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In der Wiese, die flach ist wie der Rhein, nicht weit von der Lahn, steht ganz allein die Johanneskirche, den alten hohlen Turm voll Licht und Wind in seinen kleinen Luken. Nun streckt sich bald der vielgekrümmte Fluß am buschigen Saum der Koblenzer Rheinanlage hin; der Ehrenbreitstein ragt hochbepackt in Golddünsten, mit bläulich nebeliger Flagge, farbenspeiend. Sacht gleiten vor dem Schleppzug die Flügel der Schiffsbrücke zur Seite, die Bordwand fährt mitten durch die Straße mit den wartenden Pferdefuhrwerken, den Fußgängergruppen und abgesessenen Radfahrern hinter der Schranke. Schon ist er wieder mitten im vibrierenden, gelben Silberglanz des Stromes und schlägt den weiten Bogen, um Kähne an das Seil zu nehmen. Es wird Abend. Ein wenig Geschrei noch zu dem Kahn hinüber, dessen Anker sich an der schlaffen Trosse fangen will, dann ist Ruhe am Steuer und im Kesselraum, der Dampfer hat beigedreht, die Schiffsmänner suchen ihre kleinen Wohnungen auf. Die Gruppe der Kähne liegt vor irgendeinem Dorf, der Nachen fährt hinüber, die Schifferfrau mit ihrer Netztasche macht im Lädchen den Einkauf. Das Dorf wird dunkel, ein paar schwarze Umrisse davor, ein dünner Laternenwiederschein auf dem Wasser. Auf dem Rhein schlafen. In enger Kammer, im Ohr die ganz leisen, hohen Klaviertöne der Wellen, die unablässig an die Schiffswand schlagen, viel sanfter als die Wellen der See. In der Frühe geweckt werden von dem Sichaufrütteln und Erknarren des Schiffes und seiner wiederbeginnenden, geigenden Bewegung.
Man kann in dem kleinen Rheinmuseum zu Koblenz jene Bildwerke sehen, mit denen die Romantik den Rhein verherrlicht. Die Deutschen sangen den Sieg der Zeit über das Menschenwerk, sie stellten die Reste der großen Vergangenheit neben die Idyllen des kleinen Lebens. Die Franzosen mit ihren witzigen Karikaturen suchten vergessen zu machen, daß die Befehle von Versailles den Deutschen die schönen Ruinen des Rheintales geliefert haben. Die Engländer, die jetzt in Aegypten und in Indien reisen, hatten als erste die von den Hirten gemiedenen Schneegipfel der Schweiz bestiegen und dann den Rhein entdeckt. In den Felsen des Rheines, wie sie die Herzogin von Rutland zeichnete, ist noch etwas von einer byronischen Dramatik; Harding malte den Morgenglanz des deutschen Flusses in frischen Wasserfarben, Turner die Nachmittage, von verworrenen Farben staubig glühend. Die ersten Schaufelschiffe des Rheines kamen von den britischen Werften; sie waren grün bemalt, von schlankem, reizendem Bau. Auf den späteren und größeren Dampfern, den deutschen, tabakfarbenen, reisten die Hochzeitspaare an wohlbesetzten Tischen und ließen ihre weißen Tücher wie Taubenschwärme vor dem kahlen Weinbergsrücken von Rüdesheim auffliegen; es war die Begeisterung für die Germania der Geschützgießereien. In den volkstümlichen Liedern der deutschen Rheinromantik ist ein dunkles Wissen um die Kraft des Stromes, ein Wehklagen um das nie Gefundene. Die oberflächliche Sprache der Reisenden rühmte den Trotz der von vergessenen Rittern erbauten Burgen. Was ist da zu sagen? Die Ehre dieses Trotzes wurzelt in der Auflösung des Reichsgedankens, noch die Wahl des Ortes dieser Nester verrät die Absicht der aus den Seitenlandschaften hervorgekommenen Erbauer, die Pässe zu besetzen und an den Zöllen zu schmarotzen. Viele dieser Burgen waren auf Spekulation erbaut, ein Teil des Adels reichte sich über den Rhein die Hände, um die Trümmer der Königsherrschaft unter sich zu verteilen. Andere dieser Burgen waren Bollwerke von Kurmainz, Kurtrier, Kurköln. Wohl reihen sich die kleinen Steinfestungen am Strom zu einem einzigen Gürtel, aber sie galten immer dem Kampf der Kleinen um den Fluß; gegen das mächtige Frankreich waren sie wertlos, hier waren allein die verachteten, vom Volke unablässig wieder aufgebauten Städte von Gewicht. Eine Zeitlang hatte das Bürgertum der Rheinstädte das Amt übernommen, die Armen gegen die Reichen, die Freiheit gegen die Gewalt zu schützen. Ihr Bund wurde zum Urbild des freien Helvetiens, der unabhängigen Niederlande, der großen westlichen Republiken. In ihnen regte sich, als Ansatz zur organischen Verwaltung, der unter dem Krummstab allzu sehr im Römischen und Beamtenhaften versteckte Gedanke des Gottesstaates. Die frühe res publica des Rheins fand am Strome ihre Richtung. Die sieben oder acht Uferstaaten, die heute den Strom verwalten, die beiden an keinem Gesamtplan mehr beteiligten Neutralen, die vier Länder im Reich und das vom Krampf der Gewalt besessene Frankreich dazwischen, sind eher die Nachfolger der absolutistischen Kabinette, als die Erben des rheingenössischen Gedankens. Joseph Görres, dieser noch allzu römische Deutsche am Beginn der technischen Neuzeit, war der ahnende Prophet einer rheinischen Weltbestimmung. Das Rheinland hat Brand und Blutvergießen genug gesehen. Es wird Schlimmeres erfahren, wenn nicht das Selbsterlebnis des Stromes die Grenzpfähle, die zwischen seinen Quellen und seinen Mündungen sind, immer nebensächlicher macht. Die Denker und die Künstler des Rheinlandes, die Kommunen der Städte und der Landbezirke, die Kammern, die großen Gewerke, alle stehen in der Wirkung des Stromes. In dem unsichtbaren Körper, den sie bilden, ist die Ahnung einer erneuernden und heiligenden Kraft. Seit hundert Jahren haben die Verträge über Schiffahrt und Strombau das Bewußtsein einer völkerbindenden Geltung in das Rheinland getragen; die Internationalität des Rheinwegs ist ausgesprochen worden, noch ist sie einseitig durch das Interesse der beteiligten stärksten Staatsmacht bestimmt. Das Stromland, das seiner ganzen Natur nach das gerade Gegenspiel des Insellandes darstellt, wird einmal seine Genossenschaftlichkeit erkennen, die übernational und dennoch bodenständig ist und die Besonderheit der gewohnten Arbeitsarten nicht verleugnet. Das Element des Wassers hilft dem Gedanken einer neuen, gildenmäßigen Zusammenfassung in seiner seherischen und ausgleichenden Natur. In ihm ruht das Ja und das Nein, die Weigerung der Weltbeziehung oder ihre tätigste Erfüllung. Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt, sagt Heraklit; erst im Schlummer wendet sich jeder in seine eigene.
