllten Körbe. Die Helfer ziehen die Körbe von den Gleitbrettern und schütten sie in die aufgereihten Kästen aus. Käufer, Fischer und Arbeitsleute begegnen sich im Gedräng des Marktes, auf dem Weg zu den Güterzügen, die zur Abfahrt bereit stehen. In vollkommener Raschheit vollzieht sich das Sortieren. Unendliche Scharen von Kabeljau, von armlangen, eisengrauen, feisten Fischleibern; Scharen der kleineren, weißlichen Schellfische mit weit ausladenden Kiemen; Heilbutt, Steinbutt und Tarbutt, wie aus blassem, sahnefarbenem Teig geschaffen; die schlüpfrigen, kaltempfindlichen, grüngetigerten Makrelen; die achatfarbenen, platten Schollen in ihrer naßbraunen und gelbgetupften Kruste; die Rotfahnen, deren straffe und knochige Leiber wie gehämmertes Kupfer sind; die Wurfscheiben ähnlichen Seezungen mit dem Zwergprofil an der Spitze ihres Umrisses und jene drachenähnlichen, bläulichroten, rautenförmigen großen Rochen, deren Schwänze scharf wie Sägemesser sind. Von Neugierigen betrachtet, liegt ein Stör an der Seite des Durchgangs, ein seltener und kostbarer Fang von 400 Pfund Gewicht. Er gleicht einem Faltboot mit steinernem Rücken, der straffe Bauch ist wie mit weißem Glanzleder bezogen, mit stählernen Knorpeln unterlegt. Zwischen die wassertriefenden Körbe im Licht des offenen Hallentores hat man einen Hai hingeworfen, der sich in die Nordsee verirrte, ein Riesentier mit dem grauenhaften Ausdruck des gierigsten Hungers, den Bauch und das scharfgezähnte Maul mit Blut und Schmutz besudelt, die Vorderflossen wie verstümmelte Arme, die Schwanzflossen wie die Stahlpropeller an einem Torpedo. Kühner Griff des Menschen in die unerschöpfliche Substanz des Meeres, in den wässernen Abgrund, der vor den Küsten die Reste pflanzlichen und tierischen Lebens als Nahrung und Lebenssamen dieses herrlichen Gewimmels in sich aufnimmt. Immer wieder erzeugt die Chemie des Meeres und der Ströme, die das Land ausspülen, diese Vielheit der vom Wasser gezeugten Wesen, die sich in unermeßlichen Jagdgründen tummeln, die vibrierenden Schleier der Medusen, die blinkenden Heringsschwärme, den gefräßigen Raubfisch, die sprühenden Wale. Der Markt ist früh zu Ende. Der Bahnhof hinter der Halle wird leer. Am Mittag wird in den Küchen und Tischgemeinschaften des Landes der wässerige und köstliche Duft der Fischgerichte aus hunderttausend Schüsseln steigen. In einer Woche werden die Fischerboote, die leer und gereinigt den Hafen verlassen, beladen wiederkehren, alles wird wie heute sein.

LV.

Die Neue Maas, der Rhein, läßt Rotterdam hinter sich. Er ist im flachen Land zuletzt nur der verborgene Waterweg, der noch einmal vor den rosa leuchtenden Türmen, den Gaskesseln und Mastengehölzen von Maassluis als ein grau glänzendes Gewässer sichtbar wird. Radfahrer eilen auf dem schmalen First der Deiche. Die Flußschiffahrt ist zu Ende. Ein Ostindienfahrer, die »Altube-Mendi«, sucht durch die grünen Flächen der Polder den Weg ins Freie. Es ist ein Schiff mit hellen Masten, mit dreifachem, kreideweißem, für die Tropen bestimmtem Aufbau; zögernd geht es dem starken abendlichen Glanz des Meeres entgegen. Auf den Wiesen und auf den Pfostenpyramiden im Wasser sitzen Laternen klein und blitzend wie Edelsteine. Das Blinkfeuer strahlt im Kreise hinaus auf das graue, ebene Wasser und in das grüne, ebene Land zurück. Der Wind weht frisch über die Dünen. Vor dem Strande versteckt sich der Bahnhof mit der Landungsstelle der zwischen Hoek van Holland und Harwich gehenden Boote; es ist nicht weit von dem Städtchen, das wie in einer Hürde versammelt ist. Oeder Anblick des Strandes hier vor den Rheinmündungen. Kalte Erhabenheit, Ende des Wanderns. Weißgraue, von Wasserlachen unterbrochene Fläche, bedeckt mit Schiffstrümmern, mit den weißen Gebeinen der Seetiere. Scharen von Möwen und von schreienden Krähen schwingen sich auf und sinken wie gespenstische Fahnen nieder. Großes Ahnen des Meeres. Es ist, als sei in diesem Ahnen das dunkle Wissen der Völker um den Anfang und Brunnen allen Reichtums, eine ewige Freiheitshoffnung. Vieles Gebirgige war von den Quellen her dem Wasser verbrüdert, nun ist es zusammengesunken in der haltlosen Form der vom Salzschaum gestreichelten Dünen; es gibt nur noch die schwimmende Wasserfläche, Beginn und Erinnern größerer Fahrten. Die Leuchtfeuer beglänzen mit ihrem Planetenblick das niedere und entsagende Begegnen des Stromes mit der See; am Strande berührt der Fuß jene feine äußerste Grenzlinie der Elemente, die als ein unzerreißbarer, zitternder und blinkender Faden den gewaltigen Umriß des Festlandes zeichnet; nur die Karte macht diesen Umriß klein und vorstellbar. Den aus der Ferne nahenden Schiffen weisen die Seezeichen den Weg aus einer unermeßlichen und leeren Freiheit in das Land, in die entlastende Gefangenschaft des Hafens. Was sind auch die Sternbilder des Himmels anderes als Seezeichen? In den Strömen, die durch die Länder fließen, bietet sich das Wasserelement den Kräften der Erde zur Gestaltung; die Seele baut sich am Strom die Deiche, den Wein und die Schiffe. Bis zu den Feuerschiffen vor den Inseln weisen die spärlichen Lichter den Ausfahrenden eine Pforte in das Ungestaltbare. Das Auge hier, das von einem Punkt dieser Küste hinausdringt, ahnt unter dem trüben Ansatz des Meeres die versunkene Stufe des Festlandes, es folgt dem sicheren Fahrwasser, dessen Ufer noch vorgeschrieben und von den Lichtern der Bojen angedeutet sind, bis dann draußen das seichte Meer in das tiefere, klippenlose abbricht.


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