Von dem Berge, auf den wir zurücksehen, kommt der Rhein, seidenblaues Band mit Glanzsplittern vor den Schiffen, die dort in der Ferne mit ihrem Rauch ganz klein erscheinen. Auf dem tiefschwarzen Schlot unseres fahrenden Schiffs liegt Perlmutterglanz. Stromab gesehen, geht das wässerne Blau in das Gelbliche über mit weißen und grauen Schäumen. Aber hinter uns wogen die Bergzüge, die mit der Erpeler Ley zum Strom schroff abfallen, als glockenförmige schwarze Dünste mit zartesten Goldstaubfalten, ihr Dach ist fast aufgelöst im sprühenden Licht. Ein Felsenturm auf der äußersten Kuppe, die von der Sonnensichel umfaßt ist, strahlt einen schwarzen Nimbus in die feuergesättigte Atmosphäre. Dramatisches Helldunkel der Landschaft, funkelnder, rauchfarbener Himmel. Der Name Rembrandt ist an diesen Rhein gebunden. Alle Landschaften, die nun bis in die Ebene von Holland und von Flandern einander folgen, sind die Provinz der großen Malernamen. Die Erntefelder in der kochenden Glut des Mittags mit den rothäuptigen Garbenbinderinnen und knienden Mähern, die von leinenweißen Wolken überspannten Grasebenen mit unendlichen zerzausten Alleen und der Gruppe schwarzweißen Viehs bei der Windmühle; das von grünvioletten Gemüsefeldern umgebene Städtchen im Geldener Land, die Türme von St. Victor auf dem grauen Hügel von Xanten, die Münsterkirche am Ufer von Emmerich, an deren Türmen Strom und Himmel wie Milchglanz ineinanderfließen, der feierliche Doppelturm von St. Walburg in dem von Parks und Dünenhügeln umzogenen Arnheim, und der von Segeln belebte Meeresschimmer um das dunkle Dordrecht. An alle diese Bilder knüpfen sich, von Rubens bis van Gogh, die Werke einer schwelgerischen und verzehrenden Kunst. Die kleine köstliche Sammlung lebender Meister, die jetzt München-Gladbach geschenkt wurde und in diese triste Industriestadt den Farbenglanz und das Unheimliche des Landes zu beiden Seiten des Niederrheins hineinträgt, wirft ihre frische und erhabene Stimme in diesen ewigen Gesang an das Licht.
Doch so sind längst dem ganzen Rhein entlang aus dem bedrückten Leben der kleinen Städte und aus dem Getöse der großen die Türme und Bogen der ältesten Kirchen wie eine Saat steinerner Leiber aufgewachsen und überdauern an ländlichen Felsenorten, in grauen Dächermeeren die erschreckend wechselvolle rheinische Geschichte. Aus den Schulen der Antike und der vernichteten östlichen Länder hat Rom die starke Kunst des Bauens und der Schattengebung in das nordische Land getragen; die christlich-germanische Seele, die den Rhein in sich trug, schuf mit der Gotik diese Kunst aufs neue. Diese Bauwerke verkünden das Licht an ihren funkelnden Altären, an den glanzumflossenen goldgeschmiedeten Bildwerken ihrer Schatzkammern. St. Paul an den Gassen von Worms, in Mainz St. Stephan, St. Christoph und St. Peter, St. Rochus über Bingen, und rheinab in Dörfer und Städte verstreut alle die Kapellen, Stifte und Turmhäuser von St. Klemens, St. Florin, St. Severus, St. Castor, St. Veit, St. Barthel, Mathias und Martin; in Köln St. Pantaleon, Gereon, Aposteln und Ursula, St. Quirin in Neuß und St. Suitbert in Kaiserswerth, sie sind zusammen wie ein Olymp von Helfern aus dem Weltall in das Rheinland eingestiegen, jede trägt in sich den Glanz und die Finsternisse des kosmischen Stundenablaufs, sie stehen durchflossen von der zeitlosen Sprache des Kirchenjahres und den überall gleichen Gebärden des liturgischen Dienstes. Das Motiv der unendlichen Fensterreihe, die Steigerung jeder einzelnen Lichtquelle im gebändigten Raum der Gewölbe, das Flammen der Kerzen im überwältigenden Dunkel, alles redet mit den Worten der Kölner Mystik: »Das Himmelreich mit seinen Sternen bei Nacht, am Tage das weite, herrliche Erdreich.« An den Fensterbogen des Wormser Domes spielen noch immer die kleinen Löwen; das narbige Bauwerk mit seinen runden Türmen steht streng und vollkommen über der zerstörten, wiedererstandenen, formlos nach allen Seiten ausgeflossenen Stadt. Der Dom von Mainz mit seinem kühlgeräumigen Schiff und den feierlichen Kreuzarmen bewahrt ohne Minderung die Großmut, die ihn gestaltete, und noch die mit Wappen überladenen Grabmäler an den Pfeilern, auf denen Gerippe die Deckel ihrer Särge lüften, sind späte Gleichnisse des Lichtgedankens. Die Kölner Türme unter den atlantischen schwarzen Wolkenbergen, die der Westen über Deutschland herwälzt, stehen in Hochgebirgsstrenge über dem Alltag. Der steinerne Wald im Innern des Domes ist voll zartester Regenbogenfarbe. Sein Gewölb ist ohne das Drückende, das zuweilen bei den Bauten der Gotik die Wirkung eines zu schmalen Schiffes ist. Dort vor den Wunderwerken der Gitter und der Grabmäler steht das Landmädchen mit einwärts gesetzten Füßen, die Hand am Reisekörbchen, mit aufgerissenem Mund, mit einem fernen Ahnen in der Seele. Draußen auf dem windigen Platz vor den Portalen des Domes ist selbst die schrille Parade der Truppen mit ihren Tanks nur ein Spielzeug, auf dem ein Schatten liegt.
Linksrheinisch ist das harte Landvolk des Hunsrücks und der Eifel. Rechts wohnen die derben westerwälder und siegerländischen Bauern. Denen, die hüben, diesseits des Rheines wohnten, gaben wohl die Römer, die den deutschen Hauch nicht auszusprechen vermochten, den Namen der Ubier und den drüben Wohnenden den vornehm klingenden Namen der Trevirer. Oben sind auf beiden Seiten die gepflügten Ackerhöhen mit dem Ginstergebüsch in den Falten, mit dem Heidekraut auf der rauhen Fläche. Unten vor den Säumen der Wälder stehen die Kirschbäume; dort an den kleinen Wassern, die den Rhein suchen, stehen die alten Bachmühlen; der Frühling gibt diesen Tälchen die Himmelsfarbe von Dotterblumen und Vergißmeinnicht. Auf den Bergklötzen, die einst kahl geschoren waren, steht das alte Gemäuer im Waldgebüsch. Die Türme waren einst ein Netz von Signalstationen über das Land und erleichterten den Herren das Drücken der Bauern. Diese Türme sind jetzt zuweilen die Sitze der Forstleute und der Maler. Die Verließe sind mit Wellholz, mit Ackergerät und Kartoffeln vollgestopft. Zuweilen fällt auf die großen steilen Anger ein Schwarm von Wandervögeln ein und zieht nach kurzer Rast mit klingenden Saiten weiter. Auf der Hochfläche verstecken sich die Dörfer in den mit Brunnen versorgten Mulden oder verkünden ihr Dasein von fern durch die feierlichen Baumreihen des Friedhofs. Für die Bevölkerung dieser Dörfer genügen zwei oder drei Familiennamen. Die alten Frauen tragen noch zum Kirchgang die schwarze Schulterhaube, die jüngeren verholzen hinter dem Pflug. Man lebt dort oben von Kartoffeln und derbem Graubrot, von Rüböl, Aepfeln und ein wenig Speck im Winter. Die Männer kommen zum Wochenende aus den Fabriken von Brühl und Knappsack. Nur die Dörfer an der Automobilstraße haben die Wirtschaften mit den Butzenscheiben. Zuweilen ist dort überm Rhein ein weitläufiges Steingemäuer aus der Burgruine auferstanden, dann hausen in den Sälen und den Turmgemächern die reichen Familien der Industrie. Das Volk lebt seinen alten Werktag am Wasserglanz des Stromes, bei den Kähnen und seine traulichen Abende in der Allee am Ufer, die überall dieselbe ist. Die Fremden eilen mit den Dampfern weiter. Unten in Bingen, in St. Goar und Boppard stehen die neuen Kasernen groß und prahlend nah am Fluß. Blaue und gelbe Soldaten gehen durch die Gassen. Es sind junge Burschen, wohl alle munter und gesellig von Natur; ihre Livree macht sie ungeeignet, sich in das Arbeitsleben dieses Landes einzufügen, sie macht ihre Gewohnheiten wie ihre Sprache zu einem Makel, sie macht an diesen Fremden die Strenge wie die Behäbigkeit zum Spott. Steig auf den Rand der Berge, schau vom Drachenfels auf den dreigeteilten, fernhin glänzenden Strom hinunter, du kannst die Landschaft nur als ein Ganzes fassen, die Schönheit ihrer Ufer nur als Einheit. Wer wollte diese Ufer als Grenzen zweier Staaten, die einander quälen? Wer könnte die Zerreißung dieses Landes fordern und das Leid mißachten, das durch Unterdrückung geschaffen ist? Das Arbeitsleben dieses Landes müßte unter seiner Hand zerfallen, und die sich um das tote Kind zanken, würden den beiden Müttern gleichen, die vor Salomo erschienen.
Die Elektrische fährt aus der von weiten Straßen durchzogenen Vorstadt über das Ackerland und durch die Heide. In der Ferne ruht hinter einem Saum von Fabrikschornsteinen der Höhenzug, die Ville, mit ihren tausenden von Beerengärten und Veilchenpflanzungen; die schwachen Bodenwellen des Geländes bedeuten mancherlei alte Wege des Rheines, die nur dem Indianerauge der Gelehrten noch erkennbar sind. An einzelnen Bauernhöfen ist Haltestelle; das langgestreckte Dorf mit seinen Arbeiterhäusern ist wie verloren in der Oede. In der Ebene, an den Strom geklammert, lag einst als Kern der zweitausendjährigen Großstadt Köln der steingebaute Militärhof, Sitz der Kolonisatoren, die von den Alpen her dem Lauf des Flusses folgten und dem nebelnden Meere immer näher kamen. Dort auf dem Abhang über dem Flusse leuchteten die strengen Giebel der Römerstadt, Kapitol, Palatium, Statio; die Tempel standen im Schutz der Türme bei den Brunnen um das Forum, vor den Mauern an der festen hölzernen Brücke ankerten die bewaffneten Boote im zerrissenen Strom. Das Wasser murmelte noch die Sagen des Volkes, das aus unbekannten Landschaften in immer neuen Scharen von jenseits des Rheines hervorbrach und Kräfte in sich trug, deren Nachhall heute das unheimliche und rätselvolle Lied der Edda ist.
Zwischen den Kramläden, den Arbeiterwohnungen und den verbrauchten Bauernhäusern dieser Dorfstraßen ragen die eifrig und kunstlos gebauten Kirchen; das Herbergshaus des katholischen Gesellenvereins hat Wirtschaften zu Nachbarn, die neben der Goldschrift ihrer Bierreklamen die Zettel der Sportvereine, der Tanzveranstaltungen und Kegelabende an ihren Türen tragen. In den Gassen treiben Arbeiterkinder ihre Spiele, blasse Buben mit fröhlichem Geschrei. Hier wohnten in vergangenen Jahrhunderten die Kannenbäcker, die ihre hübschen Krüge mit dem aufgeprägten bärtigen Manne in das weintrinkende Rheinland lieferten und zuletzt den Kölner Frauen die glasierten Kaffeetöpfe buken. Auf dem Untergrund desselben Bodens stehen jetzt die Schuppen und Glutöfen der Tonröhrenfabriken, die Gitter der Braunkohlengruben. Noch fand man hier an verlassenen Arbeitsstellen uralte Scherben, verbogene, fortgeworfene Krüge. Der Lehm der Landschaft ist nur die dünne Decke der Braunkohle. Mitten im bunten und künstlichen Laubgemisch des nahen Brühler Parkes ruht der Weiher, braun und moorig, Anzeichen des Bodens, der einst von dort bis nach Belgien hinein ein einziger Wald von Sumpfbäumen war. Er geht unterirdisch in die Steinkohle über, er setzt sich unterm Aermelmeer bis in die Finsternisse der englischen Kohlengruben fort, die wie die nächtlichen Straßen einer Großstadt beleuchtet und von zehntausenden hackender Männer befahren sind.
Wir gehen durch das Braunkohlenbergwerk an schmalen Gleisen hin, auf denen unaufhörlich die Eisenkarren poltern. Die Sonne scheint auf die schwarze, ausgeschnittene Fläche. Zwischen dünenähnlichen Hügeln, die arme Gehölze tragen, ist diese treppenartige Fläche mit ihren ausgehobenen und vom Grundwasser bedeckten Wannen fast menschenleer. Karrenzüge fahren, Steinbrocken poltern aus den Eimern nieder, die Bagger stehen als rasselnde Türme am Rand der Böschungen nahe an das Erdreich hingeschoben. Ihre emporgestreckten und abwärts gesenkten Arme greifen den Boden an, ihre mit Krallen besetzten Löffel graben das dunkle Brenngestein. Im mürben Erdreich stecken die Knollen, die Wurzelstöcke und Fasern der Zypressenwälder. Dieses durch den Prozeß der Pflanzlichkeit gegangene Erdreich ist die Urkunde früher Jahrtausende. Das Land ist weithin in Höfe geteilt, überall in den Grenzen dieser Abteilungen arbeitet derselbe Mechanismus der auf ihren Schienen beharrlich vorwärts rückenden Bagger, der Eimerketten, der Seilbahnen, der Kippvorrichtungen und der Brikettfabrik. Diese ganz in sich bewegten Werkzeuge, die kaum Bedienung brauchen, sind wie ein Gewürm in die Landschaft eingesetzt, sie reißen die Kohlendecke vom Leib der Erde bis auf den seifenähnlichen, blaßgrünen Untergrund der Tonschicht. Die Güterzüge entführen dieses feuchte, wertlos scheinende Gekrümel, sie bringen es, zu Ziegeln von metallischem Glanz geformt, vor die winterlichen Feuer ferner Städte. Der Obersteiger erzählt von Angeboten der Engländer, die für große australische Braunkohlenunternehmen Ingenieure aus aller Welt zusammensuchen; Lockung und Mißtrauen stehen unabgewogen gegeneinander. Im schwarzen Gebäude drinnen überdeckt das Geprassel der Mühlen, der Siebe und der Pressen die Sprache der Arbeiter. Das staub- und dampfgeschwärzte Tageslicht verhüllt die Männer, die aus den Dörfern der Pfalz, des Hunsrücks und der Eifel zu dieser Arbeit hergewandert sind.
Es ist, als gehöre diese Landschaft schon irgendwie zum Weltmeer. Sie ist nicht wie jene sandigen Becken des Binnenlandes, die ihre ungewisse Herkunft tief verbergen. Denn dieses schmal einsetzende, bald breiter werdende Tiefland trägt in der Ferne die Wasserdecke der nirgends tiefen Nordsee, dann erst steigt die Felsenküste von Schottland jäh hervor. Mit der britischen Insel verbindet diese Ebene dasselbe Klima. Die Gebirge des Rheines sind hier in den Grund hinabgestiegen. Die Bohrer brachten das versenkte Urgestein zutage und den Kalk, das Korallengezweig, das darüber liegt. Die versteckten Mulden des Bergischen Landes sind vollgestopft mit dem weißen Waschsand, mit den winzigen Nußschalen, den Hörnchen und Lanzenspitzen ähnlichen Muscheln der Meereszeit. Die Wasserbäche der Eifel sickern in die Ebene herab und kommen klar und gesund in die große Stadt, gereinigt im Sand und Kies, den der Strom aus zermalmten Gebirgen mit sich führte. Die Flut von einst ist entwichen, die Landschaft trägt noch die Spuren ihrer späten Trockenwerdung. Auch der See- und Hafencharakter des heutigen Kölner Rheines läßt schon das Meer erraten. Für den Schnellzugsreisenden, der von London kommt, ist Köln die erste große Stadt auf deutschem Boden. Petrarca, der einst den Rhein besuchte, sah hier die Schiffe abfahren, um auf der Themse zu ankern. Er sah am Johannistag, wie sich die Frauen von Köln nach altem Brauch im Rheine wuschen und hörte die Legende: sie schicken ihre Leiden den Britanniern. Der Dichter bemerkte dazu: Gern würden wir, die wir an Po und Tiber wohnen, was uns bedrückt, den Illyriern und Afrikanern senden, doch unsere Flüsse scheinen träger zu sein.
Der Reisende, der von den Niederlanden kommt, tritt aus dem hochgewölbten Bahnhof und atmet noch die ozeanische Luft. Ihn überfällt der nasse Wind vor dem Dom, er spürt das flandrische Schmutzwetter in den Straßen, auf grauen Dächern den feinen Regen. Er geht ohne Fremdheit durch die enge, graue und belebte City, er hört das melodramatische Geschrei der Leierkästen über der von Automobilen aufgestoßenen Menge. Das Bankenviertel stadteinwärts, die Kontore und Speicherhallen der Reedereien am Ufer, alles ist ein Abbild von London, die Anlage des Volksgartens und des Stadtwalds ist im englischen Stil. Wer aus der trockenen Luft von Berlin, aus der herben Frische von München in diese Stadt kommt, den drückt die Atmosphäre; der schwüle Sommer und der feuchte Winter dieser Ebene macht ihn müde. Doch die späten Aprilabende hier sind schön mit ihren blühenden Büschen und dem Gesang der Nachtigallen, die von den Gärten der Marienburg bis nach Godesberg hinauf sich nirgends unterbrechen; es ist eine einzige schmelzende und süße Klage und Antwort aus den Strauchverstecken des Ufers am beglänzten und schweigsamen Strom.
Auch diese Stadt ist nur ein verkümmertes Abbild ihrer Vergangenheit. Vielleicht sind Speyer und Straßburg die älteren Städte, doch keine ist merkwürdiger, keine so ungebeugt in ihrem rheinischen Wesen wie das heiliggesprochene Köln. Das enge Worms in seinen Mauern hatte den flachen Umriß eines Brotlaibes. Das mittelalterliche Mainz ist aus hoher Blüte und schrecklichster Verheerung als die befestigte und stolze Stadt hervorgegangen, die auf den Plänen des alten Merian mit dem Umriß einer von Stacheln besetzten Eisenhaube am Rhein liegt. Köln, von Memlings Hand im Johanneshospital von Brügge auf den berühmten Ursulaschrein gemalt und von den Meistern des Marienlebens verherrlicht, liegt als ein leuchtender Hintergrund im Rücken der prächtig gekleideten Heiligen; das Gedränge seiner Gassen und seiner Türme um den Domkranen ist in die klare Form eines Halbmondes eingefüllt; am anderen Ufer des Flusses liegt wie ein Stern die Deutzer Festung, dazwischen auf dem Strom vor den Mauern die Schiffsbrücke, die Gruppe der festgebundenen Mühlen, bewimpelte Güterschiffe. Diese Stadt ist nicht wie andere in Deutschland vom Dreißigjährigen Krieg oder von französischen Marschällen verwüstet worden, sie war von einer wehrhaften und weitreichenden Selbstbehauptung, sie hieß im Volksmund bis nun die »Kölsche Jongfer«. Dennoch gleicht sie heute den wieder aufgebauten Städten, sie ist wie tausendfach über sich selbst hinweggegangen. Ihre schmalen Althäuser mit den zurückgenommenen kleinen Dächer stehen bleich, streng und vereinsamt in den nichtssagenden Straßenfronten. Ihre letzten Söller, ihre runden, festen Römertürme verstecken sich in entlegenen Winkeln. Die Basalte und die grauen Tuffsteine der alten Stadtmauer sind bis auf wenige Reste abgetragen, die glatte Steinhaut asphaltierter Straßen verbirgt die hingestampften Trümmer. Von den Pfuhlen und Wassergräben, an denen einst nicht weit vom Stapelplatz am Rhein die Walkmühlen, die Lohstöcke und die Färberbottiche standen, von den Arbeitsstätten der Wappensticker und der Taschenmacher, von den alten Klöstern und Stadttoren sind in der Altstadt nur die Namen geblieben; der Dom, zuletzt von niederen Häusern und einzelnen schönen Fronten der Empirezeit eingefaßt, ragt frei wie ein Stock in die Höhe und ohne Vorgebirge. Die heutige Stadt ist ein Gemisch von alten und neuen Dingen, sie ist offen und gesellig, doch unentwirrbar, unergründlich. Ihre Sprache lebt ein eigenes Leben voll fremder Wendungen, von Witz und Derbheit funkelnd, sie ist wie ein mit Quarzen und Achaten durchsetztes Gestein. Noch leuchtet die alte Stadt mit sonniger Größe in den holdselig klugen Gesichtern der Kölner Madonnen, in den majestätischen Goldgründen des Stefan Lochner am Altar der Domkapelle. Doch in der Gegenwart erscheint die Stadt zuweilen bedrängt wie eine Schafherde in der Hürde, von rohen Kräften aufgerieben. Ueber verschwundenen Gärten und Klostergängen erheben sich jetzt die Massenquartiere, die Warenhäuser, die Fabriken, die Bahnbögen, die eintönigen Straßen. Dieser chaotische Boden wäre fähig, Wolkenkratzer hervorzutreiben; jede Baustelle hier bringt Sarkophage, Götterbilder, zarte Gläser, Knochen, Münzen, Siegelringe an das Licht. Doch der Dom steht unübertroffen, die schwarzen alten Kirchen stehen unberührt von aller Veränderung, sicher stehen allein die Fassaden und Gartenmauern des Kirchenbesitzes. Die Gebäude der alten Universität sind verschwunden, nur die Turmhäuser stehen unerschüttert und bewahren in düsteren Kammern die mit Edelsteinen besetzten Totenschädel. In diesen Gewölben hallen wie immer die Litaneien und die Glocken der Gebetszeiten; die jupiterhaften Aufzüge der Geistlichkeit erhöhen die Feiertage, ins Gewühl der Straßen mischt sich die klassische und verschwiegene Strenge der Schwarzröcke.
Diese Stadt war bis zuletzt in der Gefangenschaft der Festungswerke. Ihr Eintritt in die Neuzeit bedeutete nicht Ausdehnung, jeder ihrer Schritte ging nach innen, bedeutete ein Stück Verlust am Erbe, einen Abstieg in das Vergessen. Seit Blücher über den Rhein ging, nannte man das Land um den Rhein die Westmark; das Trennende des strategischen Gedankens siegte über das Versöhnende der Berührungslandschaft. Die Stadt war vom Gedanken der Verteidigung umwittert, die Kriegsmöglichkeit schien ferne, doch selbst in ihrer fernen Wirkung war sie zuletzt dem Geschehen der Kriege ähnlich. Gewaltiges Schauspiel dieser Stadt, deren Leib jetzt im Begriffe ist, sich auszudehnen. Der Knall der Sprengungen in ihrem Umkreis, der Knechtschaft und Schutzlosigkeit bedeutet, bedeutet für die Stadt zugleich auch Freiheit. Mitten in den Lähmungen des europäischen Zustandes spürt Köln die immer lebende, fließende und bauende Kraft des Stromes. Mitten in den Problemen einer wogenden Bevölkerung regen sich die Pläne, deren Sinn es ist, ein Versäumtes nachzuholen. Mitten in der Trauer des verstümmelten Reiches erwacht in dieser Stadt die Erinnerung an die Hansa, mitten in der fremden Besetzung werden die alten Beziehungen zu London und zur See lebendig. Die ganze Stadt ist plötzlich ein einziger Rangierbahnhof geworden, ihre Begegnungen, ihre Möglichkeiten sind auf dem Festland nur denen des neuen Wien im Raum der Donaulandschaft vergleichbar. Die Kontore sind überflutet. Die Ewige Lampe ist zum Banklokal geworden. Vor dem Dom halten in langer Reihe die fünfzig Personen fassenden, von Trompetenbläsern begleiteten Automobile. Einst trug Meister Stefan in diese Stadt von seiner Bodenseeheimat die Ueberlieferungen einer großen und frommen Kunst. Thomas von Aquin und Duns Scotus begegneten einander hier von beiden Enden Europas. Diese Stadt hatte später alles verloren. Sie verlor ihre Zünfte, die am Ende der Wirren nach der Reformation die alten Gassen leerstehen ließen und »über die Wupper« gingen, um im protestantischen Rheinland die modernen Industrien von Barmen und Remscheid, von Solingen, Mülheim und Krefeld zu gründen. Die Kölner Universität wurde nach Bonn verlegt, die Werke der Kölner Malerschule verloren sich in alle Galerien Europas; von den Ueberlieferungen der Kunst lebt in Düsseldorf ein letzter, höchst bürgerlicher Nachklang. Dieser Stadtstaat, der einmal der Mittelpunkt eines großen Flandern war und bis nach Westfalen herrschte, verlor zuletzt die Selbständigkeit seiner Entwickelung. Selbst die Provinzbehörden wurden ihm weggenommen und anderen Städten gegeben; er stand in der Franzosenzeit fast abgestorben, in der preußischen Zeit von neu aufstrebenden Kräften bald zerdrückt am Rheinufer, den unbebauten Feldern des anderen Ufers gegenüber. Wie, wenn der Bahnhof, wenn die Brücke, statt die Achse des Domes fortzusetzen, auch nur ein paar hundert Meter rheinab lägen, wo sie mehr Raum gefunden haben würden? Wenn die neuen Brücken, jede einzelne ein Meisterwerk in ihrer stählernen Schönheit, doch unbelebt, gebaut worden wären, um die alte Stadt mit einer entstehenden Neustadt zu verbinden, dort, wo noch immer wie seit Jahrhunderten die Netze der Poller Fischer an den Büschen trocknen? Wenn dort drüben die Wohnungen, die Theater, die Volkshäuser und die Bäder der über beide Ufer ausgebreiteten Weltstadt aufgewachsen wären, beide Ufer durch die Fähren, die flinken Motorboote verbunden wie die Wasserseiten von Hamburg, Rotterdam und Zürich? Im Augenblick des Rückganges und der Verarmung treten in die altertümlichen Säle des Rathauses, in die Sitzungszimmer der Banken die Pläne des Industriehafens, der engeren Handelsbeziehung zu Antwerpen durch den Kanal vom Rhein zur Schelde, die Bauentwürfe neuer Wohnungsviertel, großer Industrien. In den Häusern der Reichgewesenen treiben die Familien englischer Offiziere unbedenklichste Verschwendung, die Bevölkerung ganzer wallonischer Dörfer begibt sich nach Köln, um einzukaufen. Unterdessen wandern durch die Straßen die Umzüge anklagender Menschen, die nach Brot und Kohle verlangen. Von den Taubenschwärmen, die einst die gotischen Figuren des Domes umflatterten und arglos auf dem Platz die hingeworfenen Körner pickten, ist nicht eine mehr am Leben. Auf den Gleisen des Hafenbahnhofes kriechen zerlumpte Kinder unter den Güterzügen und stehlen mit Kännchen und Löffelchen aus den Stopfbüchsen der Radgestelle das schmutzige Oel. In der Tat, diese Stadt, die sich anschickt, das Versäumte nachzuholen und das Verlorene wiederzusuchen, stöhnt in den Problemen des Städtebaues, die in die Frage des Staatenbaues münden; ihre Wohnungsfrage rührt an die Frage der Siedelung, die Grundsätzliches für Alle gilt. Die Frage des schöpferischen Zusammenwirkens von Sparsamkeit, Technik und verantwortlichster Planung bedrängt auch hier das Gewissen, sie fordert Antwort, wie denn die Unternehmen kommender Industrien zu tragen seien, ohne daß die Großstadt durch ihr Wesen dazu diene, jenes ewige kranke Gemisch von Arbeitslosigkeit und billiger Arbeit in sich zu tragen, das Angst und Mißgunst unter den Menschen verbreitet. Eine junge Kölnische Kunst will erwachen: wo wird sie anders ihr eigentümliches Wesen finden als in der nord- und mittelmeerischen Atmosphäre dieser Landschaft? Die neue Kölner Universität, aus einer Handelsschule entstanden, wird an den Kreuzwegen des Geistes Führung gewinnen müssen. Das Tun und Lassen dieser rheinischen Hauptstadt wird die Frage mit entscheiden, ob zwanzig Millionen Deutsche zu viel oder zu wenig leben.
Man sagt, in dem Kölner Wallraf-Richartz-Museum, das die Schätze der älteren Malerschulen und der neuzeitlichen aufbewahrt, spuken noch ein wenig jene Geister der Unruhe, die an den Ort gebannt scheinen, denn an dieser Stelle soll im Mittelalter ein Irrenhaus gestanden haben. Die Besucher dieses Hauses sehen seit Jahren die Treppen, Gänge und Säle mit dem Durcheinander ewiger Umordnungen und Umbauten für die Anlage neuer Verwaltungsräume, Waschgelegenheiten, Hintertreppen und Nebensäle. Im Ehrensaal hängen übrigens die geretteten Reste eines Bildes, das Wilhelm Leibl in einem Anfall von Raserei in Fetzen schnitt, als die Notabeln seiner Kölner Vaterstadt ihn hatten wissen lassen, daß er, Leibl, vom Malen überhaupt nichts verstehe. Die Stadt hatte ihre hochgerühmte Periode des Aufschwungs, die in ihrer Rückwirkung auf die Dinge der Kunst nicht besser war als die Rückseite des damaligen, vom soldatischen Willen ganz erfaßten Reiches. Für eine großmütige und freie Gönnerschaft den Künsten gegenüber blieben zuletzt nicht viele Ausnahmen, die heimlich den Ruhm der Stadt bewahrten. Das satte, leichtsinnige und unbekümmerte Völkchen von Köln fand in diesen Jahrzehnten seine Freude in schwelgerischen Festen, in glänzenden Gürzenichbällen, im dionysischen Toben des Karnevals durch die Straßen unter dem grauen Februarhimmel. Diese Stadt der Tenöre, der zu Herzen dringenden Stimmen, der fröhlich angewandten Musik und der ironischen Blitzschläge lebt und ist noch immer mächtig. Sie spricht aus dem Hänneschen, das der Bäcker in der Altstadt und der Gärtner in der Vorstadt seinen Kindern und Verwandten nach Feierabend daheim bei dünnem Kaffee vorspielt. Der verbannte Karneval hat sich seine heimliche und rührende Wiederkehr geschaffen in jenem aus Dialekt und Lyrismus, aus Gassenwitz und bürgerlichem Idealismus, aus Derbheit, Anmut und bissiger Allegorie zusammengeflossenen Singspiel, das in den Tagen, als die Behandlung der Deutschen draußen eine hoffnungslose war, das Theater füllte und aller fremden Neugier entging. Das unterweltliche Köln verstand es, sich Kraft zu holen, es glänzte und zerdrückte im Lachen eine Träne. Ueber dem alltäglichen dichten Strom der Fußgänger, der die Hochstraße durchwandert, mitten im Geschäftsleben, auf dem Boden, wo das Palatium stand, liegt irgendwo das Collofineum Tabacologicum, kleine Insel der blauen Wölkchen in einer Gegenwart, die für die königlichen Genüsse des Witzes, des Weines und des Tabaks wie ein großes Staubtreiben ist. Und der Boden am älteren Stadtrand, einst von den Wällen durchzogen, trägt die Kostbarkeit der Ostasiatischen Sammlungen. An den Wänden dort hängt die Rolle des Chao-Tsien-li aus dem sechzehnten Jahrhundert, die an ein Bild des alten Chu Yan: der Yangtsekiang, erinnert. Es ist die aus Bergspitzen, Pfeilern, Massiven, aus einer Unendlichkeit von Schneebergen, Frühlingsbergen, Sommerhügeln und rotbelaubten Felsen gebildete Heimat des Weltstromes. So kann man sich ein Gesamtbild Europas und der Alpen denken. Der ferne und geistgewordene Meister stellt als ein Ganzes dar, was der Reisende immer nur als einen Ausschnitt zu fassen vermag. Der Maler verteilt die Klippen des Berglandes, die kleinen Wasserfälle, die halbinselförmigen Flußufer mit den zierlichen Dörfern in das lockere Bild des einzigen Augenblicks. Er wölbt die runden Spangen der Brücken, ruft die Boote zum Eintritt ins Gebirg, läßt die wartenden Segel vor der Flußmündung. Er malt den Fluß in seinem Vergehen an Erde, Meer und Luftraum; er sieht den dunstenden Umsatz des Meeres gegen das Feuer der majestätisch verborgenen Sonne. Er zeigt alles Feuchte als dem Wesen des Meeres zugehörig und das Meer in seinem Warten neben dem brodelnden Wesen der Erde, die Landschaften von den Spuren des menschlichen Wohnens ein wenig gezeichnet und zerkratzt. Draußen in den Straßen der Vorstadt rumpeln fremde Militärwagen über das Pflaster, aber die Schulkinder in ihren dünnen, grauen und geflickten Kleidern singen hell wie immer. Mitten in der Atmosphäre trüber und zweifelhafter Tage steht vor dem inneren Auge das allumfassende, köstliche Werk der Maler, als sei es aus Märchenländern hierhergetragen, um Trost und Größe auszuströmen.
Aus den steigenden und fallenden Dünsten der Jahreszeiten, aus den weißlichen Kälteseen, die über das niederrheinische Land als ungeheure Wolken schleichen, taucht am frostig klaren Wintertag die Ebene in blanker Erstarrung. Das Schneefeld, hartgefroren, große Tummelbahn der Winde, ruht in dem rot und gelb und blauen Abend. Aus einem fernen Dorf begrüßt den ersten Stern die sanft geläutete Glocke. Im Anger vor dem Rhein, vor dem lebendigen Wasserschimmer, stehn Weidenbäume tief im hohlen Eis, schon halb hinabgezogen, ohne Regung, und strecken flehend ihr Gezweig zum Licht. Dahinten dunkelt Zons in alten Mauern, unbewacht; das Tor lallt überm Schritt des Fremden. Die Winkel raunen, die alten und verschlossenen Türen sagen nur: Geh weiter. Der Turm ist eine schwarze Flasche, wie mit Spinngeweb bezogen. Wie Zwerge schauen schmale Häuschen trüb sich an, wie aus Insektenaugen. Die Stufen ausgewetzt, die Kiesel in der Gasse fast versunken, so schläft die kleine Stadt den alten Schlaf; und draußen stehn die Gärten weiß, die Bäume schwarz, die Büsche grau wie Rutenbündel.
Dem Hafen zuliebe haben die Ingenieure immer wieder die Mündung der Ruhr verändert. So weit das Auge sieht, reicht das Labyrinth der gestreckten wässernen Höfe in das Land. An der Seite des gerundeten Dammes strahlt der tintenfarbene, fischlose Fluß, glänzen die eingegrabenen Wasserbetten dieses größten Binnenhafens der Welt im selben gewaltigen Glanze wie der Rhein. Die von klaren Lagunen durchzogene Großstadt ist um den alten unbedeutenden Schifferort entstanden. Man hat einst das Ruhrdelta für den Umschlag der westfälischen Kohle nutzbar gemacht, von hier geht nun die Kohle in tief eingetunkten Kähnen nach den Großstädten des Rheinlandes, und nach Straßburg schwimmt unablässig der furchtbare Tribut. Aus Holland und Uebersee aber kommen hierher immer spärlicher die Getreideladungen für das Industriegebiet, das dichtest besiedelte in Deutschland. In der späten Barockzeit, als Mannheim und Düsseldorf und sogar das kleine Neuwied unter ihren ehrgeizigen, auf die Förderung des Kommerzes und der Manufaktur bedachten Fürsten sich regten, gründete Friedrich der Große den Ruhrfiskus, der den Hafen von Duisburg mit der schiffbar gemachten Ruhr zusammenschloß. Duisburg lebte im Mittelalter mit den Niederlanden; eine Laune des Rheins warf die Stadt ans Trockene, sie fand erst später den Weg zum Rheine wieder, dann schloß sie sich an Ruhrort und bildete jenes immer größere System von Wasserstrichen, die bei aller Uebersicht ihres Ineinandergreifens verwirrend sind wie die Winkel des persischen Spielbretts. Die See fordert andere Maße der Schiffahrt als selbst der große Strom. Die Rampen und Wellenbrecher der Seehäfen sind wuchtiger als diese hier. Aber Ruhrort mit seinen tausend Fahrzeugen der flußmäßigen Schiffahrt, seinen mäßig hohen, leeren Masten, seinen Schloten, seinen Baggern, seinen Werkzeugen und all den stehenden Hilfsmitteln seiner Speicher und Kranen ist eine Zusammenfassung. Es ist die großartigste Zusammenfassung der Gefäße und Gebäude, mit denen das Land das Wasser begleitet und die geschaffen sind, ihm Lasten aufzutragen und abzunehmen und den Nutzen seiner ewigen Bewegung zu ernten. Diese Stadt öffnet drei breite Tore zum Strom. Von ihr aus durchziehen das Hinterland die gegrabenen Kanäle, deren Schleusen und Hochstrecken die Wellen der Landschaften unter sich legen, um die fernen Bruderflüsse des Rheins zu suchen.
Wie die Urpflanze aus den Knoten bleicher Fasern saftglänzend ans Licht emporschießt, so der Fluß aus den Feuchtigkeiten der Luft und der Erde in die öffentliche Form des Stromes. Es gibt die Geschichte von Völkern und Staaten, von Wäldern und von Bergen; selbst der große Okeanos ist nicht geschichtslos. Auf der Erdkugel scheinen Meere und Länder vom Zufall geschaffen, von einer blinden Willkür aufgeteilt. Aber der Nullmeridian, astronomische Linie, auf der sich das unsichtbare Gitter der Parallelkreise und der Meridiane aufbaut, teilt genau die Hälften der Welt. Die Entfernung von Greenwich bis an die kalifornische Küste ist dieselbe bis zum Ostrand der asiatischen Festlandscholle. Und wie die Meere und die Landmassen, so tragen auch die Ströme, selbst die in den Wäldern murmelnden Quellen, das Gesetz ihres Daseins, ihrer Sonderung, ihres Endes im Ganzen in sich, wie auch ihr eigenes Maß. So ist der Rhein unter allen Strömen der Erde eine Besonderheit, er ist mehr als nur ein Organismus hilfreicher Kräfte. Es gibt Ströme, die mehr Wasser führen als ein Strom von der mittleren Größe des Rheines, und doch weniger Schiffbarkeit haben, weil ihr Lauf kürzer oder verwickelter ist, oder weil ihre Zuflüsse sich nicht ergänzen. Es gibt Ströme, die ozeanischer in die Länder ragen und sie dennoch nicht erschließen, weil ihre Masse der Gestaltungskraft des Menschen spottet. Es gibt unter den Flüssen Gewaltige wie den Amazonenstrom, die doch ohne Namen und Geschichte sind, Riesen wie den Mississippi, dessen Akten immerhin einiges an Expeditionen, Schiffahrt, Kriegen, Staatsverträgen und Ingenieurtaten enthalten. Es gibt Aristokraten wie den Tiber, Mystiker wie den Jordan, Büßer wie den Euphrat, Völkerväter wie den Yangtse. Es gibt Abenteurer wie die afrikanischen Urwaldströme, ewige Wanderer wie die Donau und die kleinen, fast häuslichen Flüsse, von denen die einen leicht durchzuregulieren sind wie die Weser, die anderen, wie der Njemen, die in ihrer weiten Kräuselung niemals einen rechten Nutzen geben. Der Lebensgang des Rheines hat seine Stufen, seine inneren Verwicklungen und die immer wiederkehrende Gefahr, sich zu verlieren, aber er trägt auch ein Gelingen in sich, das einer vorbestimmten Kraft und Zucht entspricht.
Die ewig planende Vorstellungskraft des Menschen sieht auf der Landkarte die Linien, die gedacht sind, die schiffbaren Strecken des europäischen Flußsystemes wirksamer miteinander zu verbinden. Sie sucht die Fallgesetze aufzuheben und die befrachteten Schiffsgefäße quer durch das Festland zu steuern. Es bedürfte scheinbar nur der Auswahl jener Stellen an den Strömen, deren Scheitelhöhe dem Wasser seinen Weg in jene Gräben und den Erbauern jener Gräben den Bau von Schleusen und Hebewerken erlaubt. Mit einem Male wäre dann aus kühn zusammengestückten Krümmungen die weite überländische Verbindung durch das große Relief gezogen. Zwischen England und Persien, zwischen Antwerpen und Moskau, zwischen Marseille und Lübeck besteht gewiß die Möglichkeit zur Knüpfung dieser inneren Seile. Und diese neuen Flüsse ohne Quelle und Mündung, gespeist aus allen Brunnenkammern Europas, spinnen die Maschen ihres unendlichen Netzes und lassen die natürlichen Flüsse, die ursprünglicher und verschwenderischer sind, als Umwege und als Stümpfe hinter sich. In der Zeichnung nimmt sich die Linie, die aus den aneinandergefügten Halblängen von Rhein, Main und Donau besteht, höchst imponierend aus, ihre Wirklichkeit wäre dennoch niemals die eines lebenden Stromes. Wie schwierig und qualvoll ist heute schon der Streit um diese Pläne vor der Ausführung. Es gibt einen Plan, den zuerst die spanischen Niederlande, später die Ingenieure Napoleons erwogen, um die Seestadt Antwerpen kürzer an den Rhein zu schließen. Aachen, Köln und Bonn, Krefeld, Neuß und München-Gladbach führen jetzt um diese Linie einen platonischen Streit; Handelskammern, Industrien, Stadtverwaltungen, Generalstäbe, Regierungen kämpfen hinter dem Tageslärm um die Führung dieses Weges und lassen die Argumente von Verträgen, Verfassungen und Interessen spielen. Wird jemals Holland, dessen Gebiet an einem schmalen Streifen überschritten werden muß, die Erlaubnis zu einem Kanalbau geben, der die Bedeutung von Rotterdam und Vlissingen zu schmälern droht? Wird nicht dieser Kanal ganz unausführbar werden, sobald die Franzosen ohne Rücksicht auf Belgien beginnen, vom Wasser des Oberrheins auch nur einen Teil in das elsässische Kanalnetz einzufüllen? Der große Hafen von Ruhrort, dies flächenhafte wässerne Gebilde, das in seiner inneren Antennenform an die Fühler eines Insektes, in seiner Ganzgestalt an die Ohrmuschel erinnert, deren Form geschaffen ist, Tonwellen aufzufangen und ihnen einen Weg in das Verborgenste zu geben – dieser wichtige Binnenhafen vernimmt feinhörig alle Pläne, alle sind irgendwie auf ihn bezogen. Es mögen hier wohl eines Tages wie die schweizer, so auch die rumänischen und wie die belgischen, selbst die russischen Schiffer von den monatelangen mühsamen Landreisen an Bord ihrer Kähne erzählen. Dem Rhein klingt wie dem Odysseus in seinem Ohr das Sirenenlied der Möglichkeiten. Aber er geht durch das Getön des Zweifelhaften, des Drohenden und des Lockenden seinen festen, zuverlässigen Weg.